2. Unbekannte Leiden

Inhaltsverzeichnis

Zwischen dem kleinen Flusse Loing und der Seine erstreckt sich eine weite Ebene, an die der Wald von Fontainebleau und die Städte Moret, Nemours und Montereau grenzen. In diesem öden Land erheben sich nur vereinzelte Hügel; hier und dort zwischen den Feldern kleine Wäldchen, die dem Wild Zuflucht bieten; sonst, soweit das Auge blickt, endlose graue oder gelbliche Flächen, wie sie den Landschaften der Sologne, der Beauce und des Berri eigen sind. Mitten in dieser Ebene gewahrt der Reisende zwischen Moret und Montereau ein altes Schloß, das Saint-Lange heißt, dessen Umgebung es weder an Größe noch an Majestät fehlt. Da sind prächtige Ulmenalleen, Gräben, lange Wälle, ausgedehnte Gärten und die stattlichen Herrenhäuser, die nur dank der Steuererpressung, den Pachtgeldern, den behördlich genehmigten Erpressungen oder den großen aristokratischen Vermögen erbaut werden konnten, die heutzutage vom Hammer des Code civil zerschlagen worden sind. Wenn ein Künstler oder irgendein Träumer sich auf die Wege mit den tiefen Räderspuren oder die Äcker mit dem schweren Lehmboden, die den Zugang zu diesem Herrschaftssitz zu verteidigen scheinen, verirrte, dann fragt er sich, welche Laune wohl dieses romantische Schloß in diese Weizensteppe, in diese Wüste aus Kreide, Mergel und Sand verschlagen hat, wo der Frohsinn stirbt und die Traurigkeit unfehlbar geboren wird, wo die Seele mehr und mehr von einer lautlosen Einsamkeit, einem eintönigen Horizont und düsteren Schönheiten gepeinigt werden muß, die freilich Leiden, die keinen Trost verlangen, willkommen sein müssen.

Eine junge Frau, die in Paris durch ihre Anmut, ihre Schönheit, ihren Geist berühmt war und deren gesellschaftliche Stellung, deren Vermögen dieser Berühmtheit entsprachen, bezog zum großen Erstaunen des kleinen Dorfes, das etwa eine Meile von Saint-Lange entfernt lag, gegen Ende des Jahres 1821 das Schloß. Die Pächter und Bauern hatten seit Menschengedenken keine Herrschaft mehr im Schloß gesehen. Obgleich der Besitz ansehnliche Erträge brachte, war er seit langem einem Verwalter anvertraut und in der Obhut ehemaliger Diener. So erregte die Reise der Marquise eine gewisse Aufregung in der Gegend. Mehrere Personen standen gruppenweise am Ende des Dorfes vor einem elenden Wirtshaus, das an der Kreuzung der Straßen von Nemours und Moret lag, um die Kalesche vorbeifahren zu sehen. Sie fuhr ziemlich langsam, denn die Marquise hatte von Paris aus ihre eigenen Pferde benutzt. Auf dem Vordersitz des Wagens hielt die Zofe ein kleines Mädchen, das eher einen verträumten als einen heitern Eindruck machte. Die Mutter lag ausgestreckt im Fond und sah aus wie eine Todkranke, die von den Ärzten aufs Land geschickt wird. Der niedergeschlagene Ausdruck der zarten jungen Frau befriedigte die Dorfpolitiker sehr wenig, die bei der Kunde von ihrer Ankunft in Saint-Lange gehofft hatten, es werde nun in der Gemeinde etwas Abwechslung geben. Doch es war ersichtlich, daß jede Art von Bewegung offenbar dieser in ihren Schmerz versunkenen Frau widerwärtig war.

Der Allerschlauste von Saint-Lange erklärte am Abend im Honoratiorenzimmer des Wirtshauses, der traurige Gesichtsausdruck der Marquise lasse darauf schließen, daß sie ruiniert sein müsse. Während der Abwesenheit des Marquis, von dem die Zeitungen berichteten, er soll den Duc d'Angoulême nach Spanien begleiten, wollte sie jedenfalls in Saint-Lange die nötigen Summen zusammenbringen, um die infolge verfehlter Börsenspekulationen entstandenen Fehlbeträge zu begleichen. Der Marquis wäre einer der wildesten Spieler. Vielleicht würde der Besitz in Parzellen verkauft. Dabei könnte man einen guten Wurf tun. Es sollte nur jeder seine Taler zählen, sie aus dem Versteck holen und an all seine Mittel denken, um nicht leer auszugehen, wenn Saint-Lange ausgeschlachtet würde. Diese Aussicht schien so vielversprechend, daß jeder dieser ehrenwerten Männer es kaum abwarten konnte, zu erfahren, ob sie begründet wäre; jeder machte sich an die Leute im Schloß heran, um die Wahrheit herauszubekommen; aber keiner konnte Auskunft über das Unglück geben, das ihre Herrin im Anfang des Winters in ihr altes Schloß in Saint-Lange führte, während sie andere Besitzungen hatte, die durch ihre heitere Lage und die Schönheit ihrer Gärten berühmt waren. Der Bürgermeister ging aufs Schloß, um der Gnädigsten seine Aufwartung zu machen, aber er wurde nicht empfangen. Nach ihm versuchte es der Verwalter, ebenfalls ohne Erfolg.

Die Marquise verließ ihr Schlafzimmer nur, um es aufräumen zu lassen, und hielt sich dann in einem kleinen Salon nebenan auf, wo sie speiste, wenn man ›speisen‹ nennen darf, daß sie sich an einen Tisch setzte, die Gerichte, die darauf standen, mit Widerwillen ansah, und nur das wenige zu sich nahm, das nötig war, damit sie nicht verhungerte. Dann begab sie sich sofort wieder in den altertümlichen Lehnstuhl, in dem sie vom Morgen an an dem einzigen Fenster, von dem das Zimmer Licht empfing, saß. Sie sah ihre Tochter nur während der kurzen Augenblicke ihres trübseligen Mahles und schien sie auch da kaum ertragen zu können. Mußte das Leid nicht ungeheuerlich sein, um bei einer so jungen Frau die Muttergefühle zum Schweigen zu bringen? Keiner ihrer Leute hatte Zutritt zu ihr. Ihre Zofe war das einzige Wesen, deren Dienste sie duldete. Sie verlangte absolute Ruhe im Schloß; ihre Tochter mußte in einem entlegenen Teil des Hauses spielen. Es fiel ihr so schwer, das leiseste Geräusch zu ertragen, daß jede menschliche Stimme, selbst die ihres Kindes, ihr eine leidige Störung war. Die Leute in der Gegend beschäftigten sich anfangs viel mit ihren Absonderlichkeiten; dann aber, als die Vermutungen erschöpft waren, dachten weder die Bewohner der kleinen Städte der Umgebung noch die Bauern mehr an die kranke Frau.

Die Marquise war also sich selbst überlassen und konnte inmitten des Schweigens, das sie um sich gebreitet hatte, in völliger Lautlosigkeit verharren; sie hatte keine Ursache, dieses mit Teppichen bespannte Gemach zu verlassen, in dem ihre Großmutter gestorben und in das sie jetzt gekommen war, um auch dort sterben zu können, in Ruhe, ohne Zeugen, ohne Belästigung, ohne die falschen Bezeugungen der sich mitleidig gebärdenden Selbstsucht ertragen zu müssen, die in den Städten das Sterben doppelt schwer macht. Diese Frau war sechsundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter will ein Gemüt, das noch voll romantischer Illusionen ist, den Tod, wenn er ihm erwünscht ist, schlürfen und auskosten. Aber der Tod verfährt mit jungen Menschen kokett: bald kommt er, bald zieht er sich zurück, bald zeigt er sich, bald verbirgt er sich; seine Langsamkeit ernüchtert sie, und die Ungewißheit, die der jeweils folgende Tag verursacht, schleudert sie schließlich in die Welt zurück. Dort stoßen sie wieder unfehlbar auf das Leid, das unbarmherziger als der Tod ist und sie heimsucht, ohne auf sich warten zu lassen. Auch diese Frau, die nicht mehr weiterleben wollte, sollte in ihrer Einsamkeit die Bitternis dieses Zögerns zu spüren bekommen; sie sollte hier in einem seelischen Todeskampf, dem der Tod kein Ende machen würde, in einer furchtbaren Lehrzeit den Egoismus erlernen, der die Unschuld ihres Herzens vernichtete und es für die Welt herrichtete.

Diese grausame und traurige Lehre ist immer die Frucht unserer ersten Schmerzen. Die Marquise litt in der Tat vielleicht zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben. Ist es nicht fürwahr ein Irrtum, wenn man meint, die Gefühle könnten noch einmal wiederkehren? Existieren sie nicht immer, wenn sie erst einmal aufgetaucht sind, auf dem Grunde des Herzens? Dort kommen sie zur Ruhe und werden wieder wach gerüttelt, je nach den Wechselfällen des Lebens; aber sie bleiben dort, und ihr Dasein verändert notwendigerweise die Seele. Demzufolge hätte also jedes Gefühl nur einen einzigen großen Tag, den mehr oder weniger langen Tag seines ersten Sturmes. Auch der Schmerz, das beharrlichste unserer Gefühle, wäre demnach nur bei seinem ersten Ansturm wirklich lebendig, und seine späteren Angriffe wären immer schwächer, entweder, weil wir uns an seine Anfälle gewöhnt hätten, oder auf Grund eines Gesetzes unserer Natur: um am Leben zu bleiben, stellt sie dieser Kraft der Zerstörung eine gleich starke Kraft der Trägheit entgegen, die in den Berechnungen des Egoismus gefunden wird. Aber welchem unter allen Leiden gebührt dieser Name Schmerz? Der Verlust der Eltern ist ein Kummer, auf den die Natur die Menschen vorbereitet hat; körperliche Qualen sind vorübergehend und greifen die Seele nicht an; und wenn sie nicht weichen, sind sie keine Qualen mehr, sondern der Tod. Wenn eine junge Frau ein Neugeborenes verliert, schenkt ihr die eheliche Liebe bald einen Ersatz. Auch diese Betrübnis ist vorübergehend. Kurz, diese Anfechtungen und viele andere ähnlicher Art sind gewissermaßen Schläge, Wunden; aber keine greift das Leben in seiner Wurzel an, und sie müssen ungewöhnlich heftig aufeinander folgen, um das Gefühl zu töten, das in uns nach Glück schreit. Der große, der wahre Schmerz muß also ein Leid sein, das so mörderisch ist, daß es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich auslöscht, kein Stückchen Leben heil läßt, den Gedanken für immer die Natürlichkeit raubt, sich unvertilgbar auf die Lippen, auf die Stirne schreibt, der Freude die Flügel bricht oder lahmt und der Seele einen grundlegenden Ekel an allen Dingen in der Welt einflößt. Weiterhin muß dieses Leid noch, um so ungeheuer zu sein, um so auf Seele und Leib zu lasten, sich in einem Augenblick des Lebens einstellen, wo alle Kräfte der Seele und des Körpers jung sind, und so ein Herz in seiner ganzen Lebensfülle zerschmettern. Dann schlägt es eine tiefe Wunde, die Qual ist groß, und kein Mensch kann aus dieser Krankheit ohne innere Wandlung hervorgehen: entweder schlägt er den Weg zum Himmel ein, oder er kehrt, wenn er hier unten bleibt, ins Getriebe der Welt zurück, um sich vor der Welt zu verstellen, um eine Rolle in ihr zu spielen; von jetzt ab kennt er die Kulissen, hinter die man sich zurückzieht, wenn man etwas bedenken, wenn man weinen oder sich vergnügen will. Nach dieser schweren Krise gibt es keine Geheimnisse mehr im Leben der Gesellschaft, das von da ab einem unerbittlichen Urteil unterzogen wird. Bei jungen Frauen im Alter der Marquise wird dieser erste, dieser marterndste aller Schmerzen immer von demselben Geschehnis bewirkt. Die Frau, und besonders die junge Frau, deren Seele ebenso schön ist wie ihr Leib, wird ihr Leben immer dort voll hingeben, wohin die Natur, das Gefühl und die Gesellschaft sie treiben. Wenn sie in diesem Leben Schiffbruch erleidet und sie auf Erden bleibt, steht sie aus dem gleichen Grund, der die erste Liebe zum schönsten aller Gefühle macht, die grausamsten Martern aus. Warum hat es für dieses Elend nie einen Maler, nie einen Dichter gegeben? Ja, kann es denn gemalt, kann es besungen werden? Nein, die Schmerzen, die ein solches Unglück hervorbringt, entziehen sich der Analyse und den Farben der Kunst. Und überdies werden diese Leiden niemals jemandem anvertraut; wer eine Frau trösten will, muß den Schmerz erraten können; denn immer wird das Leid in Bitterkeit gehüllt und inbrünstig empfunden, und so ruht es im Herzen wie eine Lawine, die, wenn sie ins Tal rollt, dort alles verwüstet, bevor sie liegenbleibt.

Die Marquise war eine Beute dieser Leiden, die lange im Dunkel bleiben, weil alle Welt sie verdammt, das gefühlvolle Herz hingegen hegt sie zärtlich, und das Gewissen einer wahrhaften Frau rechtfertigt sie immer. Mit diesen Schmerzen verhält es sich wie mit solchen Kindern, die vom Leben immer wieder zurückgestoßen werden und doch mit stärkeren Banden ans Herz der Mutter gefesselt sind als ihre mit mehr Glück begabten Kinder. Niemals vielleicht war eine solch furchtbare Katastrophe, die alles, was es an Leben um uns herum gibt, tötet, so stark, so vollständig, so durch die Umstände verschärft wie bei der Marquise. Ein junger, großherziger, geliebter Mann, dessen Wünsche, den Gesetzen der Gesellschaft gehorchend, sie nie erhört hatte, war gestorben, um ihr das zu erhalten, was die Welt ›die Ehre der Frau‹ nennt. Wem konnte sie sagen: ›Ich leide!‹ Ihre Tränen hätten ihren Gatten, der die erste Ursache der Katastrophe war, gekränkt. Die Gesetze, die Sitten verfemten ihre Klagen; einer Freundin hätten sie Behagen gemacht; ein Mann hätte sie spekuliert. Nein, diese arme Trauernde konnte nur in der Verlassenheit nach Herzenslust weinen; dort konnte sie ihr Leiden überwinden oder von ihm überwunden werden, sterben oder etwas in sich, vielleicht ihr Gewissen, töten. So starrte sie seit ein paar Tagen über die trostlose Öde dieser Landschaft, wo sie, wie in ihrem künftigen Leben, nichts zu suchen, nichts zu hoffen hatte, wo alles mit einem Blick zu sehen war und wo sie die Bilder der kalten Hoffnungslosigkeit sah, die ihr unablässig das Herz zerriß. Die Morgennebel, der matte Himmel, die tiefhängenden Wolken unter einem bleigrauen Firmament standen in Einklang mit der Krankheit ihres Gemüts. Ihr Herz krampfte sich nicht mehr zusammen, welkte nicht mehr dahin; nein, ihre frische, blühende Natur wurde durch die langsame Wirkung eines Schmerzes, der unerträglich, weil er endlos war, allmählich zu Stein. Sie litt durch sich und für sich. Muß ein derartiges Leid nicht zum Egoismus führen? Furchtbare Gedanken drangen in ihr Gewissen und verwundeten es. Sie ging ehrlich mit sich zu Rate und fand zwei Wesen in sich. Es gab in ihr eine Frau, die überlegte, und eine, die empfand; eine Frau, die litt, und eine, die nicht mehr leiden wollte. Sie versetzte sich in die Freuden ihrer Kindheit zurück, die verstrichen war, ohne daß sie ihr Glück empfunden hätte, und deren lichte Bilder in großer Anzahl auf sie eindrangen, wie um ihr die Enttäuschungen einer Ehe vorzuhalten, die in den Augen der Gesellschaft schicklich, in Wirklichkeit aber entsetzlich war. Was hatten ihr die schone Keuschheit ihrer Jugend, die Wonnen, denen sie entsagt, die Opfer, die sie der Welt gebracht hatte, genutzt? Obwohl alles an ihr Liebe ausdrückte und Liebe erwartete, fragte sie sich doch, was ihr jetzt die Harmonie ihrer Bewegungen, ihr Lächeln und ihre Grazie sollten? Sowenig man einen Ton hören mag, der sinnlos und endlos immer wiederholt wird, so wenig liebte sie es jetzt mehr, daß sie in sich selbst Frische und Sinneslust verspürte. Selbst ihre Schönheit war ihr unerträglich, wie etwas Unnützes. Sie sah mit Entsetzen voraus, daß sie nie mehr ein ganzer Mensch sein würde. Hatte nicht ihr inneres Ich die Gabe verloren, die Eindrücke des Neuen, das so köstlich ist und so viel Heiterkeit in das Leben bringt, zu kosten? In Zukunft würden die meisten dieser Eindrücke oft so schnell verlöscht wie empfangen sein, und viele von ihnen, die sie früher bewegt hatten, würden ihr nun gleichgültig sein. Nach der Kindheit des Leibes kommt die Kindlichkeit des Herzens. Diese zweite Kindheit aber hatte ihr Geliebter mit ins Grab genommen. Ihre leiblichen Begierden waren noch jung, aber sie hatte nicht mehr die ganze Jugend der Seele, die allem im Leben seinen Wert und seinen Duft gibt. Würde sie nicht ein Spüren der Traurigkeit, des Mißtrauens in sich behalten, die ihren Regungen die spontane Frische, den unmittelbaren Schwung rauben würden? Denn nichts konnte ihr das Glück wiederbringen, das sie erhofft, das sie sich so herrlich erträumt hatte. Ihre ersten wirklichen Tränen hatten das himmlische Feuer, das die ersten Regungen des Herzens erwärmt, ausgelöscht; sie würde immer dafür büßen müssen, daß sie nicht war, was sie hätte sein können. Aus diesem Glauben muß der bittere Ekel entstehen, der einen dazu bringt, den Kopf abzuwenden, wenn sich von neuem das Glück einstellen will. Sie urteilte jetzt über das Leben wie ein Greis, der bereit ist, aus ihm zu scheiden. Sie fühlte sich jung, und doch lasteten ihr die unzähligen freudlosen Tage ihres Lebens auf der Seele, vernichteten sie und ließen sie vor der Zeit altern. Verzweifelt schrie sie der Welt die Frage zu, was sie ihr zum Ersatz für die Liebe, die ihr zu leben geholfen und die sie verloren hatte, geben könnte. Sie fragte sich, ob in ihrer entschwundenen Liebe, die so keusch und rein gewesen war, der Gedanke nicht strafbarer gewesen wäre als die Tat. Es bereitete ihr Genuß, sich schuldig zu sprechen, der Welt zu spotten und sich darüber hinwegzutrösten, daß sie mit dem, den sie beweinte, nicht die völlige Vereinigung gehabt hatte, welche zwei Seelen verschmilzt und den Schmerz der Seele, die zurückbleibt, lindert, weil sie sicher ist, das Glück völlig genossen, es ganz gegeben zu haben, und in sich das Bild dessen, der nicht mehr ist, bewahrt. Sie war unzufrieden wie eine Schauspielerin, die ihre Rolle verfehlt hat, denn dieser Schmerz griff all ihre Fibern, das Herz und den Kopf an. Wenn die Natur in ihren geheimsten Wünschen verwundet war, war ebensosehr auch die Eitelkeit, war auch die Großmut, die die Frau zur Selbstaufopferung treibt, verletzt. Sie warf alle Fragen auf, wühlte alle Tiefen der verschiedenen Wesen, die auf Grund der sozialen, geistigen und psychischen Natur in uns vereint sind, auf und schwächte dadurch so sehr die Kräfte ihrer Seele, daß sie vor lauter widersprüchlich auf sie einstürmenden Gedanken überhaupt nichts mehr fassen konnte. So stand sie manchmal, wenn der Nebel fiel, am offenen Fenster, blieb gedankenlos stehen und atmete nur mechanisch den feuchten, erdigen Duft, der in den Lüften lag. Sie stand unbeweglich und wie schwachsinnig, denn das Sausen ihres Schmerzes machte sie in gleicher Weise für die Harmonien der Natur wie für die Reize des Denkens taub.

Eines Tages trat gegen Mittag, als eben die Sonne den Himmel aufgehellt hatte, ihre Zofe ungerufen ein und meldete: »Jetzt ist schon zum viertenmal der Herr Pfarrer gekommen, um Madame einen Besuch abzustatten; und er besteht heute so beharrlich darauf, daß wir nicht wissen, was wir ihm antworten sollen.« »Er will zweifellos etwas Geld für die Armen der Gemeinde; übergeben Sie ihm in meinem Namen fünfundzwanzig Louisdor.«

Einen Augenblick später erschien die Zofe schon wieder.

»Madame«, sagte sie, »der Pfarrer weist das Geld zurück und wünscht Sie zu sprechen.« – »So mag er kommen!« erwiderte die Marquise. Die mißlaunige Gebärde, die ihr dabei entschlüpfte, deutete an, daß der Priester, dessen Verfolgungen sie jedenfalls durch eine kurze und offene Erklärung ein Ende machen wollte, einen üblen Empfang finden würde.

Die Marquise hatte in jungen Jahren ihre Mutter verloren, und ihre Erziehung war natürlich durch die Lockerung der religiösen Bande in der Revolutionszeit beeinflußt worden. Die Frömmigkeit ist eine Frauentugend, die nur Frauen gut weiterzugeben verstehen, und die Marquise war ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts, dessen philosophische Anschauungen von ihrem Vater geteilt wurden. Sie beobachtete keinerlei religiöse Bräuche. Für sie war ein Priester ein öffentlicher Beamter, dessen Nutzen ihr zweifelhaft schien. In ihrer Lage konnte die Stimme der Religion ihre Leiden nur verschlimmern; sie hatte zu den Dorfgeistlichen und ihrem Intellekt nur mäßiges Zutrauen; sie beschloß also, ihren Pfarrer ohne Schärfe zurückzuweisen und ihn nach Art reicher Leute durch einen Akt der Wohltätigkeit loszuwerden. Der Geistliche kam, und sein Anblick änderte die Meinung der Marquise nicht. Sie sah ein dickes Männchen mit einem vorspringenden Bauch und einem rötlichen, aber alten und runzligen Gesicht, das zu einem Lächeln verzogen war, was ihm aber schlecht gelang; sein kahler, von zahlreichen Querfalten durchfurchter Schädel fiel in Form eines Quadranten auf sein Gesicht und verkleinerte es; ein paar weiße Haare schmückten seinen Hinterkopf über dem Nacken und setzten sich vorn bis zu den Ohren fort. Trotzdem verriet die Physiognomie dieses Priesters einen Mann von heiterem Naturell. Seine dicken Lippen, seine leicht aufgestülpte Nase, sein faltiges Doppelkinn, all das sprach von einem glücklichen Temperament. Die Marquise bemerkte zunächst nur diese Hauptzüge; aber beim ersten Wort, das der Priester sprach, fiel ihr auf, wie sanft diese Stimme war; sie sah ihn aufmerksamer an und fand unter seinen halbergrauten Brauen Augen, die das Weinen kannten, und nun sah sie, daß die Wangenlinien im Profil seinem Kopf einen erhabenen Ausdruck des Schmerzes gaben: sie entdeckte in diesem Pfarrer einen Menschen.

»Madame, die Reichen gehören uns nur, wenn sie leiden; und die Leiden einer verheirateten Frau, die jung, schön und reich ist, die weder Kinder noch Eltern verloren hat, lassen sich erraten; sie sind durch Verletzungen entstanden, deren Schmerz nur die Religion lindern kann. Ihre Seele ist in Gefahr, Madame la Marquise. Ich spreche Ihnen jetzt nicht von unserm künftigen Leben. Nein, ich bin nicht im Beichtstuhl. Aber gehört es nicht zu meiner Pflicht, Sie über die Zukunft Ihrer gesellschaftlichen Stellung aufzuklären? Sie werden also einem alten Mann die Zudringlichkeit verzeihen; es handelt sich um Ihr Glück.« – »Das Glück, Monsieur le Cure, ist nicht mehr für mich. Ich werde Ihnen bald, wie Sie sagen, gehören, aber für immer.« – »Nein, Madame, Sie werden an dem Schmerz, der Sie niederdrückt und der aus Ihren Zügen spricht, nicht sterben. Wenn Sie daran hätten sterben sollen, wären Sie nicht in Saint-Lange. Wir gehen weniger an einem gewissen Kummer als an enttäuschten Hoffnungen zugrunde. Ich habe unerträglichere, furchtbarere Schmerzen gekannt, die nicht zum Tode geführt haben.«

Die Marquise machte eine Bewegung des Zweifels.

»Madame, ich kenne einen Mann, dessen Unglück so groß war, daß Ihre Qualen Ihnen im Vergleich mit seinen gering scheinen müßten...«

Mochte nun ihre lange Einsamkeit anfangen auf ihr zu lasten, mochte ihr die Aussicht Anteilnahme einflößen, in ein freundliches Herz ihre schmerzlichen Stimmungen ausschütten zu können, kurz, sie sah den Geistlichen mit einem nicht mißzuverstehenden fragenden Blick an.

»Madame«, fuhr der Priester fort, »der Mann, von dem ich spreche, war ein Vater, dem von einer früher zahlreichen Familie nur drei Kinder blieben. Er hatte hintereinander seine Eltern, dann eine Tochter und seine Frau, die er beide sehr liebte, verloren. Er blieb allein irgendwo in der Provinz auf einem kleinen Anwesen, wo er lange Zeit glücklich gewesen war. Seine drei Söhne waren bei der Armee, und jeder von ihnen hatte einen seinen Dienstjahren entsprechenden Rang. In den Hundert Tagen ging der älteste zur Garde über und wurde Oberst; der zweite war Bataillonschef bei der Artillerie und der jüngste Eskadronschef bei den Dragonern. Madame, diese drei Kinder liebten ihren Vater ebenso innig, wie sie von ihm geliebt wurden. Wenn Sie die Unbekümmertheit der jungen Leute kennen, die sich ihren Leidenschaften überlassen und nie Zeit für Familienzärtlichkeiten haben, würden Sie an einem einzigen Zuge merken, wie lebhaft ihre Liebe zu einem einsamen alten Mann war, der nur noch durch sie und für sie lebte. Es verging keine Woche, wo er nicht einen Brief von einem seiner Kinder erhielt. Aber er war auch nie gegen sie schwach gewesen, wodurch die Kinder den Respekt verlieren, noch unbillig streng, was sie verletzt, und geizte auch nicht mit Opfern, womit man sie sich entfremdet. Nein, er war mehr als ein Vater gewesen, er hatte sich zu ihrem Bruder, ihrem Freund gemacht. Kurz, er sagte ihnen in Paris Lebewohl, als sie zum Zuge nach Belgien aufbrachen; er wollte sehen, ob sie gute Pferde hatten, ob ihnen nichts fehlte. Sie zogen ab, und der Vater kehrte nach Hause zurück. Der Krieg fängt an, er erhält Briefe von ihnen aus Fleurus, aus Ligny; alles ging gut. Die Schlacht von Waterloo wird geschlagen; was dann kam, wissen Sie. Frankreich wurde mit einem Schlage in Trauer versetzt. Alle Familien waren in der furchtbarsten Angst. Er, Madame, das verstehen Sie wohl, wartete voller Aufregung; er hatte keine Rast und keine Ruhe mehr; er las die Zeitungen, er ging jeden Tag selbst auf die Post. Eines Abends meldete man ihm den Burschen seines Sohnes, des Obersten. Er sieht diesen Mann auf dem Pferde seines Herrn sitzen, und es war keine Frage mehr nötig: der Oberst war tot, eine Kartätsche hatte ihn auseinandergerissen. Am späten Abend kam der Bursche des jüngsten zu Fuß; der jüngste war am Tage nach der Schlacht ums Lehen gekommen. Um Mitternacht endlich kam ein Artillerist an und meldete ihm den Tod des letzten Kindes, auf dessen Haupt der arme Vater in den paar Stunden sein ganzes Lehen gesetzt hatte. Ja, Madame, sie waren alle gefallen!«

Nach einer Pause, in der der Priester seine Bewegung niedergekämpft hatte, fuhr er mit sanfter Stimme fort: »Und der Vater ist am Leben geblieben. Er hat begriffen, daß er, wenn Gott ihn auf Erden ließ, eben hienieden weiter leiden sollte, und das tut er; aber er hat sich in den Schoß der Religion geflüchtet. Was konnte aus ihm werden?«

Die Marquise richtete den Blick auf das Gesicht dieses Pfarrers, das in Leid und Entsagung erhaben schon geworden war. Sie wartete auf das Wort, das ihre Tränen zum Fließen bringen würde.

»Priester, Madame; die Tränen hatten ihn geweiht, ehe er vor dem Altar die Weihen erhielt.«

Es herrschte eine Weile Schweigen. Die Marquise und der Pfarrer sahen durch das Fenster in die nebelverhangene Ferne, als ob sie die sehen könnten, die nicht mehr waren.

»Nicht Priester in einer Stadt, sondern ein schlichter Dorfpfarrer«, fügte er noch hinzu. »In Saint-Lange«, sagte sie und trocknete sich die Tränen. »Ja, Madame.«

Niemals hatte sich die Majestät des Schmerzes Julie erhabener gezeigt; und dieses ›Ja, Madame‹ fiel mit dem Gewicht eines unendlichen Schmerzes auf ihr Herz. Diese Stimme, die im Ohr so sanft klang, erschütterte sie bis ins Innerste. Oh, das war die Stimme des Elends, diese volle, schwere Stimme, die sie unwiderstehlich in ihren Bann zu ziehen schien.

»Monsieur«, sagte die Marquise fast ehrerbietig, »wenn ich nun nicht sterbe, was soll dann aus mir werden?« – »Madame, haben Sie nicht ein Kind?« – »O ja«, antwortete sie kalt.

Der Pfarrer warf dieser Frau einen Blick zu, wie ihn ein Arzt auf einen Schwerkranken wirft. Er beschloß, alles aufzubieten, um sie dem Geist des Bösen zu entreißen, der schon die Hand nach ihr ausstreckte.

»Sie sehen, Madame, wir müssen mit unsern Schmerzen leben, und nur die Religion kann uns wahren Trost gewähren. Wollen Sie mir erlauben, wiederzukommen und Sie die Stimme eines Mannes hören zu lassen, der mit allem Leid mitfühlen kann und der, glaube ich, nicht gerade etwas Abstoßendes an sich hat?« – »Ja, Monsieur, kommen Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie an mich gedacht haben.« – »Dann, Madame, auf Wiedersehen!«

Dieser Besuch entspannte die Seele der Marquise, deren Kräfte durch den Kummer und die Einsamkeit zu heftig gereizt worden waren. Der Priester hatte Balsam in ihr Herz geträufelt und den heilsamen Klang religiöser Worte dort zurückgelassen. Sie empfand jene Genugtuung, die den Gefangenen tröstet, wenn er erst erkannt hat, wie tief seine Verlassenheit und wie schwer seine Ketten sind, und nun einen Nachbar findet, der an die Wand klopft und mit dem er durch Klopfzeichen seine Gedanken austauschen kann. Sie hatte einen unverhofften Vertrauten. Aber bald fiel sie in ihre bitteren Betrachtungen zurück und sagte sich wie der Gefangene, ein Leidensgefährte könnte weder ihre Fesseln noch ihre Zukunft erleichtern. Der Pfarrer hatte bei einem ersten Besuch einen völlig selbstsüchtigen Schmerz nicht zu sehr aufwühlen wollen; aber er hoffte, seiner Geschicklichkeit würde es bei einem zweiten Besuch gelingen, sie der Religion geneigter zu machen. Am übernächsten Tage kam er also, und der Empfang durch die Marquise zeigte ihm, daß sein Besuch erwünscht war.

»Nun, Madame la Marquise«, fragte der Greis, »haben Sie über die Fülle der menschlichen Leiden etwas nachgedacht? Haben Sie die Augen gen Himmel gerichtet? Haben Sie dort die Unendlichkeit von Welten gesehen, die unsere Wichtigkeit vermindert, unsere Eitelkeit vernichtet und dadurch unsern Schmerz lindert?« – »Nein, Monsieur«, war ihre Antwort; »die Gesetze der Gesellschaft lasten mir zu stark auf dem Herzen und zerreißen es mir zu heftig, als daß ich mich zu den Himmeln erheben könnte. Aber die Gesetze sind vielleicht weniger grausam als die Bräuche der Gesellschaft. Oh, die Gesellschaft!« – »Wir sollen dem einen wie dem andern gehorchen: das Gesetz ist das Wort, und die Bräuche sind die Handlungen der Gesellschaft.« – »Der Gesellschaft gehorchen? ...« versetzte die Marquise mit einer Gebärde des Abscheus. »Oh, Monsieur, daher stammen all unsere Übel und Leiden. Gott hat nicht ein einziges Gesetz des Unglücks gemacht; aber die Menschen haben, als sie sich zusammenschlossen, sein Werk verfälscht. Wir Frauen werden von der Zivilisation mehr mißhandelt, als die Natur es tun würde. Die Natur legt uns physische Qualen auf, die ihr nicht gemildert habt, und die Zivilisation hat Gefühle zur Entfaltung gebracht, die ihr unaufhörlich täuscht. Die Natur unterdrückt die schwachen Geschöpfe, ihr verurteilt sie zu leben, um sie dauerndem Unglück auszuliefern. Die Ehe, diese Einrichtung, auf die sich die Gesellschaft heute stützt, läßt uns allein ihre ganze Last fühlen; für den Mann die Freiheit, für die Frau Pflichten. Wir sind euch unser ganzes Leben schuldig; ihr schuldet uns von eurem nur seltene Augenblicke. Kurz, der Mann hat die Wahl, wo wir uns blind unterwerfen. Oh, Monsieur, Ihnen kann ich alles sagen! Hören Sie! Die Ehe, wie sie heute ist, scheint mir eine gesetzliche Prostitution zu sein. Darin liegt die Quelle meiner Leiden. Aber ich allein unter all den unglücklichen Geschöpfen, die so unselig verkuppelt sind, muß schweigen! Ich allein bin schuld an meinem Unglück, ich habe meine Ehe gewollt.«

Sie brach ab, vergoß bittere Tränen und schwieg.

»In diesem tiefen Elend, in diesem Ozean des Wehs«, fing sie dann wieder an, »hatte ich eine kleine Sandbank gefunden, auf die ich die Füße setzen konnte, wo ich leiden konnte, wie mirs ums Herz war; ein Orkan hat alles weggerissen. Nun bin ich allein, ohne Stütze, zu schwach gegen die Stürme.« – »Wir sind nie schwach, wenn Gott mit uns ist«, sagte der Priester; »und wenn Sie übrigens keine zärtlichen Bande haben, die Sie an die Erde fesseln, haben Sie keine Pflichten zu erfüllen?« – »Pflichten und immer Pflichten!« rief sie ungeduldig; »aber wo sind für mich die Gefühle, die uns die Kraft geben, sie zu erfüllen? Monsieur, für nichts gibt es nichts, und von nichts kommt nichts; das ist eins der gerechtesten Gesetze in der moralischen und physischen Welt. Verlangen Sie von diesen Bäumen, sie sollten ihre Blätter ohne den Saft erzeugen, der sie zur Entfaltung bringt? Die Seele hat auch ihren Saft! Bei mir ist der Saft in seiner Quelle vertrocknet.« – »Ich will Ihnen nicht von den religiösen Empfindungen sprechen, welche die Entsagung hervorbringen«, sagte der Pfarrer; »aber, Madame, sollte nicht die Mutterschaft...« – »Hören Sie auf!« unterbrach ihn die Marquise; »zu Ihnen werde ich wahr sein. Ach, ich kann es künftig zu niemandem sein. Ich bin zur Falschheit verurteilt; die Welt verlangt Masken und befiehlt, wenn wir uns nicht ihren Tadel zuziehen wollen, ihren Konventionen zu gehorchen. Es gibt zweierlei Mutterschaft, Monsieur. Früher habe ich von diesem Unterschied nichts gewußt; heute kenne ich ihn. Ich bin nur zur Hälfte Mutter; es wäre besser, es gar nicht zu sein. Hélène ist nicht von ihm! Oh, schrecken Sie nicht zurück! Saint-Lange ist ein Schlund, in dem viele falsche Empfindungen versunken sind, wo das Unheil seinen Schatten wirft, und wo die Kartenhäuser unnatürlicher Gesetze in sich zusammenfielen. Ich habe ein Kind, gut; ich bin Mutter, das Gesetz will es. Aber Sie, Monsieur, der Sie eine Seele haben, die so zart mitfühlen kann, vielleicht können Sie den Aufschrei einer armen Frau verstehen, die kein unechtes Gefühl in ihr Herz hat eindringen lassen. Gott wird über mich richten, aber ich glaube seinen Gesetzen zuwiderzuhandeln, wenn ich den Gefühlen nachgebe, die er in meine Seele gepflanzt hat. Hören Sie, wie es in meiner Seele aussieht! Ist nicht ein Kind das Ebenbild zweier Menschen, die Frucht zweier, aus freiem Willen vereinter Leidenschaften? Wenn man nicht mit allen Regungen des Körpers und mit aller Zärtlichkeit des Herzens an ihm hängt; wenn es nicht an köstliche Liebesstunden, an die Tage, die Plätze erinnert, wo diese beiden Menschen glücklich waren, wo ihre Sprache von Musik, ihre Gedanken von süßer Heiterkeit erfüllt waren, dann ist es eine verfehlte Schöpfung. Ja, es muß für sie eine entzückende Miniatur sein, in der aller Zauber ihres geheimen Doppellebens liegt; es muß ihnen eine Quelle fruchtbarer Empfindungen, muß zugleich ihre ganze Vergangenheit, ihre ganze Zukunft sein. Meine arme kleine Hélène ist das Kind ihres Vaters, das Kind der Pflicht und des Zufalls; sie findet in mir nur den weiblichen Instinkt, das Gesetz, das uns unweigerlich zwingt, das Geschöpf zu schützen, das in unserm Leibe gewachsen ist. Vom Standpunkt der Gesellschaft aus bin ich frei von Vorwurf. Habe ich dem Mädchen nicht mein Leben und mein Glück zum Opfer gebracht? Sein Schreien zerreißt mir das Herz; wenn es ins Wasser fiele, würde ich mich hineinstürzen, um es herauszuholen. Aber in meinem Herzen ist es nicht. Ach! die Liebe ist schuld, daß mir von einer höheren, von einer vollkommeneren Mutterschaft träumte; in einem Traum, der jetzt erloschen ist, liebkoste ich das Kind, das die Sehnsucht empfing, noch ehe es erzeugt wurde, die köstliche Blüte, die in der Seele wächst, bevor sie das Licht der Welt erblickt. Ich bin für Hélène, was im Reich der Natur eine Mutter für ihre Jungen sein muß. Wenn sie mich nicht mehr braucht, wird alles erledigt sein; wenn die Ursache schwindet, hören auch die Wirkungen auf. Wenn die Frau das herrliche Vorrecht hat, ihre Mutterschaft auf das ganze Leben ihres Kindes auszudehnen, muß man diese himmlische Dauer des Gefühls nicht auf die Ausstrahlungen ihrer seelischen Empfängnis zurückführen? Wenn nicht die Seele seiner Mutter die erste Hülle des Kindes gewesen ist, dann hört die Mutterschaft in ihrem Herzen auf wie bei den Tieren. Das ist die Wahrheit, ich fühle es: je mehr meine arme Kleine heranwachst, je kälter wird mein Herz. Die Opfer, die ich ihr gebracht habe, haben mich schon von ihr abgewandt, während mein Herz für ein anderes Kind, das fühle ich, unerschöpflich gewesen wäre; für jenes andere wäre nichts Opfer, wäre alles Lust gewesen. Hier, Monsieur, vermag die Vernunft, die Religion, alles, was in mir ist, nichts gegen meine Empfindungen. Hat die Frau, die nicht Mutter und nicht Gattin ist und die, zu ihrem Unglück, die Liebe in ihrer unsäglichen Schönheit, die Mutterschaft in ihrer grenzenlosen Wonne geschaut hat, hat sie unrecht, daß sie sterben will? Was kann aus ihr werden? Ich kann Ihnen sagen, was sie durchmacht! Hundertmal am Tag, hundertmal bei Nacht überläuft ein Schauder mir Kopf und Herz und den ganzen Körper, wenn eine zu zaghaft niedergezwungene Erinnerung das Bild eines Glückes bringt, das ich vielleicht schöner erträume; als es ist. Unter diesen grausamen Phantasien erlischt all mein Gefühl, und ich frage mich: ›Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ...?‹«

Sie schlug die Hände vors Gesicht und brach in Tränen aus.

»So sieht es in meinem Herzen aus!« fuhr sie dann fort. »Für ein Kind von ihm hätte ich die schrecklichsten Qualen erduldet! Der Gott, der alle Sünden der Erde auf sich nahm und am Kreuze starb, wird mir den Gedanken verzeihen, der für mich tödlich ist; aber die Gesellschaft, das weiß ich, ist unversöhnlich, für sie sind meine Worte Lästerungen; ich spreche all ihren Gesetzen Hohn. Oh, ich wollte dieser Welt den Krieg erklären, um ihre Gesetze und Bräuche zu erneuern, um sie zu zerbrechen! Hat sie mich nicht in all meinen Gedanken, in all meinen Fibern, in all meinen Empfindungen, in all meinem Wollen, in all meinen Hoffnungen, in Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit getroffen? Für mich ist der Tag voller Finsternis, das Denken ein Schwert, mein Herz eine Wunde, mein Kind eine Verneinung. Ja, wenn Hélène zu mir spricht, möchte ich, sie hätte eine andere Stimme; wenn sie mich ansieht, möchte ich, sie hätte andere Augen. Sie ist nur da, um mir vor Augen zu halten, was sein sollte und was nicht ist. Sie ist mir unerträglich! Ich lächle sie an, ich suche sie für die Empfindungen, die ich ihr raube, zu entschädigen. Ich leide! Oh, Monsieur, ich leide zu sehr, um weiterleben zu können! Und ich werde für eine tugendhafte Frau gelten! Ich habe keinen Fehltritt begangen! Man wird mich ehren! Ich habe die unfreiwillige Liebe, der ich nicht nachgeben durfte, bekämpft; aber wenn ich körperlich treu geblieben bin, habe ich mein Herz gewahrt? Das hier« – damit legte sie die Hand auf die Brust – »hat nur einem einzigen Menschen gehört. Mein Kind täuscht sich auch nicht darüber. Mütter haben Blicke, eine Stimme, Gebärden, deren Gewalt die Kinderseele formt; meine arme Kleine aber fühlt nicht, wie mein Arm bebt, wie meine Stimme zittert, wie meine Augen glänzen, wenn ich sie ansehe, wenn ich zu ihr spreche oder wenn ich sie aufnehme. Sie wirft mir anklagende Blicke zu, die ich nicht aushalte! Manchmal erzittere ich vor Furcht, in ihr ein Gericht zu finden, das mich verurteilt, ohne mich zu hören. Gebe der Himmel, daß sich nicht eines Tages der Haß zwischen uns stellt! Großer Gott, öffne mir vorher mein Grab! Laß mich in Saint-Lange sterben! Ich will in jene Welt gehen, wo ich meine zweite Seele treffe, wo ich völlig Mutter sein kann! Verzeihen Sie, Monsieur, ich bin wahnsinnig. Ich wäre an diesen Worten erstickt, wenn ich sie nicht gesprochen hätte. Ah, Sie weinen auch! Sie verachten mich nicht. – Hélène! Hélène! mein Kind, komm!« rief sie verzweifelt, als sie das Mädchen vom Spaziergang zurückkehren hörte.

Die Kleine kam lachend und plappernd herein; sie trug einen Schmetterling in der Hand, den sie gefangen hatte; aber als sie ihre Mutter in Tränen sah, wurde sie still, blieb bei ihr stehen und ließ sich auf die Stirne küssen.

»Sie wird sehr schön werden«, sagte der Priester. »Sie ist ganz ihr Vater«, erwiderte die Marquise. Sie umarmte das Kind stürmisch, als gelte es, eine Schuld einzulösen oder einen Gewissensbiß abzuwehren. »Du bist heiß, Mama.« – »Geh nun, laß uns, mein Engel«, antwortete die Marquise.