Das erste Vierteljahr in Lowood dünkte mich ein Menschenalter, aber durchaus kein goldenes Zeitalter; es bedeutete einen ermüdenden Kampf mit der Schwierigkeit, mich in neue Regeln und ungewöhnte Aufgaben hineinzuarbeiten. Die Furcht in diesen Punkten zu unterliegen, quälte mich mehr, als die physischen Mühseligkeiten und Entbehrungen, die mein Los waren. Und auch diese waren wahrlich keine Kleinigkeiten.
Während der Monate Januar, Februar und März hinderten der tiefe Schnee und, nachdem er fortgeschmolzen, die fast unpassierbaren Straßen uns daran, weiter zu gehen, als bis an die Mauern des Gartens – nur der sonntägliche Weg in die Kirche machte eine Ausnahme – aber innerhalb dieser Grenzen mußten wir jeden Tag eine Stunde in freier Luft zubringen. Unsere Bekleidung war nicht hinreichend, um uns gegen die strenge Kälte zu schützen. Wir hatten keine Stiefel, der Schnee drang in unsere Schuhe und schmolz darin; unsere unbehandschuhten Hände erstarrten und bedeckten sich nach und nach mit Frostbeulen, ebenso unsere Füße. Ich erinnere mich noch der verzweifelten Schmerzen, welche ich aus dieser Ursache jeden Abend erduldete, wenn meine Füße sich entzündeten, und der Schmerzen, wenn ich die geschwollenen, wunden und steifen Zehen am Morgen in die Schuhe zwängen mußte. Auch die Kargheit der Nahrung brachte uns fast zur Verzweiflung; wir hatten den regen Appetit von im Wachstum begriffener Kinder, und man gab uns kaum genug, um einen schwachen Kranken damit am Leben zu erhalten. Aus diesem Mangel an Nahrung entstand ein Mißbrauch, welcher schwer auf den jüngeren Schülerinnen lastete. Wenn sich nämlich den größeren, heißhungrigen Mädchen eine Gelegenheit dazu bot, so brachten sie die Kleinen durch Schmeicheleien oder Drohungen dahin, ihnen ihren Anteil abzutreten. Gar manchesmal habe ich zwischen zwei Anspruchmachenden den kostbaren Bissen Schwarzbrot geteilt, den wir zur Theestunde bekamen, und nachdem ich dann noch einer dritten die Hälfte vom Inhalte meines Kaffeenapfes gegeben hatte, schluckte ich den Rest zusammen mit bitteren, geheimen Thränen hinunter, welche der Hunger mir im wahrsten Sinne des Wortes erpreßte.
Die Sonntage waren trübe Tage in dieser Winterzeit. Wir mußten zwei Meilen bis zur Kirche von Brocklehurst gehen, wo unser Schutzherr den Gottesdienst verrichtete. Halb erfroren machten wir uns auf den Weg, noch erfrorener langten wir in der Kirche an; während des Morgengottesdienstes lähmte uns die Kälte beinahe. Der Weg war zu weit, um zum Mittagessen nach Lowood zurückzukehren, daher reichte man uns zwischen den beiden Predigten eine Ration von kaltem Fleisch und Braten, welche in derselben kärglichen Proportion gehalten wurde, die man bei unseren gewöhnlichen Mahlzeiten zum Maßstab genommen.
Nach dem Schluß des Nachmittagsgottesdienstes kehrten wir über eine hügelige, dem Winde ausgesetzte Straße nach Hause zurück. Der eisige Wintersturm, der über eine Kette schneebedeckter Hügel von Norden her blies, riß uns beinahe die Haut von den Wangen.
Ich erinnere mich noch Miß Temples, wie sie fest in ihren schottischen Mantel gehüllt, den der Wind ihr fortwährend zu entreißen drohte, leichtfüßig und schnell an unseren ermatteten Reihen entlang ging und uns durch Worte und Beispiel ermunterte, Mut zu behalten und vorwärts zu schreiten »tapferen Soldaten gleich,« wie sie zu sagen pflegte. Die übrigen Lehrerinnen, die armen Dinger, waren gewöhnlich selbst zu niedergeschlagen, um das Unternehmen zu wagen, andere zu ermutigen und zu trösten.
Wie wir uns nach dem Licht und der Wärme eines hellen Feuers sehnten, wenn wir nach Hause kamen! – Aber dieser Genuß blieb uns versagt – den Kleineren wenigstens. Jeder Kamin im Schulzimmer war augenblicklich von einer doppelten Reihe großer Mädchen belagert und hinter diesen krochen die kleinen Kinder in trostlosen Gruppen umher, ihre abgemagerten Arme in ihre Schürzen hüllend.
Ein schwacher Trost ward uns in der Theestunde in Gestalt einer doppelten Brotration – eine ganze Scheibe anstatt einer halben – mit der köstlichen Zuthat einer dünnen Schicht von Butter; es war ein allwöchentlicher Genuß, dem wir von Sabbath zu Sabbat sehnsuchtsvoll entgegensahen. Gewöhnlich gelang es mir, die Hälfte dieses lukullischen Mahls für mich zu behalten, die andere Hälfte mußte ich unabänderlich jedesmal verschenken.
Der Sonntagabend wurde dazu verwandt, den Kirchenkatechismus, das fünfte, sechste und siebente Kapitel des Evangeliums St. Matthäi auswendig zu wiederholen, und eine lange Predigt mit anzuhören, welche die arme Miß Miller, deren nicht zu unterdrückendes Gähnen ihre Müdigkeit verriet, uns vorlas. Ein häufiges Intermezzo dieser Leistungen bildete die Aufführung der Rolle des Eutychus durch ungefähr ein halbes Dutzend der kleinen Mädchen. Überwältigt von Müdigkeit pflegten sie von der Bank zu fallen – wenn auch nicht vom dritten Stockwerk – und halbtot wieder emporgehoben zu werden. Die Abhilfe hiergegen bestand darin, daß man sie in das Centrum des Schulzimmers hineinstieß, wo sie gezwungen wurden auszuharren, bis die Predigt zu Ende war. Zuweilen versagten die Füße ihnen den Dienst und sie sanken in einen hilflosen Klumpen zusammen; dann pflegte man sie durch die hohen Stühle der Aufseherinnen zu stützen.
Noch habe ich der Besuche Mr. Brocklehursts nicht Erwähnung gethan; und in der That war dieser Ehrenmann während des größten Teils meines ersten Monats in Lowood von Hause abwesend; vielleicht zog sein Besuch bei seinem Freunde dem Erzbischof sich so sehr in die Länge.
Seine Abwesenheit war in der That eine Erleichterung für mich. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich meine eigenen Gründe hatte, um sein Kommen zu fürchten. Aber endlich kam er doch.
Eines Nachmittags – ich war damals gerade drei Wochen in Lowood gewesen – saß ich mit der Tafel in der Hand da und zerbrach mir den Kopf über ein langes Divisionsexempel, als meine Blicke sich ganz gedankenlos auf das Fenster richteten. In diesem Augenblick schritt eine Gestalt an demselben vorbei. Fast instinktiv erkannte ich diese hageren Umrisse, und als zwei Minuten später die ganze Schule mit Inbegriff der Lehrerinnen sich erhob, en masse erhob, brauchte ich nicht aufzublicken, um mich zu vergewissern, wessen Eintritt denn auf diese Weise begrüßt wurde. Ein langer Schritt durchmaß das Schulzimmer und gleich darauf stand neben Miß Temple, die sich ebenfalls erhoben hatte, dieselbe schwarze Säule, welche vor dem Kamin im Herrenhanse von Gateshead-Hall so finster und unheilvoll auf mich herabgeblickt hatte. Jetzt blickte ich von der Seite auf dieses architektonische Werk. Ja, ich hatte mich nicht getäuscht, es war Mr. Brocklehurst, fest in seinen Überzieher geknöpft, und länger, schmäler und steifer aussehend denn je.
Ich hatte meine besonderen Gründe, beim Anblick dieser Erscheinung zu erschrecken. Ich erinnere mich nur zu wohl der perfiden Winke, welche Mrs. Reed ihm über meinen Charakter gegeben hatte, und des von Mr. Brocklehurst gegebenen Versprechens, Miß Temple und die Lehrerinnen von meiner lasterhaften, verderbten Natur in Kenntnis zu setzen. Während der ganzen Zeit hatte ich schon die Erfüllung seines Versprechens gefürchtet; täglich hatte ich nach dem »Manne, der da kommen sollte«, um durch seine Auskunft über mein vergangenes Leben und mein Betragen mich als ein schlechtes Kind zu brandmarken, ausgesehen – jetzt war er da! Er stand neben Miß Temple; er sprach leise zu ihr ins Ohr. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß er ihr Enthüllungen über meine Schlechtigkeit machte; mit qualvoller Angst beobachtete ich ihre Blicke, jede Minute erwartete ich, ihr dunkles Auge sich voll Abscheu und Verachtung auf mich heften zu sehen. Auch horchte ich. Und da ich am oberen Ende des Zimmers saß, konnte ich den größten Teil des von ihm geführten Gesprächs hören. Der Inhalt desselben befreite mich wenigstens von der augenblicklichen Furcht.
»Ich hoffe, Miß Temple, daß der Zwirn, den ich in Lowton gekauft habe, genügen wird. Es fiel mir ein, daß diese Qualität gerade für die Calikohemden gut sein werde und ich habe auch die dazu passenden Nadeln ausgesucht. Wollen Sie Miß Smith sagen, daß ich vergaß, mir die Stopfnadeln zu notieren; nächste Woche wird sie indessen mehre Päckchen derselben bekommen, und sagen Sie ihr auch, daß sie jeder Schülerin unter keiner Bedingung mehr als eine Nadel zur Zeit giebt, wenn sie mehre davon haben, werden sie oft nachlässig und verlieren sie nur. Und dann, o, Miß Temple! Ich wünschte wirklich, daß den wollenen Strümpfen mehr Beachtung geschenkt würde! – Als ich das letztemal hier war, ging ich in den Küchengarten und besah mir die Wäsche, welche auf der Leine trocknete. Eine ganze Menge der schwarzen Strümpfe war auf die mangelhafteste Weise gestopft. Aus der Größe der Löcher, welche ich in ihnen bemerkte, schloß ich, daß sie nicht gut ausgebessert sein konnten.«
Hier hielt er inne.
»Ihre Weisungen sollen befolgt werden, Sir,« sagte Miß Temple,
»Und, Madam,« fuhr er fort, »die Wäscherin erzählt mir, daß einige der Mädchen zwei reine Halskrausen in der Woche gehabt haben; das ist viel zu viel. Die Hausregel beschränkt sie auf >eine.«
»Ich glaube, Sir, daß ich diesen Umstand genügend erklären kann. Am vorigen Donnerstag waren Agnes und Catherine Johnston eingeladen, bei ihren Freunden in Lowton den Thee zu nehmen. Ich gab ihnen die Erlaubnis, für diese Gelegenheit reine Halskrausen anzulegen.«
Mr. Brocklehurst nickte.
»Nun, für einmal mag es hingehen, aber ich ersuche Sie, diesen Fall nicht zu oft eintreten zu lassen. Noch eine andere Sache hat mich höchlichst überrascht. Indem ich die Rechnung mit der Haushälterin abschloß, fand ich, daß während der letzten zwei Wochen den Schülerinnen zweimal ein Gabelfrühstück serviert worden ist, welches aus Brot und Käse bestand. Was bedeutet das? Ich habe die Statuten durchlesen und fand dort keiner Mahlzeit erwähnt, die sich Gabelfrühstück nennt. Wer hat diese Neuerung eingeführt und auf welche Autorität gestützt?«
»Für diesen Umstand bin ich verantwortlich, Sir,« entgegnete Miß Temple, »das Frühstück war so außergewöhnlich schlecht zubereitet, daß die Schülerinnen es nicht essen konnten, und ich durfte nicht zugeben, daß sie bis zum Mittagessen fasteten.«
»Miß Temple, gestatten Sie mir einen Augenblick zu reden. – Sie wissen, daß es meine Absicht bei der Erziehung dieser Mädchen ist, sie nicht an Luxus und Wohlleben zu gewöhnen, sondern sie abzuhärten und sie selbstverleugnend, geduldig und entsagend zu machen. Sollte nun einmal zufällig solch eine kleine Enttäuschung des Appetits vorkommen, wie z. B. das Verderben einer Mahlzeit, das Versalztwerden eines Fisches u. s. w., so sollte dieser kleine, unbedeutende Zwischenfall nicht neutralisiert werden, indem man den verlorenen Genuß noch durch einen größeren Leckerbissen ersetzt und damit den Körper verweichlicht und den Zweck und das Ziel dieser barmherzigen Stiftung verrückt. Man sollte ein solches Vorkommnis dazu benützen, den Schülerinnen eine geistige Erbauung zu schaffen, indem man sie ermutigt, auch bei temporären Entbehrungen ihre geistige Kraft zu behaupten. Eine kurze Ansprache bei solchen Gelegenheiten würde sehr angemessen sein. Ein kluger Lehrer würde z. B. auf die Leiden und Entsagungen der ersten Christen hinweisen; auf die Qualen der Märtyrer, ja, sogar auf die Gebete unsers gesegneten Heilands selbst, der seine Jünger ermahnt, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen; auf seine Warnungen, daß der Mensch nicht vom Brote allein lebt, sondern von einem jeglichen Worte, so aus dem Munde Gottes gehet; auf seine göttlichen Tröstungen »glücklich seid ihr, so ihr für mich Hunger oder Durst leidet!« O, Miß Temple, wenn sie anstatt des angebrannten Haferbreis Brot und Käse in den Mund dieser Kinder legen, so füttern sie allerdings ihre sündigen Leiber, aber Sie denken wenig daran, daß sie ihre unsterblichen Seelen verhungern lassen.«
Mr. Brocklehurst hielt wieder inne – – wahrscheinlich von seinen Gefühlen übermannt. Beim Beginn seiner Rede hatte Miß Temple zu Boden geblickt; jetzt aber sah sie gerade vor sich hin, und ihr Gesicht, welches von Natur bleich wie Marmor war, schien auch die Kälte und Unbeweglichkeit dieses Materials anzunehmen; besonders ihr Mund schloß sich so fest, als hätte es des Meißels eines Bildhauers bedurft, um ihn wieder zu öffnen, und auf ihrer Stirn lagerte eine versteinerte Strenge.
Inzwischen stand Mr. Brocklehurst vor dem Kamin, die Hände hatte er auf den Rücken gelegt und majestätisch ließ er seine Blicke über die ganze Schule schweifen. Plötzlich zuckte er zusammen, wie wenn sein Auge geblendet oder schmerzhaft berührt worden sei; dann wandte er sich um und in schnelleren Accenten, als er bisher gesprochen, sagte er:
»Miß Temple, Miß Temple, was – was ist jenes Mädchen da mit dem lockigen Haar? Rotes Haar, Madam, lockig – ganz und gar lockig?« – Mit diesen Worten streckte er seinen Stock aus und zeigte nach dem entsetzlichen Gegenstände. Seine Hände zitterten vor Erregung.
»Es ist Julia Severn,« entgegnete Miß Temple sehr ruhig.
»Julia Severn, Madam! Und weshalb hat sie oder irgend eine andere gelocktes Haar? Weshalb bekennt sie sich so offen allen Vorschriften und Grundsätzen dieses Hauses entgegen zu den Gelüsten der Welt – hier in einem evangelischen Institut der Barmherzigkeit – daß sie es wagt, ihr Haar in einem großen Wust von Locken zu tragen?«
»Julias Haar ist von Natur lockig,« entgegnete Miß Temple noch ruhiger.
»Von Natur! Ja! Aber wir sollen uns der Natur nicht anpassen. Ich wünsche, daß diese Mädchen Kinder der Gnade werden. Und wozu jener Überfluß? ich habe doch zu wiederholten Malen angedeutet, daß ich das Haar einfach, bescheiden, glatt anliegend arrangiert zu sehen wünsche. Miß Temple, das Haar jenes Mädchens muß augenblicklich abgeschnitten werden, förmlich rasiert; morgen werde ich einen Barbier herausschicken, und ich sehe noch andere, die viel zu viel von diesem Auswuchs haben – das große Mädchen dort zum Beispiel; sagen Sie ihr, daß sie sich umdreht. Sagen Sie den Mädchen der ganzen ersten Bank, daß sie sich erheben und die Gesichter der Wand zuwenden.
Miß Temple fuhr mit dem Taschentuch über die Lippen, als wollte sie ein unwillkürliches Lächeln verjagen, daß dieselben kräuselte; indessen erteilte sie den gewünschten Befehl, und als die erste Klasse verstanden hatte, was man von ihr verlangte, kam sie demselben nach. Ich lehnte mich ein wenig auf meiner Bank zurück und konnte die Blicke und Grimassen wahrnehmen, mit welchen die Mädchen dies Manöver begleiteten, schade, daß nicht auch Mr. Brocklehurst diesen Genuß haben konnte; vielleicht würde er dann eingesehen haben, daß was er auch mit der Außenseite der Schale und der Schüssel thun mochte, die Innenseite seiner Einmischung weiter entrückt war, als er zu begreifen im stande war.
Ungefähr fünf Minuten lang betrachtete er den Revers dieser lebenden Medaillen mit prüfenden Blicken – dann fällte er das Urteil. Die Worte wirkten wie die Posaune des jüngsten Gerichts:
»All diese Haarflechten und Knoten müssen abgeschnitten werden!«
Miß Temple schien ihm Vorstellungen zu machen,
»Madam,« fuhr er fort, »ich diene einem Herrn, dessen Reich nicht von dieser Welt ist; meine Mission ist es, in diesen Mädchen die Lüste des Fleisches zu ersticken – sie zu lehren, daß sie sich mit Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit kleiden, nicht mit gesalbten Haaren und köstlicher Gewandung; aber jede dieser jungen Personen da vor uns hat ihr Haar in Flechten gedreht, welche die Eitelkeit dieser Welt geflochten hat – und diese, ich wiederhole es, müssen abgeschnitten werden, denken Sie an die Zeit, welche damit verloren geht, an – –«
Hier wurde Mr. Brocklehurst unterbrochen. Drei neue Besucher, Damen, traten ins Zimmer. Sie hätten ein wenig früher kommen sollen, um diesen Vortrag über Kleidung zu hören, denn sie waren köstlich in Samt und Seide und Pelze gekleidet. Die beiden jüngeren Damen des Trios (schöne Mädchen von sechzehn und siebzehn Jahren) hatten graue Biberhüte, damals die neueste Mode, mit wallenden Straußenfedern, und unter dem Rande dieser graziösen Kopfbedeckung hervor fiel ein Reichtum von goldenen, künstlich gelockten Haaren. Die ältere Dame war in einen kostbaren Samtshawl gehüllt, der mit Hermelin verbrämt war; auf ihre Stirn fiel eine Wolke von falschen französischen Locken.
Diese Damen wurden von Miß Temple mit großer Hochachtung als Mrs. Brocklehurst und ihre Töchter begrüßt und dann auf die Ehrensitze am oberen Ende des Zimmers geleitet. Es scheint, daß sie mit ihrem hochehrwürdigen Anverwandten in der Equipage gekommen waren und die oberen Zimmer einer durchstöbernden, eingreifenden Besichtigung unterworfen hatten, während er mit der Haushälterin die Geschäfte ordnete, die Wäscherin ausfragte und die Vorsteherin des Instituts maßregelte. Die Damen begannen jetzt Miß Smith, welcher die Verwaltung der Wäsche und die Beaufsichtigung der Schlafsäle anvertraut war, einige scharfe Verweise zu erteilen, aber ich hatte keine Zeit, auf das zu horchen, was sie sagten; andere Dinge nahmen meine Aufmerksamkeit in Anspruch und fesselten dieselbe vollständig.
Wahrend ich dem Gespräch zwischen Miß Temple und Mr. Brocklehurst lauschte, hatte ich es bis jetzt dennoch nicht versäumt, Vorsichtsmaßregeln für meine eigene persönliche Sicherheit zu treffen. Ich glaubte auch, daß dieselben wirksam sein würden, wenn es mir nur gelänge, der Beobachtung zu entgehen. Zu diesem Zweck hatte ich mich auf der Bank zurückgelehnt, und während ich mit meinen Rechenexempeln beschäftigt schien, hielt ich meine Tafel so, daß sie mein Gesicht gänzlich verdecken mußte. Wahrscheinlich wäre ich seiner Wachsamkeit auch entgangen, wenn meine verräterische Tafel nicht durch einen unglücklichen Zufall meiner Hand entglitten und mit einem lauten Krach, dem kein Ohr sich verschließen konnte, zu Boden gefallen wäre. Sofort waren aller Augen auf mich gerichtet. Ich wußte, daß jetzt alles zu Ende sei. Während ich mich bückte, um die Fragmente meiner Tafel zusammenzusuchen, sammelte ich meine Kräfte für das Schlimmste. Es kam.
»Ein nachlässiges Mädchen!« sagte Mr. Brocklehurst, und gleich darauf – »Ah, ich bemerke, es ist die neue Schülerin.« Bevor ich aufatmen konnte, »ehe ich es vergesse, ich habe noch ein Wort in Bezug auf sie zu sagen.« Dann laut, ach, wie laut erschien es mir! »Lassen Sie das Kind, das seine Tafel zerbrochen hat, vortreten!«
Aus eigenem Antriebe hätte ich mich nicht bewegen können; ich war gelähmt, aber die beiden großen Mädchen, die mir zur Seite saßen, stellten mich auf die Füße und schoben mich vorwärts dem gefürchteten Richter entgegen, dann führte Miß Temple mich sanft dicht vor ihn, und wie aus weitet Ferne vernahm ich ihren geflüsterten Rat:
»Fürchte dich nicht, Jane, ich habe gesehen, daß es ein unglücklicher Zufall war, du sollst nicht bestraft werden.«
Wie ein Dolch drang dieses gütige Flüstern mir ins Herz.
»Noch eine Minute und sie wird mich als eine Heuchlerin verachten lernen,« dachte ich und bei dieser Überzeugung tobte eine namenlose Wut gegen Mrs. Reed, Brocklehurst und Compagnie durch meine Adern. Ich war keine Helen Burns.
»Holt jenen Stuhl,« sagte Mr. Brocklehurst auf einen sehr hohen Stuhl deutend, von dem eine Schulaufseherin sich soeben erhoben hatte. Er wurde gebracht.
»Stellt jenes Kind hinauf.«
Und hinauf gestellt wurde ich, von wem weiß ich nicht; ich war nicht in der Verfassung, die begleitenden, näheren Umstände wahrzunehmen; ich fühlte nur, daß ich ungefähr bis zur Höhe von Mr. Brocklehursts Nase emporgehißt wurde, daß er kaum eine Elle lang von nur entfernt stand und daß unter mir eine Wolke von silbergrauen Federn, dunkelrotem Seidenpelze und orangegelben Kleidern durcheinander wogte.
Mr. Brocklehurst räusperte sich.
»Meine Damen,« sagte er zu seiner Familie gewandt, »Miß Temple, Lehrerinnen und Kinder, ihr alle sehet dieses Mädchen?«
Natürlich sahen sie es; denn ich fühlte ihre Augen wie Brenngläser auf meine versengte Haut gerichtet.
»Ihr sehet, daß sie noch jung ist; ihr bemerkt, daß auch sie die gewöhnliche Gestalt eines Kindes hat; Gott in seiner Gnade hat auch ihr die Form gegeben, die er uns allen gewählt; keine abschreckende Häßlichkeit kennzeichnet sie als einen gezeichneten Charakter. Wer würde glauben, daß der Teufel in ihr bereits eine Dienerin und ein williges Werkzeug gefunden hat? Und doch – es schmerzt mich, es sagen zu müssen – ist dies der Fall.«
Eine Pause. – Ich versuchte, der Lähmung meiner Nerven Einhalt zu thun und mir zu sagen, daß der Rubikon überschritten, daß ich der Prüfung nicht mehr entgehen könne, sondern sie jetzt standhaft ertragen müsse.
»Meine Kinder,« fuhr der schwarze, steinerne Geistliche mit Pathos fort, »dies ist eine traurige, eine betrübende Angelegenheit, denn es ist meine Pflicht euch vor diesem Mädchen zu warnen, das eins von Gottes auserwählten Lämmern sein könnte und jetzt eine Verworfene ist – kein Mitglied der treuen Herde, sondern augenscheinlich eine Fremde, ein Eindringling. Ihr müßt auf eurer Hut sein ihr gegenüber; ihr müßt ihrem Beispiel nicht folgen; wenn es notwendig ist, meidet ihre Gesellschaft, schließt sie von euren Spielen aus, habt keine Gemeinschaft, keinen Umgang mit ihr. Jetzt zu den Lehrerinnen. Sie müssen sie überwachen, ihr Thun beobachten, ihre Worte wohl erwägen und prüfen, ihre Thaten untersuchen, ihren Leib strafen, um ihre Seele zu retten – wenn in der That eine solche Rettung noch möglich ist, denn – meine Zunge scheut sich, es auszusprechen – dieses Mädchen, dieses Kind, diese Eingeborene eines christlichen Landes, schlimmer als manche kleine Heidin, die ihr Gebet zu Brahma spricht und vor Inggernant kniet – dieses Mädchen ist – eine Lügnerin!«
Jetzt folgte eine Pause von zehn Minuten. – Ich war wieder im Vollbesitz meiner Sinne, meines Verstandes und bemerkte, wie all die weiblichen Brocklehursts ihre Taschentücher hervorzogen und sie an die Augen führten, während die ältere Dame sich hin und her wiegte und die beiden jüngeren flüsterten: »Wie entsetzlich!«
Mr. Brocklehurst begann von neuem.
»Dies alles erfuhr ich durch ihre Wohlthäterin; durch die fromme und barmherzige Dame, welche sich der verlassenen Waise annahm, sie wie ihre eigene Tochter erzog, und deren Güte, deren Großmut dieses unglückliche Mädchen durch eine so schwarze, so schändliche Undankbarkeit vergalt, daß ihre ausgezeichnete Beschützerin gezwungen war, sie von ihren eigenen Kindern zu trennen, aus Furcht, daß ihre lasterhafte Verderbtheit die Reinheit der Kleinen besudeln könne. Sie hat sie hierher gesandt, um geheilt zu werden, wie die Juden des Altertums ihre Aussätzigen an den wogenden See von Bethesda schickten. Und daher, Vorsteherin, Lehrerinnen, ich flehe Sie an, lassen Sie die Wellen um dieses Kind nicht zum Stillstand kommen.«
Mit diesen erhabenen Schlußworten knöpfte Mr. Brocklehurst den obersten Knopf seines Überziehers zu, und murmelte etwas zu seiner Familie gewendet. Diese erhob sich, verneigte sich gegen Miß Temple – und dann segelten all die vornehmen Leute mit großem Pomp zur Thür hinaus. Mein Richter aber wandte sich noch einmal um und sagte:
»Laßt sie noch eine halbe Stunde auf jenem Stuhl stehen, und daß keiner von euch während des ganzen übrigen Tages mit ihr spricht.«
Da stand ich also, hoch erhoben über alle; ich, die ich so oft gesagt, daß ich die Schande nicht ertragen würde, auf meinen eigenen, natürlichen Füßen in der Mitte des Zimmers zu stehen – ich stand nun da, allen Blicken ausgesetzt auf einem Piedestal der Schande, Worte vermögen nicht zu beschreiben, welcher Art die Gefühle waren, die in mir tobten; aber gerade in dem Augenblick, wo sie mir die Kehle zusammenschnürten und mir den Atem zu rauben drohten, ging ein Mädchen an mir vorbei. Und im Vorbeigehen richtete sie ihre Blicke auf mich. Welch ein seltsames Licht strömten sie über mich aus! Welch ein wunderbares Gefühl weckten ihre Strahlen in mir! Und wie stark dies bis jetzt ungekannte Empfinden mich machte! Es war, als sei ein Held, ein Märtyrer an einem Sklaven oder an einem Opfer vorübergegangen und hätte ihm dadurch Mut und Kraft eingeflößt. Ich beherrschte und überwältigte den Weinkrampf, der sich meiner bemächtigen wollte, erhob das Haupt und stand dann fest und ohne Beben auf dem Stuhl. Helen Burns stellte eine unbedeutende Frage über ihre Arbeit an Miß Smith, wurde wegen der Trivialität derselben gescholten, ging an ihren Platz zurück und lächelte mir im Vorübergehen wiederum zu. Welch ein Lächeln!! Noch heute erinnere ich mich dessen und ich weiß, daß es der Ausfluß eines großen Geistes, eines wahren Mutes war; es verklärte ihre scharfen Züge, ihr abgemagertes Gesicht, ihre eingesunkenen, grauen Augen wie der Wiederschein von der Gestalt eines Engels. Und doch trug Helen Burns in diesem Augenblick die »Binde der Unordnung« an ihrem Arm; vor kaum einer Stunde hatte ich erst vernommen, wie Miß Scatcherd sie für den morgenden Tag verdammte, ein Mittagmahl von Wasser und Brot zu halten, weil sie eine Übung beim Abschreiben mit Tinte befleckt hatte. Dies ist die unvollkommene Natur des Menschen! Solche Flecke giebt es auf der Scheibe des strahlendsten Planeten, und Augen wie Miß Scatcherds sind nur imstande diese kleinlichen Mängel und Fehler zu entdecken; für den vollen Glanz des Gestirns sind sie blind!
Wie es schien, befolgte Mr. Rochester den Befehl des Arztes indem er an diesem Abend frühzeitig zu Bett ging. Am folgenden Morgen stand er spät auf. Als er dann herunterkam, war es nur, um sich den Geschäften zu widmen; sein Bevollmächtigter und einige seiner Pächter waren gekommen und warteten jetzt, um mit ihm sprechen zu können.
Adele und ich mußten das Bibliothekzimmer jetzt räumen; es sollte täglich als Empfangszimmer für die Besucher dienen. Im oberen Stockwerk wurde ein Zimmer geheizt; dorthin trug ich unsere Bücher und richtete es als künftiges Schulzimmer ein. Im Laufe des Morgens hatte ich noch Gelegenheit wahrzunehmen, daß Thornfield-Hall ein anderer Ort geworden; es war nicht mehr still wie in einer Kirche; zu jeder Stunde hallte ein lautes Klopfen an der Thür oder der Ton der Glocke durch das Haus; oft ertönten Schritte in der Halle; von unten herauf vernahm man den Schall fremder Stimmen. Ein Bächlein aus der Außenwelt rieselte plötzlich durch unser stilles Heim. Thornfield hatte einen Herrn bekommen. Mir gefiel es jetzt besser.
An diesem Tage war es nicht leicht, Adele zu unterrichten; sie konnte sich nicht sammeln. Jeden Augenblick lief sie zur Thür und blickte über das Treppengeländer hinab, um zu sehen, ob sie nicht einen Schimmer von Mr. Rochester erhaschen könne. Dann erfand sie allerlei Vorwände, um hinuntergehen zu dürfen; ich vermute, daß sie nur in die Bibliothek gehen wollte, wo sie, wie ich sehr wohl wußte, durchaus nicht gebraucht wurde. Als ich dann ein wenig ärgerlich wurde und ihr befahl, still zu sitzen, begann sie unaufhörlich von ihrem »Ami, Monsieur Edouard Fairfax de Rochester,« wie sie ihn taufte, zu sprechen, – ich hatte seine Vornamen bis jetzt noch nicht gekannt – und Vermutungen über die Geschenke anzustellen, welche er ihr möglicherweise mitgebracht hatte; denn wie es schien, hatte er ihr abends zuvor angedeutet, daß wenn sein Gepäck aus Millcote käme, sie eine kleine Schachtel finden würde, deren Inhalt sie möglicherweise interessieren könne.
»Et cela doit signifier,« sagte sie, »qu’il y aura lá dedans un cadeau pour moi, et peut-etre pour vous aussi, Mademoiselle. Monsieur a parlé de vous: il m’a demandé le nom de ma gouvernante, et si elle n’etait pas une petite personne, assez mince et un peu pale, J’ai dit que oui: car c’est vrai, n’est-ce pas, Mademoiselle?« Und das soll bedeuten, daß ein Geschenk für mich darin sein wird, und vielleicht auch für Sie, Fräulein. Der Herr hat von Ihnen gesprochen: er hat mich nach dem Namen meiner Gouvernante gefragt, und ob diese nicht eine kleine Person sei, ziemlich dünn und ein wenig bleich. Ich habe Ja gesagt; denn es ist wahr, Fräulein, nicht wahr?
Wie gewöhnlich speisten meine Schülerin und ich in Mrs. Fairfaxs Wohnzimmer. Der Nachmittag war rauh und es schneite, und wir brachten denselben im Schulzimmer zu. Mit Dunkelwerden erlaubte ich Adele, Bücher und Arbeiten fortzulegen und hinunter zu laufen; denn aus der verhältnismäßigen Stille unten und dem Aufhören des Läutens an der Hausthürglocke schloß ich, daß Mr. Rochester jetzt unbeschäftigt sei. Allein geblieben, trat ich ans Fenster; aber man konnte nichts mehr sehen; die Dämmerung und das Schneegestöber verdunkelten die Luft und verbargen sogar das Gebüsch auf dem Wiesenplan vor dem Hause. Ich zog die Vorhänge zusammen und setzte mich wieder an das Feuer.
Aus der leichten Asche versuchte ich ein Bild zu erkennen, welches große Ähnlichkeit mit einer Ansicht des Heidelberger Schlosses am Neckar hatte. Da trat Mrs. Fairfax ein. Damit fiel das feurige Mosaik zusammen, mit dem ich mich beschäftigt hatte, und zugleich zerstoben auch einige trübe, schwere, unwillkommene Gedanken, die angefangen hatten, meine friedliche Einsamkeit zu stören.
»Es würde Mr. Rochester sehr angenehm sein, wenn Sie und Ihre Schülerin heute Abend den Thee mit ihm im Salon einnehmen wollten,« sagte sie, »er ist während des ganzen Tages so sehr beschäftigt gewesen, daß er bis jetzt keine Zeit gehabt, Sie aufzusuchen.«
»Um welche Zeit nimmt er den Thee?« fragte ich.
»O, um sechs Uhr. Auf dem Lande hält er sich an frühe Stunden. Es wäre am besten, wenn Sie jetzt schon gingen, um Ihre Toilette zu wechseln. Ich werde mit Ihnen gehen, um Ihnen zu helfen. Hier ist eine Kerze.«
»Ist es denn durchaus notwendig, meine Kleidung zu wechseln?«
»Ja, es ist besser, wenn Sie es thun. Ich mache stets Toilette für den Abend, wenn Mr. Rochester hier ist.«
Diese Ceremonie erschien mir ein wenig pomphaft. Indessen begab ich mich auf mein Zimmer und mit Mrs. Fairfaxs Hilfe tauschte ich mein schwarzes wollenes Kleid gegen ein seidenes von gleicher Farbe; es war das beste und nebenbei auch das einzige, welches ich besaß, mit Ausnahme eines hellgrauen, welches nach meinen Toilettenbegriffen, die ich aus Lowood mitgebracht, zu prächtig und elegant war, um es bei anderen als höchst feierlichen Gelegenheiten zu tragen.
»Sie brauchen noch eine Brosche,« sagte Mrs. Fairfax. Ich besaß einen einzigen kleinen Schmuckgegenstand aus echten Perlen, welchen Miß Temple mir beim Abschied als Andenken geschenkt hatte; diesen legte ich an und dann gingen wir hinunter. Ich war nicht an den Verkehr mit Fremden gewöhnt, und daher war es fast eine schwere Prüfung für mich, so förmlich aufgefordert vor Mr. Rochester zu erscheinen. Ich ließ Mrs. Fairfax zuerst in das Speisezimmer eintreten und hielt mich in ihrem Schatten, als wir dieses Gemach durchschritten. Dann gingen wir unter dem Bogen durch, dessen Vorhänge jetzt herabgelassen waren, und traten in die elegante Vertiefung, welche sich hinter demselben befand.
Zwei Wachskerzen brannten auf dem Tische und zwei auf dem Kamin; in der Hitze und dem Licht eines prächtig lodernden Feuers lag Pilot – neben ihm kniete Adele. Halb zurückgelehnt auf einem Ruhebett lag Mr. Rochester; sein Fuß war durch ein Polster gestützt; er blickte auf Adele und den Hund; der Schein des Feuers fiel voll auf sein Gesicht. Ich erkannte sofort den Reiter mit der hohen Stirn und den dichten, kohlschwarzen Augenbrauen wieder; das schwarze Haar ließ die Stirn noch weißer erscheinen. Ich erkannte seine scharf geschnittene Nase wieder, die mehr charakteristisch als schön war; seine vollen Nüstern deuteten auf eine cholerische Natur; sein grimmer Mund, das Kinn, die Kinnbacken – ja, alle drei waren grimmig, darüber konnte kein Irrtum obwalten. Seine Gestalt, die jetzt des Mantels entkleidet war, harmonierte an Schärfe mit seinem Gesicht. Ich vermute, daß man sie vom athletischen Standpunkt aus schön hätte nennen können, – die Brust war breit, die Hüften schmal; aber sie war weder schlank noch geschmeidig.
Mr. Rochester mußte Mrs. Fairfaxs und meinen Eintritt wohl bemerkt haben; aber ich vermute, daß er nicht in der Laune war, Notiz von uns zu nehmen, denn er wandte nicht einmal den Kopf, als wir näher traten.
»Hier ist Miß Eyre, mein Herr,« sagte Mrs. Fairfax in ihrer ruhigen Weise. Er neigte den Kopf leicht, aber immer wandte er noch keinen Blick von der Gruppe des Hundes mit dem Kinde.
»Lassen Sie Miß Eyre Platz nehmen,« sagte er, und in der förmlichen, steifen Verbeugung, in dem ungeduldigen gezwungenen Ton lag etwas, das zu sagen schien: »Was zum Teufel kümmert es mich, ob Miß Eyre da ist oder nicht? In diesem Augenblick verspüre ich keine Lust, mit ihr zu sprechen.«
Ich setzte mich und meine Verlegenheit war gänzlich geschwunden. Ein Empfang von äußerster Höflichkeit würde mich wahrscheinlich verwirrt haben; ich hätte ihn nicht durch Eleganz oder Grazie meinerseits erwidern können; aber solche schroffe Launen legten mir keine Verpflichtung auf; im Gegenteil, ich errang einen leichten Vorteil über ihn durch seinen Mangel an guter Manier, den ich schweigend zu ignorieren schien. Außerdem war mir das Außergewöhnliche seines Verfahrens pikant. Es interessierte mich zu beobachten, wie es nun weiter gehen würde.
Er benahm sich also weiter, wie eine Statue es ungefähr gethan haben würde; das heißt, er sprach weder, noch bewegte er sich. Mrs. Fairfax schien es für notwendig zu halten, daß einer von uns sich liebenswürdig zeige, und so begann sie zu sprechen. Freundlich wie gewöhnlich und wie gewöhnlich auch zuerst sehr alltäglich, begann sie ihn wegen der dringenden Geschäfte zu bemitleiden, mit welchen er während des ganzen Tages überbürdet gewesen, wegen der Verrenkung, welche ihm große Schmerzen verursachen müsse, – dann begann sie, ihm Geduld und Ausdauer während des Verlaufs seiner Heilung anzuempfehlen.
»Madame, ich bitte um eine Tasse Thee,« lautete die einzige Antwort, welche sie erhielt. Sie beeilte sich, die Glocke zu ziehen; und als das Theebrett gebracht wurde, begann sie, die Tassen, Löffel u. s. w. mit geschäftiger Schnelligkeit zu ordnen. Adele und ich gingen an den Tisch; aber der Hausherr verließ sein Ruhebett nicht.
»Wollen Sie Mr. Rochester die Tasse reichen?« sagte Mrs. Fairfax zu mir. »Adele könnte den Thee verschütten.«
Ich that, was sie begehrte. Als er mir die Tasse aus der Hand nahm, rief Adele, welche den Augenblick vielleicht für geeignet hielt, eine Bitte zu meinen Gunsten auszusprechen:
»N’est-ce pas, Monsieur, qu’il y a un cadeau pour Mademoiselle Eyre dans votre petit coffre?« Nicht wahr, mein Herr, in Ihrem Koffer liegt ein Geschenk für Fräulein Eyre?
»Wer redet von cadeaux?« fragte er rauh. »Haben Sie ein Geschenk erwartet, Miß Eyre? Lieben Sie vielleicht Geschenke?« und forschend blickte er mir ins Gesicht mit Augen, in denen Zorn und Ärger blitzten.
»Ich weiß es kaum, mein Herr; ich habe in dieser Beziehung wenig Erfahrung. Aber im allgemeinen hält man sie doch für sehr angenehme Dinge.«
»Im allgemeinen hält man sie dafür!! Aber was halten Sie davon?«
»Ich müßte mir wirklich Zeit nehmen, Sir, um zu überlegen, bis ich eine Antwort finden könnte, die Ihrer Annahme würdig wäre. Ein Geschenk hat viele Gesichter. Nicht wahr? Und man sollte jedes einzelne betrachten, ehe man eine Meinung über seine Beschaffenheit ausspricht.«
»Miß Eyre, Sie sind nicht so harmlos und einfach wie Adele; sie verlangt laut ein cadeau, sobald sie meiner ansichtig wird. Sie hingegen klopfen auf den Busch.«
»Weil ich weniger Vertrauen zu meinen Verdiensten habe, als Adele; sie kann das Recht der Gewohnheit und die alte Bekanntschaft geltend machen, denn sie hat mir erzählt, daß Sie ihr stets Spielsachen zu schenken pflegten. Mir würde es aber die größte Schwierigkeit bereiten, wenn ich irgend einen berechtigten Anspruch an Sie erheben sollte, denn ich bin eine Fremde und habe nichts gethan, um eine Belohnung von Ihnen zu verdienen.«
»O, bitte, verfallen Sie jetzt nicht in das Extrem zu großer Bescheidenheit! Ich habe Adele examiniert und finde, daß Sie sich mit ihr große Mühe gegeben haben. Sie ist nicht besonders aufgeweckt; sie hat kein großes Talent, und doch hat sie in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht.«
»Sir, jetzt haben Sie mir mein cadeau gegeben; ich bin Ihnen außerordentlich dankbar; nichts kann einem Lehrer größere Freude machen als Lob über die Fortschritte seiner Schüler.«
»Bah!« sagte Mr. Rochester und trank dann seinen Thee schweigend aus.
»Kommen Sie hierher ans Feuer,« sagte der Hausherr, als das Theegeschirr abgetragen war und Mrs. Fairfax sich mit ihrem Strickzeug in einen Winkel setzte, und Adele mich an der Hand durch das ganze Zimmer führte, um mir all die prächtigen Bücher und Nippsachen auf Konsolen und Chiffonnièren zu zeigen. Wir gehorchten pflichtschuldigst. Adele wollte auf meinem Schoß Platz nehmen, aber es wurde ihr anbefohlen, sich mit Pilot zu amüsieren.
»Sie halten sich jetzt schon drei Monate in meinem Hause auf?«
»Ja, Sir.«
»Und Sie kamen aus––––––?«
»Aus der Schule zu Lowood in …. shire.«
»Ah! eine Wohlthätigkeitsanstalt! – Wie lange waren Sie dort?«
»Acht Jahre.«
»Acht Jahre! Sie müssen ein zähes Leben haben. Ich meinte, daß die Hälfte der Zeit genügen müsse, um jede Konstitution aufzureiben! Kein Wunder, daß Sie beinahe aussehen, als kämen Sie aus einer anderen Welt. Ich habe mich schon ganz erstaunt gefragt, woher Sie ein solches Gesicht haben konnten. Als Sie mir gestern Abend in dem Heckenwege entgegen kamen, mußte ich unwillkürlich an Gespenstergeschichten denken und ich hatte schon die Absicht zu fragen, ob Sie mein Pferd behext hätten. Ganz sicher bin ich dessen auch jetzt noch nicht. Wer sind Ihre Eltern?«
»Ich habe keine.«
»Und hatten vermutlich auch niemals welche; erinnern Sie sich ihrer nicht?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir. So warteten Sie also auf Ihre Leute, als Sie dort am Zaun saßen.«
»Auf wen, Sir?«
»Auf die Männchen in Grün. Es war gerade eine rechte Mondscheinnacht für sie. Habe ich vielleicht einen Ihrer Zauber gebrochen, daß Sie das verdammte Eis über den Fußsteig zogen?« Ich schüttelte den Kopf. »Die Männer in Grün haben alle schon vor hundert Jahren England verlassen,« sagte ich und sprach ebenso ernst, wie er es gethan hatte. »Und nicht einmal im Heckengäßchen von Hay oder auf den umliegenden Feldern würden Sie jetzt noch eine Spur von ihnen finden. Ich glaube, daß weder Herbst-noch Sommer-noch Wintersonne jemals wieder auf ihre Feste herabscheinen wird.«
Mrs. Fairfax hatte ihr Strickzeug auf den Schoß sinken lassen und mit emporgezogenen Augenbrauen hörte sie erstaunt auf unser Gespräch.
»Nun,« fuhr Mr. Rochester fort, »wenn Sie nun auch Ihre Eltern verleugnen, so müssen Sie doch irgend welche Verwandte haben, Onkel oder Tanten?«
»Keine, die ich jemals gesehen.«
»Und Ihr Heim?«
»Ich habe keins.«
»Wo leben denn Ihre Brüder und Schwestern?«
»Ich habe weder Brüder noch Schwestern,«
»Wer empfahl Ihnen denn hierher zu kommen?«
»Ich ließ eine Annonce in die Zeitung rücken, und Mrs. Fairfax beantwortete diese Annonce.«
»Ja,« sagte die gute Dame, welche jetzt wußte, auf welchem Boden wir uns bewegten, »und täglich danke ich der Vorsehung für die Wahl, welche sie mich treffen ließ. Miß Eyre ist eine unschätzbare Gefährtin für mich, und eine gütige, sorgsame, pflichtgetreue Lehrerin für Adele.«
»Bemühen Sie sich nicht, ihr ein Zeugnis auszustellen,« entgegnete Mr. Rochester, »Lobeserhebungen ködern mich nicht. Ich werde für mich selbst urteilen. Sie hat damit angefangen, mein Pferd zu Boden zu strecken.«
»Sir?« sagte Mrs. Fairfax.
»Ich habe ihr diese Verrenkung zu danken.«
Die Witwe blickte uns erstaunt an. »Miß Eyre, sagen Sie mir, haben Sie jemals in einer Stadt gewohnt?«
»Nein, Sir.«
»Haben Sie viel Gesellschaft gesehen?«
»Keine andere als die Schülerinnen und Lehrerinnen von Lowood; und jetzt die Bewohner von Thornfield.«
»Haben Sie viel gelesen?«
»Nur solche Bücher, derer ich zufällig habhaft werden konnte; und diese waren weder sehr zahlreich noch sehr gelehrt.«
»Sie haben das Leben einer Nonne geführt; ohne Zweifel sind Sie in religiösen Formen gut geschult; – Brocklehurst, welcher, wie ich glaube Direktor von Lowood, ist ein Prediger, wenn ich nicht irre?«
»Ja, Sir.«
»Und die Mädchen verehrten ihn wahrscheinlich, wie die Nonnen eines Klosters ihren Priester anbeten!«
»O nein!«
»Sie sind sehr aufrichtig! Nein! Was! Eine Novize, die ihren Priester nicht vergöttert! Das klingt doch fast wie Blasphemie!«
»Ich liebte Mr. Brocklehurst durchaus nicht; und ich stand mit meinem Gefühl nicht allein da. Er ist ein harter Mann, der unendlich übermütig war und sich stets Übergriffe erlaubte. Er ließ uns das Haar abschneiden, und aus Sparsamkeit kaufte er schlechte Nähnadeln und schlechten Zwirn, mit denen wir kaum nähen konnten.«
»Das war eine sehr verkehrte Sparsamkeit,« bemerkte Mrs. Fairfax, welche den Faden des Gesprächs jetzt wieder aufnehmen konnte.
»Und war dies das größte und schwärzeste seiner Verbrechen?« fragte Mr. Rochester.
»Er ließ uns beinahe verhungern, als er die alleinige Aufsicht über das Verpflegungsdepartement führte, bevor noch das Comite eingesetzt wurde; und wöchentlich einmal langweilte er uns mit langen Vorträgen und mit abendlichen Vorlesungen aus Büchern, die er selbst zu wählen pflegte; diese handelten stets von plötzlichen Todesfällen und fürchterlichen Strafen, so daß wir abends stets gequält und geängstigt zu Bette gingen.«
»Wie alt waren Sie, als Sie nach Lowood kamen?«
»Ungefähr zehn Jahre alt.
»Und acht Jahre blieben Sie dort. Na sind Sie also jetzt achtzehn Jahre alt?«
Ich nickte bejahend.
»Wie Sie sehen ist die Arithmetik sehr nützlich. Ohne Ihre Hilfe wäre ich kaum imstande gewesen, Ihr Alter zu erraten. Es ist das eine sehr schwierige Sache in einem Falle, wo Züge und Gesichtsausdruck so sehr im Widerspruch miteinander stehen, wie es bei Ihnen der Fall ist. Und nun erzählen Sie mir, was Sie in Lowood gelernt haben. Können Sie Klavier spielen?«
»Ein wenig.«
»Natürlich ‘ein wenig’. Das ist so die gewöhnliche Antwort. Gehen Sie in die Bibliothek – d. h. wenn Sie so liebenswürdig sein wollen. – Verzeihen Sie meinen Kommandoton; ich bin daran gewöhnt zu sagen: ,Thun Sie dies’, und es ist geschehen; ich kann meine alten Gewohnheiten eines einzigen neuen Hausgenossen zu Liebe nicht ablegen – Gehen Sie also in die Bibliothek; nehmen Sie eine Kerze mit, lassen Sie die Thür offen, setzen Sie sich ans Klavier und spielen Sie ein Lied.«
Ich ging, um seinen Weisungen Folge zu leisten.
»Genug!« rief er nach wenigen Minuten. »Sie spielen allerdings ‘ein wenig’, ich sehe schon; gerade so wie jedes andere englische Schulmädchen, vielleicht noch ein wenig besser, aber durchaus nicht gut.«
Ich schloß das Klavier und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Mr. Rochester fuhr fort:
»Adele hat mir heute Morgen einige Skizzen gezeigt, von denen sie sagte, daß es die Ihrigen seien. Ich weiss nicht, ob dieselben Ihr Werk allein sind, – wahrscheinlich hat ein Lehrer Ihnen dabei geholfen?«
»Nein, gewiß nicht!« rief ich schnell.
»Ah! da erwacht die Eitelkeit. Gut also holen Sie Ihr Portefeuille, wenn Sie dafür bürgen können, daß es nur Originale enthält; aber geben Sie Ihr Wort nicht, wenn Sie nicht ganz sicher sind. Ich erkenne sofort jedes Flickwerk.«
»Dann werde ich also gar nichts sagen, Sir, und Sie werden selbst urteilen.«
Ich holte das Portefeuille aus der Bibliothek.
»Bringen Sie mir den Tisch heran,« sagte er, und ich schob denselben an sein Ruhebett. Adele und Mrs. Fairfax kamen auch heran, um die Bilder zu sehen.
»Kein Gedränge,« sagte Mr. Rochester, »nehmen Sie mir die Zeichnungen aus der Hand, wenn ich damit fertig bin; aber drücken Sie Ihre Gesichter nicht an das meine,«
Mit Muße betrachtete er jedes Bild, jede Zeichnung. Drei von diesen legte er beiseite; die andern schob er von sich, nachdem er sie geprüft hatte.
»Nehmen Sie sie nach jenem Tische dort, Mrs. Fairfax,« sagte er, »und betrachten Sie sie mit Adele; – Sie, (mit einem Blicke auf mich) nehmen Ihren Sitz wieder ein und beantworten meine Fragen. Ich sehe, daß diese Skizzen von einer Hand herrühren; war es die Ihre?«
»Ja.«
»Und wann haben Sie Zeit gefunden, sie zu machen? Sie haben viel Zeit und auch einiges Nachdenken erfordert.«
»Während der letzten Ferien entwarf ich sie in Lowood, als ich keine andere Beschäftigung hatte.«
»Woher haben Sie die Motive genommen?«
»Aus meinem eigenen Kopfe.«
»Aus dem Kopfe, den ich jetzt da auf Ihren Schultern sehe?« »Ja, Sir.«
»Hat er noch mehr dergleichen Vorräte in sich?«
»Ich meine wohl; aber ich hoffe, daß er deren noch bessere in sich trägt.«
Er breitete die Bilder wieder vor sich aus und betrachtete sie abwechselnd.
Während er noch damit beschäftigt ist, will ich dir, lieber Leser, erzählen, was sie vorstellen, und vor allen Dingen muß ich vorausschicken, daß sie durchaus nichts wunderbares sind. Die Motive hatten sich mir lebhaft aufgedrängt. Als ich sie mit dem geistigen Auge sah, bevor ich versuchte, sie zu verkörpern, waren sie allerdings außergewöhnlich; aber mein Pinsel konnte mit meiner Fantasie nicht gleichen Schritt halten, und in allen drei Fällen war die Ausführung nur ein schwaches Abbild dessen geworden, was mir vorgeschwebt hatte.
Die Bilder waren in Wasserfarben ausgeführt. Das erste stellte düstere, blaugraue, niedrighängende Wolken über einer wildbewegten See dar. Die ganze Ferne lag in Finsternis da und ebenso der Vordergrund oder vielmehr die vorderen Wellen, denn es war gar kein Land auf dem Bilde. Ein einziger Lichtstrahl fiel auf einen halb aus dem Wasser hervorragenden Mast, auf welchem ein Wasserrabe sah, dunkel und groß, dessen Flügel mit Wellenschaum bespritzt waren’; im Schnabel hielt er ein goldenes Armband, welches mit Edelsteinen reich besetzt war; diesen hatte ich die reichsten Farben verliehen, welche meine Palette herzugeben vermocht, die strahlendste Deutlichkeit, deren mein Zeichenstift fähig gewesen. Hinter Mast und Vogel schien ein ertrunkener Leichnam in dem grünen Wasser zu versinken; ein weißer Arm war das einzige Glied, das deutlich sichtbar; von ihm war das Armband herunter gespült oder gerissen.
Der Vordergrund des zweiten Bildes zeigte nur die neblige Spitze eines Hügels, von welchem einige Blätter und Grashalme wie vom Winde getrieben, herabrollten. Hinter und über dem Bergesgipfel breitete sich der Himmelsbogen aus, tiefblau wie zur Dämmerzeit; in den Himmel hinein ragte das Brustbild einer Frau, in so weichen und unbestimmten Farben gemalt, wie es mir nur möglich gewesen, zusammenzustellen. Die klare Stirn war von einem Stern gekrönt, die unteren Gesichtszüge sah man nur wie durch dichten Nebel; die Augen glänzten dunkel und wild; das Haar fiel schattengleich herab, wie eine strahlenlose Wolle, welche der Sturm oder die elektrische Kraft zerrissen hat. Auf ihrem Nacken lag ein bleicher Schein wie von Mondesstrahlen herrührend; derselbe matte Glanz ruhte auf den dünnen Wolken, aus welchen diese Vision des Abendsterns emporzusteigen schien.
Das dritte Bild zeigte den Gipfel eines Eisberges, welcher in den nördlichen Winterhimmel hineinragte. Am Horizont schoß ein Nordlicht seine schlanken Lanzen dicht nebeneinander empor. Diese in die Ferne schleudernd, erhob sich im Vordergrund ein Kopf – ein kolossaler Kopf, welcher sich dem Eisberg zuneigte und an diesem ruhte. Zwei magere Hände, welche sich unter der Stirn kreuzten und diese stützten, zogen einen schwarzen Schleier vor die unteren Gesichtszüge; eine bleiche Stirn, weiß wie Elfenbein und ein hohles, starres Auge; das leinen anderen Ausdruck hatte als den der Verzweiflung, waren allein sichtbar. Über den Schläfen, zwischen turbanartigen Falten einer düstern Draperie, die in Form und Farbe unbestimmt wie eine Wolke war, glänzte ein Ring von weißen Flammen, auf dem hier und da Funken von intensiverem Glanz leuchteten. Dieser blasse Halbkreis war »das Ebenbild einer Königskrone; was diese krönte, war die Form, die keine Form hat,«
»Waren Sie glücklich, als Sie diese Bilder malten?« fragte Mr. Rochester.
»Ich hatte mich in die Arbeit vertieft, Sir; ja – ich war glücklich. Als ich sie malte, empfand ich eine der höchsten Freuden, die ich jemals gekannt.«