»Sei mutig wie ein Drache,

lass Fremdes dich nicht schrecken!

Wir halten ewig Wache,

den Drachenmut zu wecken.

Freunden steh bei immerdar,

auf dein Herz stets höre,

und seist du einstmals in Gefahr,

die Drachenwut beschwöre.«*

* Inschrift auf einer Steintafel am Drachenbrunnen im Schlosspark von Schloss Drachenmut, verfasst 1643, vermutlich von Freiherr Siegebald von Twist dem Größeren. Leider nicht mehr vollständig entzifferbar aufgrund zu vieler Jahrhunderte hauptsächlich schlechten Wetters in Klein-Unterbach.

Ein ungehobeltes Eichhörnchen

Sirrr – plopp. Sirrr – plopp. Sirrr – plopp. Sirrr –

»Au! Was zum …? E-le-o-no-re Rotfell! Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht mit Essen schießen?«

Elli, ein kleines, struppiges Eichhörnchen aus der altehrwürdigen, überall für Anständigkeit und tadelloses Verhalten bekannten Eichhörnchen-Familie Rotfell, versteckte schnell die selbst gebaute Schleuder hinter ihrem Rücken. Sie schob den Beutel mit den Nüssen und Bucheckern, die ihr als Munition dienten, unter einen herabhängenden Ast und versuchte, überrascht auszusehen.

Musste ausgerechnet Opa Eckbert bei ihren Zielübungen dazwischenfunken! Der war sowieso schon nicht gut auf sie zu sprechen. Und jetzt hatte sie ihn auch noch getroffen.

»Was ist denn passiert, Opa Eckbert?«, fragte Elli so unschuldig sie konnte.

Aber Opa Eckbert machte niemand etwas vor.

»Junges Fräulein!«, sagte er. So nannte er sie immer, wenn sie etwas angestellt hatte. »Veräppeln kann ich mich selber! Ich habe dich beobachtet. Statt deine Lernaufgaben zu erledigen, führst du dich auf, als wärst du ein ungehobelter Waschbär. Eichhörnchen schießen nicht mit Schleudern, und gute Nüsse zu vergeuden ist un-ver-zeih-lich!« Opa Eckbert kam nun richtig in Fahrt. »Nimm dir ein Beispiel an deinen Geschwistern! Die benehmen sich wie anständige Eichhörnchen! Vagabundieren nicht herum, machen ihre Aufgaben, sammeln Vorräte, helfen beim Kobelbau …«

Ja, ja, ja, dachte Elli. Fünf geschleckte Langweiler, die nur ans Essen denken. Pah!

Elli wohnte mit ihrer Familie im Schlosspark von Schloss Drachenmut, gelegen am Rande einer Kleinstadt namens Klein-Unterbach. Das weitläufige und ziemlich verwilderte Gelände des Schlossparks wurde von einer uralten Lindenallee in zwei Teile getrennt. Das Revier der Familie Rotfell lag westlich der Lindenallee, zwischen den üppigen Haselnusssträuchern im unteren Teil des Parks. Die Eichhörnchen verließen ihr Revier normalerweise nie. Und auch sonst taten sie vieles nicht, was das Leben vielleicht aufregender gemacht hätte, fand zumindest Elli.

 

Opa Eckbert war noch immer nicht fertig mit seiner Standpauke.

»Und schau dir mal dein Fell an! Wie eine Kratzdistel! Du willst eine Rotfell sein? Du bist eine Schande für die Familie, das bist du, jawohl!«

Der Zorn blitzte rot funkelnde Sterne in Ellis Kopf. Ohne nachzudenken, nahm sie die Schleuder hinter ihrem Rücken hervor, klaubte flink eine Buchecker aus ihrem Munitionsbeutel und flitschte sie direkt an Opa Eckberts rechtem Ohr vorbei. Was konnte sie dafür, dass ihr Fell so wild abstand und nicht so leuchtend rot war wie das ihrer supertollen Blödgeschwister? Das war nicht fair! So war sie eben, basta!

»Dann bin ich eben eine Schande!«, rief sie wütend. »Ich furz auf euer glattes Fell!«

Schon im selben Moment wusste Elli, dass sie zu weit gegangen war. Opa Eckbert duckte sich erschrocken aus der Schussrichtung der Buchecker und schnappte nach Luft. Dann machte er wütend ein paar Schritte in Ellis Richtung und setzte zu einer weiteren Schimpftirade an.

Eine sanfte, aber bestimmte Stimme stoppte ihn: »Lass mal, Väterchen Eckbert. Und Eleonore, du gehst jetzt sofort in den Kobel!«

Das war Ellis Mutter Ewa. Sie war die alte Buche heruntergekommen und stand nun neben Opa Eckbert. Ihre hübschen Knopfaugen funkelten.

»Ich schäme mich für dich, Elli. Es ist kein Spaß, mit Essen auf deinen Opa zu schießen. Deine Schleuder werfen wir nun endgültig weg, sie ist nichts für Eichhörnchen. Das hast du ja gerade bewiesen. Du musst endlich lernen, dich wie eine von uns zu benehmen.«

Elli fühlte einen dicken Kloß in ihrem Hals aufsteigen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie könnte sich entschuldigen, in den Kobel gehen, und morgen wäre wahrscheinlich alles wieder gut. Aber wäre es das? Sie umklammerte ihre geliebte Schleuder. Warum sagte Opa Eckbert immer so gemeine Dinge? Immerzu hieß es: Ein Eichhörnchen tut dies nicht, ein Eichhörnchen tut das nicht. Elli fühlte sich plötzlich ganz allein. Vielleicht war sie ja gar kein Eichhörnchen? Sie verstand ihre doofen Geschwister nicht, und keiner verstand sie. Sie gehörte hier nicht hin. Sie sah sich um. Die Haselnusssträucher, ihr Zuhause, alles war so eng, viel zu eng. Und plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

»Ich gehe weg!«, rief sie ihrer Mutter und Opa Eckbert zu. Ihre Stimme zitterte. »Dann braucht ihr euch nicht mehr zu schämen!«

Sie steckte ihre Schleuder in den Riemen, den sie extra dafür umgebunden hatte, schnappte sich den Beutel mit der Munition und rannte, so schnell sie konnte, an den Haselnusssträuchern vorbei. Sie schlüpfte durch die angrenzende Hecke und war fort.

»Elli, warte!«, rief ihre Mutter ihr hinterher.

»Lass die mal!«, sagte Opa Eckbert und schnaubte. Er sah immer noch aus, als würde er gleich platzen. »Die kommt wieder. Und dann red ich noch mal mit ihr.«

Ellis Mutter schaute auf die kleine Lücke in der Hecke, durch die Elli verschwunden war. Es war nicht das erste Mal, dass Elli einfach fortlief. Bislang war sie immer zurückgekommen, spätestens bei Einbruch der Nacht. Sicher würde es auch dieses Mal so sein. Zumindest hoffte ihre Mutter das.

Ein ungehobelter Waschbär

Elli wusste nicht genau, wohin sie eigentlich rannte. Ihr Plan lautete: weg. Kein besonders ausgeklügelter Plan. Nachdem sie eine ganze Weile ziellos geradeaus gerannt war, blieb sie stehen und sah sich um. Also, weg war sie ja nun. Und jetzt?

»Krieg bloß keinen Schiss«, sagte Elli laut zu sich selbst.

Sie war schon oft an Orten herumgestromert, zu denen die anderen Eichhörnchen nicht gingen. Aber um ehrlich zu sein, waren die meist in Rufweite vom Rotfell-Revier gewesen. So weit weg wie heute war sie noch nie gelaufen.

Sie umklammerte ihre Schleuder und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Sie konnte nicht viel sehen, das Gras war hier sehr hoch. Aber ganz in der Nähe hörte sie Wasser gluckern. War das etwa der Bach, der auch das Rotfell-Revier begrenzte? Sie hüpfte durch ein wildes Stück Wiese – und wäre um ein Haar eine schmale Böschung heruntergepurzelt, die in der Tat zu einem schmalen Wasserlauf führte. Sie war dem Bach vorher noch nie so nah gewesen! Er gurgelte fröhlich vor sich hin, und das Wasser glitzerte in der Sonne. Elli beschloss, ihm zu folgen.

Kaum war sie ein Stück gelaufen, hörte sie jemanden laut singen:

»Hinauf, hinauf, viel höher noch, als der dumme Rahabe, flieg ich zu den Sternen hoch, wenn ich erst Flügel hahabe …«

Dann klapperte und schepperte es. Hinter dem morschen Überrest einer dicken Eiche kam ein Waschbär hervor, der einen Haufen seltsames Zeug im Arm hatte. Das ließ er nun krachend vor sich auf den Boden fallen.

Na, das passt ja, dachte Elli. Opa Eckbert sagt doch immer, ich benehme mich wie ein ungehobelter Waschbär. Da ist einer.

Waschbären hatten in Eichhörnchen-Kreisen allgemein keinen guten Ruf. Meide die Waschbären, hieß es, die haben nie Gutes im Sinn! Das sind Trickser, Flegel und Nussdiebe.

Vermutlich war Letzteres das Entscheidende. Wenn es ums Essen ging, verstand man in der Familie Rotfell keinen Spaß.

Elli stellte sich vor, wie sehr es Opa Eckbert ärgern würde, wenn sie sich mit einem Waschbären abgeben würde. Sie nahm ihre Schleuder und flitschte eine Buchecker in Richtung des Waschbären. Sie hatte auf eine Blechdose gezielt, die neben ihm lag. Peng!, machte es, als sie traf. Der Waschbär machte vor Schreck einen Satz zur Seite.

»He!«, brüllte er. Dann setzte er sich auf, hielt seine geballten Pfoten vor sich und boxte in die Luft. »Komm her, wenn du dich traust!«

»Ich trau mich!«, rief Elli und trat aus ihrem Versteck hervor.

»Ach, nur ein Eichhörnchen«, sagte der Waschbär und ließ die Pfoten sinken. »Und ich dachte schon, es gäbe Ärger.«

»Was soll das heißen?«, rief Elli. »Eichhörnchen können auch Ärger machen!«

Der Waschbär kugelte sich vor Lachen. »Nee, is’ klar. Eichhörnchen sind voll gefährlich, ich lach mich tot. Ey, ihr seid sooo nett und sooo anständig und sooo süß …« Er blies die Backen auf und machte einen Kullerblick, der wohl süß aussehen sollte. Im selben Moment wurde er von einer Nuss an der Stirn getroffen.

»ICH – BIN – NICHT – SÜSS

Erstaunt rieb sich der Waschbär den Kopf.

»Soll ich dich ins Wasser tunken, halbe Portion?«, fragte er. Aber es klang nicht, als würde er es ernst meinen. Außerdem zielte Elli schon mit der nächsten Nuss. »Versuch es doch!«, rief sie.

»Später vielleicht.« Neugierig schaute der Waschbär auf Ellis Schleuder. »Was is’n das?«

»Wonach sieht’s denn aus?«, fragte Elli.

»Nach Ärger«, sagte der Waschbär und lachte.

Zufrieden ließ Elli die Schleuder sinken.

Der Waschbär drehte sich um und murmelte: »Aber süß bist du trotzdem.«

Plitsch, da traf ihn auch schon die Nuss.

»Das habe ich gehört«, sagte Elli.

Der Waschbär hielt sich nun auch den Hinterkopf.

»Oh Mann, das gibt Beulen. Gut, dass ich so ’n harten Schädel hab! Hör auf zu schießen, Hörnchen, lass uns lieber ein paar Friedensbrombeeren essen«, sagte er.

Er kroch in den alten Eichenstumpf, der offenbar von innen hohl war, und kam mit den Pfoten voller Brombeeren wieder hervor. Elli beobachtete ihn misstrauisch. War das ein Trick? Vielleicht wollte er sie in eine Falle locken? Und ihr die Schleuder klauen?

»Ich hab ’ne super Idee!«, rief der Waschbär. »Du flitschst mir die Brombeeren zu, und ich versuche, sie mit dem Mund zu fangen!«

Er legte die Brombeeren auf den Boden und ging ein Stück zurück.

»Wie weit kannst du schießen? So? Oder noch weiter?«, fragte er.

Elli grinste. Sie konnte nicht widerstehen.

»Noch weiter! Noch weiter! Stopp!«, kommandierte sie.

»Okay, los!«, rief der Waschbär.

Sirr – schnapp! Sirr – schnapp! Sirr – platsch – »Igitt!« Der Waschbär wischte sich schnell den Brombeermatsch aus den Augen. »Okay, weiter!« Sirr – schnapp!

Als Elli alle Brombeeren verschossen hatte, war der Waschbär blau gesprenkelt und satt. Er ließ sich zufrieden ins Gras plumpsen. Vorsichtig setzte Elli sich neben ihn, in gebührendem Abstand. Sie schleckte den Brombeersaft von ihren Pfoten. Sie selbst hatte keine der Brombeeren gegessen. Der Waschbär sollte nicht denken, dass sie ihm traute.

»Wie heißt du?«, fragte der Waschbär.

»Elli Rotfell«, sagte Elli.

»Dein Fell ist gar nicht rot«, sagte der Waschbär.

»Na und?«, fragte Elli genervt.

»Reg dich nicht auf! Ist doch abgefahren. Da haben die Leute was zum Nachdenken! Mein Name ist Wolle, Wolle Waschington«, sagte der Waschbär und deutete auf ihre Schleuder. »Zeigst du mir, wie man so was baut und damit schießt?«

Elli zuckte mit den Schultern.

»Du bist ganz in Ordnung«, sagte Wolle Waschington. »Echt! Für ’n Eichhörnchen, meine ich.«

Und Elli dachte, dass sie noch nie so viel Spaß mit jemandem gehabt hatte wie eben gerade mit dem ungehobelten Waschbären.

Ihre Schleuder hielt sie trotzdem gut fest.

Heribert von der Heide ist ein wenig irritiert

Zur selben Zeit, als Elli das allererste Mal mit einem Waschbären sprach, nahm der Tag auf Schloss Drachenmut seinen gewohnten Lauf.

Oder auch nicht.

Die Morgensonne blinzelte träge in den alten Schlosshof. Auch wenn dem Schlossdach der eine oder andere Dachziegel fehlte und so mancher Fensterladen nach frischer Farbe ächzte – Schloss Drachenmut war bewohnt. In erster Linie und vor allem wohnte hier ein Hund namens Heribert von der Heide. Dieser Hund saß soeben kerzengerade vor dem Schlosstor und wartete.

Heribert von der Heide war kein gewöhnlicher Hund. Oh nein! Er war der Urururururururenkel von Hans-Heinrich von der Heide, und der wiederum war die Lieblingsdogge von Kaiser Karl V. persönlich gewesen. Heribert von der Heide wurde nicht müde, jeder Winkelspinne und jeder Kohlmeise, jeder Schlossratte und jedem Maulwurf von seiner adeligen Abstammung zu erzählen. Er ließ keinen Zweifel daran: Er war die wichtigste Figur in diesem Schloss. Ohne ihn würde hier alles den Schlossgraben hinuntergehen!

Natürlich gab es noch einen Schlossherrn. Auf ihn wartete Heribert ja gerade: Freiherr Severin von Twist, ein freundlicher, hagerer alter Herr mit einer Vorliebe für karierte Bademäntel. Unglücklicherweise bevorzugte der Freiherr ein bescheidenes, ruhiges Leben. Überaus unadelig fand Heribert das.

Er gähnte. Der Freiherr verspätete sich heute ganz unerhört. Das Frühstück hatte er Heribert immerhin hingestellt, wenn auch scheinbar zur besten Schlafenszeit. Eigenartig. Ob er sich danach noch mal hingelegt hatte? Er war gestern so müde gewesen.

Kein Grund, die Pflicht zu vernachlässigen, dachte Heribert. So was tut ein Adeliger einfach nicht!

 

Der Freiherr unternahm nämlich täglich einen Rundgang durch Park und Schloss. Heribert begleitete ihn und machte dabei als Hund seiner eigenen Meinung nach eine außerordentlich gute Figur. Er überwachte das Schneiden des Heckenlabyrinths und bellte pflichtbewusst die lästigen Karnickel an.

Der Freiherr liebte das Schloss und den Park über alles, doch er überließ die Natur gerne sich selbst. Mit Ausnahme des Heckenlabyrinths. Seine Großmutter Irmchen hatte es vor langen Jahren angelegt, und ihr zu Ehren pflegte Freiherr von Twist es mit größter Genauigkeit.

»Heribert«, sagte er manchmal, »Heribert, einen Gartenpreis wie mein Onkel Goderich werden wir wohl nie gewinnen. Aber Schloss Drachenmut und der Schlosspark haben ein ganz eigenes Leben, und du und ich, wir sind ein wichtiger Teil davon!«

Heribert hätte sich durchaus ein etwas prachtvolleres Schloss gewünscht, ein bisschen mehr Glanz und Chichi und Tamtam. Auch gegen einen Gartenpreis hätte er nichts gehabt. Immerhin machte es ihn stolz, dass der Freiherr wir sagte und ihn, Heribert, für so wichtig hielt. Denn das war er ja schließlich auch, zweifellos.

Drei Stunden später saß Heribert noch immer wie eine Skulptur da. Sein Rücken schmerzte. Drei kichernde Rattenkinder hockten mittlerweile auf einem Vorsprung in der Mauer und schlossen Wetten ab, wann er wohl umkippen würde.

In Heriberts Kopf ratterte es, ohne echtes Ergebnis. Unerwartete Ereignisse waren bisher in seinem Leben noch nicht vorgekommen. Schließlich beschloss er, dass er lange genug gewartet hatte. Auch weil er den kleinen Ratten um keinen Preis den Gefallen tun wollte, tatsächlich umzukippen.

»Wisst ihr«, sagte er hochnäsig, »mein Herr hat mich gebeten, den Rundgang heute alleine zu machen, falls er nicht kommt. Er vertraut mir nämlich, denn ich stamme direkt von Hans-Heinrich von der Heide ab, aber den kennt ihr dummen Dinger ja nicht!«

»Die dusselige Dogge von Kaiser Karl dem Gestrümpften!«, krähten die drei Rattenkinder im Chor und purzelten dabei vor Lachen auf das Kopfsteinpflaster.