Rachel Carson
Der stumme Frühling
Aus dem Amerikanischen von
Margaret Auer
Mit einem Vorwort von
Joachim Radkau
Verlag C. H. Beck
Der stumme Frühling erschien erstmals 1962. Der Titel bezieht sich auf das eingangs erzählte Märchen von der blühenden Stadt, in der sich eine seltsame, schleichende Seuche ausbreitet … Das spannend geschriebene Sachbuch wirkte bei seinem Erscheinen wie ein Alarmsignal und avancierte rasch zur Bibel der damals entstehenden Ökologie-Bewegung. Zum ersten Mal wurde hier in eindringlichem Appell die Fragwürdigkeit des chemischen Pflanzenschutzes dargelegt. An einer Fülle von Tatsachen machte Rachel Carson seine schädlichen Auswirkungen auf die Natur und die Menschen deutlich. Ihre Warnungen haben seither nichts von ihrer Aktualität verloren.
Die Amerikanerin Rachel Carson (1907–1964) erlangte als Biologin und Schriftstellerin weltweiten Ruf durch ihre Bücher»Geheimnis des Meeres«,»Am Saum der Gezeiten«und vor allem durch»Der stumme Frühling«.
Vorwort
1. Kapitel
Ein Zukunftsmärchen
2. Kapitel
Die Pflicht zu erdulden
3. Kapitel
Elixiere des Todes
4. Kapitel
Oberflächengewässer und unterirdische Fluten
5. Kapitel
Das Erdreich
6. Kapitel
Das grüne Kleid der Erde
7. Kapitel
Unnötige Verwüstung
8. Kapitel
Und keine Vögel singen
9. Kapitel
Der Tod zieht in die Flüsse ein
10. Kapitel
Gifte regnen vom Himmel
11. Kapitel
Das übertrifft die kühnsten Träume der Borgias
12. Kapitel
Der Preis, den der Mensch zu bezahlen hat
13. Kapitel
Durch ein schmales Fenster
14. Kapitel
Jeder vierte …
15. Kapitel
Die Natur wehrt sich
16. Kapitel
Das erste Grollen einer Lawine
17. Kapitel
Der andere Weg
Literaturverzeichnis
2. Kapitel: Die Pflicht zu erdulden
3. Kapitel: Elixiere des Todes
4. Kapitel: Oberflächengewässer und unterirdische Fluten
5. Kapitel: Das Erdreich
6. Kapitel: Das grüne Kleid der Erde
7. Kapitel: Unnötige Verwüstung
8. Kapitel: Und keine Vögel singen
9. Kapitel: Der Tod zieht in die Flüsse ein
10. Kapitel: Gifte regnen vom Himmel
11. Kapitel: Das übertrifft die kühnsten Träume der Borgias
12. Kapitel: Der Preis, den der Mensch zu bezahlen hat
13. Kapitel: Durch ein schmales Fenster
14. Kapitel: Jeder vierte …
15. Kapitel: Die Natur wehrt sich
16. Kapitel: Das erste Grollen einer Lawine
17. Kapitel: Der andere Weg
Namen- und Sachregister
Dank
Fußnoten
Für Albert Schweitzer
»Der Mensch hat die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen, verloren. Er wird am Ende die Erde zerstören.«
(Albert Schweitzer)
Ich wollte den Text nicht mit Fußnoten belasten, aber ich weiß, daß sich viele meiner Leser sicherlich näher mit den erörterten Themen befassen möchten. Daher habe ich eine Liste meiner wichtigsten Quellen, nach Kapiteln und Seitenzahl geordnet, in einem Anhang am Schluß des Buches angeführt.
R. C.
Als Ende September 1962 die amerikanische Erstausgabe von Der Stumme Frühling erschien, nach einer Vorabveröffentlichung als Serie im New Yorker, waren schon am Tage der Auslieferung an die 40.000 Exemplare vorbestellt: Von Anfang an machte das Buch Furore. Prompt stellte es ein Senator gleichrangig neben Onkel Toms Hütte, jenen Roman der Harriet Beecher-Stowe (1852), der zur Bibel der Antisklavereibewegung wurde; und das Time Magazin verglich Silent Spring gar mit Darwins Ursprung der Arten (1859), dem berühmtesten und provokativsten naturwissenschaftlichen Opus des 19. Jahrhunderts, das ein neues Bewußtsein der Einheit von Mensch und Natur begründete. Aus der Rückschau erscheint Carsons Buch geradezu als Ouvertüre der amerikanischen Umweltbewegung und damit der»ökologischen Revolution«auf der ganzen Welt. Auch in Deutschland wurde das Buch, dessen Verfasserin Albert Schweitzer verehrte, zum großen Erfolg.
All das ist ein Hinweis darauf, wie sehr es an der Zeit ist, uns wieder an den Stummen Frühling zu erinnern. Kein anderes Buch legt in diesem Maße Zeugnis vom Ursprung unseres»Umweltbewußtseins«ab. Ein klares Geschichtsbewußtsein ist oft die Voraussetzung für eine überlegte, aus der Erfahrung schöpfende politische Praxis, während ein Mangel an Erinnerung dazu führt, daß man immer wieder die gleichen Fehler begeht. Nicht durch allgemeine Naturbetrachtungen ohne Ort und Zeit, sondern durch Analyse der historischen Situation hier und jetzt erlangt die Sorge um die Umwelt politische Handlungsfähigkeit. Eine derartige Analyse enthielt der Stumme Frühling, und das war in dieser Form etwas Neues.
Natürlich ist ein Bestseller, genau genommen, kein allererster Anfang. Der sofortige Riesenerfolg des Stummen Frühling, mochte es auch von seiten der Chemischen Industrie wütende Kritik hageln, beweist am besten, in welchem Maße in der amerikanischen Öffentlichkeit der Boden für die Botschaft Rachel Carsons vorbereitet war. Der»ökologischen Revolution«, die sich in den 1960er Jahren zusammenbraute, ging eine lange Latenzphase voraus. Hinzu kam, daß amerikanische Zustände in mancher Hinsicht provozierender waren als europäische. Der Raubbau am Boden und an den Wäldern wurde in den USA lange Zeit viel rücksichtsloser betrieben als in Mittel- und Westeuropa. Daß Pestizide großflächig vom Flugzeug aus versprüht wurden, geschah auf deutschem Boden in großem Stil nur in der DDR; ein mecklenburgisches Agrarmuseum präsentiert noch heute eines jener Flugzeuge.
Kurz vor dem Stummen Frühling erregte die Thalidomid-Kontroverse die amerikanische Öffentlichkeit; unter dem Namen Contergan markierte dieses Beruhigungsmittel in Deutschland die erste große Pharma-Katastrophe, die ein Schlaglicht auf das Restrisiko der Medikamentenschwemme warf: auch das war von Bedeutung für Rachel Carsons nachhaltige Wirkung. Mehr als alles legte jedoch die von prominenten Wissenschaftlern unterstützte Bewegung gegen Atomwaffenversuche in der Atmosphäre die Grundlagen für das neue Umweltbewußtsein. Sie reicht bis zu dem Unglück des japanischen Fischerbootes»Glücklicher Drache«im März 1954 zurück, das in den Fallout einer amerikanischen Wasserstoffbombe geriet. Seit jener Zeit verband sich mit dem Fallout die neue panische Angst vor Krebs.
Eine entscheidende Leistung von Rachel Carson, die den Schlüssel zu der ungeheuren Wirkung ihres Buches liefert, bestand darin, daß sie die durch die Atomwaffenversuche hervorgerufenen Ängste auch auf die mit Pestiziden und anderen Errungenschaften der Chemie verknüpften Risiken übertrug. Auf diese Weise formierte sich ein kritisches Umweltbewußtsein, das über den punktuellen Protest und die Ein-Punkt-Bewegung hinausgelangte.
Von Bedeutung war gewiß nicht nur der Inhalt, sondern auch die literarische Form. Der Stumme Frühling war 1962 mit seiner Verbindung von Wissenschaft, Poesie und Protest ein Sachbuch neuen Typs. Zwar war es nicht das erste Buch, das auf eine globale Gefährdung der Umwelt durch den Menschen hinwies. Schon der Dust Bowl, die Staubsturm-Katastrophe der 1930er Jahre im amerikanischen Mittelwesten, hatte eine Alarm-Literatur hervorgebracht, die eine weltweite Bodenzerstörung als Folge unbedachter Agrarmethoden prophezeite. Aber das waren Bücher für ein begrenztes Publikum, nicht für die große Öffentlichkeit; zum Teil huldigten sie noch dem Glauben, die Bodenprobleme würden in aller Welt nach dem Vorbild des New Deal durch künstliche Bewässerung in großem Stil gelöst.
Auf der anderen Seite steht im deutschsprachigen Bereich ein Buch wie Der Tanz mit dem Teufel (1958) des steiermärkischen Försters Günter Schwab, der 1960 den Weltbund zum Schutze des Lebens mitbegründete, eine Keimzelle der späteren Anti-Kernkraft-Bewegung. Schwabs Buch war für jene Zeit vorzüglich recherchiert und gibt bereits ein Panorama vieler Themen der späteren Umweltbewegung. Auch eine eindringliche Warnung vor dem DDT findet sich schon dort – aber all das in keinem wissenschaftlichen, sondern in einem dämonologischen Gewand. Im Vergleich dazu erkennt man die speziellen Qualitäten von Silent Spring in seiner Zeit.
Rachel Carson, gelernte Biologin, wurde am 27. Mai 1907 in der Nähe von Pittsburgh geboren und musste mit 28 Jahren unter dem Druck familiärer Not ihre wissenschaftliche Karriere abbrechen. Von jung auf hegte sie den Ehrgeiz, wenn nicht eine berühmte Wissenschaftlerin, so doch eine berühmte Schriftstellerin zu werden und dafür ihre wissenschaftliche Kompetenz zu nutzen. Bereits 1951 gelang ihr mit The Sea Around Us (deutsch: Geheimnisse des Meeres) ein populäres Sachbuch, das fast zwei Jahre ohne Unterbrechung auf der Bestsellerliste der New York Times stand und in über dreißig Sprachen übersetzt wurde. Dieser Erfolg ermöglichte es ihr, ihre Stelle im U. S. Fish and Wildlife Service aufzugeben und sich ganz der Schriftstellerei und den auf eigene Faust betriebenen Recherchen zu widmen, wobei ihre Kontakte zu staatlichen Forschungsstellen und Gesundheitsbehörden weiterhin nützlich blieben.
Im Laufe der 1950er Jahre machte Rachel Carson eine Wandlung durch. Auf die vom massenhaften DDT-Einsatz drohenden Gefahren war sie schon lange vorher, im Zuge des ersten Großeinsatzes dieses Pestizides im Zweiten Weltkrieg, aufmerksam geworden. Bereits 1945 hatte sie vergeblich versucht, einen Artikel in den Reader’s Digest zu bringen, der in Zweifel zog, ob DDT tatsächlich nur unerwünschte Insekten ausrottete. Damals war die Öffentlichkeit für solche Warnungen noch nicht reif; und Rachel Carson, noch im Staatsdienst, mußte vorsichtig sein. In den 50er Jahren war sie frei. Zu einer Zeit, als die institutionalisierte Wissenschaft durch ihre fortschreitende Spezialisierung immer unfähiger wurde, große Themen auf umfassende Art in Angriff zu nehmen, sprang sie gleichsam als wissenschaftliche Privatdetektivin in diese Lücke ein. Befreiung bedeutete jene Zeit auch in ihrem persönlichen Leben: Die unverheiratete Frau, deren Leben bis dahin ganz von sachlichen Imperativen beherrscht worden war, lebte jetzt eine leidenschaftliche Frauenliebe aus, zu Dorothy Freeman, und fand dort den emotionalen Rückhalt für das große Wagnis ihres Lebens, die Arbeit an Silent Spring.
In das Glück mischte sich jedoch mehr und mehr die Angst: Gerade in der Zeit, in der sie an dem Buch schrieb, mehrten sich die Symptome für jene schwere Krebserkrankung, an der sie am 14. April 1964, auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, starb. Ihre persönliche Erfahrung ging synchron mit einem säkularen Wandel der großen Krankheitsängste der Menschheit: Waren es bis in die 50er Jahre die epidemischen Infektionskrankheiten, die die Menschen traumatisierten, wurde um 1960 vor allem in den wohlhabenden Industriestaaten der Krebs zum Schrecken der Menschen. Zugleich zeigte die Statistik, daß Schadstoffe in der Luft das Krebsrisiko drastisch erhöhen. Die Reinhaltung der Luft, bis dahin meist nur eine Angelegenheit unterer Instanzen der Kommunalverwaltung, avancierte zum Politikum und zur großen nationalen Aufgabe, in den USA wie in Europa. Diese Vorgänge stehen an der Basis jenes»Umweltbewußtseins«, das ab 1970 auf der ganzen Welt als Wahrzeichen einer neuen Ära galt.
»Umweltbewußtsein«war und ist bei vielen zugleich Gesundheitsbewußtsein; auch dafür steht Rachel Carson. Als sie sich mit den Risiken der Chemie und der Radioaktivität befaßte, mußte sie auch für sich selbst eine ganz persönliche Risikoabwägung treffen: ob sie sich auf eine Strahlentherapie und harte chemische Methoden einlassen sollte. In der Not entschied sie sich zeitweise für radioaktive Bestrahlung, mußte gleichwohl erleben, daß sich ihr Krebsleiden dennoch verschlimmerte. Der tiefe Ernst, aus dem heraus ihr Buch entstand, hat den Eindruck auf seine Leser nicht verfehlt, obwohl Rachel Carson ihre schwere Krankheit vor der Öffentlichkeit verheimlichte.
Zehn Jahre früher hatte DDT – ob zu Recht oder zu Unrecht – noch in weiten Teilen der Welt als die Wunderwaffe gegen Malaria gegolten. Obwohl seine unerwünschten Nebenwirkungen in Fachkreisen schon damals bekannt waren – zumindest bei denen, die es wissen wollten –, hätte dieses Pestizid zu jener Zeit noch nicht zum Symbol für die Gefährdung der Menschheit durch ihre eigenen Fortschritte getaugt. 1962 dagegen war die Stimmung umgeschlagen, zumindest in den USA. Der damalige Präsident John F. Kennedy, der für seinen intellektuellen Braintrust berühmt wurde und gerne seine Aufgeschlossenheit für neue Wissenschaft und Reformen demonstrierte, griff prompt Rachel Carsons Warnungen auf. Bereits vor seiner Veröffentlichung hob er einem Reporter gegenüber die Bedeutung des Buches hervor, und im Frühjahr 1963 wurde die Autorin vor das President’s Advisory Committee geladen. Hier wie anderswo kam die»Umweltbewegung«nicht nur von unten – auch Top-down-Impulse wurden wichtig. Die Anhörung blieb allerdings zunächst folgenlos; zu einem Verbot des DDT kam es in den USA erst 1972. Gerade Ende der 60er Jahre, als die Amerikaner durch den Vietnamkrieg gespalten waren, bot sich der Umweltschutz als integrative nationale Aufgabe an. Ähnliches galt um 1969/70 für die neue sozialliberale Koalition in Bonn.
Warum lohnt sich die Lektüre des Stummen Frühling noch heute? Eine Archäologie des Umweltbewußtseins entdeckt gewiß nicht nur Zukunftsträchtiges, sondern auch manches Zeitgebundene; das gilt auch für Rachel Carson. Es gibt keinen Grund, die mittlerweile historischen Züge dieses Buches zu verleugnen. Auf welche Weise ist Rachel Carson nach wie vor aktuell? Dazu einige Gedanken.
(1) Wie schon Max Weber erkannt hat, ist es das Schicksal aller charismatischen Bewegungen, über kurz oder lang – oft schon ziemlich rasch – Prozessen der Veralltäglichung, der Rationalisierung und der Bürokratisierung zu unterliegen. Vom Urchristentum bis zum Sozialismus hat sich dieser Vorgang regelmäßig wiederholt, und auch das Schicksal der Umweltbewegung in den letzten dreißig, vierzig Jahren bietet ein Beispiel dafür. Überall in der Welt ist der Umweltschutz zur Sache von Bürokraten geworden. Viele professionelle Umweltschützer merken heute gar nicht mehr, in welchem Maße sie in einem Insider-Jargon fachsimpeln, der für Außenstehende unverständlich und ungenießbar ist. Vieles an dieser Entwicklung ist vermutlich mehr oder weniger unvermeidlich.
Da ist der Stumme Frühling mit seiner klaren, schönen, eindringlichen Sprache und seiner verhaltenen Leidenschaft eine Erinnerung an die charismatische Zeit, den vitalen Ursprung des Umweltbewußtseins. Da die Geschichte der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt stets voller Überraschungen ist, werden solche Neuanfänge immer wieder nötig
(2) Rachel Carsons Schlußkapitel Der andere Weg läßt dem heutigen Leser zunächst die Zeitgebundenheit des Buches erkennen. »What should we do?«, war die Frage, die der Autorin am häufigsten gestellt wurde – und darauf wußte sie keine emphatische Antwort. Sie schrieb eben noch vor dem Aufstieg des biologischen Landbaus und mußte sich ihre Alternativen zum harten Weg der Pestizide mühsam zusammensuchen. Das Buch besitzt nicht jenes volltönende Finale, das in der Zeit der großen»grünen«Visionen in den 70er und 80er Jahren beliebt wurde.
Heute ist jedoch diese visionäre Zeit vorbei. Es sieht so aus, als ob sich Umweltschützer von der Vorstellung verabschieden müssen, es gebe für die großen Umweltprobleme der Erde eine große, endgültige Lösung, ob Silizium, solarer Wasserstoff, Fahrrad, arbeitsintensiver Öko-Landbau oder Kyoto-Protokoll. Für vieles scheint es nur regionenspezifische Lösungen zu geben, und auch diese dürften oft nur vorläufig sein, teilweise experimentellen Charakter tragen und aus der Kombination mehrerer Pfade bestehen.
Aber gerade in dieser Situation lohnt es sich, den Stummen Frühling neu zu lesen. Wie das Buch zeigt, braucht man nicht unbedingt eine große Utopie, um Großes anzustoßen. Rachel Carson hat ihr Buch auf öffentliche Wirkung angelegt, ja die Effekte sorgfältig kalkuliert; und doch bleibt sie nüchtern und ehrlich. Sie weiß, ganz verzichten kann man auf Pflanzenschutzmittel nicht. Auf großflächigem modernem Landbau gibt es kein Zurück zum Unkrautjäten mit der Hacke. Gerade der pfluglose Landbau, der heute auf leichten Böden vordringt, braucht Pflanzenschutzmittel sogar noch nötiger als der herkömmliche, der das Unkraut unterpflügt. Nicht so sehr mit ihren konkreten Alternativvorschlägen, aber mit ihrem Stil und ihrem Ethos könnte Rachel Carson heutigen Diskussionen über ökologischen Landbau ein Vorbild geben.
(3) Spricht man von der»Umweltbewegung«, sollte man nicht vergessen, daß der Begriff»Bewegung«hier lediglich eine Metapher sein kann. Den wirklich treffenden Begriff zu finden ist nicht leicht; am ehesten könnte man von einer wechselnden Vernetzung diverser Netzwerke sprechen, so unbefriedigend das klingt. Die einzelnen Elemente des heutigen Umweltbewußtseins – Waldschutz, Tierschutz, Naturschutz, Verbraucherschutz, Bodenschutz, Heimatschutz, Reinhaltung der Luft und des Wassers,»naturnahe«Lebensweise – haben, für sich genommen, bereits eine lange, teilweise über Jahrhunderte zurückreichende Geschichte; das Neue waren in den 1960er Jahren die Vernetzung, die Menschheitsdimension und die politische Handlungsfähigkeit. Und dennoch geschah die Vernetzung oft nur oberflächlich und rhetorisch. In der Verwaltungspraxis blieben die Bereiche weiterhin getrennt, und als populäre Bewegungen kamen und kommen sie einander ins Gehege: Schutz der Wildnis gegen nachhaltige Forstwirtschaft, Vogelschutz gegen Windrotoren, Renaturierung der Flüsse gegen Wasserkraftnutzung.
Auch in den USA sind»conservation«und»preservation«, nachhaltige Ressourcennutzung und Erhaltung der unberührten Wildnis, über weite Strecken unterschiedliche, manchmal einander feindselige Traditionen. Da ging von Rachel Carson und dem Silent Spring eine integrative Kraft aus. Wie selbstverständlich bildeten Schutz der Natur und Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen eine Einheit: Nicht zuletzt darauf beruhte die Wirkung des Buches. Mehr noch: Auch die Naturliebe Rachel Carsons war vielseitiger Art. Als Meeresbiologin hegte sie ein besonderes Mitgefühl mit den Lachsen: Es rührte sie, wie diese Fische aus dem Meer, das so reich an Nährstoffen ist, unter viel Mühen und Gefahren wieder flußaufwärts in ihre Heimat zurückkehren. Silent Spring appellierte jedoch zuerst und vor allem an die Liebe zu den Vögeln, wie denn die Vogelschützer vielerorts von Anfang an die Kerntruppe des Naturschutzes waren. Aber auch für die Insekten, die Opfer der Vögel, vermochte sich Rachel Carson zu begeistern. Diese Fähigkeit ist etwas Besonderes. Bis heute sind die Naturschützer untereinander uneins; sie reden von der Liebe zur»Natur«, lieben jedoch in Wahrheit nur bestimmte Arten. Rachel Carsons Naturliebe war vielseitig und vielgestaltig; sie könnte ein Vorbild sein gerade in einer Situation, in der sich die Umweltbewegung wieder in ihre Bestandteile aufzulösen droht.
(4) Ein Kapitel des Stummen Frühling schildert die modernen Menschen als»Gäste der Borgias«, ja setzt noch eins drauf mit der Überschrift, daß die Bescherungen der modernen Chemie»die kühnsten Träume der Borgias«überträfen, der berüchtigsten Giftmörder der Renaissance. Das war eine Konzession an den Stil der Sensationsliteratur. Anders als die Gifte der Borgias werden ja die modernen Umweltgifte der Erde und ihren Bewohnern nicht etwa in böser Absicht verabreicht, sondern ganz im Gegenteil mit den besten Vorsätzen. Und in aller Regel führen sie nicht zum plötzlichen Tod, sondern zu einem schleichenden Unwohlsein. Gewiß hätte Rachel Carson das nicht bestritten.
Insgesamt gesehen ist ihr Buch jedoch mit dem Aufbau von Feindbildern eher zurückhaltend, ja unschlüssig; das unterscheidet sie von einem Robert Jungk. Die Militärmaschinerie des Zweiten Weltkrieges, die Chemische Industrie, das Agrarministerium, aber auch die moderne, speziell amerikanische Zivilisation erscheinen als Quelle des Übels. Sie erinnert sogar daran, wie es ausgerechnet das Ulmensterben war, das zu einem der ersten Großeinsätze von DDT führte: die Bemühungen um die Rettung eines in den USA besonders beliebten Baumes! In der Tat: In der Umweltgeschichte gibt es keine Welten des Guten und des Bösen, die voneinander durch eine tiefe Kluft getrennt wären. Oft entstanden Umweltschäden aus besten Absichten. Starre Feindbilder können den Umweltschutz fehlleiten. Viele Umweltprobleme bieten keine Zielscheibe für Demonstranten.
Auch da kann man von Rachel Carson manches lernen. Zwar sprach sie ein Hauptproblem des Umgangs mit neuen Umweltrisiken noch nicht deutlich an: daß es sich teilweise um hypothetische, empirisch nicht eindeutig nachgewiesene Risiken handelt und der Umgang mit dieser Unsicherheit eine Schwierigkeit präventiver Umweltpolitik ist. Im heutigen Panorama der Umweltrisiken nimmt das DDT keine so prominente Stelle mehr ein wie im Stummen Frühling. Und doch waren ihre Warnungen auch aus heutiger Sicht wohlbegründet.
(5) Rachel Carson war eine große Warnerin, aber sie trat betont sachlich auf und vermied aufgeregte Töne. Es gelang nicht, sie zur Hysterikerin zu stempeln, auch wenn ihre Gegner das versuchten. Undenkbar, daß sie mit schriller Stimme ins Mikrophon geschrien oder eine subjektiv empfundene Angst zum Argument gemacht hätte. Stets legte sie in ihrem Stil großen Wert auf gute, ja elegante Form. Dafür verkörperte sie eine ruhig gesammelte, aus tiefer Naturfreude, aber auch aus dem Leiden hervorgegangene Leidenschaft: jene Leidenschaft, die nach Max Weber die Quelle schöpferischer Wissenschaft ist. Diese Leidenschaft spürt man bei der Lektüre des Stummen Frühling noch heute, und darin besteht vielleicht seine größte Aktualität.
Bielefeld, im Januar 2007 |
Joachim Radkau |
Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben schienen. Die Stadt lag inmitten blühender Farmen mit Kornfeldern, deren Gevierte an ein Schachbrett erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängen der Hügel, wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben. Im Herbst entfalteten Eiche, Ahorn und Birke eine glühende Farbenpracht, die vor dem Hintergrund aus Nadelbäumen wie flackerndes Feuer leuchtete. Damals kläfften Füchse im Hügelland, und lautlos, halb verhüllt von den Nebeln der Herbstmorgen, zog Rotwild über die Äcker.
Den Großteil des Jahres entzückten entlang den Straßen Schneeballsträucher, Lorbeerrosen und Erlen, hohe Farne und wilde Blumen das Auge des Reisenden. Selbst im Winter waren die Plätze am Wegesrand von eigenartiger Schönheit. Zahllose Vögel kamen dorthin, um sich Beeren als Futter zu holen und aus den vertrockneten Blütenköpfchen der Kräuter, die aus dem Schnee ragten, die Samen zu picken. Die Gegend war geradezu berühmt wegen ihrer an Zahl und Arten so reichen Vogelwelt, und wenn im Frühling und Herbst Schwärme von Zugvögeln auf der Durchreise einfielen, kamen die Leute von weither, um sie zu beobachten. Andere kamen, um in den Bächen und Flüssen zu fischen, die klar und kühl aus dem Hügelland strömten und da und dort schattige Tümpel bildeten, in denen Forellen standen. So war es gewesen, seit vor vielen Jahren die ersten Siedler ihre Häuser bauten, Brunnen gruben und Scheunen errichteten.
Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame schleichende Seuche auf, und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Irgendein böser Zauberbann war über die Siedlung verhängt worden: Rätselhafte Krankheiten rafften die Kükenscharen dahin; Rinder und Schafe wurden siech und verendeten. Über allem lag der Schatten des Todes. Die Farmer erzählten von vielen Krankheitsfällen in ihren Familien. In der Stadt standen die Ärzte immer ratloser den neuartigen Leiden gegenüber, die unter ihren Patienten auftraten. Einige Menschen waren plötzlich und unerklärlicherweise gestorben, nicht nur Erwachsene, sondern sogar Kinder, die mitten im Spiel jäh von Übelkeit befallen wurden und binnen weniger Stunden starben.
Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Wohin waren die Vögel verschwunden? Viele Menschen fragten es sich, sie sprachen darüber und waren beunruhigt. Die Futterstellen im Garten hinter dem Haus blieben leer. Die wenigen Vögel, die sich noch irgendwo blicken ließen, waren dem Tode nah; sie zitterten heftig und konnten nicht mehr fliegen. Es war ein Frühling ohne Stimmen. Einst hatte in der frühen Morgendämmerung die Luft widergehallt vom Chor der Wander- und Katzendrosseln, der Tauben, Häher, Zaunkönige und unzähliger anderer Vogelstimmen, jetzt hörte man keinen Laut mehr; Schweigen lag über Feldern, Sumpf und Wald.
Auf den Farmen brüteten die Hennen, aber keine Küken schlüpften aus. Die Farmer klagten, sie seien nicht mehr imstande, Schweine aufzuziehen. Jeder Wurf umfaßte nur wenige Junge, und sie lebten höchstens ein paar Tage. Die Apfelbäume entfalteten ihre Blüten, aber keine Bienen summten zwischen ihnen umher, und da sie nicht bestäubt wurden, konnten sich keine Früchte entwickeln.
Die einst so anziehenden Landstraßen waren nun von braun und welk gewordenen Pflanzen eingesäumt, als wäre ein Feuer über sie hinweggegangen. Auch hier war alles totenstill, von Lebewesen verlassen. Selbst in den Flüssen regte sich kein Leben mehr. Keine Angler suchten sie auf, denn alle Fische waren zugrunde gegangen.
In den Rinnsteinen, unter den Traufen und zwischen den Schindeln der Dächer zeigten sich noch ein paar Fleckchen eines weißen körnigen Pulvers; es war vor einigen Wochen wie Schnee auf die Dächer und Rasen, auf die Felder und Flüsse gerieselt.
Kein böser Zauber, kein feindlicher Überfall hatte in dieser verwüsteten Welt die Wiedergeburt neuen Lebens im Keim erstickt. Das hatten die Menschen selbst getan.
Diese Stadt gibt es in Wirklichkeit nicht, aber ihr Ebenbild könnte sich an tausend Orten in Amerika oder anderswo in der Welt finden. Ich kenne keine Gemeinde, der all das Mißgeschick, das ich beschrieben habe, widerfahren ist. Doch jedes einzelne dieser unheilvollen Geschehnisse hat sich tatsächlich irgendwo zugetragen, und viele wirklich bestehende Gemeinden haben bereits eine Reihe solcher Unglücksfälle erlitten. Fast unbemerkt ist ein Schreckgespenst unter uns aufgetaucht, und diese Tragödie, vorerst nur ein Phantasiegebilde, könnte leicht rauhe Wirklichkeit werden, die wir alle erleben.
Was geht hier vor, was hat bereits in zahllosen Städten Amerikas die Stimmen des Frühlings zum Schweigen gebracht? Dieses Buch will versuchen, es zu erklären.
Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist stets eine Geschichte der Wechselwirkung zwischen den Geschöpfen und ihrer Umgebung gewesen. Gestalt und Lebensweise der Pflanzen wie der Tiere der Erde wurden von der Umwelt geprägt. Berücksichtigt man das Gesamtalter der Erde, so war die entgegengesetzte Wirkung, kraft der lebende Organismen ihre Umwelt tatsächlich umformten, von verhältnismäßig geringer Bedeutung. Nur innerhalb des kurzen Augenblicks, den das jetzige Jahrhundert darstellt, hat eine Spezies – der Mensch – erhebliche Macht erlangt, die Natur ihrer Welt zu verändern.
Während des vergangenen Vierteljahrhunderts ist diese Macht nicht nur gewachsen und hat ein beängstigend großes Ausmaß erreicht, sie hat auch andere Formen angenommen. Der unheimlichste aller Angriffe des Menschen auf die Umwelt ist die Verunreinigung von Luft, Erde, Flüssen und Meer mit gefährlichen, ja sogar tödlichen Stoffen. Dieser Schaden läßt sich größtenteils nicht wiedergutmachen. Nicht nur in der Welt, die alle Lebewesen ernähren muß, sondern auch im lebenden Gewebe löst die Verunreinigung eine Kette schlimmer Reaktionen aus, die nicht mehr umkehrbar sind. In dieser alles umfassenden Verunreinigung der Umwelt sind Chemikalien die unheimlichen und kaum erkannten Helfershelfer der Strahlung; auch sie tragen unmittelbar dazu bei, die ursprüngliche Natur der Welt – die ursprüngliche Natur ihrer Geschöpfe – zu verändern. Strontium 90, das durch Kernexplosionen in die Luft abgegeben wird, fällt mit dem Regen zur Erde oder schwebt als radioaktiver Niederschlag herab, setzt sich im Boden fest, gelangt in das Gras, den Mais oder den Weizen, die dort angepflanzt werden, und lagert sich mit der Zeit in den Knochen eines menschlichen Wesens ab, um dort bis zu dessen Tode zu verbleiben. In ähnlicher Weise liegen chemische Mittel, die über Ackerland, Wälder oder Gärten gesprüht werden, lange im Boden und werden in lebende Organismen aufgenommen; von Vergiftung und Tod begleitet, gehen sie in der Nahrungskette von einem zum anderen über. Oder sie wandern geheimnisvoll in unterirdischen Wasserläufen, bis sie wieder zutage treten und durch die Alchemie von Luft und Sonnenlicht neue Verbindungen bilden, die den Pflanzenwuchs vernichten, das Vieh krank machen und unbekannten Schaden bei denen anrichten, die aus den einst reinen Quellen trinken. Wie Albert Schweitzer sagt:»Der Mensch kann die Teufel, die er selbst geschaffen hat, nicht einmal mehr wiedererkennen.«
Es dauerte Hunderte von Millionen Jahren, die Lebewesen hervorzubringen, die jetzt die Erde bewohnen – Äonen, in denen dieses Leben sich entfaltete, weiterentwickelte und die verschiedensten Formen annahm, bis es einen Zustand erreichte, in dem es der Umgebung angepaßt und mit ihr im Gleichgewicht war. Die Umwelt, die das Leben, das sie unterhielt, unerbittlich gestaltete und beeinflußte, barg feindliche wie fördernde Elemente. Von bestimmten Gesteinen ging eine gefährliche Strahlung aus; sogar das Sonnenlicht enthielt kurzwellige Strahlen, die schädigend wirken konnten. Gewährt man dem Leben Zeit – nicht Jahre, sondern Jahrtausende –, paßt es sich an, und so hat sich schließlich ein Gleichgewicht eingestellt. Denn dazu braucht es vor allem Zeit; an Zeit jedoch fehlt es in der heutigen Welt.
Der schnelle Wandel und die Geschwindigkeit, mit der immer neue Situationen geschaffen werden, richten sich mehr nach dem ungestümen und achtlosen Hasten des Menschen als nach dem bedächtigen Gang der Natur. Bei der Strahlung handelt es sich nicht mehr allein um die Strahlung, die im Hintergrund wirkt und aus dem Gestein stammt, um den Beschuß durch kosmische Strahlen oder um das ultraviolette Licht der Sonne; sie waren vorhanden, ehe es Leben auf der Erde gab. Jetzt ist Strahlung die unnatürliche Schöpfung des Menschen, der tolpatschig mit dem Atom experimentiert. Und bei den Chemikalien, an die Lebewesen ihren Stoffwechsel anzupassen haben, handelt es sich nicht mehr nur um Kalzium, Kieselerde, Kupfer und all die übrigen Minerale, die aus dem Gestein ausgewaschen und von Flüssen ins Meer befördert werden; jetzt geht es um synthetische Erzeugnisse des erfinderischen Menschengeists, die in Laboratorien zusammengebraut werden und kein Gegenstück in der Natur haben.
Sich an diese Chemikalien anzupassen würde Zeit in einem Maßstab erfordern, wie er der Natur eigen ist; dafür wären nicht nur die Jahre eines Menschenlebens, sondern die von Generationen nötig. Doch selbst wenn dies durch ein Wunder möglich würde, wäre damit nichts geholfen, denn die neuen Chemikalien kommen in einem endlosen Strom aus unseren Laboratorien; nahezu fünfhundert finden allein in den Vereinigten Staaten jährlich den Weg zum Verbraucher. Die Zahl ist niederschmetternd, und die Folgerungen, die sich daraus ergeben, lassen sich schwer ermessen – fünfhundert neue chemische Verbindungen, an die sich der Körper des Menschen und der Tiere jedes Jahr irgendwie anpassen soll, alles Substanzen, die völlig außerhalb des biologischen Erfahrungsbereichs liegen.
Darunter befinden sich viele, die im Kampf des Menschen gegen die Natur verwendet werden. Ungefähr seit dem Jahre 1945 sind über zweihundert neue chemische Ausgangsstoffe hergestellt worden; sie dienen dazu, Insekten, Unkraut, Nagetiere und andere Organismen zu vernichten, die in der modernen Sprache als»Schädlinge«bezeichnet werden; und diese Chemikalien werden unter ein paar tausend verschiedenen Handelsbezeichnungen verkauft.
Diese Spritz- und Sprühmittel, Pulver und sogenannten Aerosole – feinst verteilte Schwebstoffe als Rauch oder flüssig als Nebel – werden jetzt fast allgemein für Farmen, Gärten, Wälder und Wohnungen gebraucht. Es sind Chemikalien, die ohne Unterschied oder, wie man sagt, nicht selektiv wirken. Ihre Macht ist groß: Sie töten jedes Insekt, die»guten«wie die»schlechten«, sie lassen den Gesang der Vögel verstummen und lähmen die munteren Sprünge der Fische in den Flüssen. Sie überziehen die Blätter mit einem tödlichen Belag und halten sich lange im Erdreich – all dies, obwohl das Ziel, das sie treffen sollen, vielleicht nur in ein wenig Unkraut oder ein paar Insekten besteht. Kann irgend jemand wirklich glauben, es wäre möglich, die Oberfläche der Erde einem solchen Sperrfeuer von Giften auszusetzen, ohne sie für alles Leben unbrauchbar zu machen? Man sollte die Stoffe nicht Insektizide, Insektenvertilgungsmittel, sondern»Biozide«, Töter allen Lebens, nennen.
Das ganze Spritzverfahren scheint in einer endlosen Spirale gefangen zu sein. Seit DDT für den zivilen Gebrauch freigegeben wurde, mußten in einer stufenweisen Weiterentwicklung immer noch tödlichere Stoffe gefunden werden. Dies geschah, weil Insekten – in einer glänzenden Bestätigung des Darwinschen Satzes vom Überleben der Tauglichsten – Superrassen entwickelten, die gegen das in ihrem Fall angewandte Insektizid immun waren. Man mußte daher ein tödlicher wirkendes – und dann ein noch stärkeres – entwickeln. Dazu kam es aber auch, weil aus Gründen, die später geschildert werden sollen, schädliche Insekten nach dem Spritzen oft plötzlich in größerer Zahl als vorher wieder auftauchten oder sich ausbreiteten. So ist der chemische Krieg niemals gewonnen, und in seinem heftigen Kreuzfeuer bleibt alles Leben auf der Strecke.
Neben der Möglichkeit, die Menschheit in einem Atomkrieg auszurotten, ist das Kernproblem unseres Zeitalters daher die Verunreinigung der gesamten Umwelt des Menschen geworden; sie erfolgt mit Substanzen, denen eine unglaubliche und heimtückische Macht innewohnt, Schaden anzurichten: Diese Stoffe reichern sich in den Geweben von Pflanzen und Tieren an, sie dringen selbst in die Keimzellen ein und zerstören oder verändern das Erbgut, von dem die Gestaltung der Zukunft abhängt.
Einige Leute, die sich gerne als Baumeister unserer Zukunft ausgeben, sehnen eine Zeit herbei, in der es möglich sein wird, das menschliche Keimplasma planmäßig zu verändern. Dabei kann es durchaus sein, daß wir dies durch Unachtsamkeit jetzt bereits vollbringen, denn viele chemische Stoffe führen, ebenso wie Strahlung, Genmutationen herbei. Es ist eine Ironie, wenn man bedenkt, daß der Mensch durch etwas anscheinend so Alltägliches wie die Wahl eines Spritzmittels gegen Insekten vielleicht seine eigene Zukunft bestimmt.
Auf all diese Wagnisse hat man sich eingelassen – und wofür? Künftige Historiker dürften sich mit Recht über unsere verschrobenen Vorstellungen von richtigen Größenverhältnissen höchlich wundern. Wie nur konnte ein intelligentes Wesen ein paar unerwünschte Arten von Geschöpfen mit einer Methode zu bekämpfen suchen, die auch die gesamte Umwelt vergiftete und selbst die eigenen Artgenossen mit Krankheit und Tod bedrohte?
Doch genau das haben wir getan. Wir haben es überdies aus Gründen getan, die hinfällig werden, sobald wir sie genau überprüfen. Man macht uns weis, daß der gewaltige und immer ausgedehntere Gebrauch von Schädlingsbekämpfungsmitteln nötig sei, um die Produktion der Landwirtschaft zu heben. Doch ist unser eigentliches Problem nicht die Überproduktion? Man hat zu der Maßnahme gegriffen, Ackerland brachliegen zu lassen und die Farmer zu bezahlen, damit sie es nicht bebauen, und trotzdem haben unsere Farmer einen so schwindelerregenden Ernteüberschuß, daß der amerikanische Steuerzahler im Jahre 1962 über eine Milliarde Dollar an jährlichen Gesamtverwaltungskosten für das Programm der Einlagerung überschüssiger Nahrungsmittel ausgab. Wird die Lage vielleicht gebessert, wenn eine Abteilung des Landwirtschaftsministeriums sich bemüht, die Produktion zu drosseln, während eine andere Abteilung, wie es im Jahre 1958 geschah, feststellt:»Man nimmt allgemein an, daß die Verkleinerung der Anbaufläche für Feldfrüchte gemäß den Bestimmungen der Bodenkreditbank das Interesse an der Verwendung chemischer Mittel wecken wird, um auf dem weiterhin bebauten Land ein Höchstmaß an Erträgen zu erzielen.«
All das soll nicht heißen, daß es kein Insektenproblem gibt und es nicht notwendig ist, Schädlinge unter Kontrolle zu halten. Ich will vielmehr damit sagen, daß diese Kontrolle genau auf gegebene Tatsachen, nicht aber auf erdichtete Situationen abgestimmt sein muß und nur solche Bekämpfungsmethoden angewandt werden dürfen, die nicht zugleich mit den Insekten uns selbst vernichten.
Das Problem, um dessen Lösung man sich unter so vielen unheilvollen Folgen bemüht, ist eine Begleiterscheinung unserer modernen Lebensweise. Lange vor dem Zeitalter des Menschen haben die Insekten als eine Gruppe außerordentlich mannigfaltiger und anpassungsfähiger Geschöpfe die Erde bewohnt. Seit dem Auftreten des Menschen hat ein kleiner Prozentsatz der über eine halbe Million Insektenarten sein Wohlergehen beeinträchtigt; das geschah hauptsächlich auf zweierlei Weise: als Nebenbuhler im Kampf um die Nahrung und als Überträger menschlicher Krankheiten.
Von Bedeutung sind Insekten, die Krankheiten übertragen, überall dort, wo menschliche Wesen sich in Massen zusammendrängen, besonders unter hygienisch ungünstigen Verhältnissen, wie sie in Kriegszeiten, bei Naturkatastrophen oder bei äußerster Armut herrschen. Dann wird eine Bekämpfung notwendig. Wie wir gleich sehen werden, ist es jedoch eine ernüchternde Tatsache, daß die Methode, chemische Mittel in großen Mengen einzusetzen, nur beschränkten Erfolg hatte und zudem gerade die Zustände, die sie beheben soll, nur zu verschlimmern droht.
Als der Farmer den Acker noch unter primitiven Bedingungen bestellte, hatte er mit Insekten wenig Schwierigkeiten. Probleme tauchten erst auf, als die Landwirtschaft intensiver betrieben wurde und man unendlich große Ländereien dem Anbau einer einzelnen Feldfrucht widmete. Ein solches System bildete den richtigen Rahmen für eine ungestüme, geradezu explosionsartige Zunahme der Populationen bestimmter Insekten (unter einer Population versteht man den gesamten Bestand einer Tierart in einem Gebiet). Wird nur eine einzelne Getreidesorte angepflanzt, macht sich der Farmer nicht die Grundregeln zunutze, nach denen die Natur arbeitet; es ist eine Landwirtschaft, die sich ein Ingenieur ausgedacht haben könnte. Die Natur hat für große Mannigfaltigkeit der Landschaft gesorgt, der Mensch jedoch hatte immer eine besondere Leidenschaft dafür, sie einheitlich zu gestalten. Auf diese Weise hebt er die hemmenden, das Gleichgewicht regulierenden Kräfte auf, durch die in der Natur die Arten in Schranken gehalten werden. Ein wichtiges natürliches Hindernis für eine bestimmte Art ist eine Begrenzung des geeigneten Lebensraumes. Ernährt sich ein Insekt von Weizen, kann es, wie einleuchtet, auf einer Farm, wo ausschließlich Weizen wächst, seinen Bestand weit stärker vermehren als auf Land, wo Weizen mit Feldfrüchten abwechselt, an die das Insekt nicht angepaßt ist.
Das gleiche ereignet sich bei anderen Gelegenheiten. Vor einer Generation oder noch früher wurden in den Städten ausgedehnter Gebiete der Vereinigten Staaten die Straßen mit der stattlichen Ulme eingesäumt. Jetzt ist diese schöne Zierde, die man damit zu schaffen hoffte, von völliger Vernichtung bedroht, weil unter den Ulmen eine Krankheit wütet. Sie wird von einem Käfer übertragen, der nur begrenzte Möglichkeit hätte, sich in großen Populationen anzusammeln und sich von Baum zu Baum weiterzuverbreiten, wenn die Ulmen nur vereinzelt in einem abwechslungsreichen Pflanzenbestand aufträten.
Noch ein anderer wesentlicher Umstand spielt beim heutigen Insektenproblem eine Rolle, und man muß bei ihm die geologische und menschliche Geschichte berücksichtigen, die den Hintergrund bildet: Tausende von verschiedenartigen Organismen haben sich ausgebreitet und sind von ihrer ursprünglichen Heimat in neue Landstriche vorgedrungen. Diese weltweite Wanderung ist von dem Ökologen Charles Elton studiert und in seinem jüngst erschienenen Buch ›The Ecology of Invasions‹ anschaulich geschildert worden. Vor einigen hundert Millionen Jahren, in der Kreidezeit, wurden viele Landbrücken zwischen Kontinenten vom Meer überflutet, und Lebewesen fanden sich nun in Räumen eingeschlossen, die Elton als»riesige getrennte Naturreservate«bezeichnet. Dort entwickelten sie, von anderen Vertretern ihrer Gattung abgeschnitten, viele neue Arten. Als manche der Landmassen sich vor ungefähr fünfzehn Millionen Jahren wieder vereinten, begannen diese Arten in neue Gegenden umzusiedeln – eine Wanderung, die nicht nur noch im Gange ist, sondern jetzt auch vom Menschen weitgehend gefördert wird.
An der heutigen Verbreitung der Arten ist vor allem die Einfuhr von Pflanzen wesentlich beteiligt; denn fast stets sind mit den Pflanzen auch Tiere eingeschleppt worden, zumal man eine Quarantäne erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit zu verhängen begann und sie keine radikale Wirkung hat. Die Einfuhrbehörde für Pflanzen in den Vereinigten Staaten hat allein zweihunderttausend Arten und Spielarten von Gewächsen aus aller Welt ins Land gebracht. Nahezu die Hälfte der rund hundertachtzig bedeutenderen Pflanzenfeinde unter den Insekten sind zufällig vom Ausland in die Vereinigten Staaten importiert worden, meist als»Mitreisende«auf Pflanzen.
In einer neuen Umwelt, dem Zugriff der natürlichen Feinde entzogen, die in ihrem Heimatland ihre Zahl niedrig hielten, können eine Pflanze oder ein Tier, die in ein Gebiet einfallen, ungeheuer überhandnehmen. Es ist daher kein Zufall, daß unsere lästigsten Insekten eingeschleppte Arten sind.
Wahrscheinlich werden diese unerwünschten Gäste, ob sie nun auf natürlichem Wege oder mit Beistand des Menschen kamen, unbegrenzt weiter einwandern. Quarantäne und Feldzüge mit einem Masseneinsatz von Chemikalien sind nur äußerst kostspielige Möglichkeiten, Zeit zu gewinnen. Nach Dr. Elton ist es für uns eine Existenzfrage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen; es ist notwendig, nicht nur neue technische Mittel zu finden, um diese Pflanze oder jenes Tier niederzuhalten; wir müssen vielmehr grundlegend Bescheid wissen über Tierpopulationen und ihre Beziehungen zur Umwelt,»um ein stetiges Gleichgewicht begünstigen und die explosive Gewalt dämpfen zu können, mit der Schädlinge zur Landplage werden und neue Gebiete überfallen«.