Schon seit mehreren Jahren sind die beiden ersten Bände der »Geschichte der Kriegskunst« vergriffen, ohne daß ich, mit der Ausarbeitung des dritten Bandes beschäftigt, die Zeit gefunden hätte, die neue Auflage zu besorgen. Manche schöne neue Einzelforschung war in der Zwischenzeit erschienen und mußte geprüft, in den alten Text hineingearbeitet und auch sonst dies und jenes gebessert, ein wichtiges Stück, die älteste römische Kriegsverfassung, völlig umgeschmolzen werden. Aber diese Verbesserungen haben schließlich die wenigste Arbeit gefordert und hätten die neue Auflage nicht so lange aufgehalten; das eigentlich Mühselige und Zeitraubende der neuen Auflage war durch etwas anderes verursacht. In einer Besprechung des ersten Bandes gab der General d. Inf. v. Schlichting, der Verfasser der »Taktischen und strategischen Grundsätze der Gegenwart«, der Hoffnung Ausdruck, daß das vorliegende Werk »dem militärischen Dilettantismus, der bisher in der Geschichtsschreibung herrschte, ein Ende machen« werde. In diesen Worten ist auf das präziseste das ausgedrückt, was ich mir selbst bei meiner Arbeit vorgesetzt und worauf meine Hoffnung gerichtet war. Aber diese Hoffnung ist nicht nur nicht in Erfüllung gegangen, sondern das gerade Gegenteil ist eingetreten. Wohl kaum je in einer früheren Zeit ist auf dem Gebiet der Geschichte des Kriegswesens und der Kriegskunst durch unmethodische und dilettantische Gelehrsamkeit soviel Verkehrtes und Verwirrendes zutage gefördert worden, wie gerade in diesem letzten Jahrzehnt. Es sind nicht bloß Historiker und Archäologen daran beteiligt, sondern auch Militärs, die viel zu schnell und viel zu sicher glauben, mit den in der Praxis, oft nur des Friedensdienstes, gewonnenen Vorstellungen die Verhältnisse früherer Kriegsepochen kritisch bemeistern zu können. So sind nicht nur unrichtige Auslegungen der Quellen, über die man verschiedener Ansicht sein kann und immer sein wird, sondern auch sachlich und physisch unmögliche Konstruktionen ausgebildet und vorgetragen worden und haben die klaren historischen Vorgänge vielfach verdunkelt, und der größere Teil meiner Arbeit in dieser zweiten Auflage der ersten beiden Bände bestand deshalb darin, diese Unmöglichkeiten quellenkritisch und sachlich aufzulösen und zu widerlegen. Das ist, wie man des weiteren ebenfalls sehen wird, keineswegs eine leichte und einfache Arbeit, denn auch dem völlig Sinnlosen läßt sich in der Geschichte bei dem weiten Abstand, in dem wir von den Dingen leben, sehr leicht ein gewisser Anstrich von Wahrscheinlichkeit geben, und es bedarf breiter ausführlicher Darlegungen, um solche Täuschungen zu zerstören und, da man nicht zum Experiment greifen kann, mit Worten klarzumachen, was physisch möglich und was unmöglich ist. Zuweilen bringt eine derartige Diskussion den Vorteil, den Gegenstand selbst zu größerer Klarheit zu erheben, und man fühlt sich belohnt für seine Mühe. Meistens aber erntet man solche Frucht nicht und schließt nur mit der ärgerlichen Empfindung, Zeit und Kraft, die man für Besseres hätte verwenden können, vergeudet zu haben.
Wie viel lieber wäre ich zur Ausarbeitung des vierten Bandes geschritten!
Die Aufnahme, die der erste Band seinerzeit bei der wissenschaftlichen Kritik gefunden hat, tönte vielfach, auch wo sie sonst freundlich gehalten war, in der Befürchtung aus, ob ich nicht doch das Recht der Sachkritik überspannt und von der quellenmäßigen Tradition weiter abgewichen sei, als sich rechtfertigen lasse. Nirgends hat die erneute Durcharbeitung des Stoffes mir gezeigt, daß diese Befürchtung begründet sei. Im Gegensatz, ich darf sagen, daß die sachlichen Veränderungen durchweg der Erkenntnis entsprungen sind, daß ich in der ersten Auflage in der Abweichung von den überlieferten Anschauungen noch nicht weit genug gegangen war. Es ist wirklich so gewesen, daß nicht die Perser, sondern die Griechen die an Zahl Überlegenen waren, daß Alexander nicht mit einer kleinen Schar ausging, das persische Weltreich zu erobern, sondern mit einem Heer etwa doppelt so groß wie einst das des Xerxes, daß in Rom nie nach Vermögens-Klassen ausgehoben worden ist, daß die Barbarenheere, die die Kulturwelt bedrohten, stets ganz klein waren, daß die Römer ihre Siege über Gallier und Germanen wesentlich mit numerischer Überlegenheit erfochten haben, daß die ritterliche Kriegsart bereits vor dem Lehnswesen bestand und nicht erst aus ihm erwachsen ist.
Der Glaube an die entgegengesetzte Tradition in allen diesen Punkten ist fast so fest wie er alt ist, und nicht nur Gründe, sondern auch Zeit braucht's ihn zu überwinden und eine bessere Erkenntnis an seine Stelle zu setzen. Die beste Hilfstruppe in diesem Kriege aber wird die Fortführung des vorliegenden Werkes selber sein.
Der alte Historiker, der nur den ersten Band liest, der Rechtshistoriker, der nur den Ursprung des Lehnswesens mit seinen überlieferten Anschauungen vergleicht, der Kreuzzugshistoriker, der nur liest, wie gering die Zahl der Ritter gewesen und wie wenig Originelles diese große Kriegsepoche hervorgebracht haben soll – ich kann ihnen allen ihre Vorsicht und ihren Zweifel nachempfinden. Aber ich habe die Zuversicht, daß die Zweifel sich lösen und vergehen werden, wenn der alte Historiker auch den zweiten und dritten Band dieses Werkes sich zu eigen macht, wenn der Rechtshistoriker sich den Gegensatz zwischen dem Einzelkrieger und dem taktischen Körper aus dem Zusammenhang des ganzen Werkes klargemacht, der Kreuzzugshistoriker den Unterschied von Rittertum und Kavallerie und die Gegensätzlichkeit der Begriffe Rittertum und Taktik aus dem Vergleich mit den Perioden vorher und nachher sich zur Anschauung gebracht hat.
Wie mir selbst das Werk aus der Gesamtanschauung der Entwicklung der Kriegskunst erwachsen ist, so kann auch nur derjenige den vollen wissenschaftlichen Gewinn aus ihm ziehen, der es nicht bloß als alter, mittlerer oder neuerer Historiker benutzt, sondern es im ganzen nimmt als eine Forschung zur Weltgeschichte.
Berlin-Grunewald, den 12. Juli 1908.
Hans Delbrück
Motto:
εγὼ δὲ φημὶ μὲν δειν ουκ εν μικρω προσλαμβάνεθαι τὴν τοῦ συγγραφέως πίστιν, ουκ αυτοτελη δὲ κρίνειν, το δὲ ργειον εξ αυτῶν τῶν πραγμάτων ποιεισθαι τους ἀναγιγνώσκοντας δοκιμασίας.
Πολύβιος III, 9.
Die stets fortschreitende Spezialisierung in der Wissenschaft vollzieht sich auf dem Gebiete der Geschichte in doppelter Art, nach Perioden und nach Erscheinungen. Die einen bearbeiten eine bestimmte Zeit nach allen Richtungen, die anderen suchen eine Besonderheit durch die verschiedenen, womöglich durch alle Zeiten zu verfolgen. Man hat besondere Kunst- und Literaturgeschichte, Religionsgeschichte, Geschichte der Verfassungen und des Rechts, des Wirtschaftslebens, der Finanzen, auch einzelner Institutionen, wie etwa der Ehe. Alle Einzel-Geschichten fließen zusammen in der Universal-Geschichte und befruchten sich gegenseitig. Keine ist zu entbehren, wenn nicht die Erkenntnis des Ganzen darunter leiden soll. So bedarf die Universal-Geschichte auch einer Geschichte der Kriegskunst. Einen wie breiten Raum nehmen die Kriege, die die Staaten bilden und zerstören, in der Gesamt-Geschichte ein: die Forderung ist nicht zu umgehen, daß sie nicht bloß der Überlieferung gemäß nacherzählt, sondern kritisch erfaßt und zu technisch richtiger Darstellung gebracht werden. Eine Spezialgeschichte ist nach dem Gesetze der Arbeitsteilung das beste Mittel.
Die Schwierigkeit jeder solchen Spezialgeschichte liegt für den Historiker in der Erwerbung der genügenden technischen Kenntnisse. Mag man dem Literatur-Historiker glauben, daß er sich ganz in den Prozeß der dichterischen Produktion zu versenken imstande ist, so ist schon schwieriger, daß der Kunsthistoriker die Technik des Malens und Bauens, der Wirtschaftshistoriker die des Ackerbaues, des Handwerks und des Handels völlig beherrsche. Man verlangt ja von ihnen nicht, daß sie selber Madonnen malen, Dome bauen, den Pflug führen oder Kolonien gründen sollen, aber indem man das nicht verlangt, behält der Praktiker, der sich solche Dinge zutraut oder sie gar übt, doch vor dem Historiker etwas voraus und betrachtet ihn mit einem gewissen Mißtrauen. Achill verdankt dem Homer seinen Ruhm – aber ob er nicht doch bei diesem oder jenem Verse ausgerufen hätte: man sieht, du bist ein Poet und hast nicht selber an der Spitze der Myrmidonen den Speer geschleudert!
Der Gelehrte, der eine Geschichte der Strategie und Taktik schreibt, ist noch schlimmer daran. Schon viel, wenn es ihm einmal vergönnt war, in den untersten Graden die Wirklichkeit des Krieges kennen zu lernen. Aber alles Höhere muß er sich rein theoretisch anzueignen suchen, und nicht mit dichterischer Freiheit darf er nachher schalten. Technische Exaktheit ist die Bedingung des Erfolges. Wie der Künstler oder der Kriegsmann, der die Taten der Vergangenheit in seinem Fache darstellen will, sich das methodische Quellen-Studium aneignen muß, so muß der Historiker, der Kriege und nun gar die Geschichte der Kriegskunst selbst erzählen will, auch die sachlichen Bedingungen, die technischen Möglichkeiten der Ereignisse so lange studieren, bis er sie mit voller Sicherheit beherrscht.
Diese Forderung ist prinzipiell keineswegs neu, und von vornherein ist die Vorstellung abzulehnen, als ob bei einem Werk, wie dem vorliegenden, eine andere wissenschaftliche Methode in Anwendung komme, als sonst in der historischen Untersuchung. Man spricht freilich wohl von Sachkritik im Gegensatz zur Wortkritik, aber das sind nicht Gegensätze, sondern nur verschiedene Hilfsmittel derselben einheitlichen, wissenschaftlichen Kritik. Kein Philolog, fühle er sich noch so sehr Meister in der strengen, sprachlichen Interpretation, wird deshalb die sachliche Betrachtung des Gegenstandes prinzipiell verwerfen; kein Fachmann, und wisse er den sachlichen Zusammenhang mit experimenteller Sicherheit zu demonstrieren, wird deshalb leugnen, daß die Grundlage alles historischen Wissens die quellenmäßige Überlieferung ist. Der Unterschied ist nur, daß der eine nach dem Gange seiner Studien und persönlicher Anlage seine Stärke mehr in diesem, der andere mehr in jenem Mittel findet. Der eine ist der Gefahr unterworfen, eine falsche Überlieferung nachzusprechen, weil er ihre sachliche Unmöglichkeit nicht zu durchschauen vermag; der andere, Erscheinungen aus der Praxis der Gegenwart auf die Vergangenheit zu übertragen, ohne genügend auf die Verschiedenheit der Verhältnisse zu achten. Um mit der Untersuchung bis auf den Grund zu kommen, muß daher die philologische und die Sachkritik bei jedem Schritt und jeder Betrachtung Hand in Hand gehen, sich unausgesetzt gegenseitig belehren und kontrollieren. Es gibt keine wahre Sachkritik ohne die quellenmäßige, philologisch genaue Grundlage, und es gibt keine wahre philologische Kritik ohne Sachkritik. Nur auf diesem Wege kann man zu der vollen Strenge der Methode gelangen, deren Wesen die Ausschließung aller Willkür ist, der Willkür sowohl in der Annahme wie in der Verwerfung der überlieferten Nachrichten. Trefflich hat das bereits Polybius ausgesprochen in dem Wort, das ich als Motto vorangestellt habe.
Wenn dieses Buch einen Fortschritt in der Erkenntnis der Vergangenheit bedeutet, die ein so tiefes Bedürfnis des menschlichen Geistes ist, so beruht das also nicht auf der Anwendung einer neuen Methode, sondern nur auf der praktischen und systematischen Anwendung längst bekannter und theoretisch auch anerkannter Grundsätze. Es gehört daher mit zum Wesen dieses Buches, und ich bitte um Erlaubnis, darüber sprechen zu dürfen, wie ich selber darauf geführt worden bin, zu erkennen, daß hier der Wissenschaft noch eine Aufgabe gestellt sei, und wie besonders günstige Umstände sich vereinigten, mir das Studium gerade des Kriegswesens zu ermöglichen.
Schon bald nachdem ich die Universität verlassen hatte, habe ich einige Studien über Geschichte des Kriegswesens gemacht, ohne daß ich mich zu erinnern wüßte, woher ich die Anregung dazu empfangen. Im Frühjahr 1874 hatte ich eine Übung in Wittenberg zu machen; ich ließ mir von der Regiments-Bibliothek die »Geschichte der Infanterie« von Rüstow geben, und von da an hat mich der Gegenstand nicht wieder losgelassen.
Im Jahre 1877 wurde mir durch die Vermittlung der Gräfin Hedwig Brühl die Vollendung der von Georg Heinrich Pertz unfertig hinterlassenen Biographie Gneisenaus, des Großvaters der Gräfin, übertragen. Als ich mich in die Geschichte der Freiheitskriege versenkte, empfand ich auf das stärkste das Bedürfnis, zu einer wirklichen Beurteilung der Ereignisse gelangen zu können, und die Studien zu diesem Zweck mußten eine um so größere Ausdehnung annehmen, als in dieser Zeit zwei verschiedene strategische Grundanschauungen – die eine vertreten durch den Erzherzog Karl, Schwarzenberg und Wellington, die andere durch Napoleon und Gneisenau – aufeinanderstießen und historisch zu würdigen waren.
Goethe hat einmal gesprochen von der Förderung, die man durch ein einziges geistreiches Wort erfahren könne, und ein andermal, daß man am besten nicht aus Büchern, sondern durch lebendigen Ideentausch, durch den Umgang mit klugen Leuten, lerne. Die Wahrheit dieser Aussprüche habe ich damals an mir erlebt.
Ich war in jenen Jahren Erzieher des jüngsten Sohnes des Kaisers Friedrich, des Prinzen Waldemar, der elfjährig im Jahre 1879 starb. In dieser Stellung hatte ich nicht nur Gelegenheit, durch Erzählungen des damaligen Kronprinzen selber und des Feldmarschalls Grafen Blumenthal eine gewisse unmittelbare Anschauung zu gewinnen, wie die Entschlüsse eines Armee-Kommandos psychologisch entstehen, sondern konnte auch meine Studien, von Clausewitz ausgehend, dessen Werke mir der Kronprinz schenkte, in jedem Augenblick durch Fragen erleichtern und ergänzen. Ich weiß noch heute Punkte, wo ich sozusagen mit meinem Verständnis festsaß und eine glückliche Auskunft, ein treffendes Wort mich wieder flott machte, und ich kann es nicht unterlassen, jetzt nach fast fünfundzwanzig Jahren in Dankbarkeit der Namen der Herren zu gedenken, denen ich die Belehrung verdanke. Ich nenne den General von Gottberg, gestorben als kommandierender General des I. Armee-Korps, den General von Winterfeld, zuletzt kommandierender General des Garde-Korps, den General von Mischke, den Obersten von Dresky, den verstorbenen General von Unruh, zuletzt Kommandeur des Alexander-Regiments, vor allem aber den damaligen Oberstleutnant und Militär-Gouverneur des Prinzen Friedrich Leopold, von Geißler, der als Generalleutnant verstorben ist. Herr von Geißler war eine lehrhafte Natur und machte sich ein Vergnügen daraus, mir, während unsere beiden jungen Herren unter unserer Aufsicht auf dem Turnplatz am Neuen Palais oder auf dem Böttcherberg bei Glienicke spielten, auf meine wissensbedingten Fragen ganze Vorträge über militärische Gegenstände zu halten, die von vorzüglicher begrifflicher Klarheit, mich ungemein gefördert haben. Noch zwei anderer hoher Offiziere möchte ich in demselben Sinn erwähnen, des Generals von Fransecky, der 1870 kommandierender General des II. Armeekorps, später des XI. war und zuletzt Gouverneur von Berlin, und des damaligen Majors im Generalstabe, Boie, der als Gouverneur von Thorn gestorben ist. Jener hatte als junger Generalstabs-Offizier einmal eine Biographie Gneisenaus begonnen; dadurch kam ich zu ihm in Beziehungen und habe ihn oft besucht und mit ihm darüber gesprochen; dieser überließ mir für den Feldzug 1814 das Heft, das er sich selber aus den Akten für eine Vorlesung an der Kriegs-Akademie ausgearbeitet hatte, und wir sprachen einzelne Probleme dieses Feldzuges miteinander durch.
Als ich mich nun, nachdem ich die Gneisenau-Biographie vollendet, im Januar 1881 an der Universität Berlin habilitierte, war meine erste Vorlesung über den Krieg 1866. Dann las ich (im Sommer 1881) »Geschichte der Kriegsverfassungen und der Kriegskunst seit der Einführung des Lehnswesens«. Das Altertum in diese Vorlesung hineinzuziehen getraute ich mich noch nicht; ich hatte es noch nicht selber quellenmäßig durchgearbeitet und fühlte mich, wenn es mir auch schon dämmerte, daß die herrschende Vorstellung von der Entwicklung der römischen Taktik (Quincunx-Stellung) unmöglich richtig sein könne, doch außerstande, etwas anderes an die Stelle zu setzen. Erst zwei Jahre später, im Sommer 1883, wagte ich »Allgemeine Geschichte der Kriegsverfassungen und der Kriegskunst von den Perserkriegen bis auf die Gegenwart« anzukündigen. Diese Vorlesung habe ich dann mehrfach gehalten; auch über den »Krieg von 1870«; »Ausgewählte Kapitel aus der Strategie und Taktik, für Historiker«; »Die Hauptschlachten Friedrichs und Napoleons«, endlich (im Winter 1897/98) »über das wirtschaftliche Gedeihen der Völker in seiner Wechselwirkung mit ihrer Kriegsverfassung und ihren Kriegstaten« habe ich gelesen. Quellenmäßige Untersuchungen veröffentlichte ich über die Perserkriege, die Strategie des Perikeles, über Thucydides und Kleon, die römische Manipular-Taktik, den urgermanischen Staat und Gau, den ersten Kreuzzug, die Schweizer- und Burgunderschlachten, die Grundsätze der Strategie Friedrichs und Napoleons; andere Arbeiten aus den verschiedensten Perioden der Kriegsgeschichte von Hannibal bis Napoleon machten jüngere Gelehrte auf meine Anregung.
In und mit diesen Vorlesungen und Spezial-Arbeiten ist allmählich das Buch entstanden, von dem ich jetzt den ersten Band vorlege und dabei noch besonders bitte, sich bei der Lektüre gegenwärtig zu halten, daß es ein erster Band ist und daß für den Verfasser persönlich der Ausgangspunkt nicht in dieser, sondern in der neuesten Epoche der Weltgeschichte gelegen hat.
Voraussetzung für die Möglichkeit meiner Arbeit war die sorgfältige Durcharbeitung und Ordnung des Quellenmaterials nach der philologischen, antiquarischen und staatsrechtlichen Seite, die der Stand der Wissenschaft heute bietet. Zahllose Vorgänger müßte ich an dieser Stelle nennen, wenn ich alle die aufzählen wollte, denen auch vom Gesichtspunkte dieses Werkes aus Dank gebührt, und zu sagen, daß an ihrer Spitze Mommsen steht, ist so selbstverständlich, daß die Ehrerbietung es vielleicht mehr verbietet als verlangt, es besonders auszusprechen. Ich will mich deshalb mit der allgemeinen Feststellung dieser Abhängigkeit begnügen; nur ein Buch möchte ich ausdrücklich erwähnen, weil es zu dem meinigen sozusagen eine geistige Parallele bietet. Es ist »Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt« von Julius Beloch (1886), das so, wie ich die Kriegskunst, die Bevölkerungs-Statistik durch das ganze Altertum verfolgt auf Grund nicht bloß philologischer, sondern vor allem sachkritischer, an der neueren Zeit geübter und geschärfter Methode. Je mehr ich mich mit diesem Buche beschäftigt habe, desto mehr habe ich es schätzen gelernt. Wenn man finden wird, daß ich selber nicht nur einzelne Ergänzungen, sondern auch einige nicht unbedeutende Abweichungen von den Ergebnissen Belochs zu begründen suche, so möchte ich nicht unterlassen, schon hier hervorzuheben, daß Beloch selbst solche Abweichungen und Korrekturen als sehr wohl möglich bezeichnet hat. Die nachprüfende Abweichung im einzelnen bedeutet hier für das Ganze und Prinzipielle Zustimmung und Bestätigung.
Ohne Belochs Vorarbeit hätten manche Teile des vorliegenden Werkes kaum geschrieben werden können, ja die Heereszahlen werden eine solche Rolle spielen, daß man vielleicht meinen könnte, von ihnen seien meine Untersuchungen überhaupt ausgegangen. So ist es aber nicht gewesen, sondern ich darf sagen, zu meinem eigenen Erstaunen bin ich im Lauf jeder einzelnen Untersuchung immer wieder bei diesem Punkt angekommen. Vielleicht das wichtigste Ergebnis des ganzen Buches für die folgenden Bände wie für die Historie ist die Richtigstellung des Zahlen-Verhältnisses in Cäsars gallischem Krieg und was sich daraus ergibt, und darüber bin ich, wie ich zu bekennen habe, selber erst bei der letzten Ausarbeitung zur Klarheit gelangt. Ein historisches Werk bedeutet ja hier so wenig wie sonst die Durchführung einer in einem glücklichen Moment der Intuition gefundenen Idee nach ihren logisch gegebenen Konsequenzen, sondern beruht auf der von Punkt zu Punkt fortschreitenden empirischen Forschung, und nur langsam ringen sich die Gedanken von dem Mutterboden der eingewurzelten, überlieferten Vorstellung los.
Der Zweck wie die Grenzlinien meinen Buches werden, denke ich, durch den gewählten Titel genau genug bezeichnet. Ich beanspruche nicht, eine »Geschichte der Kriegskunst« schlechtweg und in vollem Umfange geschrieben zu haben: dazu würden auch die Antiquitäten, das Detail des Exerzierens mit seinen Kommandos, die Technik der Waffen, der Pferde-Dressur und -Behandlung, der Befestigung, der Belagerung, endlich auch das ganze Seewesen gehören – Dinge, über die ich entweder nichts Neues zu sagen wüßte oder die ich nicht einmal beherrsche. In diesem Sinne bleibt eine »Geschichte der Kriegskunst« noch zu schreiben, ebenso wie etwa im Sinne einer Belehrung für die Praxis. Daß der Kriegsgeschichte ein solcher Wert innewohne, muß man wohl glauben, da die großen Feldherren öfter dergleichen gesagt haben; namentlich Napoleon hat immer wieder verlangt, daß, wer sich zum Strategen bilden wolle, die großen Taten der Vergangenheit studieren solle, und Clausewitz stellte es als ein Ideal hin, den Krieg zu lehren in lauter historischen Beispielen. Dieses Buch aber verfolgt so hohe Ziele nicht. Was die Geschichte für den praktischen Zweck etwa leisten könnte, das ist Sache des Militärs; mir ist selbst die Richtung des Geistes darauf nicht gegeben. Ich bin nichts als Historiker und wollte ein Werk für Geschichtsfreunde und Hilfsbuch für Historiker im Geiste Leopold Rankes schreiben.
Den 4. Juni 1900.
Hans Delbrück
Die Geschichte der Kriegskunst ist ein einzelner Faden in dem Zusammenhange der Universal-Geschichte und beginnt mit dieser. Man setzt jedoch mit der Untersuchung am besten nicht da ein, wo aus dem Halbdunkel der Prähistorie die ersten einigermaßen erkennbaren Erscheinungen auftauchen, sondern da, wo das Quellen-Material beginnt, einen vollen, wirklichen Einblick in die Dinge zu gewähren. Das ist die Epoche der Perserkriege, nicht eher; von ihr an aber können wir bis in unsere Tage mit ununterbrochenen Zeugnissen die Entwicklung verfolgen, und jede nachfolgende Periode hilft, die vorausgehende zu erklären. Auch für die Zeit vor den Perserkriegen fehlt es nicht an sehr beredten Zeugnissen, für die Griechen ist namentlich Homer sehr ergiebig, und für die orientalischen Völker wie die Ägypter haben wir noch Jahrhunderte, ja Jahrtausende weiter hinaufreichende Geschichtsquellen, aber diese Zeugnisse reichen doch nicht aus, um ein völlig sicheres Bild unmittelbar ablesen zu lassen. Ein in den Erscheinungen des Kriegswesens sehr geübtes historisches Sachurteil wird imstande sein, die vereinzelten Fingerzeige zu einem einheitlichen Bilde zusammenzugruppieren. Dieses Sachurteil aber ist in vollem Maße erst durch das Studium der Kriegsgeschichte selbst, also der späteren Perioden zu gewinnen. Für die ersten Schritte müssen wir suchen, auf dem festeren Boden zu wandeln, wie ihn die Aussagen von Zeitgenossen bieten. An ihnen und mit ihnen möge die Sach-Kritik sich entwickeln, um klare Anschauungen zu gewinnen. Vielleicht sind diese so gewonnenen Anschauungen später auch tauglich, um in die frühere Zeit hinaufzuleuchten und das Halbdunkel, in das sie sich selbst hüllt, zu erhellen.
Auch die Perserkriege sind ja noch so unsicher überliefert, von der Legende übersponnen, nicht von einem wirklichen Zeitgenossen, sondern erst aus dem Munde der nächsten Generation aufgeschrieben, daß ein Niebuhr daran verzweifelte, ihren speziellen Verlauf zu erkennen, und wenn trotz seiner Warnung Historiker uns immer wieder alle die Einzelheiten der Herodoteischen Erzählung als Geschichte vortragen, so ist viel Selbsttäuschung dabei. Aber wie skeptisch man sich auch den farbenreichen Erzählungen des Vaters der Geschichtschreibung gegenüber verhalten mag, sie enthalten einen Wirklichkeits-Kern, der für die Zwecke einer Geschichte der Kriegskunst genügt. Wir erkennen die Fechtweise der beiden Heere, wir können das Terrain feststellen, auf dem gekämpft worden ist, und wir können die strategische Situation verstehen. Damit sind die Grundlinien des kriegerischen Ereignisses gegeben, und diese Grundlinien geben wieder einen sehr zuverlässigen kritischen Maßstab für die Einzelheiten der legendarischen Überlieferung. Kein älteres kriegerisches Ereignis liegt so offen vor uns. Die Perserkriege also bilden den natürlichen Ausgangspunkt für eine Geschichte der Kriegskunst.
Die Grundlage für die wissenschaftliche Erkenntnis des griechischen Kriegswesens bildet noch heute die
Geschichte des griechischen Kriegswesens von der ältesten Zeit bis auf Pyrrhos. Nach den Quellen bearbeitet von W. RÜSTOW, ehemaligem preußischen Genieoffizier, und Dr. H. KÖCHLY, ord. Professor der griechischen und römischen Literatur und Sprache an der Universität Zürich. Mit 134 in den Text eingedruckten Holzschnitten und 6 lithographierten Tafeln. Aarau, Verlags-Comptoir 1852;
daneben:
Griechische Kriegsschriftsteller. Griechisch und deutsch mit kritischen und erklärenden Anmerkungen von H. KÖCHLY und W. RÜSTOW. Zwei Teile in drei Abteilungen. Leipzig 1853-1855.
Neuere Werke sind:
Heerwesen und Kriegführung der Griechen von Dr. H. DROYSEN, Gymnasiallehrer und Dozent an der Königl. Universität zu Berlin. Mit 1 Tafel und 7 Abbildungen im Text (in K. F. Hermanns Lehrbuch der griechischen Antiquitäten). Freiburg i. B. 1888-89. Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). (Von mir besprochen im Lit. Centr.-Blatt 1888 Nr. 16.)
Die griechischen Kriegsaltertümer von Dr. ADOLF BAUER, Professor der Geschichte des Altertums an der Universität Graz (im »Handbuch der klasisschen Altertumswissenschaft«). Verlag von C. H. Beck in Nördlingen (jetzt München) 1886. Zweite Auflage 1892. Ein vortreffliches Werk, das die Quellen-Zeugnisse übersichtlich gruppiert zusammenfaßt. Sehr sorgfältig und vollständig ist bei Bauer auch die Bibliographie behandelt, auf die ein für alle Mal hier verwiesen sei.
Das Kriegswesen der Alten mit besonderer Berücksichtigung der Strategie von Dr. phil. HUGO LIERS, Oberlehrer am Gymnasium zu Waldenburg, Breslau 1895, ist ein anregendes und gelehrtes, auf umfassender selbständiger Lektüre der alten Autoren beruhendes Buch, das mich auf manche bedeutsame Stelle aufmerksam gemacht hat. Als Ganzes ist das Werk aber leider doch verfehlt; die einzelnen Stellen sind systematisch gruppiert, aber lange nicht genug auf den Grad ihrer Glaubwürdigkeit geprüft, und namentlich sind die einzelnen Perioden der Entwicklung nicht genügend unterschieden.
In der Histor Zeitschr. Bd. 98 (1907) hat BEN. NIESE einen Aufsatz »Über Wehrverfassung, Dienstpflicht und Heerwesen Griechenlands« veröffentlicht, der nichts Neues enthält.
Ich selber habe das kriegsgeschichtliche Problem der Perserkriege behandelt in einer Monographie:
Die Perserkriege und die Burgunderkriege. Zwei kombinierte kriegsgeschichtliche Studien nebst einem Anhang über die römische Manipular- Taktik. Berlin, Walther und Apolant (jetzt Hermann Walther Nachf.) 1887.
Von den allgemeinen Werken über griechische Geschichte kommen für uns wesentlich die von BUSOLT (2. Auflage), BELOCH und DUNCKER, hier und da auch noch die von GROTE in Betracht.
Durch alle Bände dieses Werkes bis in die Neuzeit werden uns begleiten die trotz Fehlerhaftigkeit und Oberflächlichkeit in der Durchführung genial angelegte
Geschichte der Infanterie von W. RÜSTOW. Zwei Bände, Gotha 1857 und 58 (und spätere Neudrucke);
sowie die namentlich in den späteren Bänden wertvolle
Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland von MAX JÄHNS. (Aus der Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Auf Veranlassung S. M. des Königs von Bayern herausgegeben von der historischen Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften.) München und Leipzig. 1889-91.
Wo die Quellen es erlauben, beginnt eine kriegsgeschichtliche Untersuchung am besten bei den Heereszahlen; sie sind von entscheidender Wichtigkeit nicht bloß des Stärkeverhältnisses wegen, indem die größere Masse siegt oder durch Tapferkeit und Führung bei der Minderzahl ausgeglichen wird, sondern auch absolut genommen. Eine Bewegung, die eine Schar von 100 Mann ohne weiteres macht, ist für 10000 Mann schon eine Leistung, für 50000 ein Kunstwerk, für 100000 eine Unmöglichkeit. Mit einem größeren Heer wird die Aufgabe der Verpflegung ein immer bedeutsamerer Teil der Strategie. Ohne eine bestimmte Vorstellung von der Größe der Heere ist daher eine kritische Behandlung der historischen Überlieferung wie der Ereignisse unmöglich.
Da gerade über diesen Punkt noch vielfach unrichtige Vorstellungen herrschen und überlieferte Zahlen, ohne Bewußtsein von der Tragweite der Konsequenzen, die sich daraus ergeben müßten, nachgesprochen werden, so scheint es nützlich, um sozusagen den kritischen Blick zu schärfen, gleich hier an einigen Beispielen zu zeigen, wie leicht und bis zu welchem Grade falsche Zahlen sich in der historischen Überlieferung festsetzen.
In den älteren deutschen Werken über die Freiheitskriege, bei Plotho, der Flügeladjutant Friedrich Wilhelms III. war und während des Krieges selbst im großen Hauptquartier seine Nachrichten sammelte, in der Biographie Radetzkys von einem österreichischen Veteranen und noch in den älteren Auflagen des viel gelesenen und verdienstlichen Werkes von BEITZKE »Deutsche Freiheitskriege« findet sich das französische Heer bei Beginn des Herbstfeldzuges von 1813 auf 300000 bis höchstens 353000 Mann angegeben. Die Verbündeten verfügten um diese Zeit über 492000 Mann, hätten also eine erdrückende numerische Überlegenheit gehabt. In Wahrheit hatte Napoleon, außer den Festungsbesatzungen auf dem Kriegsschauplatz, 440000 Mann, war den Verbündeten also numerisch nahezu gewachsen.1
E. M. ARNDT schlug den Gesamtmenschenverlust aller Napoleonischen Kriege zusammen im Jahre 1814 auf 10080000 Köpfe an; eine nähere Prüfung bleibt weit unter 2 Millionen, wovon der vierte Teil auf die Franzosen fallen würde2, und eine genaue Statistik würde jedenfalls noch auf erheblich geringere Zahlen führen.
Noch in neueren wissenschaftlichen Darstellungen der Freiheitskriege findet man, daß in dem Treffen von Hagelsberg die märkischen Landwehren 4000 Franzosen mit dem Kolben die Schädel eingeschlagen haben. In Wirklichkeit waren es etwa 30.
In den 1897 erschienenen Werke des österreichischen Generalstabs-Hauptmanns BERNDT »Die Zahl im Kriege« ist für die Schlacht bei Orleans (3. und 4. Dezember 1870) die Zahl der Franzosen auf 60700 angegeben, andere Forscher haben sie auf 174500 und noch höher berechnet.
Bei Aspern sollen nach demselben Buche 75000 Österreicher gegen 90000 Franzosen gefochten und die letzteren 44380 Mann verloren haben. In Wahrheit haben am ersten Tage etwa 105000 Österreicher gegen 35000 Franzosen, am zweiten (nach abzuziehenden Verlusten) dieselben Österreicher gegen etwa 70000 Franzosen gefochten und die letzteren vermutlich etwa 16000 bis höchstens 20000 Mann verloren.
Das Heer Karls des Kühnen bei Granson wird von den schweizerischen Zeitgenossen auf 100000 bis 120000 Mann angegeben; bei Murten soll er dann das Dreifache dieser Macht aufgeboten haben. In Wahrheit hatte er in der ersten Schlacht etwa 14000 Mann, in der zweiten einige Tausende mehr. Die Schweizer, die gegen eine unermeßliche Überlegenheit gefochten haben wollen, hatten in beiden Schlachten die erhebliche numerische Überlegenheit. Schon bei Granson wollen sie den Burgundern bis zu 7000 Mann getötet haben, in Wahrheit waren es 7 Ritter und einige wenige Gemeine.3
Die Hussitenheere, die ganz Deutschland in Schrecken setzten und als unabsehbare Massen geschildert werden, waren etwa 5000 Mann stark.
Es ist nicht etwa bloß die allgemeine Lust an hyperbolischen Vorstellungen, Mangel an Zahlensinn, Prahlsucht, Furcht, Entschuldigung oder dergleichen menschliche Schwächen, aus denen die ungeheuerlichen Übertreibungen entspringen, sondern es ist auch wohl zu beachten, daß es selbst für ein geübtes Auge sehr schwer ist, größere Massen richtig abzuschätzen, auch die eigenen, die man ganz frei ins Auge fassen kann; so gut wie unmöglich aber beim Gegner. Ein schönes Beispiel dafür gibt eine jüngst4 veröffentlichte Aufzeichnung Friedrich Wilhelms III. über die unter seiner eigenen Führung erlittene Niederlage von Auerstädt. Der König sagt, man habe während des Gefechts sich nicht mehr darüber täuschen können, daß man es mit einer sehr überlegenen Stärke zu tun habe; die Franzosen hätten, wie ihnen das bei ihrer größeren Stärke an Infanterie möglich gewesen sei, die fechtenden Bataillone öfter von frischen Truppen ablösen lassen. Da die Preußen 50000 Mann stark waren, so muß man die Franzosen doch wohl auf 70-80000 geschätzt haben; in Wirklichkeit waren es 270005, und daß Friedrich Wilhelm sich tatsächlich nur getäuscht, nicht etwa die Niederlage hat beschönigen wollen, geht aus einer Nachschrift hervor, die der König sehr bald darauf hinzugefügt hat und in der er sagt: aus den französischen Bulletins und anderen Nachrichten habe er sich überzeugt, »daß – zu unserer Schande sei es gesagt – der Feind nicht stärker als 30000 Mann gegen uns war.«
Wohlgemerkt, handelt es sich nicht immer bloß um Überschätzungen und Übertreibungen; auch das Gegenteil kommt vor, und mit gutem Bedacht habe ich auch davon gleich einige Beispiele oben eingeflochten.
Das Heer, das Xerxes nach Griechenland führte, wird von Herodot ganz genau auf 4200000 Mann mit dem Troß angegeben. Ein Armeekorps, das sind 30000 Mann, nimmt nach der deutschen Marschordnung etwa drei Meilen ein (ohne den Fuhrpark). Die Marschkolonne der Perser wäre also 420 Meilen lang gewesen, und als die Ersten vor Thermopylä ankamen, hätten die Letzten gerade aus Susa jenseits des Tigris ausmarschieren können. Ein deutsches Armeekorps führt Artillerie und Munitionskarren mit sich, die viel Raum einnehmen, und insofern wäre ein antikes Heer auf geringerem Raum unterzubringen. Auf der anderen Seite hatte ein persisches Heer ganz gewiß nur eine sehr geringe Marschdisziplin, die nur bei sehr feiner Gliederung des Heeresorganismus mit unausgesetzter Aufmerksamkeit und Anspannung erreicht werden kann. Ohne Marschdisziplin verlängern sich die Kolonnen sehr schnell auf das Doppelte und Dreifache der Ausdehnung. Persische Truppen dürfen daher, auch ohne Artillerie, etwa mit modernen Truppen in Marschraumbedürfnis gleichgesetzt werden.
Nach dem Abzug des Xerxes mit dem großen Heer soll Mardonius mit 300000 Mann zurückgeblieben sein, aber auch diese Zahl hat keinen Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Nach Herodots Erzählung ist Mardonius, als er zum zweiten Male Athen zerstört hatte, von dort über Dekelea zurück nach Tanagra und am folgenden Tage weiter marschiert. So kann kein Heer von 300000 Mann marschieren. Selbst wenn ein Teil des Perserheeres in Böotien zurückgeblieben war und nicht bloß der Paß von Dekelea, sondern alle Pässe über das Gebirge zugleich benutzt wurden, kann das Heer nicht mehr als etwa 75000 Krieger (eingeschlossen die verbündeten Griechen) gezählt haben.
Aber diese ganze Methode der allmählichen Reduzierung der Zahlen hat nur einen vorbereitenden Wert, führt nicht zum Ziel.
Wir müssen uns klar machen und mit aller Bestimmtheit den Satz festhalten, daß es eine Selbsttäuschung ist, Zahlen wie den Herodoteischen Wert beizumessen. Möge man auf irgend eine Weise eine Zahl da herausdemonstrieren, so ist damit gar nichts gewonnen. Die wahre und einzig zulässige historische Methode ist nicht, daß, wenn man keine zuverlässigen Nachrichten hat, man sich mit den unzuverlässigen begnügt und so tut, als ob sie leidlich vertrauenswürdig wären, sondern daß man scharf und bestimmt scheidet, was als gut überliefert angesehen werden darf und was nicht. Vielleicht finden wir noch irgend einen Anhaltspunkt, der uns erlaubt, eine ungefähre Schätzung für die Größe der Perserheere auszusprechen. Zunächst aber muß festgestellt werden, daß die Zahlenangaben der Griechen gar keinen Glauben verdienen, auch nicht den allergeringsten, daß sie um nichts glaubwürdiger sind als die Angaben der Schweizer über die Heere Karls des Kühnen, daß wir also auch aus ihnen nicht entnehmen können, ob die numerische Überlegenheit auf Seiten der Griechen oder der Perser gewesen ist.
Wenden wir uns hinüber zu den Griechen, so scheinen wir hier auf sicherem Boden zu wandeln. Herodot gibt für die Schlacht von Platää eine spezifizierte Liste der verschiedenen Kontingente, 8000 Athener, 5000 Spartiaten, 5000 Periöken usw., im ganzen 38700 Hopliten. Da die Griechen ihre eigene Stärke doch wohl gekannt haben werden, so könnte man diesen Zahlen vielleicht trauen, und die meisten Forscher haben sie auch einfach angenommen. Aber das ist ein methodischer Fehler. Wir haben nicht die geringste Bürgschaft, daß nicht irgend einer der Berichterstatter des Herodot die Liste nach ganz willkürlicher Schätzung zusammengestellt hat, und eine Stelle zum wenigsten ist darin, die den Zahlensinn des Urhebers in recht ungünstigem Lichte erscheinen läßt. Jeder griechische Hoplit pflegte von einem Knecht begleitet zu sein; um die volle Stärke des Heeres zu berechnen, verdoppelt also Herodot die Zahl. Jeder Spartiat aber, sagt er, hatte sieben Heloten bei sich; es sind also 35000 Mann für diese hinzuzuzählen. 35000 Nicht-Kombattanten auf 5000 Kombattanten ist, sowohl wenn man an Heeresbewegungen wie Verpflegung denkt, eine Absurdität. Sie wird etwa so entstanden sein, daß der Grieche sich unter einem Spartiaten einen vornehmen Mann vorstellte, der stets mit mehreren Dienern ins Feld zog; sieben Diener schien eine ganz passende Zahl und wurde nun ohne weiteres mit der supponierten Zahl der Spartiaten multipliziert. Dergleichen kommt auch bei modernen Historikern vor. In PHILIPPSONS »Geschichte des Preußischen Staatswesens« Bd. II S. 176 kann man lesen, daß das preußische Heer unter Friedrich dem Großen (1776) 32705 – genau gezählt – Waschfrauen mit ins Feld nahm. Der Autor unterläßt auch nicht, seine Quelle anzugeben, BÜSCHINGS »Zuverlässige Beyträge z. d. Reg.-Gesch. König Friedrichs II. v. Preußen«, und eine Quelle, die meist zuverlässiges Material enthält, und da in der Tat eine Anzahl Marketenderinnen und Soldatenfrauen die friderizianische Armee begleiteten, so sind auf ein Heer von 200000 Mann 32705 Waschfrauen immer noch eher möglich, als 35000 Heloten auf 5000 Spartiaten, und ein moderner, methodisch ausgebildeter Historiker verdient mehr Glauben, als der naive Herodot. Aber zuletzt werden wir doch wohl beide Nachrichten verwerfen, eine wie die andere. Eine kurze Prüfung des allgemeinen Charakters König Friedrichs und seiner Armee überzeugt, daß diese sich gewiß nicht von den Waschfrauen haben ins Feld begleiten lassen, daß also Büsching irgend einem Mißverständnis zum Opfer gefallen und zu seiner Zahl gekommen ist, indem er auf jedes Soldatenzelt eine Waschfrau rechnete, und Philippson ohne kritische Prüfung die interessante Behauptung nachgeschrieben hat. Ganz ähnlich wird es mit den 35000 Heloten Herodots zugegangen sein. Im ganzen führt die Rechnung Herodots auf eine Stärke des griechischen Heeres von etwa 110000 Köpfen. Die Historiker, die die Zahl nachgeschrieben haben, haben sich keine genügende Vorstellung davon gemacht, was es heißt, 110000 Mann auf einem Fleck längere Zeit zu ernähren. Wir werden darüber in den späteren Zeiten, wo wir über sichere, urkundliche Zahlen verfügen, noch viel zu reden haben.6 Die überlieferte Zahl ist schlechthin unglaubwürdig. Wir müssen uns bescheiden, daß wir eine Angabe über die Stärke der Griechen bei Platää, auf die wir Schlüsse aufbauen dürften, nicht besitzen.7
Völlig unbeglaubigt ist auch die Angabe der späteren griechischen Quellen, daß die Athener bei Marathon 10000 Mann stark gewesen seien; sie kennzeichnet sich schon dadurch als eine willkürliche Schätzung, daß die Stärke der verbündeten Platääer, entweder eingeschlossen in jene Zahl oder daneben, auf 1000 Mann angegeben wird. Platää war ein ganz kleiner Flecken und kann unmöglich ein Zehntel oder gar ein Neuntel der Athener gestellt haben. Wenn die Historiker bisher jene Zahl, 10000, meist akzeptiert haben, so ist das geschehen, weil sie sachlich ganz passend erschien; als irgendwie bezeugt aber darf sie nicht gelten.
Um trotz des Mangels an zuverlässigen direkten Quellenzeugnissen zu einer Vorstellung von der Stärke der griechischen Heere in den Perserkriegen zu gelangen, stehen uns zur Verfügung neben dem erst kennen zu lernenden Gang der Ereignisse selbst, Rückschlüsse aus der späteren griechischen Geschichte und aus der vorhandenen Bevölkerungsmasse, die wiederum bis auf einen gewissen Grad aus der Größe und Nährfähigkeit des Landes erschlossen werden kann.
Das Ergebnis für den reichsten Staat, Athen, ist, daß das Ländchen, die Halbinsel Attika, im Jahre 490 etwa 100000 freie Seelen, und da die Sklaven-Bevölkerung damals noch mäßig gewesen sein wird, im ganzen höchstens 120-140000 Menschen oder 2500-3000 auf die Quadrat-Meile (ca. 50 auf den Quadrat-Kilometer) gehabt haben wird. Das ist etwa dasselbe wie heute.
Wie viele von diesen Athenern tatsächlich in den Schlachten der Perserkriege die Waffen getragen haben, wissen wir noch nicht und müssen sehen, ob uns der Gang der Ereignisse selbst eine Handhabe für die Schätzung bietet.
Die Hauptmasse eines griechischen Heeres zur Zeit der Perserkriege bestand aus gepanzertem Fußvolk mit einer etwa zwei Meter16 langen Stoßlanze, den Hopliten. Die Schutzwaffen sind Helm, Harnisch,17 Beinschienen, Schild; ein kurzes Schwert ist Hilfswaffe.
Die Hopliten bilden einen festgeschlossenen taktischen Körper, die Phalanx. Die Phalanx ist eine ununterbrochene, mehrgliedrige Linear-Aufstellung.18 Die Tiefe wechselt; sehr oft hören wir von 8 Mann Tiefe, was wie eine Art Normalstellung angesehen worden zu sein scheint; wir hören aber auch von 12, ja von 25 Mann Tiefe.19
Zum eigentlichen Fechten können in einer solchen Phalanx höchstens zwei Glieder kommen, indem das zweite Glied im Augenblick des Zusammenstoßes auf die Lücken des ersten tritt. Die weiteren Glieder dienen dazu, die Fallenden und Verwundeten sofort zu ersetzen, vor allem aber einen physischen und moralischen Druck auszuüben. Die tiefere Phalanx wird die flachere niederkämpfen, auch wenn auf beiden nur tatsächlich genau dieselbe Zahl der Kämpfer zum Gebrauch der Waffen gelangt.
Wäre nicht der Vorteil dieses Druckes, so wäre es viel besser, die Linie zu verlängern, dadurch den Feind zu überflügeln und im Moment des Zusammenstoßes auf beiden Flanken zu umklammern. Aber bei gleichen Kräften kann eine solche Umklammerung nur stattfinden auf Kosten der Tiefe der Aufstellung, und obgleich nur wenige Minuten zu vergehen brauchen vom Zusammenprall der Linien an, bis die Umklammerung sich vollzogen hat, so würde doch in dieser Zeit vermutlich schon die tiefere feindliche Phalanx das flache Zentrum überrannt und damit die ganze Aufstellung gesprengt haben.
Es stehen sich also bei der Phalanx zwei Prinzipien mit polarischer Wirksamkeit gegenüber: die Tiefe, die Wucht gibt, und die Länge, die Umfassung ermöglicht. Sache des Feldherrn ist es, nach der Lage der Umstände, der Größe der Heere, der Qualität der beiderseitigen Truppen, der Gestaltung des Geländes die Tiefe und Länge der Phalanx zu bestimmen. Ein sehr großes Heer wird mehr nach der Tiefe als nach der Länge verstärkt, weil es überaus schwer ist, eine lange Linie einigermaßen gerichtet und geordnet vorwärts zu bewegen, eine tiefe Kolonne hingegen nicht so leicht aus der Ordnung zu bringen ist.
Da die hinteren Glieder der Phalanx fast niemals zum Gebrauch der Waffen gelangen, so könnte es überflüssig erscheinen, etwa über das vierte Glied hinaus alle Krieger mit der vollen Schutzrüstung zu versehen. Doch ist bei den Griechen nicht überliefert, daß jemals ein solcher Unterschied gemacht worden sei. Ein Ungepanzerter ist nicht imstande, gegen einen Gepanzerten wirklich zu fechten. Die Aufstellung von einigen Reihen Ungepanzerter hinter den Gepanzerten würde also nicht viel mehr als eine Art Demonstration gewesen sein. Das Bewußtsein, von diesen Hintermännern doch keine wahre Unterstützung empfangen zu können, würde den Druck, das Vorwärtsschieben der vorderen Glieder, worin ja der Wert der hinteren Glieder besteht, sehr stark abgeschwächt haben. Kam es wirklich an irgend einer Stelle dazu, etwa durch zufälliges Zerreißen der Phalanx, daß der gewappnete Feind in die ungewappneten hinteren Glieder gelangte, so hätten diese sofort zurückweichen müssen, und die Flucht an der einen Stelle riß leicht das ganze Heer mit sich fort.
Am allerwenigsten wäre es deshalb angegangen, etwa unzuverlässige Leute, Sklaven, in die hinteren Glieder der Phalanx zu stellen. Sie nützten dort nichts, konnten aber durch vorzeitige, wohl gar böswillige Flucht leicht auch bei den Hopliten eine Panik hervorrufen.
Diese Darlegung hebt natürlich den umgekehrten Satz, daß, wenn man weniger gut bewaffnete Leute hat, diese in die hinteren Reihen gestellt werden, nicht auf. Solche leicht oder nur stückweise Bewaffneten können sich auch dadurch nützlich machen, daß sie den eigenen Verwundeten helfen, feindliche Verwundete, über die das Gefecht hinweggeht, vollends töten oder gefangen nehmen. Das sind aber nur sekundäre Dienste, und die Phalanx als solche postuliert möglichst vollgerüstete Krieger durch alle Glieder hindurch.
Von höchster Bedeutung ist es bei solcher Fechtweise, was für Leute im ersten Gliede stehen. Immer wieder preist Tyrtäus in seinen Kriegsliedern die Männer des Vordergefechts »ἐν προμάχοισι«. Die späteren Theoretiker empfehlen den Feldherren, in das erste und letzte Glied die zuverlässigsten Leute zu stellen, um die ganze Phalanx zusammenzuhalten. Ein angeklagter athenischer Bürger führte vor Gericht für sich an, daß er sich freiwillig in einer gefährlichen Schlacht habe ins erste Glied stellen lassen.20
Wenn in Lacedämon die Spartiaten und Periöken gleichmäßig als Hopliten ins Feld ziehen, die Spartiaten aber als Berufskrieger für viel mehr gelten als die Periöken, die für gewöhnlich ihrem wirtschaftlichen Beruf nachgehen, so erklärt sich das wohl am besten so, daß die Spartiaten vorwiegend die ersten Glieder der Phalanx bildeten.21
Fernwaffen sind mit einer Hopliten-Phalanx nur in sehr geringem Maße zu verbinden. Der Bogen war bei den Griechen eine altangesehene Waffe; der Nationalheros Herakles war Bogenschütze. Bei den Athenern wird in dem Feldzuge von Platää ein besonderes Bogner-Korps erwähnt. Aber seit die Spießkämpfer eine Phalanx bildeten, war der Bogen in den Hintergrund gedrängt worden, weil die beiden Waffengattungen sich, wenn auch nicht gerade einander ausschließen, doch sehr schlecht miteinander kombinieren lassen. Die Bogner, Schleuderer, Speerwerfer können vor, neben und hinter der Phalanx gedacht werden. Wenn sie vor der Front ausschwärmen, müssen sie vor dem Zusammenstoß der beiden Phalangen verschwunden sein, also sich um die Flügel herumgezogen haben. Wollten sie sich durch die Phalanx selbst durchdrängen, so würde die Unordnung und der Aufenthalt, der dadurch entsteht, viel mehr Schaden anrichten, als die Verluste, die sie etwa dem Feinde beigebracht haben, nützen. Um sicher um die beiden Flügel herumzukommen, müßten die Schützen schon den Rückzug antreten, wenn die Phalangen noch viele hundert Schritt voneinander entfernt sind. Hat der Feind gar keine Schützen und man schickt ihm Schützen entgegen, die ihn auf dem Anmarsch fortwährend beschießen, so könnte ihm das allerdings wesentlichen Abbruch tun. Haben aber beide Teile Schützen, so werden sich wesentlich nur diese untereinander beschießen und das entscheidende Phalangen-Gefecht davon gar nicht beeinflußt werden. Von den beiden Flügeln der Hopliten-Phalanx aus könnten, schräg schießend auf den anrückenden Feind, eine Anzahl Schützen Einfluß auf den Gang der Schlacht gewinnen. Aber wir finden von solchem Tun keine erkennbaren Spuren, auch nicht in den späteren Griechen-Schlachten.
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