In meinem Pfarrhause zu Freiburg befindet sich seit vielen Jahren eine alte, alte Schwarzwälderin. Sie ist, im Herzen des Schwarzwalds geboren, auf allen Bergen und in allen Tälern an der Gutach, Kinzig, Wolf, am Schapbach und Harmersbach hin in Diensten gestanden.
Seit Jahren dient sie bei mir, nachdem ich sie aus unwürdiger, einsamer Gefangenschaft erlöst, sie mit neuen Kleidern versehen und in meine nächste Nähe versetzt habe.
So wie in fürstlichen Schlössern Weißzeugbeschließerinnen fungieren, ähnlich amtiert die alte Wälderin bei mir als eine Art Beschließerin.
Ihr schönster Dienst aber ist: sie erzählt mir in Stunden, in denen wir allein sind, aus ihrem langen, langen Leben.
Oft, wenn ich lebensmüde und welk und krank in meiner Studierstube auf meinem Ruhebett liege, sie mir gegenüber steht und ich meine Augen auf sie richte, fängt sie an, mir zu erzählen. Sie will mich, die gute Alte, auf andere Gedanken bringen und zerstreuen. Sie weiß, daß mich allerlei trübe Gedanken Plagen, wenn ich, unfähig zu geistiger Arbeit, so daliege. Sie hört mich seufzen: »'s ist ein Elend auf dieser Welt!« – und erzählt mir drum Geschichten, die mir neuen Mut machen sollen, des Lebens Last lautlos weiter zu tragen.
So ist sie mir in düstern Stunden eine liebe, treue Gefährtin, und wir lieben uns, so gut als alte Leute noch lieben können. Und obwohl sie viel, viel älter ist als ich, bin ich ihr doch von Herzen zugetan und würde sie um keinen Preis mit einer jungen vertauschen.
Ich habe aber meine gute, alte Trösterin und Erzählerin auch herausgeputzt, daß sie sich neben der schönsten Jungen sehen lassen kann.
Sie hat alle jene Tugenden, die sonst den meisten weiblichen Wesen fehlen: sie ist schweigsam und spricht nur, wenn sie merkt, daß es mir lieb ist; sie ist bescheiden, dankbar, unverdrossen und zufrieden, ob ich mit ihr rede oder, ohne Rücksicht auf sie, schimpfend und räsonierend vor ihr auf- und abgehe.
Ein katholischer Pfarrer soll bekanntlich keinen weiblichen Dienstboten halten, der unter vierzig Jahre alt ist. Meine Freundin hat mehr als das Doppelte des kanonischen Alters und enthebt mich so trotz unseres intimen Verkehrs jeder Verdächtigung.
Sie kam in früheren Diensten oft, sehr oft in Wirtshäuser und ist trotzdem das nüchternste weibliche Wesen, das es geben kann. So passen wir zwei auch in dieser Richtung zusammen. Auch ich kam in meinen jungen Jahren oft in Lokale, wo getrunken, viel getrunken wurde, und bin heute nüchtern wie eine alte Katze, die am Abend ihre Milch trinkt.
Alte Leute haben alte Bresten, und wenn es ander Wetter gibt, spüren sie diese Bresten und seufzen. Auch meine Freundin und ich teilen diese Beschwerden des Alters. Wenn draußen ein Sturm heult und der Regen an die Fenster schlägt oder wenn Nebel oder Schnee im Anzug sind und ich nachts schlaflos auf meinem Lager neben der Studierstube seufze, weil das Wetter durch meine Nervensaiten fährt wie durch eine verstimmte Aeolsharfe, – dann höre ich auch gar oft meine alte Freundin ächzen.
Ich denke dann lebhaft an ihre langen, schweren Dienste, und – so groß ist unsere geistige Sympathie – alsbald fängt sie wieder an, mir aus ihrem Leben zu erzählen, bis ich endlich einschlafe und träume von den Gestalten, die sie mir durch ihr Erzählen wachgerufen hat.
Neulich stellte ich neben sie ein anderes Wesen ihrer Art in meinen Dienst, ein junges, elegantes, reizendes Ding, das meine Korrespondenzen »führt«. Meine alte Freundin war keinen Augenblick eifersüchtig. Sie weiß, daß ich ihr treu bleibe, weil das junge Ding nichts zu erzählen weiß von guten, alten Zeiten und Menschen.
Es schaut zwar, stolz auf seine Schönheit und Jugend, verächtlich auf meine alte Freundin herab und kokettiert mit mir, so oft ich es ansehe; aber es rührt uns zwei Alte nichts – weder seine Verachtung, noch sein Liebeswerben. Wir bleiben uns treu bis in den Tod – in den Tod, den ich – so unglaublich es auch klingt bei ihrem hohen Alter – sicher vor ihr erleiden werde.
Sie wird's erleben, vielleicht bald, daß ich, ein toter Mann, im Sarg an ihr vorübergetragen werde; aber sie wird keine Träne weinen, weil sie längst weiß, daß ich gerne sterbe und froh bin, wenn's vorüber ist. Sie darf und soll in jener Stunde jauchzen für mich.
Sie weiß auch, daß ich für sie gesorgt habe, daß sie anständig zu leben hat, wenn ich nimmer bin. Ich hab' sie verpfründet nach Hasle, wo sie ihre zweite Heimat hat, wo sie längere Zeit lebte als ich, und wo sie, wie ich hoffe, in Ehren gehalten wird, so lange sie in der jetzigen Gestalt auf Erden weilt. Und sie wird noch lange hienieden weilen, ehe die Würmer und das Feuer auch sie verzehren und sie niederlegen in Staub und Asche.
Aber auch dann soll sie nicht vergessen sein. Drum will ich ihr hier ein Denkmal setzen, indem ich wiederhole, was sie mir in vielen Stunden erzählt hat. –
Meine Leserinnen werden längst ungeduldig sein und wissen wollen, was das für ein Wibervolk ist, von dem ich, der ungalante, grobe Hansjakob, nur Gutes rede und das ich lobe und liebe, aufrichtig und treu liebe, wie es sonst nicht Männerart ist.
»Endlich,« werden sie sagen, »einmal eine, die er lobt!«
Liebe Leserin! Dieses Muster und Ideal eines weiblichen Wesens, diese alte Dame, der mein Herz gehört und die ich wie ein Kleinod bewahre, ist niemand anders als – die Hausierkiste meines mütterlichen Großvaters, des Wälder-Xaveri, in der ich meine »eigenen Werke« aufbewahrt habe, und die junge Dame neben ihr ist ein reizendes Schränkchen, das ich mir nach einem alten Original im Museum zu Basel kopieren ließ und in welchem meine Korrespondenzen aufgehoben sind.
Meine alte Freundin will und soll uns nun ihre Erinnerungen erzählen, und sie wird, so hoffe ich, dadurch auch sich ein Denkmal setzen in den Herzen ihrer weiblichen Mitwesen und meiner getreuen Leserinnen.
Ich werde ihr bisweilen ins Wort fallen und meine »Schlenkerer« an ihre Erzählungen anknüpfen. Wenn ich mich dabei auch nicht immer ankündige, so wird der freundliche Leser doch gleich merken, ob ich rede oder die alte Holztante.
Meine Mutter, so beginnt die greise Freundin, war eine stattliche Tanne und stand an einer der schönsten Stellen des Schwarzwalds, am Fallbach zu Triberg, der berühmt ist durch seine Wasserstürze. Sie stand hoch oben, unweit der Straße, die nach Schönwald führt.
Ich verlebte bei ihr gute und böse Tage: gute, wenn die Sonne schien über Berg und Tal und die Vögel sangen in unsern Zweigen; böse, wenn Stürme tobten über den Wald her oder die Mutter zur Winterszeit ächzte unter der Last des Schnees.
Zu allen Zeiten aber rauschte, wie ein mächtig Wiegenlied, das Wasser des Fallbachs über die Felsen an uns vorüber. Wie oft hab' ich von der Mutter Brust weg hinabgeschaut in die schäumenden Wasser und sie beneidet, wie sie fortsprangen hinab ins Städtle Triberg und hinaus ins Kinzigtal und in die weite Welt!
Einmal äußerte ich diesen Neid auch der Mutter gegenüber, kam aber damit schlecht an. »Du dummes Kind,« sprach sie, »weißt du nicht, daß deine Reise in die Welt nur über meine Leiche geht? Deine Mutter muß sterben, wenn du hinaus in die Welt und zu den Menschen kommen willst. Die Wasser, die zu meinen Füßen hinrauschen und zu Tal springen, sie eilen in die Arme ihrer Allmutter, Meer genannt. Sie gehen heim, dorthin, woher sie gekommen sind, und kehren zu neuem Leben wieder zurück aus dem Ozean.«
»Wir Tannenbäume aber und unsere Kinder sind nicht so gut dran, wie die Wellen des Bächleins. Wir müssen sterben, wenn wir den Erdboden verlassen, auf dem wir groß geworden sind, und unsere Kinder müssen den Menschen dienen und sich gefallen lassen, was immer sie mit ihnen und aus ihnen machen wollen.«
»Doch je höher ein Geschöpf im Reiche der Natur steht, um so unglücklicher ist es. Wir Tannen küssen den Aether des Himmels, während die Bächlein in der Tiefe hinschleichen. Wir empfangen das erste und das letzte Gold der auf- und untergehenden Sonne, während die Wasser noch oder schon in der Finsternis dahineilen. Und doch sind sie unsterblich, wir aber stürzen und sterben.«
So sprach meine Mutter, und eine große Harzträne lief an ihrem schlanken Leib hinunter. Ich schwieg nun fortan, war jedoch durch ihre Worte nicht bekehrt. Die Jugend vernimmt ja die Mahnungen und Lehren des Alters meist mit tauben Ohren und glaubt erst an die Wahrheit dessen, was Vater oder Mutter gepredigt, wenn diese längst nicht mehr sind. –
Ich empfand trotz der Warnung der Mutter immer und immer wieder von neuem Sehnsucht, in die Welt und unter die Menschen zu kommen.
Es war mir zu öde und zu einförmig, das Leben bei der Tannenmutter, denn ich hatte zu wenig Unterhaltung. Ich spielte zwar manchmal mit dem Moos, das meiner Mutter Leib wie schneeiges Haar umsponnen hatte, oder mit den Ameisen, die zur Sommerszeit uns besuchten – aber das genügte mir nicht. Auch das Pärchen Kreuzschnäbel, welches jedes Jahr auf unsern Zweigen sein Nest baute und damit schon begann, wenn noch Schnee auf allen Bäumen lag, konnte mich nicht genügend unterhalten. Wenn das Männchen mit seiner roten Brust am Abend und am Morgen sein stilles Lied sang, hörte ich fast nichts davon ob des rauschenden Wasserfalles zu den Füßen meiner Mutter; und waren einmal die Jungen flügge, so flogen Eltern und Kinder davon und ließen uns den Sommer über allein.
In den Wurzeln meiner Tannenmutter hauste eine Familie Haselmäuse, denen ich oft zuschaute, wie sie eintrugen und ihre Jungen in den Wald mitnahmen und wieder heim. Und ich dachte manchmal, wenn ich nur ein Vöglein wäre oder ein Mäuslein und fliegen oder springen könnte.
An Sonntagen stiegen die Buben von Triberg am Fallbach herauf, spielten an den Wasserfällen oder suchten Vögel in unsern Tannenzweigen. Dann wuchs meine Sehnsucht noch viel mehr, fortzukommen unter die lustigen Scharen der Menschen. Ich hab' manch' Harztränlein geweint, weil ich nicht mitkonnte, wenn die heiteren Knaben am Abend, da die Betglocke vom Städtle herauf sie heimrief, hurtig an den stürzenden Wassern hinabsprangen.
An Samstagen sah ich regelmäßig unweit von uns auf der Landstraße Landleute betend vorüberziehen. Die Mutter sagte mir, das seien Wallfahrer, die in ihren Nöten hinüberwallten zu einem Muttergottesbild, das einst in einer Tanne gefunden worden sei.
Die Menschen, so belehrte sie mich weiter, hätten noch viel mehr Leid auszustehen, als die Tannenbäume in Wind und Wetter, und suchten darum Hilfe bei höheren Mächten. –
Manchmal hörte ich die Glocken von der Wallfahrtskirche herübertönen durch den »Wässerlewald«, und ich wünschte oft, auch einmal solch eine Wallfahrt mit ansehen zu können.
Wenn nicht Schnee und Eis den Weg am Bache hin ungangbar machten, zogen täglich Leute auf dem schmalen Saumpfad, der durch den Wald an den Wasserfällen hinführte, an uns vorüber. Denn sie hatten so näher, die einen hinauf nach Schönwald, die andern hinab ins Städtle.
Gar viel gingen Uhrenmacher mit ihren Uhren über der Schulter diesen Pfad, um hinabzuwandern »ins Land« und zu hausieren.
Die Mutter hatte mir erklärt, was eine Uhr sei, und dazu gespottet über die Menschen, daß sie die Zeit in die kleinsten Teile zerlegen und messen, als ob sie dann länger daran hätten.
»Wir Tannen,« sprach sie oft, höhnisch ihre Zweige schüttelnd, »wir brauchen keine Uhren und zählen die Minuten so wenig ab, wie die Nadeln an unsern Aesten. Wenn die Sonne aufgeht dort drüben über der Hochwälder Höhe, so wissen wir, daß es Morgen ist; und wenn die Strahlen des Lichts in unserem Wasserfall glitzern, ist's Mittag – und Abend, wenn die Sonne über den Kandel hinuntergegangen ist.«
»Die Menschen aber, diese Kleinigkeitskrämer, wollen jede Minute wissen am Morgen, am Nachmittag und am Abend, damit sie ihre kleinen Geschäfte, ihre Zwergarbeiten und ihre Vergnügungen darnach einrichten können. Sie zählen die Sekunden, und dann sterben sie, und die Sonne geht durch die Jahrtausende hin über ihren Gräbern auf und unter.« –
Still zogen die Uhrenmacher jeweils ihren Weg am Wasserfall hinunter, denn sie gingen schwerbeladen von der Heimat und schweren Herzens von Weib und Kindern weg. Wenn sie aber nach Wochen und Monaten am Wasser heraufkamen der Heimat zu, waren sie fröhlich und heiteren Sinnes.
Und die Mutter knüpfte daran immer ihre Lehren und Mahnungen, wie es nichts sei draußen in der Welt. »Siehst du,« so redete sie oft, »wie diese Schwarzwälder lustig aus der weiten Welt und aus dem großen Menschenleben heimkehren in ihre Hütten an einsamer Bergeshalde, und hast du gesehen, wie ungerne sie auszogen in die Fremde? Sie kennen die Welt und wissen, daß es daheim am schönsten ist. Drum hat auch ein Tannenkind, wie du, seine schönsten Tage bei der Mutter im Walde.« –
So kamen und gingen die Menschen an uns vorüber, vorüber auch an meiner ungestillten Sehnsucht, ihnen folgen zu dürfen – vorüber viele Jahre lang – bis mein Wunsch auf eine schauerliche Art erfüllt ward.
Es war – ich weiß es heute, mehr denn 100 Jahre später, noch genau – ein kalter Januartag des Jahres 1781. Schwere Lasten von Schnee lagen auf den Tannenzweigen; die Wasser des Fallbaches staubten wie flüssiges Eis, und alle Felsen am Bach hin glänzten wie Harnische.
Da stiegen mühsam, Steigeisen an den schweren Schuhen, Gamaschen an den Füßen, rothaarige Fuchspelzkappen auf den Köpfen und mit Stacheln versehene Stöcke in den Händen, zwei Männer an den Wasserfällen herauf.
Trotzdem sie Mühe hatten zu atmen, sogen sie doch an großen Tabakspfeifen und hielten oft stille, um bequemer rauchen zu können.
Als meine Mutter sie sah, erfaßte sie ein Zittern an Stamm und Aesten. »Kind!« sprach sie leise und ängstlich, »dort kommen die zwei Tannenmörder von Triberg, der Waldmeister und der Waldhüter. So oft die zur Winterszeit da heraufkeuchen, tun sie es, um Todesurteile zu fällen über schuldlose Waldbäume.«
»Die zwei, der Waldmeister Hans Schwer und der Waldhüter Peter Martin, haben meinen Großeltern und meinen Eltern den Tod gebracht. Ich fürcht', Kind, sie werden ihn auch mir und dir bringen.«
Die Männer kamen näher. Unweit der Mutter blieb der Waldhüter stehen, schaute an ihr hinauf, zeigte dann mit dem Stock auf sie und sprach: »I mein, die Tanne da könnten wir jetzt ou amol anreißen für die Holzmacher. Sie ist alt, das Moos zieht schneeweiß an ihr hinauf. Steht sie noch länger, so wird sie uns rot und faul. Und die Wurzeln sind auch los, Mäuse haben sie unterwühlt. Wenn im Hornung die Stürme kommen, stürzt sie uns in einer schönen Nacht in den Fallbach, und dann haben wir des Teufels Not, sie herauszubringen.«
»Bin ganz deiner Meinung, Peter,« meinte der alte Schwer-Hans; »reiß sie an!«
Jetzt zog der Waldhüter ein Hakenmesser aus seinem Mantel und riß ein großes Dreieck in der Mutter Leib. Sie erschauerte in Schmerz und Todesangst und schüttelte ihre Zweige so gewaltig, daß der Schnee herabfiel auf die beiden Mörder.
»I glaub', die merkt's, daß es ihr ans Leben geht,« sprach der Waldmeister, den Schnee von seinem Mantelkragen schüttelnd.
Sie gingen weiter, rauchend nach den andern Opfern spähend. Die Mutter schwieg einige Zeit; sie konnte es noch nicht fassen, daß sie sterben sollte. Ihr Schrecken löste sich zuerst in Weinen. Wie Wasser quollen die Harztropfen an ihrem Leib hinunter, wurden aber rasch von der Kälte erfaßt und zum Stillstand gebracht.
Nachdem sie sich ausgeweint, begann sie die Menschen zu verwünschen. »O, dieses blutschänderische Geschlecht!« rief sie aus. »Wie grausam geht es mit den anderen Geschöpfen und Wesen um, und doch sind wir alle, Steine, Pflanzen, Bäume, Tiere und Menschen, Kinder eines Vaters, der im Himmel ist!«
»Aber nichts ist diesem gottlosen Geschlechte heilig, seitdem es in seinem Hochmut dem Ewigen und Allmächtigen gleich sein wollte und aus dem Paradiese vertrieben wurde.«
»Alle Geschöpfe leiden unter ihm und seufzen nach Erlösung von ihrem Tyrannen, Mensch genannt. Ueberall trägt dieser die eigene Qual hin und sucht sein elendes Dasein zu fristen, indem er seine Mitgeschöpfe quält und tötet.«
»Auch unter sich selbst leben diese Menschen wie Hunde und Katzen und machen sich das Leben sauer, wo und wie sie nur können. Und das ist unser Trost, daß sie die Qualen, die sie uns antun, an sich selber wieder rächen.«
»Auch sterben müssen sie, diese Quälgeister,« fuhr, ihre Zweige schüttelnd, die Mutter fort, »hinsiechen und sterben. Tausend Krankheiten, die wir anderen Geschöpfe gar nicht kennen, suchen sie heim.«
»Wo die Menschen nicht hinkommen, da sterben die Bäume den schönsten Tod, den Tod des Alters. Der Sturm wirft sie, die schwachgewordenen, in den Staub, wo sie modern und neuen Pflanzen Leben geben.«
»Das allein ist mir gräßlich, von Menschenhand zu sterben. O, wie diese Axthiebe schmerzvoll durch alle Fasern gehen, und wie die Säge knarrt in Mark und Bein, bis wir umsinken, zum Tode verwundet!«
»Bald werden sie kommen, mein Kind, die Holzmacher mit großen Aexten und scharfgezähnten Sägen, und deine Mutter zu Tod martern.«
»Hilf mir beten, und ich selbst will alle meine Zweige flehend zum Himmel richten, auf daß der Herr der Natur, dessen Boten die Stürme sind, mir einen solchen Boten sendet, der mich hinabstürzt in den Fallbach!« –
Mir ging der Mutter Weh durch die Seele, und ich weinte und betete mit ihr um einen schnellen, natürlichen Tod.
Unser Flehen ward erhört. Wenige Tage, nachdem die zwei Triberger meine Mutter zum Tode verurteilt hatten, ging ein mächtiger Südwind über den Schwarzwald hin. Wärme und Kälte stießen so heftig auf einander, daß die Tannen wankten, schwankten und ächzten.
Die Mutter hatte mehr zu kämpfen als alle ihre Nachbarinnen. Es war ihr Todeskampf. Wie sie's erfleht hatte, so kam es. Mitternacht war's, als heulend ein letzter, starker Windstoß daherfuhr, die Mutter niederriß und in den Fallbach stürzte. Ich hörte nur noch, wie sie rief: »Gottlob um diesen Tod!« – und ich fühlte das eisige Wasser über uns zusammenschlagen. Dann verlor ich die Besinnung.
Der Guardian des Kapuzinerklosters, P. Irenäus, hatte dem Xaveri gerne eine alte, unbenutzte Zelle unten im Kreuzgang eingeräumt als Lagerraum für seine Waren und als Wohnung für uns zwei, wenn wir vom Hausierhandel zurückkehrten.
Eine Bettstatt mit einem Strohsack, ein Stuhl und ein Tisch bildeten das ganze Möbelment der Zelle.
In ihr saß der Xaveri mit dem Kloster-Pförtner Bruder Daniel im Frühjahr des Jahres 1799, und sie machten den Feldzugsplan für die Hausierkampagne mit dem Zentrum Hasle.
Der Bruder Daniel kannte jeden Hof ringsum, weil er jahrelang in Berg und Tal den Bettelsack fürs Kloster getragen hatte.
Der Xaveri zeigte ihm seinen Zettel mit den Namen derjenigen Buren und Bürinnen, welche ihn anläßlich des Wallfahrens nach Triberg eingeladen hatten.
Darnach gab der Bruder Daniel seine Marschroute und seine Dispositionen an.
Mit diesen versehen, zogen wir aus ins gelobte Land um Hasle rum, zogen hinaus volle 15 Jahre lang, Sommer und Winter, Frühjahr und Herbst, bei Sturm und Wetter, in Regen und Sonnenschein.
Es verging kein Jahr, so war der Wälder-Xaveri, wie er bei den Kinzigtäler Bauern hieß, überall bekannt, und Buren und Bürinnen und ihre Kinder und Völker freuten sich, wenn wir zwei auf einem Hof erschienen.
Dreimal im Jahre kamen wir in der Regel auf einen und denselben Hof. Und trotzdem alle unsere Wanderjahre in Kriegszeiten fielen, unser Geschäft ging immer, weil der Xaveri nur Waren feil bot, welche die Leute notwendig brauchten.
Meist hatten wir aber eine Woche zu wandern, bis die Kiste leer war, und dann ging's von den Bergen hinab nach Hasle zum Warenlager im Kloster.
So brachten wir die Sonntage in der Regel bei den Kapuzinern zu im stillen Frieden des Klösterleins vor dem untern Tor.
Die guten Mönche hielten große Stücke auf den Haveri und staunten über seine Belesenheit und über seine Kenntnisse im Latein. Da er zudem ein frommer Mensch war, so redeten sie ihm in den ersten Jahren oft zu, Kapuziner zu werden, wozu er auch nicht übel Lust hatte.
Die Mutter war tot und gut aufgehoben, und er hatte für niemanden mehr zu sorgen, außer für sich. Er schwankte manchmal, was er tun wollte. Als aber 1806 die Kapuziner mit Hasle badisch und auf den Aussterbe-Etat gesetzt wurden, hatte sein Schwanken ein Ende, Er blieb, was er war.
Mit neuer Kraft ging's an den Hausierhandel, der jetzt vergrößert und in die Bezirke von Wolfe und Zeil ausgedehnt wurde.
In Wolfe in der Sonne und in Zeil im Hirschen errichtete der Xaveri Stationen für seine Waren-Vorräte, und drunten bei den Bauern in den Reichstälern Harmersbach und Nordrach und droben in den Bergwerken von Wildschapbach und auf den Höfen im Wolftal war der Wälder-Xaveri bald ebenso bekannt, wie in der Gegend von Hasle.
Und Geld verdiente er wie Heu. Essen und Trinken kostete ihn fast nichts und das Nachtquartier gar nichts: denn wo er abends bei einem Bauer einfiel, da war er Freigast. Und wenn er bei den Wirten in den Tälern, die seine Kunden waren, auch einen oder den andern Schoppen trank, so war das eine kleine Ausgabe.
Ein üppig Leben führten wir allerdings nicht auf den Burenhöfen: morgens Suppe, mittags Kraut und Knöpfle oder Speck und abends wieder Suppe – das war damals allgemein Bauernkost. Wer Durst hatte, trank Wasser und in der Winterszeit morgens einen Schnaps, den aber der Xaveri allzeit verschmähte, so oft die Buren ihn auch anboten.
Dagegen hat er selber manchen Buren zum Schnupfen verführt durch die Prisen, die er immer und immer wieder präsentierte, wenn wir auf einen Hof kamen.
Jeder seiner ländlichen Schnupfer und Kunden erhielt einmal im Jahre eine Dose von Birkenrinde, die ein altes Männlein auf dem Rohrhardsberg fertigte, das Hundert zu fünf Gulden, und dem Hausierer am Weihnachtsmarkt nach Hasle brachte.
Den Kapuzinern lieferte der Xaveri, nachdem er einmal geldkräftig war, allen Schnupftabak, den sie brauchten, gratis, was nicht wenig war. Denn bekanntlich dürfen die Kapuziner nicht rauchen, wohl aber schnupfen, so viel sie wollen.
Einen Zeitvertreib muß jeder Mensch haben in müßigen Augenblicken. Schiller sagt:
Etwas muß der Mensch sein eigen nennen,
Sonst wird er morden, sengen und brennen.
So ist's auch mit dem Zeitvertreib; etwas muß der Mensch haben, die Zeit zu vertreiben und die Langeweile und die Gefahren des Müßigseins zu verscheuchen. Der eine raucht in solchen Momenten, der andere schnupft, der dritte singt und der vierte pfeift. Zu den Pfeifern und Sängern gehöre ich, der Freund der Hausierkiste. Ich pfeife und singe in meinen alten Tagen, wie früher, fast immer, wenn ich allein bin, – und ich bin oft allein – pfeife neben dem Schreiben und Lesen her.
Dadurch, daß mein Großvater so manchen seiner Mitmenschen auf dem Schwarzwald zum Schnupfen verführte, hat er ein gutes Werk getan. Denn Schnupfer sind fast in alleweg friedliche Leute, – obwohl der Kanonenkaiser Napoleon auch in ihre Zunft gehörte – während die Raucher zu den Hitzköpfen zählen.
Selbst schnupfende Wibervölker sind meist gutmütiger Art, und eine alte, schnupfende Dorfnäherin ist ein Monumental-Bild weiblicher Zufriedenheit.
Nur steht neben den Schnupferinnen gerne auch das Gläschen, und das rote Näschen schwankt dann, wem es die Schuld geben will an seiner Röte, dem Döschen oder dem Gläschen.
Der Friede verläßt den rechten Schnupfer selbst angesichts des Todes nicht. Ich habe einst einem alten Schnupfer und kreuzbraven Mann die Sterbsakramente gereicht. Als wir damit zu Ende waren, sprach der sterbende Schnupfer: »Aber jetzt, Herr Pfarrer, müssen wir noch eine Prise nehmen.« Mit zitternder Hand langte er vom Nachttisch seine Dose, präsentierte sie mir zuerst und nahm dann auch eine Prise, seine letzte, wie er sagte.
»So,« meinte er, »jetzt kann's kommen, wie's will.«
Ich bewunderte den Mann wie einen Helden. Am andern Morgen war er tot. –
Wenn, so erzählt die alte Kiste weiter, der Xaveri und ich nach drei bis vier Monaten wieder auf einen Hof kamen, so war Freude bei jung und alt.
»Der Wälder-Xaveri kommt!« so rief eins dem andern zu, wenn wir von ferne her dem Hof zuschritten. Und bald stand alles um die Hausierkiste des wackeren jungen Mannes. Jedes wollte etwas haben, der Bur und die Knechte Tabak, Messer, Hosenträger, die Büre und die Meidle Nadeln, Faden, Bändel und geblümte seidene Halstücher.
Diese letzteren waren Kabinettstücke, an denen die Meidle ihr Lebtag hatten, weil sie dieselben nur an Sonn- und Feiertagen trugen.
Sie bezog der Wälder-Xaveri von dem Handelsmann Castelli in Elze drüben. Der Castelli war ein Savoyarde und brachte die seidenen Tücher direkt aus Italien.
Diese Halstücher und ein Tuchschoben für den Hochzeitstag, gekauft bei den Tuchmachern von Freudenstadt auf dem Jahrmarkt in Hasle, waren fast die einzigen Kleidungsstücke, welche die Wibervölker auf dem Lande damals kauften: alle andern, von den wollenen Strümpfen angefangen, hatten sie selbst gestrickt und selbst gesponnen.
Im Sommer trug der Xaveri über seiner Kiste noch ein Dutzend Triberger Strohhüte, die er an die reicheren Bürinnen und Dorfwirtinnen absetzte.
Waren die Käufe abgeschlossen, so baten die Leute, selbst wenn wir am Morgen auf dem Hof angekommen waren, einstimmig: »Aber, Xaveri, Ihr müßt bei uns übernacht bleiben und erzählen!« Wenn der Xaveri dieser Einladung immer gefolgt wäre, hätten wir jeden Tag, besonders zur Winterszeit, nur eine Familie besuchen und nicht jedes Jahr einmal auf jeden Hof kommen können. Im Sommer, wo die Buren und ihre Völker müde waren von der Arbeit, ließen sie sich die Einrede des Hausierers, er müsse geschäftshalber weiter ziehen, noch eher gefallen als im Winter, wo es um fünf Uhr Nacht war und um sechs Uhr zu Nacht gegessen wurde. Da war es den Mannsvölkern noch zu früh, um ins Bett zu gehen, während die Wibervölker sich an die Spinnräder machten. Drum hätten sie jeweils ums Leben gern den Hausierer übernacht behalten.
Denn der Xaveri konnte erzählen, was sie noch nie gehört. Die alten Sagen der Umgegend, die Ritter-, Hexen- und Gespenster-Geschichten von Berg und Tal hatten sie sich schon oft und längst selbst erzählt. Der Wälder-Xaveri aber wußte ganz neue Dinge aus vergangener Zeit, von den alten Deutschen, vom Bauern- und vom Schwedenkrieg und auch von dem, was eben in der Welt vorging, vom Napoleon und von der Guillotine.
Denn kaum war der Xaveri zu Mitteln gekommen, so schaffte er sich Bücher an, köstliche, d.i. teure Bücher. Sein Lieferant war der Hof- und Kanzlei-Buchdrucker Sprinzing in Rastatt, von dem er die Kalender bezog.
Immer trug er ein oder das andere neue Buch mit sich in der Kiste. Zur Sommerszeit stellte er an Waldrändern hin oft seine Last ab, ruhte aus und las – und im Winter zündete er eine Unschlittkerze an, die er stets mit sich führte, und las in der Bauernstube, in der er übernachtete, wenn alles längst zur Ruhe gegangen war.
Solcher Bücher, an die du dich noch wohl erinnern könntest, denn sie lagen zu deiner Knabenzeit verstaubt und vermodert neben mir auf dem Speicher der Großmutter – hatte er sich die folgenden angeschafft und kannte sie fast alle auswendig:
Schmidts Geschichte des deutschen Volkes, sechs Büchlein über den Bauernkrieg, Försters Reise um die Welt, Iselins historisches Lexikon, der Bund des armen Konrad, deutscher Regierungs- und Ehrenspiegel, Buses vollständiges Handbuch der Geldkunde, Geschichte der Landvogtei Ortenau, Dr. Johannes Faustus, Uebersicht über die neuesten Kriegsbegebenheiten, Flögels Geschichte der Hofnarren, Bauernphilosophie oder Belehrungen über mancherlei Gegenstände des Aberglaubens, Gaunerlisten von 1753 an, Reisebeschreibungen in und aus dem Alpen-Lande.
Aber auch Gebetbücher hatte der Xaveri für sich und andere. Sein religiöses Lieblingsbuch war »Gott ist die reinste Liebe« von Hofrat von Eckartshausen. Dies trug er stets in der Kiste mit sich. Den Bauersleuten verkaufte er: Der glückselige Tag oder die Weise, den Tag zu heiligen, kurzer Begriff der notwendigsten Gebete eines katholischen Christen, die allerbesten Gebete Papst Pius des sechsten, Nachfolge Jesu Christi auf dem schmerzhaften Kreuzwege u.a.
Für sich hielt er noch das Donaueschinger Wochenblatt.
Kein Wunder also, wenn der Xaveri erzählen konnte, wie keiner in den Städtchen, keiner in den Tälern und keiner auf den Bergen des Kinzigtals.
Ich, die Kiste, stand, wenn mein Herr irgendwo auf einem Hof nächtigte, in einer Ecke bei der Ofenbank; um den Tisch saßen die Büre und die Mägde und die Meidle mit den Spinnrädern, im Herrgottswinkel hatte der Xaveri seinen Platz und neben ihm der Bur.
Auf der Ofenbank hatten die Knechte und die Buben Platz genommen, und auf dem Ofen droben lag der Hirtenknabe; denn er wollte auch »losen«, hatte aber sonst nirgends Raum gefunden.
Der Lichtstock mit dem brennenden Buchenspan war von der Mitte der Stube näher an die Spinnerinnen gerückt worden und beleuchtete wunderbar den Erzähler und seine Zuhörer.
Und sie lauschten, der Bur und die Knechte; und die Bürin und die Meidle vergaßen oft das Spinnen und stellten ihre Räder still, um kein Wort zu verlieren.
Am meisten horchten sie auf, wenn er über die damals lebenden größten Gauner, die alljährlich im Douaueschinger Wochenblatt genannt und geschildert waren, etwas vorlas oder erzählte.