Johann von Löwentatz und die Räuber vom Deibelwald

»Wenn ich durch den Deibelwald fahre, dann nehme ich immer einen Ritter mit«, sagt Pater Jeronimus mit Bestimmtheit zu Johann von Löwentatz. »Deshalb kommst du mit. Unterwegs kann ich dich dann auch gleich noch unterrichten. Das wird ein Spaß!«

Johann von Löwentatz stellt sich Spaß anders vor. Er muss doch schon genug herumsitzen und lernen! Viel lieber würde er mit seinem Holzschwert trainieren. Der Knappe Wendel hat ihm einen neuen Trick beigebracht, den muss er unbedingt üben. Wendel sagt: »Ein guter Schwertkämpfer trifft auch mit geschlossenen Augen!«

Seitdem weiß Johann, dass auch er ein guter Schwertkämpfer werden kann, wenn er nur viel übt – obwohl er kaum etwas sieht.

»Pater Jeronimus, ich bin kein Ritter«, protestiert Johann.

»Natürlich bist du einer! Du bist ein Löwentatz. Alle Löwentatz sind Ritter, auch die kleinen. Einsteigen und keine Widerrede!«

Johann setzt das dicke Guck-Glas, das Jeronimus ihm gebaut hat, auf die Nase. Es hilft zwar nicht gegen seine Blindheit, aber es freut Pater Jeronimus, wenn er es trägt.

Er klettert auf den kleinen Wagen. Das Pferd Rosakante wiehert leise.

Hinten im Wagen liegen allerlei Säcke mit Lebensmitteln, die sie dem kleinen Kloster an der Westseite des Deibelwalds bringen sollen. Johanns Vater, Lutz von Löwentatz, ist sich sicher, dass es Glück und Segen bringt, dem Kloster hin und wieder etwas zu schenken, und Pater Jeronimus freut sich immer, dort alte Bekannte zu treffen.

Der Wagen rumpelt über den staubigen, holprigen Weg. Jeronimus beginnt gleich damit, alle möglichen lateinischen Namen von irgendwelchen Heilkräutern aufzuzählen. Johann muss aufpassen, dass er dabei nicht einschläft.

Sie biegen in den Deibelwald ab.

Wie eine Weckuhr, die viel zu früh klingelt, bricht plötzlich ein Riesengeschrei los. Von allen Seiten stürmen Gestalten aus dem Gebüsch, Rosakante wiehert und steigt mit den Vorderhufen hoch. Pater Jeronimus schreit schrill: »Räuber, Räuber, Räuber!«

Johann reißt einen der kleineren Säcke hinten aus dem Wagen und haut ihn der nächstbesten Gestalt an den Kopf. Leider nützt es nichts. Nur die Pflaumen im Sack sind hinüber.

Im Nu sind Johann und Pater Jeronimus gefesselt, und der Wagen rumpelt Richtung Räubernest.

Als sie endlich dort ankommen, heben die Räuber Pater Jeronimus und Johann vom Karren herunter, als wären sie nur zwei weitere Säcke.

»Dicker Mönch und Knirps«, stellt einer der Räuber fest.

»Komischer Knirps«, sagt ein anderer. »Was hast du da im Gesicht?«

Er meint Johanns Guck-Glas. Die Frage »Was hast du da im Gesicht?« hat Johann schon oft gehört.

Da kommt Johann eine Idee – und das, obwohl die Angst ihm gerade Klumpen in den Bauch legt.

»Nichts«, sagt er schnell, und flüstert extra gut hörbar: »Nichts verraten, Pater Jeronimus.«

Der sagt überrascht: »Äh, ich verrate nie etwas.«

»Was soll er nicht verraten?«, fragt der Räuber und brüllt: »Hauptmann Hosenwind! Hier ist was faul!«

Hauptmann Hosenwind kommt herangestapft.

»Der Knirps will nicht sagen, was er da im Gesicht hat«, mault der Räuber.

Hauptmann Hosenwind beugt sich vor und will schon nach Johanns Guck-Glas greifen, da schreit Johann: »Nein, tut das nicht, das bringt euch Unglück, nur ich darf es tragen.«

Vor Schreck springen die Räuber einen Schritt nach hinten. Räuber sind abergläubisch bis unter die Ohren. Wenn jemand von Unglück redet, dann sind sie vorsichtig.

»Was ist das für ein Teufelsding?«, ruft Hauptmann Hosenwind. »Rede, oder ich halte dich unter den Eiskalten Wasserfall!«

Der Eiskalte Wasserfall ist wirklich eiskalt, das ist also eine fiese Drohung. Johann tut trotzdem so, als würde er sich zieren. Dann aber sagt er: »Na gut, ich sag’s euch!«

Pater Jeronimus ruft vorsichtshalber: »Tu’s nicht!«

»Du da«, motzt Hauptmann Hosenwind ihn an. »Ruhe!«

»Mit diesem Gerät vor meinen Augen kann ich Schätze finden«, erklärt Johann. »Aber ich darf es nie abnehmen, sonst funktioniert es nicht mehr.«

Ein Raunen geht durch die umstehenden Räuber.

»Red weiter«, sagt Hauptmann Hosenwind.

Wieder druckst Johann etwas herum. Dann sagt er: »Wenn ich mich konzentriere, lenkt es mich zu Orten, wo Ritter ihre Schätze vergraben haben.«

»Was heißt konzentriere?«, fragt ein Räuber.

»Das ist wie Magie«, antwortet Pater Jeronimus schnell.

»Oh, Magie, ja, ja.« Die Räuber nicken sich wissend zu.

Hauptmann Hosenwind aber lacht triumphierend. »Du bist ja ein Goldjunge! Führe uns zu diesen Schätzen!«

Johann tut so, als hätte er immer noch Angst vor dem Eiskalten Wasserfall – na ja, eigentlich hat er die auch –, und willigt ein.

»Vom Pferd aus kann ich die Schätze am besten aufspüren«, erklärt er.

Also lösen die Räuber seine Fesseln und setzen ihn auf Rosakante. Dann ziehen sie allesamt los. Nur der arme Pater Jeronimus bleibt verschnürt und schimpfend im Laub liegen.

Es ist nicht gerade angenehm, allein mit einem Haufen übel riechender Halunken unterwegs zu sein. Johann ist ganz schlecht vor Angst. Kreuz und quer reitet er durch den Wald und weiß plötzlich nicht mehr, wie sein Plan überhaupt funktionieren soll.

Da ruft Hauptmann Hosenwind: »Hier ist schon der Nordsaum des Deibelwalds. Und immer noch kein Schatz! Dein magisches Glas taugt nichts.«

Die Räuber grummeln. Aber Johann ist heilfroh, denn nun weiß er wieder, wo sie sind.

»Nein, da vorne!«, ruft er. »Am Waldrand liegt einer.«

»Wo?«, rufen die Räuber. »Unter der dicken Eiche?«

Johann kann die dicke Eiche zwar nicht sehen, sagt aber: »Genau da! Der Schatz liegt zehn Ellen tief unter der Erde vergraben.«

»So tief?«, murren die Räuber.