Inhaltsverzeichnis


Goldblondchens Märchensack
Sternschnuppe
Lorchen
Sommernachtstraum und Wintermärchen
In die weite Welt
Jungfer Rotnas und Jungfer Naseweis
In der Rumpelkammer
Buckelhannes
Goldregen
Aus Stein
Der Zauberspiegel
Annelieses Weihnachtstraum
Aus der Jugendzeit
Vom dummen Peter, der durchaus das Fliegen lernen wollte
Was Großvater Stumpfzahn erlebte
Unter dem Hammer
Der Kakaobaum
Risi Bisi
Das Wasser kommt!
Piepmatz, der Gassenjunge

Goldblondchens Märchensack

Inhaltsverzeichnis

Goldblondchen, Flachsköpfchen und Seidenhärchen waren Freunde.

Goldblondchen hatte einen wirren, blonden Krauskopf, der war so golden und glänzend wie die lichten Strahlen der lieben Sonne, und eine kecke Stupsnase in dem lustigen Kindergesicht. Flachsköpfchen besaß eine Lockenperücke und einen abgeschlagenen Fuß, sie konnte »Mama« und »Papa« schreien, wenn man sie auf den Bauch drückte. Seidenhärchen aber hatte ein spitzes Schnäuzchen und ein winziges, schwarzweißes Schwänzchen – er war ein allerliebster, kleiner Spitz.

Die drei Spielkameraden waren ein Herz und eine Seele. Vom ersten warmen Maisonnenstrahl an hockten sie zusammen in der großen Sandgrube hinter dem Garten, denn in die Schule gingen sie alle drei nicht. Seidenhärchen war der älteste von ihnen, und daher der verständigste.

Auch heute saßen sie wieder einträchtig in ihrer »Kute«, wie Goldblondchen die Sandgrube nannte. Das kleine Mädchen arbeitete mit feuerroten Bäckchen. Sie grub eifrig nach Regenwürmern für Flachsköpfchen zum Mittagbrot. Plötzlich hielt sie inne und fuhr sich mit der erdigen Hand durch das Goldhaar.

»Du hast's gut, Flachsköpfchen«, sagte sie mit tiefem Seufzer zu ihrem Puppenkind, das mit steifem Arm den himmelblauen Sonnenschirm aufgespannt hielt, um keine Sommersprossen zu bekommen. »Ja, du hast's gut!« wiederholte sie noch einmal sinnend. »Du hast eine kleine Mama, die dir Regenwürmer zum Mittagbrot kocht und dich lieb hat – und ich habe keine. Und du hast einen Papa, der nicht immer verreist ist, sondern bei dir in der Sandkute sitzt.« Goldblondchen sah liebevoll auf Seidenhärchen, welcher den Papa vorstellte.

Der saß still genießend im warmen Frühlingssonnenschein, nur ab und zu schnappte er nach einer Fliege, die ihm allzu dreist um die Nase surrte. Jetzt erhob er sich gravitätisch, im Bewußtsein seiner väterlichen Würde, und leckte seinem Kinde Flachsköpfchen mit zärtlichem Knurren das Wachsgesicht.

Goldblondchen begab sich wieder an ihre Arbeit. Still wurde es zwischen den drei Freunden.

»Seidenhärchen – Flachsköpfchen,« schrie Goldblondchen plötzlich los, »ach, guckt bloß mal, was für einen komischen Regenwurm ich eben gefangen habe!« Sie zog ihre kleine Kinderfaust behutsam aus dem Erdloch; fest hielt sie ein zappelndes Etwas umklammert.

Seidenhärchen kam mit einem Satz heran, Flachsköpfchen fiel vor Schreck auf den Rücken.

Goldblondchen öffnete ihre Hand – ganz wenig – hopps – da sprang ein seltsam winziges Ding heraus. Es war nicht größer als Goldblondchens Zeigefinger, trug ein sandfarbenes Röckchen und eine spitze Zipfelmütze. Und einen eisgrauen Bart hatte es, der war zweimal so lang wie der ganze, kleine Wicht.

Daran hielt ihn Goldblondchen noch immer fest.

»Bist du ein Regenwurm?« fragte sie den kleinen, ängstlich hin und her springenden Kauz neugierig.

»Mama – Papa« – schrie Flachsköpfchen weinerlich, das possierlich herumhopsende Männlein hatte sie auf den Bauch getreten.

Und »wau, wau« machte Seidenhärchen bedenklich. In seinem ganzen Hundeleben war ihm solch ein merkwürdiger Regenwurm noch nicht begegnet.

Da tat der Regenwurm auch noch den Mund auf und sprach. Wie ein richtiger Mensch sprach er, nur ganz hoch und piepsend klang sein Stimmchen: »Ich bin kein Regenwurm, mein Kind, ich bin ein Erdmännlein und heiße Pumpelstrumpel. Was habt ihr denn hier in meiner Sandgrube zu suchen, ihr kleine Gesellschaft?«

Goldblondchen, Flachsköpfchen und Seidenhärchen sahen sich verdutzt an.

Seidenhärchen begann kriegerisch zu blaffen, Goldblondchen aber nahm das Wort für ihre beiden Freunde.

»Deine Sandgrube, du Knirps,« das kleine Mädchen griff auch noch mit der andern Hand in den Bart des winzigen Gesellen und zauste ihn wacker, »das ist ja noch schöner! Die Sandkute gehört uns, wir spielen darin schon schrecklich lange, schon drei Tage, merke dir das!«

»Au – au«– wimmerte das Männlein in dem derben Kinderhändchen, »au – laß los! Kannst du nicht höflicher mit mir umgehen, solche grobe Behandlung bin ich nicht gewohnt!«

Goldblondchen wurde rot und sah auf Flachsköpfchen und Seidenhärchen. Was mußten die beiden nur von ihr denken!

Sie machte einen etwas mißglückten Knix und sagte in artigerem Tone: »Ja, lieber Kerr Pumpelstrumpel, die Kute gehört wirklich uns. Aber wenn Sie mit uns spielen wollen, dürfen Sie hierbleiben. Sie könnten vielleicht das Kind von meiner Puppe Flachsköpfchen sein, dann werden Seidenhärchen und ich gleich Großmama und Großpapa.«

Das Männlein sah auf seine in Aussicht gestellte Mutter. Die lag mit zum Himmel gestreckten Armen und halbgeschlossenen Glasaugen noch immer der Länge nach auf der Erde. Auch der Hundegroßpapa schien dem Männlein wenig einzuleuchten. Es schüttelte sein drolliges Köpfchen so heftig, daß die spitze Zipfelmütze hin und her wackelte.

»Gib mich frei, liebes Mägdelein«, bat es, sich in Goldblondchens Hand windend. »Laß mich wieder hinunter in mein Reich. Harmlos und friedlich machte ich meinen Morgenspaziergang in einem Mauseloch, da hast du mich mit roher Hand gefangen. Laß mich los, ich schenke dir auch was Wunderschönes.«

»Was denn?« erkundigte sich Goldblondchen und hielt im Hinblick auf die versprochene Herrlichkeit nur um so fester. »Eine richtige Kochmaschine mit Spiritus, die bringt mein Papa mir schon von der Reise mit. Aber Bonbons, ja viel Bonbons, die könnte ich sehr gut gebrauchen.«

Flachsköpfchen versuchte Goldblondchen mit ihrem abgeschlagenen Fuß leise zu stoßen. Sie hatte ein großes Loch im Strumpf, gerade auf dem Kugelgelenk – ein Paar neue Puppenstrümpfe waren sicher doch viel nötiger.

Seidenhärchen schien ebenfalls nicht recht einverstanden. »Wau, wau«, machte er und wedelte bittend mit dem Stumpfschwänzchen. Das Schönste, was man sich wünschen konnte, war seiner Ansicht nach eine Wurst.

»Spielzeug und Bonbons habe ich nicht, liebes Kind, das kann ich dir nicht geben«, sprach da das Männlein mit seinem dünnen Stimmchen. »Aber etwas viel Schöneres will ich dir schenken – ein Märchen!«

»Ein Märchen –« Goldblondchen dachte so angestrengt nach, daß sie ganz rot wurde – »ein Märchen, was ist denn das? Kann man das essen, und sind da Rosinen und Mandeln drin?«

Das Männlein lachte und schüttelte sich, daß sein langer Bart Goldblondchen an den Fingern krabbelte.

Um ihren frischen Kindermund zuckte es weinerlich.

»Sie brauchen gar nicht so zu lachen, Herr Pumpelstrumpel, Seidenhärchen kennst du Märchen?« Goldblondchen sah Seidenhärchen an, und Seidenhärchen Goldblondchen. Eins war so klug wie das andere. »Na, sehen Sie, Herr Pumpelstrumpel,« sagte sie erleichtert, »Seidenhärchen weiß auch nicht, was ein Märchen ist, und der ist doch noch älter als ich. Komm, Flachsköpfchen«, sie griff nach ihrem Puppenkind und achtete nicht darauf, daß das Männlein plötzlich dabei ihren Fingern entschlüpfte. »Hast du schon mal von einem Märchen gehört?« Aber Flachsköpfchen riß ihre gläsernen Blauaugen so erstaunt auf, als ob sie das Wort zum ersten Male vernähme. »Na also, Herr Pumpelstrumpel«, meinte Goldblondchen triumphierend und öffnete ein wenig die Hand, um den Kleinen zu sehen – ja, wo war denn der? Da drüben neben seinem Mauseloch stand das fingerlange Männlein und kicherte vergnügt. Es war ihr entwischt!

Nanu – Goldblondchen riß die Augen auf, soweit es nur ging, das Männlein reckte sich – zusehends wuchs es. Schon hatte es die Größe eines Zwerges erlangt, es reichte Goldblondchen jetzt sicher schon bis an die Nasenspitze.

»Nun bin ich frei, du dummes, kleines Menschenkind,« schmunzelte es, »und könnte wieder in mein Reich hinunter. Aber du dauerst mich, Goldblondchen, daß du keine Märchen kennst. Sag', hast du denn kein Mütterlein, das dir welche erzählt?«

Goldblondchen schüttelte den Kopf mit dem schimmernden, goldenen Gelock.

»Ich habe nur die alte Friederike, die erzählt mir nichts, und manchmal habe ich auch einen Papa, ja, wenn er auch meistens verreist ist. Aber Flachsköpfchen hat eine kleine Mama, das bin ich, und einen Papa hat sie auch«, sie kraute dem schönmachenden Seidenhärchen zärtlich das Fell.

Das Männlein nickte vor sich hm.

»Armes Kind, du sollst nicht ohne Märchen aufwachsen. Schau, morgen komme ich wieder und bringe dir einen ganzen Sack voll Märchen mit herauf. Die will ich dir alle erzählen.«

Goldblondchen klatschte in die Hände.

»Ach, Herr Pumpelstrumpel, wenn Sie das tun wollten, und Flachsköpfchen und Seidenhärchen dürfen auch zuhören, ja?«

Seidenhärchen begann freundschaftlichst zu wedeln, Flachsköpfchen rief so herzbrechend sie nur konnte: »Papa, Mama«, und – da war das Männlein verschwunden.

Aber am nächsten Tage, als die drei Freunde wieder zusammen in ihrer Sandkute hockten, da begann es mit einem Male in der Erde zu wühlen und zu rascheln. Und plötzlich stand Herr Pumpelstrumpel wieder vor ihnen.

Das Männlein war ganz atemlos, einen schweren Sack schleppte es auf seinem Rücken.

»Alles Märchen, Goldblondchen,« keuchte es, auf sein Säckchen weisend, »das reicht für den ganzen Sommer.«

»Erzählen Sie, bitte, erzählen Sie, Herr Pumpelstrumpel«, bat Goldblondchen erwartungsvoll und setzte sich in die Mitte zwischen Flachsköpfchen und Seidenhärchen, dem Erdmännlein gegenüber.

Und das Männlein erzählte.

Jeden Tag kam es zu den drei Freunden herauf, und jeden Tag zog es ein neues Märchen aus seinem Sack. Wie lauschte da Goldblondchen mit glänzenden Augen und brennenden Backen! Auch Flachsköpfchen hörte brav zu, nur Seidenhärchen fand es manchmal interessanter, auf die Spatzenjagd zu gehen. Und dabei war er doch der älteste von den dreien.

Die Sommertage vergingen, der Herbst kam mit seinen rauhen Winden, und die alte Friederike brummte, wenn Goldblondchen noch immer in ihre Sandkute entwischte.

»Heute bin ich das letztemal hier, Goldblondchen«, sagte Herr Pumpelstrumpel an einem recht herbstlichen Tage traurig zu der Kleinen. Das Männlein stellte sein Säckchen neben sich und fing an, seine letzte Geschichte zu erzählen.

Kalt und unfreundlich fegte der Herbststurm über die Sandkute hin. Goldblondchen merkte es nicht. Auch das Puppenkind saß kerzengerade auf seinem Platz, trotzdem der Wind es unbarmherzig an den Flachshaaren zauste. Dem Hundepapa aber war es zu ungemütlich. Er mußte sich etwas Bewegung machen. Nachdem er die Sandgrube einige Dutzend Male umkreist hatte, stieß er plötzlich mit dem Näschen gegen den Märchensack.

Ei – der war ja mit einer wunderschönen Schnur zusammengebunden! Seidenhärchen begann sich etwas angelegentlicher mit dem Band zu beschäftigen. Eine Kordel war auch daran, die war Seidenhärchen tausendmal interessanter, als das schönste Märchen des Herrn Pumpelstrumpel.

Mit seinen spitzen Zähnen fing er an zu zerren und zu nagen – wau, wau – jetzt war das Kunststück geglückt – er hatte die Sackschnur durchbissen.

Und hui – da kam der Sturm dahergebraust, er griff mit seiner knochigen Hand in den Märchensack – und hui – da flatterten die Märchen alle davon – hohnlachend trieb der Wind sie vor sich her.

»Die Märchen – meine schönen Märchen!« schrie Goldblondchen entsetzt und streckte die Arme hinter den davonfliegenden Märchen aus. Das Männlein aber nahm seinen leeren Sack auf den Rücken.

»Weine nicht, Goldblondchen,« sprach es tröstend zu der Kleinen, »dir habe ich ja jetzt all meine Märchen erzählt. Aber draußen in der Welt, da wohnen viele Kinder, die sie noch nicht kennen. Und im nächsten Sommer kehre ich wieder und bringe dir einen neuen Märchensack mit!« Damit war das Männlein verschwunden.

Goldblondchens Märchen aber wehte der Sturmwind weit hinaus in die Lande – zu all euch Kleinen.

Sternschnuppe

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Wenn du dir hunderttausend Leitern nimmst, eine über die andere stellst und lustig daran emporkletterst, weiter und immer weiter, dann kommst du in das Sternenland.

Ach, wie das da funkelt und flimmert, wie das glänzt und glitzert! Leuchtende Blumensterne wiegen ihre schillernden Köpfchen auf schlankem Stengel, und die großen, dichten Wälder sind über und über mit Sternen besät. Denn im Sternenland wachsen statt der Blätter grünlich flammende Sterne auf den Bäumen, die sehen noch viel, viel herrlicher aus als die Weihnachtsbäume auf Erden.

Das Schönste aber im ganzen Sternenland ist das prächtige Schloß der Königin Nacht. Aus silbernen Sternen ist es erbaut, und das Dach ist aus dunkelblauem Sammet, auf dem Tausende von goldenen Sternlein prangen.

Milde und weise herrschte die Königin Nacht in ihrem Reiche. Wenn es Abend wurde, nahm sie ihr Töchterlein Sternschnuppe an die Hand und wandelte mit ihm in ihrem langen, schleppenden Gewande, das über und über mit funkelnden Sternen bestickt war, aus dem Schlosse zu den blühenden Gärten hinab. Erst schaute sie nach, ob ihre Diener auch pünktlich den Abendstern angezündet hatten, und dann stieg sie in den goldenflimmernden, aus sieben großen Sternen zusammengesetzten Wagen. Ein kleiner Bär war davorgespannt und – hui, ging es dahin, die glitzernde Milchstraße entlang. Sternschnuppe jauchzte hell auf vor Lust, Königin Nacht aber schlang fest den Arm um ihr Töchterchen, daß es ihr bei der tollen Fahrt nicht herausfiel. Denn bei der Geburt der Kleinen stand es deutlich in den Sternen geschrieben, daß sie dereinst ein Erdenkind werden würde, und Königin Nacht wollte ihren Liebling davor bewahren.

Nur ungern ließ sie ihr Töchterchen durch das große, große Luftmeer hinabblicken, dann sah Sternenschnuppe ganz in der Tiefe blaue Berge und grüne Täler, spitze Kirchtürme und kleine Häuschen.

»Ach, Mutter,« jubelte Sternschnuppe, »schau nur das lustige Spielzeug dort unten, geschwind laß uns hinfahren!«

Aber Königin Nacht schüttelte ernst ihr Haupt mit dem Sternendiadem und sprach:

»Berge, steil', und Ebenen, schiefe,
Wachsen drunten aus der Tiefe,
Strom und Bächlein sie durchqueren,
Felder tragen gold'ne Ähren.
Sieh, das ist die Erde, Kind,
Menschen jene Wesen sind.
Die dort wohnen als die Herrn.
Ach, bliebst stets du ihnen fern,
Wer den Weg zur Erde fand,
Niemals kehrt zum Sternenland!«

Da klammerte sich Sternschnuppe ängstlich an die Mutter und blickte neugierig auf das seltsame Ding, die Erde, hinab. Winzige Wesen sah sie dort unten herumkrabbeln, das mußten die Menschen sein, von denen die Mutter gesprochen. Kinder aber bekam die kleine Sternschnuppe nicht zu sehen, denn die schliefen schon längst, wenn Königin Nacht mit ihrem Töchterchen spazierenfuhr.

Eines Tages war Sternschnuppe gar nicht brav gewesen.

Sie hatte ihre Rechenexempel, die Sternlein zusammenzuzählen, falsch gemacht, hatte sich ein großes Loch in ihr blinkendes Sonntagskleidchen gerissen und wollte dem guten, alten Onkel Mond, der in seinem silbernen Schiffchen öfters bei ihnen vorbeisegelte, und der ihr erst neulich das schöne Horn und die niedlichen Mondkälbchen zum Spielen mitgebracht hatte, nicht artig »guten Abend« sagen.

»Solch unartiges Mädchen darf nicht mit mir ausfahren«, sprach die Mutter streng. »Sternschnuppe, du bleibst heute zu Hause!« und Königin Nacht fuhr mit dem Sternenwagen und dem kleinen Bären davon.

Sternschnuppe saß am Fenster und baute aus flimmernden Sternenklötzchen kleine Kirchen und Häuslein, wie sie sie neulich in der Tiefe auf der Erde gesehen hatte. Denn daran mußte sie noch immer denken.

Trotzig warf sie die Lippen auf. Sie wollte nicht zu Hause bleiben – nein – dann ging sie eben allein spazieren! Laut pochte ihr Herzchen, als sie sich ganz heimlich, damit die Hofdamen und Kammerfrauen es nur ja nicht sahen, die funkelnden Sonntagsflüglein anschnallte, denn im Sternenland kann man fliegen. Leise, leise schlich sie sich aus dem Schlosse, an all den vielen Soldaten in den blitzenden Sternenuniformen vorbei – jetzt stand sie an der Gartenpforte.

Königin Nacht hatte es ihr streng untersagt, allein aus dem Schloßgarten zu gehen, aber sie dachte nicht mehr an das Verbot der Mutter.

Sie lief die flimmernde Milchstraße entlang, an den glitzernden Sternblumen, die am Wege standen, vorüber. Aber die bunten Blumen steckten die glänzenden Köpfchen zusammen und wisperten:

»Königskind, sei klug und weise,
Pflück' uns für die Erdenreise,
Kehrst auch niemals du zurück,
Wir führ'n dich zum Erdenglück!«

Da brach Sternschnuppe geschwind die leuchtendsten der Sternblüten und wand sie zum blinkenden Strauß. Immer schönere Blumen sah sie emporwachsen, sie lief kreuz und quer und achtete nicht mehr des Weges. Perdauz – da lag sie auf der Nase, sie war über einen großen Stern gestolpert, der mitten auf der Straße lag. Sie wollte wieder aufstehen, aber die Straße ging bergab, sie rollte – immer weiter und weiter – niemand hörte ihr ängstliches Schreien. Jetzt flog sie über den Rand der Milchstraße, und nun hörten die hellen Sternlein plötzlich auf – Sternschnuppe flog durch das große, dunkle Luftmeer.

Hu – schwarz und finster war es da, mit einem Male aber traf greller Lichtschein ihre Augen. Sie sauste an dem in gelben Zickzackflammen lodernden Schlosse der bösen Brüder, Donner und Blitz, von denen die Mutter ihr erzählt hatte, vorbei. Laut brüllte der Donner durch sein ganzes Reich hinter ihr her. Ach, wie klopfte da Sternschnuppes Herzchen vor Furcht, aber sie flog weiter, immer tiefer, durch das Reich der lustigen Winde. Vorbei an dem Luftreich des Königs Nebel, dessen schlanke Töchter in grauen, wallenden Gewändern den schwebenden Reigen tanzten, und jetzt – jetzt blieb sie mit den Flüglein an etwas Spitzem hängen. Sie wollte sich losreißen, aber sie saß so fest, daß sie sich nicht bewegen konnte, da begann sie jämmerlich um Hilfe zu schreien.

»Warum rufst um Hilfe du
Und störst nächtlich unsere Ruh?«

hörte sie mit einem Male ein hohes Stimmchen fragen.

Sternschnuppe sah sich um, neben ihr stand ein winziges Männlein in einem braunen Lederwams.

»Ich bin es, Sternschnuppe,« sagte sie schüchtern, »ich bin aus dem Sternenland herabgefallen und hänge hier fest, willst du mich wohl losmachen?«

»Das will ich gern tun, mein Kind,« sprach der Knirps, »ich sehe dich trotz der Dunkelheit gut, denn deine Augen leuchten heller als die schönsten Sterne. Nur muß ich erst mein Scherchen holen.«

Bald kam der kleine Wicht zurück, und schnipp-schnapp schnitt er Sternschnuppe ein Stück von ihren Flüglein ab, faßte sie an die Hand und rutschte mit ihr durch ein großes Tor in einen dunklen Turm.

»Wo bin ich?« fragte Sternschnuppe ängstlich.

»Keine Furcht, Kleine«, lachte das Männchen freundlich. »Du bist auf der Erde, mit deinen Flügeln bist du an dem Kirchturm hängen geblieben, der uns gehört. Meine Brüder und ich, wir sind die Glockenmännlein. Wir hausen in den großen Kirchenglocken; die Brüder schlafen noch alle, und auch du wirst von der langen Reise müde sein. Komm, leg' dich in mein Bettchen, ich halte inzwischen vor der Tür Wache, daß Uhu und Käuzlein, unsere Feinde, dir nichts anhaben.«

Er führte sie zu seinem kleinen Glockenstübchen, da stand ein niedliches Bett. Sternschnuppe legte sich hinein, und das Bettchen dehnte und dehnte sich, bis es ihr paßte, und da schlief sie auch schon.

Lautes Dröhnen, Klingen und Singen weckte Sternschnuppe plötzlich aus tiefem Schlaf. Das summte, toste und brauste um sie herum, entsetzt schaute sie auf. Da stand auch schon das Glockenmännlein vor ihr und blickte das schöne Mägdlein mit dem golden flimmernden Blondhaar und den klaren Sternenaugen freundlich an.

»Du hast wohl gar Angst vor der Morgenglocke,« lachte er, »na, daran wirst du dich bald gewöhnen, es soll dir hier oben bei uns schon gefallen.«

»Darf ich denn bei euch bleiben?« fragte Sternschnuppe froh, denn sie wußte doch nicht, wohin sie auf der fremden, großen Erde gehen sollte.

Der kleine Wicht nickte mit dem Kopf, daß sein langer, weißer Bart die Erde berührte.

»Ich will dich jetzt zu den Brüdern führen,« sprach er, »du bist zu zart und fein, um unter den Menschen drunten zu leben. Und du hast so strahlende Augen, daß es einem froh ums Herz wird, wenn man hineinblickt. Komm,« und mit gravitätischen Schritten ging er ihr voran.

In der größten Glocke, die in der Mitte hing, war eine lange Tafel gedeckt. Hier war das gemeinsame Eßzimmer, und da saßen viele winzige Glockengeister bei der Morgensuppe. Als sie hörten, daß Sternschnuppe vom Sternenland herabgefallen war und nun bei ihnen bleiben wollte, freuten sie sich sehr mit dem holden Kinde. Sie rückten gleich freundlich beiseite und ließen Sternschnuppe an ihrer Morgensuppe teilhaben.

Mit großen Augen sah Sternschnuppe erstaunt auf all die possierlichen kleinen Burschen. »Wie heißt ihr denn?« fragte sie neugierig.

Da begannen sie alle zusammen in singendem Tone:

»Schlick, Schlack, Schluck,
Mick und Muck,
Schnapp und Schnipps,
Fipps und Stipps,
Wir kleinen Glockengeister,
Und Trill ist unser Meister!«

»Ach,« lachte Sternschnuppe, »wie soll man euch denn da herauserkennen, wie unterscheidet man euch denn?«

Da traten die gnomenhaften Gesellen nacheinander vor Sternschnuppe hin, machten einen zierlichen Kratzfuß, und der erste im grauen Wämslein begann:

»Schaut grau zum Fenster der Morgen hinein,
Den jungen Tag läutet Schlick dann ein.«

Drauf sprach der zweite Kleine im goldenen Strahlenröckchen:

»Wenn die Sonne im Mittag, wenn laut knurrt der Magen,
Schlack läutet – geschwind dann die Supp' aufgetragen!«

Nun tat das dritte Glockenmännlein im rosenfarbenen Röckchen den Mund auf und sprach:

»Schluck läutet, wenn rosig die Sonne entschwebt,
Und Abendfrieden die Menschen umwebt.«

Zwei kleine Geister, der eine im bunten Sonntagsröckchen, der andere im grünen Festkleid traten jetzt heran:

»Mick rufet zum Kirchgang am Sonntag laut.
Muck läutet zur Trauung dem Bräut'gam, der Braut!«

sprachen sie.

Erstaunt schaute Sternschnuppe jetzt auf zwei Männlein in schneeweißer und kohlrabenschwarzer Kutte. Das eine rief mit froher Stimme:

»Dem Kindlein zur Taufe hell läutet Schnapp,
Schnipps leitet den Menschen zum kühlen Grab!«

fügte das schwarze Männlein mit dumpfer Stimme hinzu.

In gelb, rot und bläulich zuckenden Flammenröckchen traten jetzt zwei Glockenmännlein hervor:

»Fipps' Glocke erdröhnt, wenn der Blitzstrahl grell loht,
Stipps meldet schaurige Feuersnot.«

Nun war nur noch Trill übrig, der kleine Geist, in dessen Glockenstube Sternschnuppe wohnte, der sprach:

»Der älteste bin ich vom Gnomengeschlecht,
Ich sorg' in den Glocken für Ordnung und Recht!«

Jetzt kannte Sternschnuppe die ganze Gesellschaft, und bald war sie gut Freund mit all den kleinen Geistern.

Sie gab Trill, in dessen Stübchen sie wohnen blieb, ihre Flüglein und die herrlich glitzernden Sternblumen, die sie im Sternenland gepflückt, zum Aufbewahren und fühlte sich bald heimisch bei den freundlichen Glockenmännlein, die sie über alles liebten.

Am Tage saß sie in dem offenen Turmfenster und blickte weit hinaus in das blühende Land. Ach – was gab es da alles zu sehen auf der Erde. Die fruchtbaren Felder, auf denen die Sensen im Sonnenlicht blinkten, mit den fleißig schaffenden Menschen, die blumigen Wiesen, auf denen stattliche Kühe grasten; lustig schnatternde Gänse und Enten drunten in der Dorfstraße und vor allem lachende, sich fröhlich haschende Kinder. Die Glockenmännlein konnten ihr gar nicht genug von der Erde und den Menschen, die auf ihr wohnten, erzählen.

»Ach, wenn ich doch auch nur einmal herunter dürfte«, meinte Sternschnuppe sehnsüchtig, aber ihre kleinen Freunde wollten davon nichts hören.

Auch die Schwälbchen, Sternschnuppes lustige Spielgefährten, die am Kirchendach nisteten, und die auf ihren schlanken, blauen Flügeln doch so weit in der Welt herumgekommen waren, meinten, so schön wie hier oben bei den Glockengeistern sei es nirgends sonst auf der Erde. Sie zwitscherten der kleinen Sternschnuppe ihre schönsten Lieder vor, damit sie sich nicht langweile. Und Meister Storch, der den Kirchturm bewachte, hatte die Kleine ganz besonders in sein Herz geschlossen, der erzählte wunderschöne Märchen aus den fernen, warmen Ländern, in die er zur Winterszeit reiste.

So lebte Sternschnuppe viele Wochen droben im Glockenstübchen des Kirchturms. Nur des Abends, wenn die Sternlein am Himmel aufzogen, blickte sie sehnsüchtig zu ihrer Heimat empor. Dann zeigten ihr die Glockenmännlein die Sternbilder, den Großen Wagen, den Kleinen Bär und die Milchstraße, auf der sie so oft gefahren; aber die Sterne sahen von unten alle so matt aus, gar nicht so glänzend wie im Sternenland droben.

Ach – und ihre Mutter, die Königin Nacht, bekam sie niemals zu sehen, die hüllte sich, seitdem ihr Töchterchen verschwunden, stets vor Kummer in dichte Wolkenschleier. Ja, sie war sehr, sehr traurig, die Königin Nacht, daß sie ihre kleine Sternschnuppe nun für immer verloren hatte, und daß die Prophezeiung bei der Geburt der Kleinen, daß sie einst ein Erdenkind werden müsse, in Erfüllung gegangen war. Den guten Gevatter Mond sandte sie als Boten aus, der sollte ihr Nachricht bringen, wie es ihrem Töchterchen drunten erginge. Und der Mond ließ seine Silberstrahlen durch alle Ecken und Winkelchen der Erde huschen, aber Sternschnuppe konnte er nicht finden, denn die schlief ja in ihrem Glockenstübchen, da konnte der Mond nicht hineinleuchten.

Eines Tages dröhnte dumpf und schwer die Trauerglocke. Schnipps hatte sein traurigstes Gesicht aufgesetzt, denn drunten auf dem kleinen Friedhof, wo die schönen, weißen Rosen blühten, begrub man heute ein junges Menschenkind. Weinend stand die Mutter an dem rasenbelegten Erdhügel; und auch der kleinen Sternschnuppe, die ein weiches Herzchen hatte, liefen die Tränen aus hellen Augensternen, als sie den Jammer der armen Mutter von ihrem Turmfensterchen mitansah.

Jeden Tag kam die Mutter zu dem kleinen Grabe und schmückte es mit Blumen, aber nun wurde es kalt, bitterkalt, die Winde heulten und pfiffen um den Kirchturm, und die weißen Rosen verblühten. Die Glockenmännlein froren nicht, die krochen tief in ihre Glocken hinein und waren solche Kälte gewöhnt. Aber die zarte, kleine Sternschnuppe, die nur das schöne, warme Sternenland kannte, in dem es das ganze Jahr Sommer war, bebte an allen Gliedern vor Frost.

»Ihr müßt das Kind fortgeben,« sagte eines Tages Meister Storch ernst zu den Männlein, ehe er fortzog, »es erfriert euch hier oben im strengen Winter, ihr müßt es zu guten Menschen geben, die eine warme Stube haben.«

»Ja,« sprach Sternschnuppe, »ich will auf die Erde zu den Menschen, ich will zu der armen Mutter gehen, deren Kind drunten auf dem Kirchhof schläft, ich will sie trösten und sie wieder froh machen.«

Da willigten die Glockenmännlein schließlich ein. Trill gab ihr ihre Flüglein und den Strauß Sternblumen wieder, und sie nahmen betrübt Abschied von ihrer lieben Sternschnuppe. Und nachdem Schluck leise und wehmütig die Abendglocke gezogen hatte, schnallte sich Sternschnuppe wieder ihre blitzenden Flüglein um und wollte davonfliegen.

Aber ach – die Flüglein waren zu kurz geworden, das Glockenmännlein hatte ein zu großes Stück mit seinem Scherchen abgeschnitten, Sternschnuppe konnte nicht mehr fliegen. Nun wußte sie, daß sie niemals in ihre Heimat zurückkehren konnte. Die Sternblumen aber, die sie in der Hand hielt, flüsterten ihr tröstend zu:

»Hat die Heimat dich verbannt,
Kön'gin wirst im Erdenland!«

Da dankte Sternschnuppe den guten Glockengeistern noch einmal, dann stieg sie auf den Rücken des Storches, und dieser trug sie auf schnellen Flügeln davon, hinab auf die Erde zu dem freundlichen Schloßgärtnerhäuschen, in dem die arme Mutter wohnte.

War das ein Glück und eine Freude in dem kleinen Häuslein, als die junge Frau am Morgen das liebliche Mägdlein auf der Schwelle fand.

»Komm, Mann,« rief sie jubelnd, »und schau, was der liebe Gott uns für einen Ersatz für unser totes Mariechen vor die Tür gelegt hat!«

Und als Sternschnuppe sie mit ihren Blauaugen so recht freundlich anschaute, da hatte sie all ihren Kummer vergessen, denn Sternschnuppes Augen machten jeden froh und glücklich, wer immer hineinsah.