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Platon

MENON

Über das Wesen der Erkenntnis und die Bedeutung der Mathematik

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0872-2

Menon mit Gefolge · Sokrates · Ein Sklave des Menon · Zwischenhinein Anytos

Menon: Kannst du mir sagen, Sokrates, ist die Tugend lehrbar? Oder ist sie nicht lehrbar, sondern eine Sache der Übung? Oder ist sie weder Sache der Übung noch des Lernens, sondern etwas, das den Menschen von Natur oder auf irgend eine Weise sonst zuteil wird?

Sokrates: O Menon, vordem waren die Thessalier berühmt unter den Hellenen und Gegenstand der Bewunderung nur wegen ihrer Reitkunst und ihres Reichtums; jetzt aber sind sie es auch, wie mir scheint, wegen ihrer Weisheit, und zwar unter ihnen nicht am wenigsten die Larissaier, die Mitbürger deines Freundes Aristippos. Zu danken aber haben wir das dem Gorgias. Denn als dieser nach Larissa kam, gewann er sich seiner Weisheit wegen die Liebe der Vornehmsten nicht nur unter den Aleuaden, zu denen auch dein Liebhaber Aristippos gehört, sondern unter den Thessaliern überhaupt. Auch habt ihr ja von ihm jene Sitte angenommen, furchtlos und mit edlem Freimut zu antworten, wenn jemand etwas fragt, so wie man es von Leuten erwarten kann, welche etwas wissen. Hat er ja doch selbst jedem Hellenen, der ihn was auch immer fragen wolle, sich dazu erboten und ist nie jemandem eine Antwort schuldig geblieben. Hier aber, mein lieber Menon, hat sich nun alles umgekehrt gemacht. Es ist sozusagen eine Weisheitsteuerung ausgebrochen, und fast sieht es aus, als ob die Weisheit aus hiesigen Landen zu euch entwichen sei. Wenigstens wenn du bei uns jemandem jene Frage vorlegen würdest, würde jedermann in Lachen ausbrechen und sagen: »O Fremdling, wie es scheint, hältst du mich für der Glücklichen einen, welche etwas wissen, wenigstens von der Tugend, ob sie lehrbar sei, oder auf welche Weise man ihrer sonst teilhaftig werde. Ich aber, weit entfernt, daß ich wüßte, ob sie lehrbar oder nicht lehrbar ist, weiß ja nicht einmal so viel, was überhaupt Tugend ist.«

Und auch mir selbst, Menon, geht es nicht besser. Ich bin in dieser Hinsicht so arm wie meine Mitbürger und muß mich selbst darüber anklagen, daß ich so gar nichts von der Tugend weiß. Weiß ich aber von etwas nicht, was es ist, – wie könnte ich wissen, wie beschaffen es ist? Oder hältst du es wohl für möglich, daß einer, der den Menon von Person ganz und gar nicht kennt, doch wisse, ob er schön, ob er reich, ob er ein edler Mensch, oder auch, ob er das Gegenteil hiervon sei? Hältst du das für möglich?

Menon: Gewiß nicht! Aber du, Sokrates, weißt du in der Tat nicht einmal, was Tugend ist? Und dürfen wir dir das auch zu Hause bei uns nachsagen?

Sokrates: Ja, nicht nur das, mein Freund, sondern daß ich auch sonst meines Bedünkens noch nirgends mit einem zusammengetroffen bin, der es wußte.

Menon: Wieso? Bist du nicht mit dem Gorgias zusammengetroffen, als er hier war?

Sokrates: Doch.

Menon: Nun, und du glaubst nicht, daß er es gewußt habe?

Sokrates: Mein Gedächtnis ist nicht eben das beste, Menon, weshalb ich dir im Augenblick nicht sagen kann, was ich damals glaubte. Nun, vielleicht weiß er es auch, sowie du weißt, was er gesprochen hat. Erinnere mich also nur wieder daran, wie er sich ausgedrückt hat; oder wenn du lieber willst, so sag es selber! Denn du bist ja doch derselben Ansicht wie er.

Menon: Allerdings.

Sokrates: So wollen wir ihn denn jetzt beiseite lassen, da er ja doch nicht zugegen ist. – Du selbst aber, Menon, bei den Göttern, was sagst du, daß die Tugend sei? Sprich und mißgönne mir es nicht, damit ich der glücklichsten Lüge schuldig erfunden werde, wenn es sich herausstellt, daß ihr, du und Gorgias, es wißt, während ich versichert habe, noch niemals mit einem zusammengetroffen zu sein, der es weiß.

Menon: Aber das in ja. nicht schwer zu sagen, Sokrates. Fürs erste, wenn du die Tugend des Mannes meinst, so ist sie leicht zu bestimmen: Die Tugend des Mannes nämlich ist, daß er geschickt sei, die Angelegenheiten des Staates zu verwalten und mittelst ihrer Verwaltung seinen Freunden Gutes zu tun, seinen Feinden aber Böses, und dabei selbst auf der Hut zu sein, daß ihm nichts dergleichen widerfahre. Meinst du aber die Tugend des Weibes, so ist es nicht schwer, diese zu beschreiben: Sie muß nämlich ihr Hauswesen wohl besorgen, indem sie im Innern alles in gutem Stand erhält und ihrem Manne gehorsam ist. Eine andere Tugend ist dann die des Kindes, sowohl des männlichen als des weiblichen, ebenso die des älteren Mannes, und je nachdem du meinst, die des Freien oder, wenn du meinst, die des Sklaven. Und so gibt es noch sehr viele andere Tugenden, so daß man gar nicht in Verlegenheit kommen kann, von der Tugend zu sagen, was sie ist. Denn für jede Handlungsweise und für jedes Alter gibt es bei jedem Geschäft für jeden von uns seine Tugend, ebenso aber glaube ich, mein Sokrates, auch seine Untugend.

Sokrates: Da bin ich ja, wie es scheint, recht glücklich gewesen, Menon, daß ich, indem ich nach einer Tugend frage, einen ganzen Schwarm von Tugenden, die an dir hängen, gefunden habe. Allein, Menon, wenn ich, um bei dem Bilde von den Schwärmen zu bleiben, nun nach dem Wesen der Biene fragen würde, was sie denn sei, und du mir nun sagen würdest, daß es viele und mancherlei Bienen gebe, – was würdest du mir wohl erwidern auf die weitere Frage: »Behauptest du denn, daß der Grund davon, daß es viele, mancherlei und von einander verschiedene Bienen gebe, darin liege, daß sie Bienen sind? Oder beruht nicht ihr Unterschied vielmehr gar nicht hierin, sondern in etwas anderem, z.B. in ihrer Schönheit oder ihrer Größe oder sonst einem Merkmal dieser Art?« Sprich, was würdest du auf diese Frage wohl antworten?

Menon: Das, daß sie sich nicht eine von der anderen unterscheiden, sofern sie Bienen sind.

Sokrates: Und wenn ich nun weiter sagte: »So sag mir nun auch das, Menon: was ist nach deiner Behauptung das, worin sie sich nicht von einander unterscheiden, sondern worin alle sich gleich sind?« – könntest du mir es wohl sagen?

Menon: Gewiß.

Sokrates: Dieselbe Bewandtnis nun hat es auch mit den Tugenden. Wenn es deren auch viele und mancherlei gibt, so haben sie doch sämtlich einen und denselben Begriff, vermöge dessen sie Tugenden sind, und diesen hat derjenige wohl ins Auge zu fassen, welcher jene Frage beantworten und es richtig bestimmen will, was die Tugend wirklich ist. Oder verstehst du nicht, was ich meine?

Menon: Ich glaube dich schon zu verstehen; doch habe ich deine Frage noch nicht so gefaßt, wie ich es wünsche.

Sokrates: Und hast du wohl nur von der Tugend jene Ansicht, Menon, daß die des Mannes eine andere sei, und wieder eine andere die des Weibes und so weiter, oder auch von der Gesundheit und von der Größe und von der Stärke? Dünkt dir auch die Gesundheit des Mannes eine andere zu sein als die des Weibes? Oder ist es nicht überall derselbe Begriff, wenn einmal von Gesundheit die Rede, möge sie nun bei einem Manne oder bei irgend wem sonst sich finden?

Menon: Die Gesundheit scheint mir allerdings beim Mann und Weib dieselbe zu sein.

Sokrates: Und nun nicht auch die Größe und die Stärke? Wenn ein Weib stark ist, wird sie nicht vermöge desselben Begriffs und derselben Stärke stark sein? Den Ausdruck vermöge derselben verstehe ich nämlich so: es macht für die Stärke, daß sie Stärke sei, gar keinen Unterschied, ob sie bei einem Mann oder ob sie bei einem Weibe sich findet. Oder meinst du, es mache einen Unterschied?

Menon: Doch nicht.

Sokrates: Für die Tugend aber, daß sie Tugend sei, soll es einen Unterschied machen, ob sie bei einem Knaben sich finde oder bei einem Alten, ob bei einem Weibe oder bei einem Mann?

Menon: Allerdings, Sokrates, scheint mir hier nicht das gleiche Verhältnis zu sein wie in jenen anderen Fällen.

Sokrates: Wieso? Hast du nicht gesagt, die Tugend des Mannes bestehe darin, den Staat, die des Weibes darin, das Haus wohl zu verwalten?

Menon: Allerdings.

Sokrates: Ist es nun möglich, daß einer einen Staat oder ein Haus oder was sonst immer wohl verwalte, wenn er es nicht weise und gerecht verwaltet?

Menon: Nichtwohl.

Sokrates: Und nicht wahr, wenn man nun weise und gerecht verwalten will, muß man es mit Weisheit und Gerechtigkeit tun?

Menon: Notwendig.

Sokrates: