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Erster Teil
Zweiter Teil
Inhaltsverzeichnis
»Eigentlich ist es doch zu albern! Diese Toiletten, Gesellschaftsfratzen – wie daheim – mitten in der Hochsaison – und das nennt man Sommerfrische, dazu reist man ins Hochgebirge! Einfach verrückt!«
Gottliebe Rhyngaert drückte, nach einem langen verächtlichen Blick über ihre Umgebung, die Zigarette so energisch auf der versilberten Aschenschale aus, als könnte sie damit der ganzen, ihr so widerwärtigen Gesellschaft ringsum den Garaus machen.
In der Tat sah es im weiten, kühldämmerigen Vestibül des eleganten Trafoi-Hotels nicht nach einem Bergwirtshaus aus. In die komfortablen, rotlackierten Korbsessel bequem zurückgelehnt, saßen die Hunderte von Hotelgästen mit jener behaglich faulen Siestastimmung, die der gute Lunch in ihnen erzeugt hatte. Der schwere, süßlich-aromatische Duft von Parfüms, Mokka und Zigaretten legte sich fast lähmend um die Sinne im Verein mit dem schwirrenden Lärm der schwatzenden und flirtenden Gesellschaft, eines internationalen Gemisches von Leuten in zumeist höchst elegantem, tadellosem Anzuge. Die paar Herren im Touristenkostüm und Damen in einfacher Hemdbluse fielen ordentlich auf.
Dietrich Bessow, selber im Smoking, sah seine Nachbarin an dem zierlichen Korbtischchen, auf dem das silberne Mokkaservice blinkte, einen Augenblick schweigend an; beobachtend, mit einem leis-ironischen Zug um die Lippen, über denen der nach der neuesten englischen Mode ganz kurz geschnittene blonde Schnurrbart stand.
Dann sagte er, sein Zigarettenetui aus der Brusttasche nehmend, in seiner halblauten, vornehm gedämpften Art:
»Sie belieben heut besonders kritisch zu sein, mein gnädiges Fräulein. Aber darf ich bitten?«
Doch sie wies lebhaft das ihr dargebotene Etui ab.
»Danke, ich rauche nicht mehr.«
Die Tante neben ihr am Tisch atmete erleichtert auf. Die Frau Major Morell, noch ganz eine Dame der alten Schule, konnte diese modernen Freiheiten für den Tod nicht ausstehen, aber Gottliebe ließ sich ja bei ihrem starren Eigensinn leider gar nicht beeinflussen in ihren exzentrischen Neigungen.
Gottliebes Ablehnung geschah denn auch beileibe nicht aus Rücksicht auf die Tante. Nein! Sie mochte einfach nicht. Aus Opposition gegen diese sich so modern gebärdende Gesellschaft ringsum, die sie in ihrer augenblicklichen Laune so reizte, daß sie am liebsten irgend etwas ganz Tolles, Unmögliches angegeben hätte, nur um ihrer widerwärtigen, langweiligen Korrektheit und Manieriertheit einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. Am liebsten hätte sie da dem steifleinenen Pedanten ihr zur Seite sein silbernes Etui an den Kopf geworfen!
Den ganzen Lunch über hatte sie sich über den Regierungsrat Bessow geärgert, und nun jetzt wieder dies geheime, spöttisch-überlegene Lächeln, das sie wohl gemerkt hatte! Aber wenn er glaubte, sie mit dieser Art erziehen zu können, so irrte er ganz gewaltig. Ganz im Gegenteil, das trieb sie nun erst recht in ihre Eigenheiten hinein.
Bessow steckte mit leichter Verneigung das Etui wieder ein. Sein Blick glitt dabei einen Moment durch das breite Eingangsportal des Vestibüls hinaus ins Freie, wo, im scharfen Kontrast zum tiefen Schatten dieser Halle, eine heiße Sonnenlicht flimmerte.
»Da kommt eine Partie zurück – gewiß vom Ortler.« Er wies leicht mit der Zigarette auf eine kleine Gruppe von Männern, die jetzt draußen auf dem Vorplatz haltgemacht hatte; ihrer vier, alle in derber Bergsteigerausrüstung, von Sonne und Staub arg mitgenommen. »Unglaublich! Die leibhaftigen Vagabunden!« In ästhetischem Abscheu betrachtete Bessow die rotgebrannten, schweißperlenden Gesichter und die verstaubte, zerdrückte Kleidung bis hinunter zu den fettgeschmierten Nagelschuhen von schwerstem Kaliber. Die Kerls werden doch nicht hier ins Hotel –«
Der Gedanke, mit solchen durchschwitzten Leuten in einem Raume zu weilen, verursachte ihm ein wirkliches Grauen.
Gottliebe Rhyngaert sah nun auch hinaus auf die vier. Im Grunde hatte sie früher oftmals genau so gedacht wie der Regierungsrat, namentlich wenn sie auf der Poststraße von der hohen Bankette der Mailcoach aus stolz-verächtlich auf die in dem Straßenstaub marschierenden Touristinnen mit dem zerzausten Haar um die rotglänzenden Gesichter hinabgeschaut hatte. Heute aber rief Bessows Bemerkung nur ihren Widerspruch wach.
»Warum nicht?« Lebhaft die Stimme erhebend, musterte Gottliebe die Leute draußen, von denen sich jetzt zwei, die Touristen, von den beiden anderen, den Führern, verabschiedeten.
»Wenn die Leute einen Smoking anhaben, sind sie sicherlich Gentlemen so gut wie Sie!«
Der Regierungsrat zog leicht die Brauen zusammen. Der vergleich war ihm peinlich. Gewiß, möglicherweise waren die beiden da draußen auch Leute der sogenannten »Gesellschaft« – sehr leicht sogar auch Juristen. Jetzt, in den Gerichtsferien, wimmelte es ja leider in den Bergen von solchen. Aber irgend so ein rauhbeiniger Rechtsanwalt oder verbauerter Amtsrichter, so ein »Röllchen« und Jägerhemden tragendes Individuum war doch längst nicht seinesgleichen! Eigentlich hätte er ja über diese Zumutung einfach lächeln sollen, aber Gottliebe Rhyngaert hatte ihm heute schon zu übel mitgespielt. Er mußte ihr endlich einmal angemessen erwidern.
»wenn Sie Geschmack an diesen Herrschaften finden – bitte sehr«, spöttelnd verneigte er sich vor ihr. »Aber Sie müssen mir schon gestatten, für meine Person den Begriff des Gentleman etwas anders aufzufassen. Nach meiner Auffassung darf ein Gentleman eben niemals – nie – mals – wie ein Rowdy aussehen!«
»Sie würden also in Frack und Lackstiefeln auf den Ortler hinaufgehen!« höhnte Gottliebe.
»Ich würde nie hinaufgehen.«
»Das ist freilich das Bequemere und – Ungefährlichere!«
In Bessows Zügen zuckte es sekundenlang auf. Mit geheimer Freude sah sie es: der Hieb hatte gesessen. Dann aber nahmen seine Mienen gleich wieder die gewohnte Ruhe an.
»Ich habe keinerlei Veranlassung, erst derartige Beweise für meinen Mut zu erbringen. Im übrigen – wenn ich nicht irre, gnädigstes Fräulein – haben auch Sie ja noch nie Gipfel gestürmt.«
Gottliebe fuhr auf, nun ihrerseits getroffen.
»wollen Sie damit sagen, daß ich es aus Feigheit nicht getan hätte?«
Ihre dunklen Augen blitzten ihn drohend an.
»Aber bitte«, wehrte er mit höflicher Handbewegung ab. »Nur, Sie werden mir zugeben: Man soll nicht attackieren, wenn man selbst Blößen hat.«
Gottliebe biß sich auf die Lippen. Gerade weil er recht hatte, brannte der Trotz in ihr um so höher auf. Und der Gedanke, er könnte ihr wirklich Furchtsamkeit oder Schwäche Zutrauen, schürte ihre Erregung noch mehr.
»Wenn ich bisher keine Hochtouren gemacht habe, hatte das seine anderen Gründe. Nun aber könnte es mich reizen –«
»Um Gottes willen!« fuhr jetzt die Tante aus ihrer Reserve auf; sie hatte bisher der schon gewohnten Plänkelei zwischen den beiden nur mit halbem Ohr zugehört. »Nun fang' auch noch mit so etwas an!«
»Wahrhaftig?« spöttelte Bessow seinerseits. »Sie gehen vielleicht gleich morgen auf den Ortler.«
»Warum nicht? wenn ich's mir vornehme!«
»Ich bitt' Sie, Herr Regierungsrat!« verzweifelt sah die Frau Major zu Bessow hinüber. »Ist Ihnen nun so etwas schon vorgekommen?«
»Der Einfall Ihrer Fräulein Nichte entbehrt zum mindesten der Originalität, nicht, gnädigste Frau«, wandte sich Bessow an Frau Morell. »Gott sei Dank nur, daß sich so etwas schneller ausspricht als ausführt.«
Die überlegen-hofmeisterliche Art Bessows und der Zweifel am Ernst ihrer Worte taten bei Gottliebe das Letzte.
»Sie dürften sich irren, Herr Bessow«, und schon war sie aufgestanden. »Ich werde morgen die Ortlertour machen.«
»Gottliebe – wo willst du hin?« fast entsetzt rief es die Tante.
»Mit den Führern sprechen«, kam es entschlossen von Gottliebes Lippen, und wirklich schritt sie schnell dem Ausgang zu.
»Aber das kann ja nicht sein, Herr Regierungsrat!« Beschwörend hob Frau Morell die Hände zu Bessow auf.
»Selbstverständlich, meine gnädige Frau,« und auch dieser erhob sich, »werde ich mit den Leuten ein ernstes Wort reden. Sie werden verständig sein.«
›Verständiger als Gottliebe‹, hatte er den Satz für sich beendet.
»Ach ja!« bestärkte ihn die Tante mit dankbar bittendem Blick. »Mein Gott, was einem das Mädel nicht für Sorge macht!«
Ihr tiefer Seufzer fand einen Widerhall in Bessows Brust, während er langsam hinausging. Er ging niemals schnell; seine ihm in Fleisch und Blut übergegangene Auffassung von Vornehmheit verbot ihm die würdelose schnelle Bewegung. Aber trotz dieser äußeren unerschütterten Ruhe war er im Innersten keineswegs so gleichgültig.
Bessow interessierte sich ernstlich für Gottliebe, die er vor drei Wochen hier im Hotel mit ihrer Tante kennengelernt hatte. Gerade die eigenartige Mischung ihres Wesens – halb Zigeunerin, halb Prinzessin, fand er – hatte ihn, den korrektesten Gentleman, lebhaft angezogen. Er verspürte zum erstenmal einen Reiz seiner Empfindungen, den die tadellos erzogenen Damen seiner Kreise nie bei ihm erweckt hatten. Im übrigen – zu seiner Beruhigung – sie war ja von bester Familie, aus einem alten rheinischen Patrizierhause. Der Vater, ein hochbegabter Maler, war früh gestorben. Auch die Mutter, aus einer norddeutschen Offiziersfamilie stammend, lebte schon lange nicht mehr, so daß Gottliebe bei ihrer Tante, der Frau Major Morell, aufgewachsen war. So durfte sich Gottliebe, ohne mißgedeutet zu werden, schon die Eigenart ihres Wesens erlauben, um so mehr, als sehr plötzlich auch wieder eine so strenge, fast hochmütige Abweisung bei ihr zum Durchbruch kommen konnte, daß sie jeden Zweifel über ihre gesellschaftliche und persönliche Qualität gründlichst beseitigte.
Bessow hatte sich in diesen Wochen ausschließlich der Gesellschaft der beiden Damen gewidmet, aber er war trotzdem Gottliebe innerlich nicht nähergekommen. Sie behandelte ihn vielmehr, je mehr er sich um sie bemühte, mit einer souveränen Ironie, die ihn schließlich bei all seiner Ruhe doch in Harnisch brachte.
Auch die Tante war sehr unzufrieden mit diesem Stand der Dinge. Sie begünstigte den Regierungsrat offenkundig und hatte Gottliebe eine Verbindung mit dem sehr begüterten Mann in so guter Karriere als ein erlesenes Glück hingestellt, da die Nichte ihrerseits ohne jedes nennenswerte Vermögen war. Aber gerade diese Anempfehlung aus berechnenden Vernunftsgründen hatte Gottliebe halsstarrig gemacht. Sie war eine ehrliche und charaktervolle Natur. Die Jagd auf einen reichen Mann war ihr widerwärtig, und so behandelte sie denn Bessow mit voller Absicht schlecht.
Je mehr sie aber Bessow in Distanz hielt, um so tiefer wurzelte bei diesem das Begehren nach ihr. Der kühl denkende Mann steigerte sich allmählich in ein Empfinden hinein, das bei anderen zur Leidenschaft geworden wäre, bei ihm ein immerhin quälender Wunsch nach ihrem Besitz war. Und wenn er dennoch ihr gegenüber den Ton kalt spöttelnder, gelassener Überlegenheit anschlug, so geschah es nur aus kluger Selbstbeherrschung. Er wollte sein wahres Empfinden nicht nutzlos verraten, das, soweit es seiner Natur möglich war, insgeheim Gottliebe mit Zärtlichkeit umfing.
So war denn auch jetzt, als er ihr nachging, in ihm neben Ärger über ihren Eigensinn wirkliche Sorge um sie: daß sie in hitzköpfiger Übereilung etwas unternehmen möchte, das sie, einmal mit ihrem Ehrgeiz engagiert, sicherlich zu Ende führen würde, wenn auch zu ihrem Schaden. Er dachte an ihre schlanke, feine Gestalt. Sie war doch absolut solchen Strapazen nicht gewachsen. Wirklich – eine Tollheit, was sie vorhatte!
Nun war er draußen, auf dem freien Platze vor dem Hotel. Richtig, da trat sie gerade drüben neben dem Verkaufskiosk zu den beiden Führern, die eben mit den Touristen von der Partie zurückgekommen waren.
»Guten Tag!« begrüßte sie die Leute, einen älteren und einen jüngeren Mann, die mit einem treuherzigen »Grüß Gott, Fräula!« höflich ihre Hüte lüfteten. »Sie kommen vom Ortler, nicht wahr?«
»Jo freili!« bestätigte der Ältere. »Wir sind schon droben gewesen, heut in der Fruah mit unsern Herrn.«
»Sagen Sie mal – ist der Ortler schwer zu besteigen?«
Der ältere der Führer sah mit seinem ruhigen Blick aus dem freundlichen, braunverwitterten Gesicht einen Moment prüfend auf die Fragerin und an ihrer feingliedrigen Gestalt hinab.
»Jo, schwer ist's scho net – aber es verlangt scho a bissel Übung und Gewandtheit. – Grüß Gott, mein Herr!«
In diesem Augenblick war Bessow, die Hand an die Hutkrempe legend, zu der Gruppe getreten. Ein erstaunter, dann sehr unwilliger Blick Gottliebes traf ihn aus ihrem halb herumgewandten Gesicht; dann nahm sie weiter nicht mehr von ihm Notiz, sondern sagte entschlossen zu dem Alten:
»Dann möcht' ich hinauf. Morgen! wollen Sie mich führen?«
Etwas erstaunt schaute sie der Führer an, aber Bessow kam seiner Antwort zuvor.
»Mein gnädiges Fräulein, auf den Wunsch Ihrer Frau Tante möchte ich mir doch erlauben –«
»Bitte, Herr Bessow!« Mit leicht sich rötendem Antlitz sagte sie es, sehr nachdrücklich. »Die Sorge meiner Tante ist ebenso grundlos wie zwecklos, wollen Sie ihr das sagen?« Und der Wink ihrer Augen hieß ihn gehen.
Bessow aber blieb. »Ganz Prinzessin!« dachte er in diesem Augenblick und fand sie mit dem Hochmut in dem feinen rassigen Gesicht begehrenswerter als je.
»Das gnädige Fräulein hat nämlich noch niemals eine Hochtour gemacht«, wandte er sich dann an den Führer. »Und Sie werden selbstverständlich doch unter solchen Umständen eine Ortlerbesteigung nicht anraten und verantworten wollen. Nicht wahr, mein Lieber?«
»Ah!« Ein leiser Zorneslaut entfuhr Gottliebe, und heftig wollte sie Bessow erwidern. Aber da traf sie ein beredter Blick des Alten vor ihr, ein beschwichtigendes Zuwinken mit seinen klugen Augen, als wolle er sagen: ›Nur still und laß mich machen. Ich sehe schon, wie hier die Sache steht!‹
»Der Herr haben schon ganz recht,« erwiderte er Bessow höflich und bescheiden, »ich tat dem Fräula a so net glei grad zu der Ortlertour raten. Es wär' scho besser, das Fräula möcht' zuvor an' leichtere Tour machen; wann's dann gut gange is, nacher stünd' halt dem Ortler a nix mehr im Wege.«
Gottliebe war im ersten Augenblick mit diesem Vermittlungsvorschlage nicht gerade zufrieden. Hatte sie doch erklärt, morgen gleich diese Besteigung machen zu wollen. Aber da. der Führer sich offenbar weigern würde, ihrem Wunsch zu entsprechen – was sollte sie machen? Und war es nicht schließlich immer noch besser, ein oder zwei Tage später ihren Plan auszuführen als gar nicht? Sie hatte sich nun einmal in den Gedanken verbissen, und je mehr Schwierigkeiten sich ihr entgegenstellten, desto fester ward nur ihr Entschluß, Bessow zu zeigen, daß sie nicht leere Worte machte und daß sie auch konnte, was sie wollte. So entschied sie sich denn doch, den Vorschlag des Alten anzunehmen.
»Nun gut! Und was wäre solche leichtere Tour, wie Sie meinen?«
»Die Geischterspitz' von der Ferdinandshöhe aus. Das ist ane sehr schöne und lohnende Tour und halt gar net schwer. Immer über ebene Gletscher furt, bloß zum Schluß an der Spitz a bissel Steigung.«
»Aber da können Sie doch gar nicht sehen, was man leisten kann, wenn's gar so leicht ist!« meinte, Gottliebe enttäuscht.
»Ah, das seh' ich schon«, beruhigte sie der Alte. »Gelt, Toni, das mirkt man halt bald, ob an' Herrschaft gehn kann oder net«, wandte er sich an seinen jüngeren Begleiter, der bisher schweigend dabeigestanden hatte, von Gottliebe kaum beachtet.
»Jo freili«, bestätigte er jetzt kurz mit Kopfnicken, und Gottliebe wandte den Blick auf ihn. Es war ein hochgewachsener blonder Bursche mit offenen männlichen Zügen, anscheinend etwas verlegen nun unter ihrem musternden Blick.
»Ja, das alles ist ja recht schön und gut, mein Lieber«, mischte sich jetzt Bessow mit herablassend wohlwollendem Ton ein. »Aber es fragt sich nur, ob für das gnädige Fräulein eine Hochtour überhaupt zulässig ist. Ich bitte doch sehr,« er wandte sich mit einer leichten Wärme im Ton an Gottliebe, »ehe Sie sich definitiv entscheiden, mir freundlichst doch noch einmal zu gestatten –«
Aber sein diplomatischer, vorsichtiger Verschleppungsversuch scheiterte an ihrer rücksichtslosen Entschlossenheit.
»Ich bin bereits vollkommen entschieden!« fertigte sie ihn kurz ab. »Also wir gehn auf die Geisterspitze, morgen – abgemacht?« Und sie hielt dem Alten die Hand hin.
»Abgemacht!« Kräftig schlug dieser ein.
Sie besprachen dann noch das Nötige, während Bessow sich verletzt abwandte und zu Frau Morell zurückging. Er war ja nun überflüssig hier.
* * *
»No, do wär'n wir halt so weit. Den Proviant hab' i a im Rucksack – wann's den Herrschaft'»! also recht wär', nacher gäng'n ma.«
»Ich bin fertig, längst!« Gottliebe fuhr schnell von ihrem Stuhl auf, als sich so der alte Stadler-Franz, ihr Führer, meldete. Sie hatte mit Bessow gemeinschaftlich den Kaffee im Gastzimmer des Berghauses auf der Ferdinandshöhe eingenommen.
Der Regierungsrat war nun auch mit von der Partie. Eigentlich war er zwar fest entschlossen gewesen, sich nach der erneuten Abweisung von Gottliebe Rhyngaert ganz zurückzuziehen, und grollend war er ihr auch vorgestern abend und gestern morgen ferngeblieben, in Gedanken schon die Abreise erwägend. Da aber hatte ihn Frau Morell zu finden gewußt. Die arme Dame war in Verzweiflung: Gottliebe wollte ja nun wahrhaftig auf die Berge laufen, sich mit Gewalt den Hals brechen! Sie war nicht abzubringen von dem Vorhaben. Aber wenn nun schon einmal die Verrücktheit vor sich gehen sollte, so würde es ihr, so versicherte die Tante, doch eine große Beruhigung sein, wenn wenigstens ein treuer, zuverlässiger Freund wie der Regierungsrat dabei wäre. Ob er sich denn nicht entschließen könnte, mitzugehen – ihr zu Gefallen?
Bessow war zuerst zwar über diese Zumutung sehr betroffen gewesen; aber schließlich – die alte Dame quälte so unausgesetzt, und insgeheim kam ihm selbst der Wunsch, Gottliebe nicht allein zu lassen; es zog ihn trotz allem zu ihr, er sorgte sich selbst um sie – kurzum: Bessow hatte sich gestern mittag zum Mitgehen bereit erklärt.
Gottliebe war es schließlich recht. So würde er wenigstens Zeuge sein, wie sie spielend die kleinen Schwierigkeiten dieser Tour überwinden würde. Denn das hatte sie sich vorgenommen: Sie wollte mit Anspannung aller Energie die Besteigung ausführen, daß der Führer ganz zufrieden mit ihr war. Und sie hatte bisher noch immer gekonnt, was sie gewollt hatte. Zu dieser geheimen, prickelnden Vorfreude auf ihren Triumph kam noch eine kleine boshafte Neugier: wie sich Bessow bei der Geschichte wohl anstellen würde? Sie konnte sich diesen Mann der stets tadellosen Plättfalte und des ewig glänzenden Stehkragens einfach nicht vorstellen auf Fels und Firn. Ja, sie hatte ihn im verdacht, daß er nicht mit übermäßiger Courage ausgestattet wäre, wie gottvoll, wenn sie ihn in einer schwachen Minute ertappen würde! Dann wollte sie sich mit beißendem Spott revanchieren für seine Überwachungsdienste, die er der Tante leistete.
Nun war es also so weit: die Probe sollte beginnen, für sie beide.
Auch Bessow erhob sich und folgte mit Stadler Gottliebe nach, die schnellen Schrittes in froh fiebernder Erwartung ins Freie eilte.
Draußen stand schon der Spängler-Toni mit Rucksack und Eispickel, das Seil um die Schultern, zum Aufstieg gerüstet. Er streckte ihr treuherzig mit einem »Grüß Gott« die Hand hin. Gottliebe erwiderte den Gruß mit kräftigem Handschlag, und ihre Augen strahlten den jungen Führer hell an. Das Bewußtsein, einmal etwas ganz Neues, Ungewohntes zu unternehmen, ihre Kraft und ihre Energie zu erproben, verlieh ihr einen frohen Aufschwung.
Leicht und eilig schritt sie mit Toni voran, in die Bergmulde hinein, die sich gleich hinter dem Hause öffnete und wo, nur wenige Minuten ab, im Frühlicht die weiße Schneedecke des Gletschers leuchtete. Sie brannte vor Begierde, zum erstenmal ihre Nagelschuhe auf den Firn zu setzen.
»Ein herrlicher Morgen heute, werden wir Aussicht Haben? Sicherlich doch? was meinen Sie, Spängler-Toni?«
Sie war während des gestrigen Aufstiegs zur Ferdinandshöhe mit den Führern schon gut bekannt geworden, und der vertraulich-freiere Ton der Berge machte ihr Spaß.
»Ich glaub' schon, daß wir Aussicht haben werden. Die Nebel sind heut' früh alle zu Tal gestrichen. Da droben herum wird's schon klar sein, mein' ich.«
»Herrlich! Denn eine Kraxelei ohne Aussicht ist doch nur eine halbe Sache, gelt, Toni?« Und sie lachte aus fröhlichem Herzen ihren Begleiter an, dann noch eifriger ausschreitend.
»Bitt' schön, Fräula! Net gar so schnell! Das tut nimmer gut beim Steig'n«, klang da hinter ihr die Stimme des alten Stadler.
Gottliebe folgte der Mahnung, oder nur mit geheimem Verdruß. Alles Mahnen und Steuern war ihr wider den Sinn. Der langweilige alte Stadler! Mochte er doch mit dem Regierungsrat, wenn der nicht mitkam, ruhig hinten nachtrotten. Ihr würde es schon nicht zuviel werden, sie kannte sich. Da war doch der Toni hier neben ihr ein ganz anderer Kerl! Dem fiel es nicht ein, sie zu dirigieren – sie hatte es gestern schon gemerkt – der machte vielmehr stillschweigend alles mit ihr mit, jede kleine Laune; ja, es schien ihm ordentlich selber Spaß zu machen. Und plötzlich flüsterte sie leise ihrem Begleiter zu:
»Wenn wir hernach angeseilt werden, nehmen Sie mich! Hören Sie, Toni?«
»Ja, ja – gewiß!« Eifrig nickte ihr der Begleiter zu mit froh aufstrahlendem Blick, und eine leichte Röte der Freude stieg in sein offenes Gesicht. Diese Auszeichnung machte ihn stolz. Eigentlich hätte die Dame ja mit dem Stadler gehen sollen, den sie zuerst und speziell für ihre Person als Führer engagiert hatte. Er war ja dann erst noch genommen worden, als auch der Herr mitgehen wollte. Daß sie nun aber ihn dem alten Stadler vorzog, das machte ihm eine geheime Freude.
Er ging ja mit ihr viel lieber als mit dem Herrn dahinten. Der war gar so arg vornehm und sprach kaum mal ein Wort. Tat er's aber, so war's dem Toni immer, als ob jener ihm ein Almosen gab. Das Fräulein hier aber war so leutselig, plauderte mit ihm wie mit ihresgleichen und schaute ihn mit ihren lustigen, glänzenden Augen so freundlich an. Das war jedesmal, als ob es ihn mit samtweicher Hand streichelte. So war denn der Toni ordentlich glücklich, daß er nun mit ihr gehen sollte.
Es dauerte gar nicht mehr lange, da kam die Stelle, wo die Führer ihre Schutzbefohlenen ans Seil zu nehmen pflegten, an dem kleinen Wassergerinne, das vom Gletscher herniederkam.
»So – bitt' schön, Fräula. Jetzt, wenn S' so gut sein wollten« – und der Toni blieb vor ihr stehen, löste behend das Seil von der Schulter und band es sich um den Leib, mit hastigen Griffen, als ob der Stadler ihm zuvorkommen möchte. Aber die Sorge war unnötig. Der Alte war dahinten schon stillschweigend dabei, den Herrn ans Seil zu nehmen.
»'s geht schon alles gut!« Mit heimlichem Lächeln raunte Toni es seiner Schutzbefohlenen zu.
Toni trat auf Gottliebe zu, um ihr das andere Ende des Seils um die Hüfte zu legen. Bedächtig zog er dann die Schlinge um ihren schlanken Leib fest. »Es muß schon fest sein,« entschuldigte er sich, »aber net gar zu arg. So wird's gut sein, gelt?«
»Fein, Toni! Ich merke nicht die Spur«, lobte Gottliebe und reckte sich, die Hände auf die Hüften gesetzt, hoch auf. »Nun vertraue ich mich Ihnen also an – auf Leben und Tod! Sie werden mich doch auch heil wieder abliefern?« Scherzend blickte sie ihn an.
»Da hat's keine Not«, versicherte Toni treuherzig ernst. »Sie können sich schon ganz auf mich verlassen.«
»Na, dann los!« kommandierte sie erwartungsfroh. »Ein bißchen schnell, daß uns die anderen nicht so auf den Leib rücken!« drängte sie leiser.
Willfährig begann der Spängler-Toni auszuschreiten, durch das Bett des Schneewassergerinnes hindurch auf die Firndecke hinüber. Knirschend setzten sich Fuß und Bergstock auf den hartgefrorenen Neuschnee. Hochauf atmete Gottliebe. Nun betrat sie zum erstenmal in ihrem Leben den ewigen Schnee droben auf den Firnen, die sie bisher immer nur bewundernd drunten aus der Tiefe angestaunt hatte. Ein herrliches, frohes Gefühl durchströmte sie plötzlich, wie wenn sie einen feurigen Wein getrunken hätte; ein Gefühl der elastischen Jugend und tatenbegierigen Kraft.
Ah, wie wonnig, so dahinzuschreiten durch die freie, reine Luft der Höhen; hoch, hoch über dem törichten Menschentreiben da drunten! Da lagen sie noch alle im dumpfen Schlaf in stickiger Stubenluft und ahnten nichts von dem Glück, den krafterzeugenden Äther hier oben mit tiefem Zug zu schlürfen, sich den frischen Hauch der Höhe um die Schläfe wehen zu lassen.
So schritten sie vorwärts, mit gleichmäßig ruhigem Schritt ansteigend auf dem Hang des Gletschers, der in bläulichem Schatten dalag. Mit leichtem Schlag des Wickels schlug Toni hier und da, wo die Stufen versagten, einen Tritt für den Fuß Gottliebes, daß es jedesmal einen hellen, harten, metallischen Ton gab und flirrend die Eissplitter wegstoben. Schweigend tat er sein Werk, dann und wann den Kopf nach seinem Schützling zurückwendend. Der nickte ihm mit eifrig geröteten Wangen und strahlenden Augen zu. wie famos das ging und wie leicht – der reine Spaß! wenn weiter nichts dabei war!
Auch der alte Stadler sah prüfend zu Gottliebe hinauf, wie sie leicht mit sicherem, ruhigem Schritt anstieg.
»Das Fräula steigt ja wie a Gamsl. Mit der hat's keine Not«, lobte er, während er gleichzeitig mit fester Hand das Seil anzog. Sein Herr war schon wieder einmal in der Stufe ausgeglitten und hielt sich nun krampfhaft am Seil fest, anstatt von seinem Bergstock Gebrauch zu machen. Geduldig hielt der Alte den plötzlichen Ruck aus; er stand wie auf stählernen Beinen.
»Stützen Sie Ihna nur immer schön auf den Stock, mein Herr. Und immer den Stock hinter Ihna halten, am besten mit allen zwoa Händen – so! Da wird's scho bald ganz gut gehn!« ermutigte er gutmütig den Regierungsrat.
Bessow war nichts weniger als rosiger Laune. Das Steigen verursachte ihm bereits jetzt Herzklopfen, dazu dies elende Ausgleiten in den glatten Eisstufen – es war, weiß Gott, kein Vergnügen. Mit sehr gemischten Empfindungen blickte er zu dem andern Paar oben hinauf, das schon einen ziemlichen Vorsprung gewonnen hatte. Das Teufelsmädel stieg wahrhaftig ja, als ob es für sie nur eine Spielerei wäre!
Ein Ärger überlief ihn, über sie und sich selbst. Es war ja im Grunde gar kein Wunder, daß ihn die Geschichte hier höllisch mitnahm, wenn man ewig nur über den Akten hockte und dann sich die halben Nächte in den Gesellschaften um die Ohren schlug! Dazu der Tabak, der Alkohol – das sollte wohl nicht über die Nerven gehen! Aber gleichviel, auch das Mädchen da lebte doch das Leben der großen Welt und war Strapazen nicht gewöhnt. Daß nun sie, mit ihrer zarten Erscheinung, da spielend hinaufkletterte, wo er sich abquälte – es war doch eigentlich ein Skandal, beschämend für ihn.
Und Bessow gab sich einen Ruck. Zum Donnerwetter! Er wollte sich nicht schlapp vor ihr zeigen.
»Nur zu, Stadler!« drängte er. »wir kommen sonst zu sehr ins Hintertreffen.«
»Da sorgen's Ihna nur net drum«, mahnte der Alte, gemächlich weiterschreitend. »Die Hauptsach' is, daß der Herr sich nit abstrapeziert. Es soll ja doch a Freud' sein, auf die Berg' zu gehn, nit a Quälerei. Nur a kleines Bissel no, nacher san ma droben auf'm Plateau. Do geht's dann halt immer eben furt, bis an die Spitz 'nan. Do hol'n ma dann das Fräula scho leicht wieder ein.«
Es war Bessow sehr tröstlich, zu hören, daß der vermaledeite Hang bald ein Ende haben würde, und so stieg er denn mit neuer Hoffnung weiter, bemüht, mit dem Bergstock nach Stadlers Anweisung zu verfahren.
Unterdessen war Gottliebe mit dem Spängler-Toni schon an den ersehnten Punkt gelangt. Noch ein paar letzte rüstige Schritte, und nun standen sie droben auf dem Plateau des Eben-Ferners. Er trug seinen Namen mit Recht: weithin dehnte sich das weiße Feld des Gletschers, kaum merklich weiterhin zur Geisterspitze ansteigend, die sich nun dem Auge hinten am Horizont als ein kleiner Regel zeigte.
Zur Linken schweifte der Blick hinein ins langgestreckte Trafoier-Tal und seine Quertäler; aber verwundert weiteten sich Gottliebes Augen: Was war das? Wo waren die vom gestrigen Aufstieg wohlbekannten grünen Hänge, wo die gelbe Zickzacklinie der Stilfser Jochstraße? War da nicht über Nacht plötzlich ein Meer entstanden, ein weiß-graues, dichtgewelltes Meer, das sich tief drunten das Tal entlang streckte, soweit der Blick reichte, und dem Zuge der Berge folgend in jedes Quertal, in jede Schlucht floß, daß die dunklen Flanken des Gebirges, scharf abgezeichnet, direkt aus diesem weißen Meer aufstiegen?
Fragend schaute Gottliebe auf ihren Begleiter: »Wolken?«
Toni nickte nur stumm. Das ihm so wohlbekannte Schauspiel gewann, wie es sich so in des Mädchens staunend erregten Zügen spiegelte, auch für ihn etwas Besonderes.
So schauten sie beide schweigend in das Tal hinab, wie schwer, wie wuchtig dies Wolkenmeer da drunten lastete! wie war es nur möglich, daß unter dieser massigen Decks die Menschen atmeten und nicht wie in einem riesigen, düsteren Grabe erstickten?
»Wie groß! Wie wunderbar!« löste sich endlich Gottliebes andächtiges Staunen in Worte, »Was seid ihr eigentlich zu beneiden,« wandte sie sich an Toni, »daß ihr das tagtäglich genießen könnt!«
Der Spängler-Toni wußte nichts recht zu erwidern. Gewiß, schön war das ja wohl, wenn er sich das so recht anschaute – es mußte sogar gewiß sehr schön sein, weil das Fräulein so gar entzückt war – aber es war ihm bisher noch nie in den Sinn gekommen, daß er darum zu beneiden sei. Sein Beruf war doch eigentlich ein recht harter und armseliger. Die paar Wochen im Jahre, wo Saison war, verregneten zum Teil auch noch immer; da reichte das bißchen Verdienst kaum hin, um Mutter und acht Geschwister so durchzubringen. Er war ja zwar trotzdem nicht unzufrieden mit seinem Los – es war doch immerhin eine Ehre, so feine Herrschaften geschickt und sicher zu führen und ihre warme Anerkennung zu ernten – aber so manchmal hatte er doch insgeheim gedacht: Ach, wer's auch so leicht hätte wie diese reichen Stadtleut'! Und nun erschien diesem vornehmen Stadtfräulein plötzlich sein Beruf, sein Leben beneidenswert!
Überrascht begann der Toni nachzudenken: Warum mochte sie so sprechen? Konnte einem Menschen wirklich das da – er sah auf das Wolkenmeer hinab – so viel wert sein? Es ging dem Toni schwer in den Sinn, sich das vorzustellen. So mußte das Fräulein doch eigentlich ganz anders empfinden als er. Heimlich schaute er nach ihr hin.
Gottliebe hatte den Blick wieder in die Ferne gesandt, über die Firnen und Gipfel hin zum blauen Äther, den die aufsteigende Frühsonne zu durchleuchten begann. Halb zu sich sprach sie, in heimliches Sehnen verloren;
»Wie klar und groß müßte der Mensch hier oben werden, weltenfern vom Staub des Alltags!«
Dann besann sie sich wieder auf sich selbst, und mit einem leisen Seufzer riß sie sich aus ihrem Schauen los; soeben tauchten auch die Gestalten der beiden andern überm Rande des Gletscherhangs auf.
»Kommen Sie«, bedeutete sie Toni, weiterzugehen.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Dem jungen Führer war ganz eigen zumute, fast traurig, vorher, da hatten sie so lustig geschwatzt wie ein paar gute Kameraden. Da war es ihm gewesen, als wäre sie seinesgleichen; da hatte er gar nicht daran gedacht, was für eine vornehme Dame sie war. Nun aber war ihm das da eben in der Minute stillen Schauens deutlich wieder zum Bewußtsein gebracht worden.
Ihre Worte hatten ihn einen Blick in eine ihm ganz fremde, unverständliche Welt tun lassen. Er war ja zu unwissend und grobgeschaffen, um das überhaupt zu verstehen, was sie gemeint hatte. Nur das empfand er deutlich: Sie war ein Wesen feinerer, höherer Art, und es schickte sich gar nicht für ihn, daß er so mir nichts, dir nichts mit ihr drauflos schwatzte, wie er das bisher getan hatte. Er wollte das auch nicht mehr tun. Aber schade war's doch! Es war so lustig gewesen vorher. Namentlich, wenn ihn ihre Augen so angelacht hatten. Und still schritt der Toni seines Wegs weiter; ein Trost war es ihm nur, daß er in seiner Linken das Seil spürte, das sie mit ihm verband. So war doch etwas Gemeinsames zwischen ihnen.
In Gottliebe hallte die große, ernste Stimmung noch leise nach. Trotz aller Sprunghaftigkeit ihres Wesens war sie doch nicht oberflächlich. Ihrer Art fehlte nur das Einheitliche, Gefestete, von Haus her aus widersprechenden Elementen zusammengesetzt, durch mangelnde Erziehung in Eigenwillen und Launen noch bestärkt, empfand Gottliebe im Innersten nur zu gut selber den Mißgriff der Natur bei der Prägung ihres Charakters. Sie war unglücklich darüber, versuchte durch Selbsterziehung einen Ausgleich der Gegensätze in sich zu bewirken, aber auch diesen Versuchen fehlte die Stetigkeit und Energie. So hatte sie es denn schließlich aufgegeben, sich anders zu machen, und mit geheimer Selbstironie ließ sie sich gehen, wie sie eben war, sich von Stimmung zu Stimmung treiben.
Allmählich aber verdrängten dann die neuen, frischen Eindrücke der Wanderung die leise Melancholie in ihr wieder.
Die anregende, schier moussierende Gletscherluft, das Flimmern der Milliarden Schneekristallchen in der horizontal auffallenden Morgensonne, das allenthalben winzig-feine, gleißende, regenbogenfarbene Strahlen aufschießen ließ, nahm unwillkürlich die Sinne und bald auch die Gedanken gefangen.
So kehrte Gottliebe bald die frohe Lust an der Bergfahrt wieder und das Bedürfnis, sich mitzuteilen.
»Hallo, Toni! Sie sagen ja gar nichts mehr!«
Der scherzende Zuruf, von ihr nur als eine landläufige Redensart gebraucht, machte den jungen Führer aus seinem Sinnen auffahren. In seiner schweren Art hatte er sich noch immer nicht freigemacht von seinen ernsten Gedankengängen. Zaudernd überlegte er, was er ihr auf diese gerade aufs Ziel schießende Frage erwidern sollte. Aber sie zog ihn selbst aus der Verlegenheit, die ihm sein gerader, ehrlicher Sinn und seine Weltungewandtheit bereiteten.
»Es ist ja zu schön, zu wonnig hier oben! Die Brust wird einem so weit – o! Hinausschreien möchte man vor Vergnügen, gelt, Toni? Können Sie nicht jodeln?«
Er schüttelte den Kopf. »Jodeln tun wir hierzuland nit.«
»Was?« Sie sah ihn ungläubig an. »In den Bergen wohnen und nicht jodeln? Was tut ihr denn hier, ihr langweiligen Menschen, wenn euch das Herz vor Vergnügen schier springen möchte?«
»Dann tun wir nur juchzen.«
Gottliebe lachte hell auf. »Köstlich! Nur juchzen! Na, dann juchzen Sie mal los, Toni – aber recht forsch und schneidig, daß unser Freund dahinten,« sie zwinkerte ihm ausgelassen mit Schelmenaugen zu, »vor Schreck sich gleich hinsetzt!«
Ihre sonnige Art scheuchte mit Siegergewalt dem Toni alle Grillen fort. In seinen Augen blitzte der Widerschein ihrer Blicke auf, und hell schmetterte sein Juhschrei durch die lautlose Einsamkeit, mehrfach von den Talwänden drunten zurückgeworfen.
»Bravo!« klatschte Gottliebe. »Das war ja großartig, Toni – famos!«