Die heilige Nacht

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Als ich fünf Jahre alt war, hatte ich einen großen Kummer. Ich weiß kaum, ob ich seither einen schwereren erlitten habe.

Es war damals, als meine Großmutter starb. Tag für Tag hatte sie bis dahin in ihrem Zimmer auf dem Ecksofa gesessen und Märchen erzählt.

Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, als daß Großmutter dasaß und vom Morgen bis zum Abend erzählte und erzählte, während wir Kinder ganz still neben ihr saßen und lauschten. Es war ein herrliches Leben. Und es gab keine Kinder, die es so schön hatten wie wir. Sonst weiß ich nicht mehr viel von meiner Großmutter. Ich entsinne mich nur, daß sie schönes, schlohweißes Haar hatte, daß sie mit tiefgebeugtem Rücken einherging, und daß sie immer dasaß und an einem Strumpf strickte.

Auch entsinne ich mich, daß sie immer, wenn sie ein Märchen erzählt hatte, ihre Hand auf meinen Kopf legte und dabei sagte: »Und all dies ist so wahr, wie ich Dich sehe und wie Du mich siehst.«

Dabei fällt mir auch noch ein, daß sie Lieder singen konnte. Das tat sie jedoch nicht alle Tage. Eine dieser Volksweisen handelte von einem Ritter und einem Meerweib, und der Kehrreim lautete: »Es stürmt der Wind so eisig kalt auf Meereswellen hin.«

Und dann erinnere ich mich auch noch eines kleinen Gebetes, das sie mich lehrte, und ein Psalmenvers kommt mir in den Sinn. An all die schönen Märchen, die sie mir erzählte, habe ich nur eine schwache, verworrene Erinnerung. Nur einer einzigen Geschichte entsinne ich mich so gut, daß ich sie nacherzählen könnte. Es ist eine kleine Geschichte von Jesu Geburt.

Seht, das ist nun fast alles, was ich noch von meiner Großmutter weiß, ausgenommen das eine, dessen ich mich am besten entsinne, und das war die schmerzliche Sehnsucht, die ich empfand, als sie von uns gegangen war. Ich erinnere mich noch jenes Morgens, an dem das Ecksofa plötzlich leer dastand, und wie unbegreiflich es uns erschien, daß die Stunden jenes Tages ein Ende nehmen könnten. Dessen entsinne ich mich. Das werde ich niemals vergessen.

Und ich erinnere mich, daß wir Kinder hereingeführt wurden, um die Hand der Toten zu küssen. Wir fürchteten uns davor, aber da sagte uns jemand, es sei das letzte Mal, daß wir Großmutter für alle Freude danken könnten, die sie uns gespendet hatte.

Und ich erinnere mich, wie Märchen und Lieder, in einem langen, schwarzen Sarge verpackt, vom Gutshof wegführen und niemals zurückkehrten.

Ich erinnere mich, daß uns damals etwas aus dem Leben unwiederbringlich entschwunden war. Es war, als hätte sich die Pforte einer ganzen herrlichen Zauberwelt geschlossen, in der wir zuvor frei ein-und ausgehen konnten. Und nun war niemand mehr, der sich darauf verstand, diese Pforte zu öffnen.

Ich erinnere mich, daß wir Kinder ganz allmählich lernten, mit Puppen und Spielzeug zu spielen und wie andere Kinder zu leben – und das mochte wohl so aussehen, als entbehrten wir Großmutter gar nicht mehr, oder als erinnerten wir uns ihrer nicht.

Aber noch heutigen Tages, nach vierzig Jahren, wie ich nun dasitze und diese Legenden über Christus sammle, die ich im fernen Morgenlande vernommen habe, ersteht in meinem Inneren die kleine Geschichte von Jesu Geburt, die meine Großmutter zu erzählen pflegte. Und ich verspüre Lust, sie noch einmal zu erzählen und in meine Legendensammlung aufzunehmen.

Es war ein Weihnachtstag, an dem alle, außer Großmutter und mir, zur Kirche gefahren waren. Ich glaube, daß wir im ganzen Hause allein waren. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine zu jung und die andere zu alt war. Und wir waren beide ganz traurig darüber, daß wir nicht zur Frühmette fahren und die Weihnachtskerzen nicht sehen konnten. Als wir aber so in unserer Einsamkeit dasaßen, begann Großmutter zu erzählen:

»Es war einmal ein Mann, der in die dunkle Nacht hinausging, um sich etwas Feuersglut zu holen. Er ging von Hütte zu Hütte und klopfte an jede Tür, ›Helft mir, Ihr lieben Leute!‹ sagte er. ›Mein Weib ist eben eines Kindleins genesen, und ich muß Feuer anzünden, um sie und das Kindlein zu erwärmen.‹

Aber es war tiefe Nacht, so daß alle Menschen fest schliefen. Niemand antwortete ihm.

Der Mann ging immer weiter. Schließlich gewahrte er in weiter Ferne einen hellen Feuerschein. Er wanderte in dieser Richtung fort und sah, daß das Feuer im Freien brannte. Eine Menge weißer Schafe lagerte schlafend ringsumher, und ein alter Hirt saß daneben und bewachte die Herde.

Als der Mann, der das Feuer holen wollte, die Schafe erreicht hatte, sah er, daß drei große Hunde schlafend zu des Hirten Füßen lagen. Bei seinem Kommen erwachten sie alle drei und sperrten ihre weiten Rachen auf, als ob sie bellen wollten, man vernahm jedoch keinen Laut. Der Mann sah, daß sich die Haare auf ihrem Rücken sträubten, er sah, daß ihre spitzen Zähne im Feuerschein weißleuchtend aufblitzten, und er sah auch, daß sie auf ihn zustürzten. Er fühlte, daß einer ihn ins Bein biß, der zweite nach seiner Hand schnappte und der dritte ihm an die Kehle sprang. Aber die Kinnladen und die Zähne, mit denen die Hunde ihn beißen wollten, gehorchten nicht, und der Mann erlitt nicht den geringsten Schaden.

Nun wollte er vorwärts gehen, um zu holen, was er brauchte. Aber die Schafe lagen Rücken an Rücken so dicht gedrängt, daß er nicht vorwärts kam. Und der Mann schritt über die Rücken der Tiere zum Feuer hin. Aber keines erwachte oder bewegte sich.«

Bis dahin hatte Großmutter ungestört erzählen können, länger jedoch vermochte ich nicht an mich zu halten, ohne sie zu unterbrechen. »Weshalb taten sie es nicht, Großmutter?« fragte ich. »Das wirst Du bald erfahren,« sagte Großmutter und erzählte weiter.

»Als der Mann schon beim Feuer angelangt war, blickte der Hirt auf. Er war ein alter, heftiger Mann, unfreundlich und hart gegen alle Menschen. Als er nun einen Fremden nahen sah, griff er nach einem langen, spitzen Stabe, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde weiden ließ, und schleuderte ihn nach dem Manne. Der Stab flog sausend gerade auf ihn zu, aber ehe er ihn treffen konnte, wich er zur Seite und flog an ihm vorbei ins Feld hinaus.«

Als Großmutter so weit gekommen war, unterbrach ich sie nochmals. »Großmutter, warum wollte der Stecken den Mann nicht treffen?« Aber Großmutter kümmerte sich um meine Frage gar nicht, sondern fuhr in ihrer Erzählung fort.

»Nun kam der Mann auf den Hirten zu und sprach zu ihm: ›Lieber, hilf mir und laß mich etwas von Deiner Feuersglut nehmen! Mein Weib ist eben eines Kindleins genesen, und ich muß Feuer anzünden, um sie und das Kindlein zu erwärmen.‹

Der Hirt hätte es ihm am liebsten abgeschlagen, aber er dachte daran, daß seine Hunde diesem Manne keinen Schaden hatten zufügen können, daß die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren, und daß sein Stab ihn nicht hatte hinstrecken wollen. Da wurde ihm etwas bänglich zumute, und er wagte nicht, ihm die Bitte abzuschlagen. ›Nimm so viel Du brauchst!‹ sagte er zu dem Manne.

Das Feuer war jedoch fast gänzlich niedergebrannt. Weder Holzscheite noch Zweige waren vorhanden, nur ein großer Gluthaufen lag da, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, um darin die rotglühenden Kohlen heimzutragen.

Als der Hirt dies sah, sprach er abermals: ›Nimm so viel Du brauchst!‹ Und er freute sich, daß der Mann nicht imstande sein würde, die Glut mitzunehmen.

Aber der Mann beugte sich nieder, las mit bloßen Händen die glühenden Kohlen aus der Asche und wickelte sie in seinen Mantel. Und die Kohlen versengten ihm weder Hände noch Mantel, und der Mann trug sie davon, als wären es Aepfel und Nüsse.«

Aber hier unterbrach ich die Märchenerzählerin zum drittenmal. »Großmutter, warum wollten die Kohlen den Mann nicht verbrennen?«

»Das wirst Du noch erfahren,« sagte Großmutter und erzählte weiter.

»Als jener Hirt, der ein so böser und heftiger Mensch war, all dies sah, fragte er sich selber verwundert: ›Was kann das für eine Nacht sein, da die Hunde nicht beißen, die Schafe sich nicht fürchten, der Speer nicht tötet und das Feuer nicht versengt?‹ Er rief den Fremden zurück und sprach zu ihm: ›Was ist das für eine Nacht? Und wie kommt es, daß alle Dinge Dir Barmherzigkeit zeigen?‹

Da sprach der Mann: ›Das kann ich Dir nicht sagen, wenn Du es nicht selber erkennst.‹ Und wollte seines Weges gehen, um bald ein Feuer anzuzünden und sein Weib und Kind erwärmen zu können.

Der Hirt aber dachte, er wolle den Mann nicht ganz aus dem Gesicht verlieren, ehe er erführe, was all dies zu bedeuten habe. Er stand auf und ging ihm nach, bis er dorthin kam, wo der Fremde hauste.

Da sah der Hirt, daß der Mann nicht einmal eine Hütte besaß, um darin zu wohnen, sondern sein Weib und Kind lagen in einer Felsenhöhle, die nur nackte, kalte Steinwände hatte. Und der Hirt dachte, daß das arme unschuldige Kind vielleicht in dieser Höhle erfrieren und sterben würde, und obwohl er ein hartherziger Mann war, rührte ihn dieses Elend, und er sann nach, wie er dem Kinde helfen könnte. Er löste seinen Ranzen von der Schulter und nahm daraus ein weiches, weißes Schaffell, gab es dem fremden Manne und sagte, er solle das Kindlein darauf betten.

Aber sobald er gezeigt hatte, daß auch er barmherzig sein konnte, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er zuvor nicht wahrgenommen hatte, und hörte, was zuvor seinen Ohren verschlossen war:

Er sah, daß er inmitten einer dichten Schar kleiner, silberbeschwingter Engel stand, die einen Kreis um ihn bildeten. Und jedes Englein hielt ein Saitenspiel, und alle sangen mit jubelnder Stimme, daß in dieser Nacht der Heiland geboren sei, der die ganze Welt von ihren Sünden erlösen würde.

Da verstand er, weshalb sogar alle leblosen Dinge in dieser Nacht so froh waren, daß sie niemandem etwas zuleide tun mochten.

Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, überall gewahrte er sie. Sie saßen in der Felsenhöhle, und sie saßen draußen auf den Bergen, auch unter dem Himmel flogen sie hin und her. Sie kamen in großen Scharen auf den Wegen dahergewandelt, und wenn sie vorbeischritten, blieben sie stehen und warfen einen Blick auf das Kindlein in der Höhle.

Jubel und Freude, Sang und Spiel waren allüberall, und der Hirt sah es in der dunkeln Nacht, in der er sonst nichts hatte wahrnehmen können. Voll Freude, daß seine Augen geöffnet waren, sank er auf die Knie und lobete Gott.«

Und als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sprach: »Aber was der Hirt sah, das könnten wir auch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel einher, wenn wir sie nur zu erkennen vermögen.«

Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Scheitel und sprach: »Dessen sollst Du eingedenk sein, denn es ist so wahr, wie ich Dich sehe und Du mich siehst. Nicht auf Kerzen und Lampen kommt es an, noch auf Sonne und Mond, sondern was nottut, ist einzig und allein, daß wir die rechten Augen haben, Gottes Herrlichkeit zu sehen.«

Die Flucht nach Aegypten

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In weiter Ferne, in einer der Wüsten des Morgenlandes wuchs vor vielen, vielen Jahrhunderten eine Palme, die mächtig alt und riesig hoch war. Alle, die durch die Wüste zogen, mußten stehen bleiben, um sie zu betrachten, denn sie war sehr viel größer als alle anderen Palmen, und man pflegte von ihr zu sagen, daß sie gewißlich noch höher emporragen würde als die Obelisken und Pyramiden.

Wie nun die hohe Palme in ihrer Einsamkeit dastand und über die Wüste hinschaute, bekam sie eines Tages etwas zu sehen, worüber sie vor Verwunderung ihre gewaltige Blätterkrone auf dem schlanken Stamme hin und her wiegte. Fern am Wüstensaume kamen zwei einzelne Menschen hergewandert. Sie waren noch in einem Abstand, in dem sogar Kamele so klein wie Ameisen erscheinen, aber zwei Menschen waren es ganz gewiß. Zwei, die Fremdlinge in dieser Wüste waren, denn die Palme kannte die Wüstenanwohner genau.

Ein Mann näherte sich mit einem Weibe. Sie hatten weder Wegführer noch Lasttiere, weder Zelte noch Wasserschläuche mit sich.

»Wahrlich, die beiden sind hergekommen, um zu sterben,« sprach die Palme leise vor sich hin.

Sie blickte rasch umher.

»Es wundert mich,« sagte sie, »daß die Löwen nicht schon darauf aus sind, diese Beute zu erjagen. Aber ich sehe nicht einen einzigen heranspringen. Ich sehe auch gar keine Wüstenräuber. Doch sie kommen wohl noch.«

»Ein siebenfacher Tod harret ihrer,« meinte die Palme. »Die Löwen werden sie fressen, die Schlangen werden sie durch ihren Biß töten, der Durst wird sie ausdorren, der Samum wird sie begraben, die Räuber werden sie hinschlachten, die Sonnenglut wird sie verbrennen, die Furcht wird sie umbringen.«

Und sie versuchte, an anderes zu denken. Das Geschick dieser Menschen bekümmerte sie.

Aber der weite Wüstenraum, der sich unter der Palme hinbreitete, bot ihr nichts, was sie nicht schon seit tausend Jahren gekannt und betrachtet hätte. Nichts vermochte ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Sie mußte wiederum an die beiden Wanderer denken.

»Bei der Dürre und dem Sturm,« sprach die Palme (des Lebens gefährlichste Feinde anrufend), »was trägt denn nur dieses Weib auf den Armen? Ich glaube gar, diese Toren führen auch noch ein kleines Kind mit sich!«

Die Palme, die weitsichtig war, wie es alte Leute zu sein pflegen, hatte wirklich recht gesehen. Die Frau trug auf ihren Armen ein Kind, das sein Köpfchen an ihre Schulter gelehnt hatte und schlief.

»Das Kind ist nicht einmal vollständig bekleidet,« sprach die Palme. »Ich erkenne, daß die Mutter ihren Rock hochgehoben und über das Kind geworfen hat. Sie hat es in aller Eile aus dem Bettchen gerissen, um mit ihm wegzustürzen. Jetzt verstehe ich alles: diese Menschen sind auf der Flucht.«

»Und dennoch sind sie Toren,« fuhr die Palme fort. »Wenn kein Engel sie beschützt, hätten sie besser daran getan, sich dem schlimmsten Tun ihrer Feinde zu unterwerfen, als sich in die Wüste hinaus zu wagen.

»Ich kann es mir vorstellen, wie alles zugegangen ist. Der Mann stand bei seiner Arbeit, das Kind schlief in der Wiege, die Frau war ausgegangen, um Wasser zu holen. Sobald sie aus der Tür tretend zwei Schritte weit gegangen war, sah sie Feinde heraneilen. Sie stürzte zurück, sie riß das Kind an sich und rief dem Manne zu, ihr zu folgen, dann machte sie sich davon. Seither sind sie schon tagelang auf der Flucht und haben keinen Augenblick gerastet und geruht. Ja, so wird alles zugegangen sein, und dennoch sage ich, wenn kein Engel sie behütet – – –

»Sie sind so verängstigt, daß sie weder Müdigkeit noch andere Leiden verspüren können, aber ich erkenne, daß der Durst in ihren Augen brennt. Ich muß mich doch wohl in dem Gesicht eines verdurstenden Menschen auskennen.«

Und als die Palme an den Durst dachte, ging ein krampfhaftes Beben durch ihren hohen Stamm, und die zahllosen Spitzen ihrer langen Blätter rollten sich zusammen, als würden sie über Feuersglut gehalten.

»Wäre ich ein Mensch,« sagte sie, »so würde ich mich niemals in die Wüste hinauswagen. Hohen Mutes ist, wer sich hier hinausbegibt, ohne Wurzeln zu haben, die bis zu den niemals versiegenden Wasseradern hinabreichen. Hier kann es sogar für Palmen gefährlich werden. Auch für eine solche Palme wie ich es bin.

»Wenn ich ihnen einen Rat geben könnte, würde ich sie veranlassen, umzukehren. Ihre Feinde können nie so grausam gegen sie sein wie die Wüste. Vielleicht halten sie es für leicht, in der Wüste zu leben. Ich aber weiß, daß es sogar mir zuzeiten schwer geworden ist, mein Leben zu erhalten. Ich entsinne mich noch, wie einst in meiner Jugend der Samum einen ganzen Berg von Sand über mich warf. Ich wäre fast erstickt. Und wenn ich hätte sterben dürfen, so wäre es meine letzte Stunde gewesen.«

Die Palme fuhr fort laut zu denken, wie alte Einsiedler tun.

»Ich höre ein wundersam melodisches Rauschen durch meine Krone ziehen,« sprach sie. »Alle Spitzen meiner Blätter müssen in Schwingung geraten sein. Ich weiß nicht, was mich beim Anblick dieser armen Fremdlinge durchbebt. Aber die traurige Frau ist so schön. Sie bringt mir das wunderbarste Geschehnis meines Lebens in Erinnerung.«

Und während die Blätter fortfuhren in einer leisen Melodie zu rauschen, erinnerte sich die Palme, wie einst vor langer, langer Zeit zwei strahlend schöne Menschen diese Oase besucht hatten. Es war die Königin von Saba, die in Begleitung des weisen Salomo hierher gekommen war. Die schöne Königin sollte in ihr Land zurückkehren, der König hatte sie des Weges geleitet, und nun sollten sie von einander scheiden.

»Zur Erinnerung an diese Stunde«, sprach die Königin, »senke ich nun einen Dattelkern in die Erde, und ich will, daß daraus eine Palme erstehe, die wachsen und gedeihen soll, bis im Lande Judäa ein König ersteht, der erhabener ist als Salomo.« Und bei diesen Worten senkte sie den Kern in die Erde, und ihre Tränen netzten ihn.

»Woher kommt es wohl, daß ich gerade heute daran denken muß?« sagte die Palme. »Sollte diese Frau so schön sein, daß sie mich an die herrlichste aller Königinnen gemahnt, an sie, auf deren Geheiß ich bis zum heutigen Tage wuchs und gedieh?

»Ich höre meine Blätter immer stärker rauschen, und es klingt wehmutsvoll wie eine Totenklage. Es ist, als prophezeiten sie, daß jemand bald aus dem Leben scheiden würde. Es ist gut zu wissen, daß es nicht mir gilt, da ich ja nicht sterben kann.«

Die Palme glaubte, das Todesrauschen der Blätter müsse den beiden einsamen Wanderern gelten. Sicher glaubten sie auch selber, daß ihre letzte Stunde gekommen sei. Das erkannte man an ihrem Gesichtsausdruck, als sie an einem der Kamelskelette vorbeiwankten, die den Weg begrenzten. Man sah es auch an den Blicken, die sie ein paar vorbeifliegenden Geiern nachsandten. Es konnte ja nicht anders sein. Sie mußten hier elend umkommen.

Nun hatten sie die Palme und die Oase erblickt und eilten dorthin, um Wasser zu finden. Als sie aber endlich ihr Ziel erreicht hatten, brachen sie in Verzweiflung zusammen, denn die Quelle war versiegt. Die todesmatte Frau legte ihr Kind nieder und setzte sich weinend an den Rand der Quelle. Der Mann warf sich neben ihr hin und hämmerte mit beiden Fäusten gegen den dürren Erdboden. Die Palme vernahm, wie sie davon redeten, daß sie sterben müßten.

Sie vernahm auch aus ihrem Gespräch, daß König Herodes alle Knaben von zwei bis drei Jahren töten ließ, weil er fürchtete, daß der große, erwartete König der Juden schon geboren sei.

»Es rauscht immer stärker in meinen Blättern,« sprach die Palme. »Diese armen Flüchtlinge werden bald ihr letztes Stündlein nahen sehn.«

Sie vernahm nun auch, daß die Wüste ihnen Furcht einflößte. Der Mann sagte, es wäre besser gewesen, dort zu bleiben und mit den Kriegsknechten zu kämpfen, als hierher zu fliehen. Er sagte, daß sie dann einen leichteren Tod gehabt hätten.

»Gott wird uns beistehen,« sagte die Frau.

»Wir sind allein unter Raubtieren und Schlangen,« entgegnete der Mann. »Wir haben weder Speise noch Trank. Wie soll Gott uns helfen können?«

Voller Verzweiflung zerriß er seine Kleider und preßte das Gesicht gegen den Erdboden. Er war hoffnungslos wie ein Mensch mit der Todeswunde im Herzen.

Die Frau saß aufrecht, die Hände über den Knien gefaltet. Aber die Blicke, die sie über die Wüste hinschweifen ließ, zeugten von grenzenlosem Jammer.

Die Palme hörte, wie das wehmutsvolle Rauschen in ihren Blättern immer stärker wurde. Die Frau mußte es auch vernommen haben, denn sie richtete ihre Blicke zur Baumkrone empor. Und zugleich streckte sie unwillkürlich ihre Arme und Hände aus.

»O, Datteln, Datteln!« rief sie.

Es lag dabei ein so sehnsüchtiges Verlangen in ihrer Stimme, daß die alte Palme gewünscht hätte, sie wäre nicht höher als ein Ginsterbusch und ihre Datteln so leicht erreichbar wie die Früchte am Dornenstrauch. Sie wußte zwar, daß ihre Krone voll von Dattelbüscheln hing, wie sollten aber die Menschen zu dieser schwindelnden Höhe hinaufgelangen?

Der Mann hatte schon bemerkt, wie unerreichbar hoch die Dattelbüschel hingen. Er hob nicht einmal den Kopf empor, aber er bat die Frau, nicht Unmögliches zu begehren.

Doch das Kind, das nun allein umhertrippelte und mit Reisig und Halmen spielte, hatte den Ausruf der Mutter vernommen.

Der Kleine konnte es sich wohl nicht vorstellen, daß seine Mutter nicht alles bekommen könnte, was sie sich wünschte. Sobald von den Datteln gesprochen wurde, begann er den Baum anzustarren. Er überlegte und sann nach, wie er wohl die Datteln herunterbekommen könnte. Seine Stirn zog sich unter den blonden Locken in Falten. Endlich überflog ein Lächeln sein Gesichtchen. Er hatte das rechte Mittel gefunden. Auf die Palme zuschreitend, liebkoste er sie mit seiner kleinen Hand und sprach mit seiner holden, kindlichen Stimme:

»Palme, beuge Dich! Palme, neige Dich!«

Aber was war das nur, was war das?

Die Palmenblätter rauschten, als wäre ein Orkan über sie hingebraust, und Schauer um Schauer durchrieselte den hohen Palmenstamm. Die Palme erkannte, daß der Kleine übermächtig war. Sie vermochte nicht, ihm zu widerstehen.

Und mit ihrem hohen Stamm neigte sie sich vor dem Kinde, wie man sich vor Fürsten neigt. In einem gewaltigen Bogen senkte sie sich zur Erde herab und lag endlich so tief, daß die große Krone mit den bebenden Blättern den Wüstensand streifte.

Das Kind schien weder erschrocken noch verwundert zu sein, es lief nur mit einem Freudenruf herbei und löste Frucht auf Frucht von der alten Palmenkrone.

Als das Kind genug hatte und den Baum noch immer am Boden liegen sah, kam es nochmals zurück, streichelte ihn und rief mit der lieblichsten Stimme: »Palme, erhebe Dich! Palme, erhebe Dich!«

Und der große Baum erhob sich still und voller Ehrfurcht auf seinem biegsamen Stamm, während die Blätter gleich Harfen erklangen.

»Nun weiß ich, für wen sie die Totenklage spielen,« sprach die alte Palme vor sich hin, als sie wieder aufrecht stand. »Es geschieht nicht für einen von diesen Menschen.«

Aber der Mann und das Weib lagen auf den Knien und lobeten Gott:

»Du hast unsere Angst gesehen und sie von uns genommen. Du bist der Mächtige, der den Stamm der Palme beugt wie ein Weidenrohr. Vor welchen Feinden sollten wir bangen, wenn Deine Macht uns schützt?«

Als die nächste Karawane durch die Wüste zog, sahen die Reisenden, daß die Blätterkrone der großen Palme verdorrt war.

»Wie konnte das geschehen?« fragte einer. »Diese Palme sollte ja nicht sterben, ehe sie einen König gesehen hätte, der mächtiger wäre als Salomo.«

»Sie hat ihn wohl gesehen,« antwortete ein anderer unter den Wüstenwanderern.

Das Schweißtuch der heiligen Veronika

Inhaltsverzeichnis

1

In einem der letzten Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius hatte sich ein armer Winzer mit seinem Weibe in einer einsamen Hütte hoch oben im Sabinergebirge niedergelassen. Sie waren Fremdlinge und lebten in der größten Einsamkeit, ohne jemals von irgendeinem Menschen aufgesucht zu werden. Aber eines Morgens sah dieser Arbeiter, als er seine Tür öffnete, zu seiner großen Verwunderung ein Weib auf der Schwelle kauern. Sie trug einen einfachen, grauen Mantel und sah aus, als wäre sie recht arm. Als sie sich jedoch erhob und auf ihn zutrat, erschien sie dessenungeachtet so ehrfurchtgebietend, daß er daran denken mußte, was die alten Sagen von den Göttinnen berichten, die in der Gestalt von greisenhaften Frauen den Menschen nahen.

»Freund,« sprach die Greisin zu dem Winzer, »Du mußt Dich nicht darüber verwundern, daß ich nachts auf Deiner Schwelle geschlafen habe. Meine Eltern haben einst diese Hütte bewohnt, und ich wurde hier vor fast neunzig Jahren geboren. Ich erwartete, sie leer und verlassen zu finden. Ich wußte nichts davon, daß Menschen sich darin niedergelassen hatten.«

»Ich wundere mich gar nicht, daß Du erwartet hast, die Hütte leer und verlassen zu finden, die so hoch oben inmitten des öden Gebirges liegt,« entgegnete der Winzer. »Aber ich und mein Weib stammen aus einem fernen Lande, und wir armen Fremdlinge fanden keine bessere Wohnstätte. Und nach der langen Wanderung, die Du in Deinem hohen Alter unternommen hast, wirst Du müde und hungrig sein. Da ist es Dir sicher willkommener, daß diese Hütte von Menschen anstatt von Wölfen aus dem Sabinergebirge bewohnt ist. Du findest drinnen nun doch ein Bett, auf dem Du ruhen kannst, und wenn Du vorlieb nehmen willst, soll für Dich eine Schale Ziegenmilch und ein Stück Brot bereit sein.«

Die Greisin lächelte ein wenig, aber dieses Lächeln war so flüchtig, daß es nicht den Ausdruck tiefen Kummers zu verdrängen vermochte, der auf ihrem Antlitz ruhte. »Ich habe meine ganze Jugend hier oben auf den Bergen verlebt,« antwortete sie. »Und ich habe es bis heute noch nicht verlernt, einen Wolf aus seiner Höhle zu verjagen.«

Und sie sah wirklich so stark und kräftig aus, daß der Arbeitsmann gar nicht bezweifelte, daß sie trotz ihres hohen Alters noch Kraft genug habe, um mit den wilden Tieren des Waldes zu kämpfen.

Er wiederholte indessen seine Aufforderung, und die Greisin trat in die Hütte. Sie setzte sich mit den armen Leuten an den Tisch und teilte ohne Zögern ihr bescheidenes Mahl. Aber obwohl sie sehr befriedigt zu sein schien, das grobe, in der Milch aufgeweichte Brot zu essen, fragten sich die beiden Eheleute: »Woher mag die greise Pilgerin kommen? Sie hat sicherlich häufiger Fasanen auf silbernem Gerät gegessen, als Ziegenmilch aus irdenen Krügen getrunken.«

Zuweilen blickte sie beim Essen auf und sah sich prüfend um, als wolle sie sich in der Hütte zurechtfinden. Die ärmliche Behausung mit ihren nackten Lehmwänden und dem festgestampften Lehmboden war wohl kaum verändert. Sie zeigte sogar ihren Wirtsleuten noch einige Spuren von Hunden und Hirschen, die ihr Vater einst zur Freude seiner kleinen Kinder dorthin gezeichnet hatte. Und hoch oben auf einem Wandbrett glaubte sie die Scherben eines Tonkruges zu erkennen, in den sie selber einst die Milch zu gießen pflegte.

Aber die Eheleute sagten sich: »Es mag sein, daß sie in dieser Hütte zur Welt kam, aber sie muß im Leben noch sehr viel anderes ausgerichtet haben, als Ziegen zu melken und Käse und Butter zu bereiten.«

Sie merkten auch, daß sie mit ihren Gedanken oft weit weg war, und daß sie schwer und sorgenvoll seufzte, wenn sie wieder zu sich kam. Schließlich stand sie von der Mahlzeit auf, dankte freundlich für die ihr gewährte Gastfreundschaft und schritt zur Tür hin.

Aber da erschien sie dem Winzer so verlassen und arm und kläglich, daß er ausrief: »Wenn ich mich nicht irre, so war es, als Du nachts hier mühsam heraufklommst, nicht Deine Absicht, die Hütte so bald wieder zu verlassen. Bist Du wirklich so arm, wie Du aussiehst, so wirst Du gewiß den Wunsch gehabt haben, den Rest Deiner Tage hier zu verleben. Aber nun willst Du von dannen gehen, weil ich und mein Weib die Hütte mit Beschlag belegt haben.«

Die Greisin leugnete nicht, daß er richtig geraten hatte. »Die Hütte, die so lange Jahre verlassen dastand, gehört ebenso gut Dir wie mir,« entgegnete sie. »Mir steht kein Recht zu, Dich daraus zu vertreiben.«

»Es ist gleichwohl die Hütte Deiner Eltern, und so hast Du sicherlich mehr Anspruch darauf als ich. Ueberdies sind wir jung, und Du bist alt. Darum sollst Du hierbleiben, und wir werden von dannen ziehen.«

Als die Greisin diese Worte vernahm, war sie höchlichst verwundert. Sie wandte sich auf der Schwelle um und starrte den Mann an, als hätte sie nicht begriffen, was er mit seinen Worten meinte.

Doch nun mischte sich auch das junge Weib in das Gespräch.

»Wenn mir ein Rat erlaubt ist,« sagte sie zu ihrem Manne, »so möchte ich Dich bitten, die würdige Greisin zu fragen, ob sie uns nicht als ihre Kinder betrachten will, die bei ihr bleiben und sie pflegen dürfen. Was würden wir ihr dadurch helfen, daß wir ihr die armselige Hütte schenkten und sie dann verließen? Wie schrecklich wäre es für sie, hier in dieser Einöde allein zu hausen. Und wovon sollte sie denn leben? Es wäre ebenso, als ließen wir sie Hungers sterben.«

Da schritt die Greisin auf die jungen Eheleute zu und betrachtete sie aufmerksam. »Warum redet Ihr so zu mir?« fragte sie. »Warum erweiset Ihr mir Barmherzigkeit? Ihr seid ja Fremdlinge in diesem Lande.«

Und die junge Frau antwortete ihr: »Es geschieht darum, weil wir selber einmal der großen Barmherzigkeit teilhaftig geworden sind.«


2

Und also geschah es, daß die Greisin in der Hütte des Winzers wohnen blieb, und sie faßte eine große Freundschaft für die jungen Eheleute. Aber dessenungeachtet sagte sie ihnen niemals, von wannen sie gekommen war und wer sie sei, und sie begriffen, daß die Fremde eine Frage danach nicht gut aufgenommen hätte.

Eines Abends jedoch, als die Arbeit getan war und sie alle drei, ihr Nachtmahl verzehrend, auf der großen, flachen Felsplatte saßen, die als Schwelle zur Hüttentür führte, erblickten sie einen alten Mann, der den Bergpfad erstieg.

Es war ein großer, kräftig gebauter Mann mit den breiten Schultern eines Ringkämpfers. Sein Gesicht zeigte einen finsteren, unfreundlichen Ausdruck. Die Stirn sprang über die tiefliegenden Augen vor, und die Linien um den Mund drückten Bitterkeit und Verachtung aus. Er näherte sich in straffer Haltung und mit schnellen Bewegungen.

Der Mann war sehr einfach gekleidet, und der Winzer dachte bei seinem Anblick: Das ist ein alter Legionär, der seinen Abschied bekommen hat und nun in seinen Heimatsort zurückwandert.

Als der Fremdling bei den Essenden angelangt war, blieb er wie zweifelnd stehen. Der Arbeiter, der wußte, daß dieser Weg ein kleines Stück oberhalb der Hütte ein Ende hatte, legte den Löffel aus der Hand und rief dem Manne zu: »Bist Du irre gegangen, Fremdling, da Du zu dieser Hütte gekommen bist? Niemand pflegt sich sonst die Mühe zu machen, hier heraufzuklettern, es sei denn, er bringe einem von uns, die wir hier hausen, Botschaft.«

Während er diese Frage stellte, trat der Fremdling näher.

»Ja, es ist so, wie Du sagst,« antwortete er. »Ich habe den Weg verfehlt, und nun weiß ich nicht, wohin ich meine Schritte lenken soll. Wenn Du mir hier eine Weile Ruhe gönnen und mir dann sagen willst, welchen Weg ich wählen muß, um einen Gutshof zu erreichen, so wäre ich Dir dankbar.«

Bei diesen Worten setzte er sich auf einen der großen Steine, die vor der Hütte lagen. Die junge Frau fragte ihn, ob er nicht an ihrer Mahlzeit teilnehmen wolle, er jedoch lehnte es lächelnd ab. Dagegen zeigte es sich, daß er sehr geneigt war, sich mit ihnen zu unterhalten, während sie weiteraßen. Er fragte die jungen Eheleute nach ihrem Leben und nach ihrer Arbeit, und sie gaben ihm einfach und offen Bescheid.

Plötzlich wandte sich der Arbeiter an den Fremdling und begann ihn auszufragen: »Du siehst, in welcher Einöde und wie einsam wir hier leben,« sagte er. »Es ist wohl ein Jahr vergangen, seit ich mit anderen Menschen als Hirten und Winzern geredet habe. Aber kannst Du als einer, der aus dem Feldlager kommt, uns nicht ein wenig über Rom und den Kaiser berichten?«

Kaum hatte der Mann diese Frage gestellt, so bemerkte sein junges Weib auch sogleich, daß die Greisin ihm einen warnenden Blick zuwarf und mit der Hand ein Zeichen machte, sich mit seinen Worten recht in acht zu nehmen.

Der Fremdling aber erwiderte ganz freundlich: »Ich sehe, daß Du mich für einen Legionär hältst, und Du hast damit in der Tat nicht so unrecht, obwohl ich schon längst den Dienst verlassen habe. Für uns Kriegsleute hat es unter der Regierung des Tiberius nicht viel Arbeit gegeben. Und dennoch war er einst ein großer Feldherr. Das war in seinen Glückstagen. Nun aber denkt er an gar nichts anderes, als sich vor Verschwörungen zu schützen. In Rom reden alle Menschen davon, daß er in der vergangenen Woche, nur auf einen leeren Verdacht hin, den Senator Titius ergreifen und hinrichten ließ.«

»Der arme Kaiser, er weiß nicht mehr, was er tut!« rief die junge Frau. Sie erhob die Hände und schüttelte voll Mitleid und Verwunderung den Kopf.