Bergen, im März 1884
Es war am Sonnabend, 26. Januar, in diesem Jahre des Heils 1884. Ich ging abends vom Museum nach Hause. Der Regen peitschte mir das Gesicht mit einer Heftigkeit, die selbst hier in Bergen ungewöhnlich war. Am Himmel jagten schwarze Wolken. Das Thermometer zeigte viele Grade Wärme, das Barometer sank und sank und stand auf Erdbeben. Wahrhaftig ein Wetter, das der Verzweiflung nahe bringen konnte. Das sollte also der norwegische Winter sein!
Die Geschäftsleute hasteten die Straße entlang, den Regenschirm gegen den Wind, den Kopf tief zwischen den Schultern. Nach vollbrachter Wochenarbeit strebten sie dem gemütlichen Heim zu.
Morgen war Sonntag. Erst noch einen Abstecher nach dem Postamt, um nach Post zu fragen; dann nach Hause, um es mir gemütlich zu machen und alle Schlechtigkeit der Welt und des Wetters zu vergessen.
Ich hatte mich im Lehnstuhl zurechtgesetzt. Einen flüchtigen Blick in das eben angekommene Sportblatt; dann wollte ich mich in meine Studien vertiefen. Doch was stand da? Schneeschuhwettlauf auf der Husebyhöhe am 4. Februar. War es möglich? Sollte es wirklich irgendwo in norwegischen Landen Schneeschuhbahn geben?
Schneeschuhe und Schneeschuhbahn waren wohl das, was noch vor einem Augenblick meinen Gedanken am fernsten gelegen hatte. Nun ergriff es mich mit unwiderstehlicher Gewalt: Lockend weiß stand der Nadelwald unter der Schneedecke; die Dörfer mit den Halden, Hügeln und den Bergen lagen blank und weiß da und glitzerten im Sonnenschein. Alles so frisch und so leicht in der klingenden Winterkälte. . .
Der Sonntag kam und brachte noch mehr Sturm und Regen. Am nächsten Morgen wollte ich aufs Meer hinaus zur Tiefseeforschung. Aber die Gedanken gaben keine Ruhe. Ich mußte in den Zeitungen der letzten Tage nach den Wetterberichten schauen. Nein, Wärmegrade übers ganze Land, nirgends konnte es Schneeschuhbahn geben. Da unternahm ich lieber meine Meerfahrt.
Am Nachmittag aber half nichts mehr: fort mußte ich, und ich ging zum Oberhaupt des Museums, zum alten Doktor Danielsen. Er war verständnisvoll wie immer, und ich bekam Reiseurlaub. Nun galt es, alles für meine Abwesenheit zu ordnen, dann konnte ich am nächsten Morgen um halb sieben Uhr mit dem Zuge abfahren.
Alle vernünftigen Freunde meinten natürlich, es sei Wahnsinn, in dieser Zeit über das Gebirge reisen zu wollen, und schüttelten den Kopf – aber Jugend hat keine Tugend. . .
Endlich saß ich im Abteil, und es ging nach Voß hinauf. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Na ja, ein schönes Schneeschuhwetter das! Aber höher oben würde es wohl besser werden. Durch Tunnels und Einschnitte ging es, an Abgründen vorüber, die engen Fjorde entlang. Als wir weiter hinaufkamen, begannen die Abhänge der Berge hoch oben weiß zu werden. Das hob sofort die Hoffnung: im Gebirge gab es sicher Kälte und Schnee.
Um zwölf Uhr brachen der Hund und ich von Voß auf. Wir schlugen den Weg durch das Rauntal ein; von dort wollten wir nach Gol im Hallingtal hinübergehen. Das ist ein etwas weiter Weg übers Gebirge. Dafür wird aber der Weg nach dem Ostland um so kürzer.
Die Schneeschuhe auf den Schultern, stieg ich getrost in rieselndem Regen aufwärts. Es würde schon besser werden, wenn ich erst ins Gebirge hinaufkam; dorthin wollte ich bis zum Abend gelangen. Ich ging und ging, aber beständig lag der Nebel dicht und schwer über den Abhängen zu beiden Seiten des Tals, und die Regentropfen fielen gleich schwer und ungemütlich.
Unterwegs fragte ich, ob jemand wisse, wie die Schneeschuhbahn im Gebirge sei. Aber man schüttelte nur den Kopf und meinte, bei solchem Wetter sei nicht ans Gebirge zu denken.
Als ich mich dem Sverresteig näherte und es noch nicht aussah, als wenn es besser werden sollte, dachte ich, es sei doch vielleicht vernünftiger, umzukehren und den Weg über Gudvangen und von da ins Lärtal einzuschlagen. Von dort konnte ich auf der Poststraße weiterkommen, mochte dann das Wetter sein wie es wollte.
Gedacht, getan. Und da ich auch einen Pferdehändler mit Pferd und Schlitten traf, der auf demselben Weg nach dem Ostland wollte und sich erbot, die Schneeschuhe mitzunehmen, so ging ja alles in schönster Ordnung.
Am Abend erreichte ich Vinje. Hier war schon gute Schneeschuhbahn, nur war es noch etwas zu mild. Der Mann mit den Schneeschuhen und noch ein Pferdehändler, der sich angeschlossen hatte, übernachteten auf dem Nachbarhof. Sie versprachen bei mir vorzusprechen, bevor sie am nächsten Morgen aufbrachen.
Nach der ungewohnten Bewegung schlief ich gut. Der Tag war schon ziemlich weit vorgeschritten, als ich erwachte. Ich richtete mich auf, um durchs Fenster zu schauen. Doch was für ein Anblick: Eisblumen an den Fenstern! Es war unmöglich hindurchzusehen. In aller Eile stand ich auf und durch Reiben und Hauchen taute ich soviel von dem Fenster auf, daß ich erkennen konnte: es war klares Frostwetter mit Neuschnee. Das gab einen Jubel. . .
Hastig verzehrte ich das Frühstück, und dann sprang ich nach dem Nachbarhof hinüber, um die Schneeschuhe zu holen; nun sollte es nach Gudvangen gehen. Aber ach, die Männer waren vor einer halben Stunde abgefahren und hatten die Schneeschuhe mitgenommen.
Das kühlte mir das Blut ab. Aber wenn ich sie noch vor dem Stahlheimhügel einzuholen vermochte, dann konnte ich dort ja doch noch die Schneeschuhe gebrauchen. Aber bis dahin war es nur eine Meile (alte norwegische Meile = 11 Kilometer), und da ist eine halbe Stunde ein großer Vorsprung.
Ich eilte die Anhöhen hinan. Es war schwer, im Schnee zu gehen; aber das Wetter war herrlich. Ringsum strahlten die Berge blendend weiß in der Sonne. Die Nadelbäume standen feierlich still unter der Decke von Neuschnee. Es war Winter, strahlender Winter, und ihn hatte ich ja gesucht. Auch der Hund freute sich des Lebens und wälzte sich im Schnee.
Aber ach so tot, so öde! Nirgends ein Schneeschuhläufer, nirgends eine Schneeschuhspur zu sehen. Gab es denn hier keine Menschen? Doch da lagen ja viele Gehöfte. Aber die Männer verschlafen wohl in dieser Gegend des Landes den größten Teil des Winters. Dunkel und leblos stehen die Gehöfte auf dem weißen Schnee; nur der Rauch steigt träge aus den Schornsteinen auf. Die Weiberleute arbeiten, während das Mannsvolk in den Stuben herumhockt. Draußen breitet sich eine glänzende Schneeschuhbahn, und im Gebirge gibt es Wild genug. Welches Winterleben könnte sich hier entfalten, wenn sie nur die Schneeschuhe gebrauchen lernten! . .
Weiter ging es an schneebedeckten Abhängen entlang, über fischreiche Wasser, die unter Eis und Schnee schliefen und auf den Sommer warteten. Und dann durch kleine schöne Wälder. Hier und da lief eine Hasenspur über den Weg. Puß hatte es jetzt schwer, im Schnee vorwärtszukommen, der Arme.
Nach und nach holte ich die Männer mit meinen Schneeschuhen soweit ein, daß ich sie in den Windungen der Straße erkennen konnte. Ich begann zu springen und erreichte sie auch wirklich.
Welcher Jubel, die Schneeschuhe unter den Füßen zu fühlen – und erst, wenn ich eine Anhöhe hinabsauste! Das war wahrhaftig ein anderes Leben, als in Bergen durch Regen und Schmutz zu waten. Die Schlitten waren bald außer Sicht.
Aber dort war Gelegenheit zu einem schönen Sprung über den Weg. Die Lust, die alten Künste zu probieren, erwachte mit einem Male: erst hinauf und dann hinunter. O wie gut es tut, sich dem Himmel näher zu fühlen! Aber der Rucksack muß herunter. Noch höher, noch geschwinder, und nun – hopp – wie eine Möwe herabschweben! Ja, man fühlt: noch ist Kraft und Saft in den steifgewordenen Gliedern.