Die PAULΩDECKER-Saga
Band 1: GrünWELT
Band 2: Einsame Pfade (Mai 2011)
Band 3: Im Bann der Neuen Menschen
Band 4: Der Bund des Bösen
Band 5: Sternengesang
Books on Demand
Für Lena und Yannis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Druckfassung 5/2011
Copyright © 2010 by Reinhard Stransfeld
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8482-8069-8
Bildnachweise:
Rabe: copyright © by Alexander von Knorre
Baum (Krone): copyright © by Sifoxi
Baum (Stamm): copyright © by Eric Clapp/Fotolia
Paul: copyright © by Vitamin B/Fotolia
Urmensch: copyright © by Brüder „Kennis”/Senckenberg Museum Frankfurt/Main
bunter Grund: Vorlage Paul Klee, Tunesische Gärten
Himmel: copyright © by Bluberries/istockphoto
Blumen im Baum: copyright © by Jessica Dalcomo, Jenny Hofmann, Leyla Kotil,
Jessica Langeneck, Lena-Kristina Schweiss, Tanja Schwenkschuster,
entstanden im Rahmen der Musiktage 2008 an der
Geschwister-Scholl-Realschule in Bad Urach unter der Leitung von
Herrn Göpfert.
http://www.gsrbadurach.de/aktivitaeten/blumen_einzelarbeiten.html
eyes of a wolf: copyright © by cynoclub/istockphoto
Rückseite: Turmbau zu Babel (Pieter Bruegel, 1565)
Prolog
Kapitel 1 GrauWELT
Das Wasser bis zum Hals / Der Ärger fängt schon morgens an /Das Böse kommt auf leisen Sohlen /Überleben im Mike-Universum / Etwas muss sich ändern / Heldentum im Alltag / Unwirsche Hausherren / Paul bleibt Paul
Kapitel 2 GrünWELT: Erwachen
Ankunft / Morgenröte / Erkundungen / Einstürzende Gewissheiten / Zeit der Erklärungen / Albtraum ohne Erwachen
Kapitel 3 Idyll mit Störungen
Übungen im Gegenhalten / Ausflüge / Unerwarteter Verlauf eines Festes / Ein Aufbruch
Kapitel 4 Zurück auf GrauWELT
Zuhause /Der bittere Preis eines Sieges / Näherungen
Kapitel 5 Die Bedrohung
Wieder auf GrünWELT / Ein Plan wird ausgeheckt /Weg ins Dunkel/Karloff wird ausgetrickst
Kapitel 6 Im Wehrwald
Gefahr schmiedet zusammen / Paul im Dreck / Nächtliche Attacke / Düstere Aussichten
Kapitel 7 Gefahren lauern überall
Pauls Entscheidungen / Tribunale / Ozeanische Empfindungen / Geflügelter Donner / Karloff in Hochform /Vorkehrungen für eine Vergeltung
Kapitel 8 Einmal und nicht wieder!
Eine eigentlich unmögliche Bestrafung / Nachprüfungen / Flucht nach vorn / Letzter Flug eines Tollpatsches / Die Last der Verantwortung / Aufklärungen und Vertuschungen / Uzalas Ende
Kapitel 9 Die Suche wird fortgesetzt
Unangenehme Fragen und ernsthafte Erörterungen / Luft hat keine Balken / Überleben ist alles!
Kapitel 10 Der Eremit
Vorsichtige Annäherungen / Sicher ist sicher / Erstens kommt es anders… / Eine Danksagung
Kapitel 11 Eine denkwürdige Schlacht
Gewusst wie! / Pauls Weg in die Unsterblichkeit
Kapitel 12 In den Tiefen
Noch einmal Aufwärts / Abwärts / Im Bauch des Feindes
Kapitel 13 Das große Säubern
Eine Wiedergeburt / Alles fließt / Besser geht’s nicht
Kapitel 14 Nacharbeiten
Unter Schneckenköpfen / Die Befreiung
Kapitel 15 Abschied und Ankunft
Säulenheilige können tief stürzen / Ein Auftrag mit höchster Priorität / Wie immer!?
Danksagung
Die Hitze des Tages wich. Mit der nahenden Dämmerung strich, von den Bergen kommend, ein kühlender Windhauch über den Euphrat, streifte durch die Stadt und lockte die Menschen hervor, die sich vor der sengenden Mittagsglut zurückgezogen hatten. Die engen Gassen von Babel füllten sich, Wasserträger drängten durch die Menge, blökende Lastkamele wurden zum Marktplatz getrieben. Vor den Lehmhütten breiteten die Handwerker ihre Erzeugnisse aus: Körbe und Tongefäße, Wasserflaschen aus Ziegenhäuten und allerlei hölzernes Gerät. Allmählich fand sich kauflustige Kundschaft ein und das lautstarke Feilschen stieg mit der Brise zum Sitz des Herrschers empor.
König Hammurapi trat auf die Terrasse und ließ das Auge über die Stadt und sein Reich gleiten. Seine hoch gewachsene Gestalt, das stolz erhobene Haupt mit dem grau melierten Bart, schließlich der wache, durchdringende Blick, der Entschlossenheit verriet – all das machte ihn zu einer imposanten Erscheinung.
Heute war seine Entschlusskraft aufs Äußerste gefordert. In sich gekehrt, suchte er sich zu sammeln. Die tief stehende Sonne verwandelte den Fluss in einen goldenen Spiegel, die dunklen Saitenklänge der Oud, die sehnsüchtigen Melodien der Rohrflöten umschmeichelten das Ohr und die fächelnde Brise trug die würzigen Düfte der Kochstellen heran, lockten den Gaumen mit Lamm und Fladenbrot, Thymian und Koriander. Doch seine Sinne waren gefangen, er sah, hörte und schmeckte es kaum. In den nächsten Stunden noch musste er eine Entscheidung fällen, und es fiel ihm unendlich schwer, eine Wahl zu treffen.
Wer hätte vorhersehen können, dass der Bau eines Turmes als ein bleibendes Zeichen seiner Regentschaft im starken Reich am Euphrat ihm so viel Kopfzerbrechen bereiten würde? Denn wie sollte der Bau ausgeführt werden? Aus Gestein und hart gebrannten Lehmziegeln, wie es seine Baumeister und viele Berater vorschlugen, dem herkömmlichen Gewerk verschrieben?
Oder sollte er für dieses, in seinen himmelstürmenden Dimensionen einzigartige Bauwerk die gewagte Vorstellung der Baumhüter verwirklichen: den Turm „wachsen” lassen? Sie konnten bereits beeindruckende Beweise ihrer Fähigkeiten vorzeigen, mit den Bäumen zu „sprechen” und sie zu „überreden”, sich den Wünschen der Menschen zu fügen. Doch würde es gelingen, allein durch den Wuchs von Bäumen bis zu den Wolken vorzustoßen? Würde ein solches Gebilde stabil sein? Und - vor allem - wie viel Zeit würde das Wachstum beanspruchen, bis das Werk vollendet wäre?
Zuweilen spürte er, dass seine Kräfte ihm nicht mehr so selbstverständlich zur Verfügung standen wie noch vor wenigen Jahren. Er musste sich der bitteren Wahrheit, der Endlichkeit auch seines Lebens, stellen.
Wollte er den Turm noch in Vollendung sehen und sich als größten Baumeister auf Erden preisen lassen, durfte er nicht länger abwägen.
Zudem drängten die Priester, in der ersten Stunde des folgenden Tages mit dem Bau zu beginnen. Nur dann, so ihre Berechnungen, wäre der Segen der Götter gewiss. Was also sollte er sagen, wenn der Ältestenrat, zum Einbruch der Nacht einberufen, ein letztes Mal das Für und Wider beider Vorschläge diskutieren und er abschließend seinen endgültigen Willen verkünden müsste?
Dunkelheit lag über Babel, aufgehellt von den Lichtern der Stadt und dem matten Glanz des sternenübersäten Firmaments. Im Ratssaal suchten die führenden Vertreter beider Auffassungen mit hitzigen Reden den Herrscher für ein Votum in ihrem Sinne einzunehmen. Wiederum ward offenbar, dass es keinen Kompromiss geben konnte. Nur einer der beiden Wege konnte eingeschlagen werden. Einmal gewählt, gab es kein Zurück.
Und es geschah, wie Hammurapi befürchtet hatte: Beide Seiten rühmten die Vorzüge ihres Konzeptes und legten mit staunenswertem Scharfsinn die Schwächen des Gegenvorschlags bloß. Priesen die einen die Härte und Belastbarkeit des Steines, geißelten die anderen dessen lebensferne Strenge und abweisende Kühle im Winter.
Stellten sie dann die Formbarkeit des Holzes als Vorzug heraus, beschworen die anderen das Menetekel eines großen Brandes. Jedes Argument war auf seine Weise richtig. Er konnte niemanden der haltlosen Prahlerei oder der Verleumdung bezichtigen und enthaupten lassen, um auf diese Weise die Entscheidungsfindung zu erleichtern. Sein Gerechtigkeitsempfinden stände einem solch wohlfeilen Ausweg entgegen.
So befand sich Hammurapi wiederum, nun zu später Stunde, allein auf der Terrasse, hoch über der Stadt. Silbern spiegelten die Wasser des Euphrats das Mondlicht, auf ihrem Weg zum fernen Golf. Düfte und Klänge im Geleit des milden nächtlichen Windhauchs umhüllten ihn mit den Verheißungen der Stadt. Doch ihm war, als wäre er unter einer Glocke von diesem sinnesfrohen Leben abgeschlossen – der Qual der Entscheidung ausgesetzt. Er, für seine strenge und gerechte Urteilsfindung gerühmt, dessen kühne Entschlossenheit Garant des Sieges in zahllosen Kämpfen mit räuberischen Nachbarn gewesen, war wie gelähmt.
Wie hätte er wissen können, dass sein Problem eine Lösung fand, die sich seinen kühnsten Vorstellungen entzog? Mehr als ein Jahrtausend später ging der Turmbau zu Babel eines anderen Königs in die Geschichte ein. Doch mussten annähernd vierzig Jahrhunderte ins Land ziehen, bis die Folgen jener Nacht, in der König Hammurapi nicht entscheiden konnte, sich in ihrer Ungeheuerlichkeit den Menschen offenbarten. Danach war alles anders.
Paul rannte. Über die Schulter ein gehetzter Blick zurück – der Kaufhausdetektiv schnaufte vernehmlich, hatte aber noch nicht aufgegeben, sprach ins Handy. <<Der sagt den anderen Bescheid>> schoss es ihm durch den Kopf. Doch erst einmal zur Rolltreppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang er abwärts. <<Oh!> Unten stand bereits einer, um ihn in Empfang zu nehmen. Pauls Blick irrte umher, dann wusste er, was zu tun war.
Seitlich über den Handlauf gegrätscht, landete er zwei Meter tiefer in der Dessousabteilung, Modern Fashion. Er lief am Spalier der Ständer entlang, schnappte sich einen BH, umbra, Körbchengröße AAA, und riss im Rennen die Verpackung auf.
Die wenigen Kunden waren stehen geblieben und gafften auf das ungewöhnliche Geschehen. Unterdessen war einer der Hausdetektive ihm dicht auf den Fersen, schon meinte Paul, seinen keuchenden Atem im Nacken zu spüren. Im Vorbeifegen packte er einen Rundständer und riss ihn um, sodass er hinter seinem Rücken scheppernd zu Boden fiel.
Der Verfolger stürzte mit einem Schmerzensschrei. Ehe er sich ächzend aufraffen konnte, war Paul heran, stemmte ihm einen Fuß ins Kreuz, stülpte die BH-Körbchen über seine Augen und verknotete das zweckentfremdete Dessousteil straff am Hinterkopf. Fluchend taumelte der plötzlich Erblindete auf die Beine und stieß gegen einen Rollständer, der sich daraufhin zu einer Erkundungstour zwischen den Krabbeltischen anschickte.
Derweil kämpfte der Detektiv mit dem Sichthindernis, irgendwer kicherte unterdrückt. Über Nase und Kinn herunter gezerrt, baumelte der BH schließlich wie eine Schweißerbrille vor seiner Brust. Wild schaute er sich um.
Zu spät. Paul war unterdessen ins Treppenhaus in der Rückfront des Kaufhauses verschwunden. <<Die warten bestimmt vor den Ausgängen>> Er hastete zur dritten Etage hinauf. Sein Kalkül ging auf, niemand hatte dort mit ihm gerechnet. Unbehelligt nahm er den Fahrstuhl zur Tiefgarage und marschierte seelenruhig über die Ausfahrtrampe hinaus.
<<Puh>> Im Nachhinein zitterten ihm die Knie. Erst einmal in einen Coffee-Shop, um durchzuatmen. Ein abgedroschenes Sprichwort fiel ihm ein: 'Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht'.
Im Grunde konnte er sich nicht beklagen, war er doch noch einmal davon gekommen. Lange genug hatte er es provoziert. Seit einigen Monaten pflegte er seinen kleinen Bedarf - Kugelschreiber, Nussriegel, Schreibblöcke - quittungsfrei zu erwerben. Sein Leben, so wie es war… <<Das sind die mir schuldig>> Die, das waren fast alle anderen. Weil die besser dran waren als er.
Seine wertvollste Beute bisher war eine handbemalte Seidenkrawatte gewesen, für Vater zum Geburtstag. Er war damals ziemlich stolz auf sich. Die Situation war heikel und er unglaublich cool. Aber heute? Eigentlich simpel, eine lumpige Packung Batterien für die Fernbedienung. Ausgerechnet dabei musste ein Hausdetektiv ihm auf die Finger starren.
<<Das war's dann wohl>> Erst jetzt wurde er sich des Risikos voll bewusst, das er all die Zeit über eingegangen war. So etwas noch auf seine Vorgeschichte drauf, und er würde von der Schule fliegen. Und dann…?
Besser nicht drüber nachdenken. Um das Kaufhaus würde er jedenfalls längere Zeit einen Bogen machen. Die Nummer heute war einfach zu heiß gewesen. Und doch, eigentlich kurios: Er fühlte sich, als wäre eine Last von ihm genommen. Irgendwie befreit.
Wirklich?
Weit hinter dem Horizont war ein Strahlen, so mächtig, dass sein goldener Widerschein den Himmel aufhellte – eine Verheißung, die die Erfüllung allen Sehnens bedeuten mochte. Hier jedoch herrschte eine Düsternis, der nichts Anheimelndes eigen war. Im Dunkel des Bodens wogte und zischte Gewürm, der eigenen Gier und nichts anderem folgend. Im Luftreich fuhren grellfarbene Wolkenbänder hoch und abwärts, wanden sich ineinander und flohen einander.
Ihn, dessen zerbrechliche Schwingen den Fährnissen der Sturmwirbel wenig entgegensetzen konnten, riss es aus unergründlichen Launen herum, jederzeit bedroht zu stürzen. Zuweilen fror er, zuweilen schwitzte er, zuweilen schien alles zu enden. Und nur verzweifelte Hoffnung war, es möge sich doch noch zum Guten wenden.
Wo war er? Alles um ihn war seltsam und feindlich. Könnte er doch den fernen, vollkommenen Ort jenseits des Horizonts erreichen. Doch hielt es ihn hier, unerbittlich.
Unwirtlich und ängstigend – und doch war Bekanntes darin. Während es ihn noch beschäftigte, brach ein schriller Schrei in seine Gedanken ein. Ein ungeheurer Schatten senkte sich herab, fuhr mit scharf gekrümmten Krallen über seinen Leib, schnitt in seine empfindlichen Schwingen. Er fiel. Und fiel…
Schweißgebadet schreckte Paul hoch. Die verbliebenen Bilder waren vage und schwanden rasch, doch die trostlose Atmosphäre des Traumes war ihm noch gegenwärtig und ließ ihn frösteln. Fremdartig – und doch vertraut. Zu vertraut! Lieber nicht darüber nachdenken. Schlafen. Und bloß keine Träume mehr!
„P a a u u l – Frühstück!” Der genervte Ruf der Mutter erreichte ihn hinter der Badezimmertür. Leise fluchte er vor sich hin. <<Immer diese Hetze. Wenn die einen doch bloß einmal in Ruhe lassen würden>> Hastig streifte er das verblichene Hemd über und sprang in die ausgebeulten Hosen. Mist – das Hemd sperrte vor dem Bauch. Richtig, er hatte gestern Abend beim Ausziehen einen Knopf abgerissen. Keine Zeit zum Wechseln, also das Hemd runtergezuppelt und die Hose höher gezogen. So ging es halbwegs.
Im Spiegel blickte ihm das Gesicht eines Fünfzehnjährigen entgegen, schmal, mit dunklen Augen. Darüber wölbte sich eine kräftige Stirn, um dann einem nussbraunen Haarschopf das Feld zu überlassen. Er war mit sich einverstanden. Tatsächlich könnte das Gesicht als angenehm, ja, gut aussehend gelten. Wäre da nicht ein gereizter, gehetzter Zug, zurückweisend und darin unsympathisch.
Die anderen saßen schon beim Frühstück. Essen am Tisch mit anderen, für ihn immer eine krampfige Situation – wegen seiner linken Hand. Und außerdem Gitta: Kaum bekam sie ihn zu Gesicht, musste sie, das pummelige 'Küken' der Familie, wieder einmal seinen Auftritt kommentieren. „Ist unser Penner auch schon so weit?”
Vater, ein hagerer, früh ergrauter Mann, der selten ohne dunkle Schatten unter den Augen am Tisch saß, warf ihr einen missbilligenden Blick zu. Als Vertriebsingenieur stand er entweder unter Strom mit unzähligen Überstunden oder er zitterte um den nächsten Auftrag. Wenigstens am Frühstückstisch wollte er seine Ruhe haben.
Paul ließ sich indes nicht lumpen. „Pass bloß auf”, blaffte er zurück, „der Storch bringt die Kinder, aber dafür frisst er Kröten.” Er war sich der Doppeldeutigkeit von Gittas Bemerkung wohl bewusst. Es war nicht nur eine Anspielung auf seine ausgeprägte Abneigung, pünktlich aufzustehen. Mehr noch ging es um seine Kleidung.
Die war ihm ziemlich egal. Mochten andere sich mit ihren Designerklamotten brüsten und gegenseitig die Schau stehlen – ihn störte es nicht, wenn das Hemd flatterte und die Hosen beulten. Irgendwie stellte sich dieser Look im Laufe der Zeit immer wieder von selbst ein. Im Übrigen hatte er seinen klammheimlichen Spaß an missbilligenden Blicken, angefangen in der eigenen Familie.
Mutter wurmte das schon lange. „Aber es stimmt doch. Allein schon die Hosen…” Sie rollte die Augen. Die Lippen wurden schmal und ihre Mundwinkel wiesen halbmondförmig nach unten, unmissverständlicher Ausdruck der Missbilligung. Sie wirkte immer noch mädchenhaft, aber blässlich. Irgendwie dauergestresst – na, ja, drei Mädchen.
Obendrein Paul! Immer wieder kam er bei den Nachbarn ins Gerede. Und das war für sie der reine Horror: unangenehm aufzufallen.
„Geile Klamotten sollen nur ablenken”, hielt Paul trotzig dagegen. „Wovon denn ablenken?” Christiane, mit ihren 10 Jahren ein Abziehbild ihrer Mutter, kam wie immer aus dem Mustopf. Nun konnte auch Marileen sich nicht zurückhalten: „Du trägst jedenfalls auch eine Kleidung, die andere ganz speziell finden. Wovon willst d u denn ablenken?”, fragte sie spitz. Seit kurzem 15 Jahre alt und bemerkenswert hübsch, wurmte Paul gerade ihr Spott. „Vielleicht von seinen inneren Werten”, schloss Gitta den Zirkel.
<<Ganz schön altklug, die Kleine>> Paul zog ein beleidigtes Gesicht, Grienen in der Runde. Er war aber nicht mehr in der Lage, den Ball zurückzuspielen, denn inzwischen hatte er sich auf dem Tisch umgesehen. Da sah es ziemlich trostlos aus, nur noch einige dürre, angeschwärzte Toastscheiben. Und auf dem Mittelteller kränkelte mit eintrockneten, hochgezogenen Rändern gerade noch jene Wurst vor sich hin, die er am wenigsten mochte.
<<Wie immer>> Unter seinem entsagungsvollen Blick schien die Wurst beschämt weiter zu schrumpfen. <<Die denken doch alle nur an sich>> Er steigerte sich in eine wohl vertraute Verbitterung hinein. Immer war zu knapp eingekauft und 'den Letzten beißen die Hunde'. Und das war längst nicht alles. <<Familie!> Ein Wort, das ihm heute wieder einmal besonders bitter aufstieß.
In der letzten Nacht hatte er wüst geträumt, fiel ihm ein. Er runzelte die Stirn. An Einzelheiten konnte er sich nicht erinnern, aber… Es ging ihm durch und durch: <<Wie mein Leben!> Und das war, er allein gegen alle. Er musste schlucken: galliges Gefühl im Hals, bevor noch der Tag richtig begonnen hatte.
In Jolandra war nächtliche Ruhe eingekehrt. Hier und dort regte sich noch ein Vogel im frühen Schlaf. Igel stöberten auf der Suche nach Würmern und Schnecken in den Büschen und fauchten, wenn sie unliebsamer Konkurrenz begegneten. Eine Eule strich lautlos über die Gartenlandschaften und hielt nach unbedarften kleinen Ausflüglern Ausschau, die den Schutz der Büsche und Erdlöcher verlassen hatten.
In der Dunkelheit glitten schwarze Schemen heran. Das heimliche Leben auf dem Boden, dem sie zu anderer Zeit wohl rasch ein Ende bereitet hätten, ließen sie unbeachtet. Sie drangen nicht bis zum Ortskern vor, sondern beschränkten sich auf die äußeren Quartiere: hier eine verfallene Hütte, dort der schmale Zugang zu einem sich ausweitenden Erdloch, ausgehöhlte wilde Bäume – es gab vielfältige Möglichkeiten, einen Unterschlupf zu finden, wenn man anspruchslos war.
Zu zahlreichen dieser Plätze drangen die schwarzen Wesen vor und nahmen dort Heimstatt. Niemand im Ort ahnte von ihrer Existenz. So sollte es auch bleiben. Nicht der Kampf war ihr Auftrag sondern Dinge, die die Aufmerksamkeit scheuten. Bei Tage, wenn die Wohnbäume belebt und der Ort geschäftig war, würden sie geduldig ausharren. Doch die Nachtstunden würden ihnen gehören.
Anschließend war es nicht dieselbe Ruhe wie zuvor. Eine untergründige Spannung lag in der Luft – so fein, dass nur wenige empfindsame Vögel sie spürten. Doch ließ sie die Wachsamkeit und Bösartigkeit erahnen, die das Geleit der heimlichen Invasion bildeten.
Der Schulweg war für Paul eine leider zu kurze Unterbrechung zwischen zwei Übeln: der krampfigen Situation zuhause und den ätzenden Verhältnissen in der Schule. Er hätte nicht sagen können, worauf er eher verzichten würde, wenn er könnte. Am liebsten auf beides.
„Bei deinem Potenzial?”, wunderte sich Leo, seine Tante (die eigentlich Leonore hieß), wenn er darüber klagte, wie schlecht es in der Schule lief. Dabei lag doch auf der Hand, wer schuld war: die Lehrer. Paul stufte sie von gerade erträglich bis obermies ein, mit einem deutlichen Übergewicht der letzten Kategorie. Einzig mit dem Sportlehrer kam er zurecht. Als hervorragender Läufer und treffsicherer Werfer konnte er bei Horkenrath punkten.
Horkenrath gab sich gern kumpelhaft, dabei spreizte er sich wie ein Pfau, sobald auch nur in der Ferne ein Rock schwang oder High Heels klackerten – aus Pauls Sicht noch die Schokoladenseite der Schule. Den meisten anderen Lehrern rieselte der Kalk aus den Ärmeln. Alle furztrocken, Marke 'säuerliche Pflichterfüllung'. Ausgenommen Clara Braun, die hübsche Musiklehrerin. Die war nett, ging ihm aber in ihrer Zögerlichkeit im Unterricht auf den Nerv.
Und die Mitschüler? Die Mädchen gifteten ihn an. Bloß, weil er ab und an spritzige Bemerkungen abließ, die diese witzfreien Puten als gehässig einstuften. Das alles war jedoch nur die halbe Wahrheit seines Schülerdaseins. Die andere, schrecklichere Hälfte trug den Namen Mike. Mike war der Stärkste in der Klasse. Nicht besonders helle im Unterricht, aber hellwach, wenn es um die Hackordnung und das Niedermachen von anderen ging. Er hatte einige als Gefolgsleute für seine Klassengang auserkoren. Fehlte noch ein Opfer.
Das war unglücklicherweise Paul. Ihm rutschte inzwischen bereits das Herz in die Hosen, wenn nur Mikes quadratische Bulldoggenvisage in sein Blickfeld geriet. Und ausgerechnet Mike hatte er einmal in einer schwachen Stunde, als er den Versuch startete sich anzubiedern, seinen dritten Vornamen offenbart: Otto. (Der zweite war Sebastian.) Eigentlich hätte er es sich denken können: feinster Stoff für Boshaftigkeiten. Als wenn das mit seiner Hand nicht genug war. Hätte er doch nur die Klappe gehalten. Vorher konnte er immerhin mit seinem schnellen Mundwerk ab und zu einen Befreiungsschlag landen und die Lacher auf seine Seite bringen.
Als 'Otto' war er jedoch wehrlos, wie gelähmt. Warum waren seine Eltern nur der unseligen Idee verfallen, irgendeinen Vorfahren auf diese angestaubte Weise zu ehren? Jedenfalls musste er es ausbaden.
Im Grunde ein Tag wie fast jeder andere. Mike und seine Clique lauerten am Schuleingang auf eine Belustigung vor dem Unterricht. Und er musste da durch.
Kaum war er in Hörweite, wurde der Reigen der Gemeinheiten eröffnet. „Kann mir einer verraten, was Vogelscheuchen in der Schule zu suchen haben?” „Nicht mal Ramschniveau. Der gehört längst entsorgt”, nahm ein anderer den Faden auf. „An dem stimmt nur eines: der Name.” Mike grinste quadratisch und gehässig in Pauls Richtung.
„Wieso?”, fragte einer seiner Kumpane unbedarft. „Na, 'Otto'. Vorn und hinten dasselbe. Passt genau zu einem, bei dem man nicht weiß, ob man das Gesicht oder den Arsch vor sich hat.” Nun hatten sie es kapiert und die Meute bog sich vor Lachen. Mit rotem Kopf und gesenktem Blick drängte sich Paul an der Bande vorbei und floh in die Eingangshalle. <<Shit! Warum macht keiner was gegen diese Kakerlaken?>
Das war Pauls Sicht: Er als Opfer. Andere sahen es umgekehrt, zum Beispiel die Lehrer. Da war sein ausgeprägter Hang zum Stören. Und wenn er nicht störte, war er zumeist abgelenkt: guckte aus dem Fenster, blätterte in Comics oder döste vor sich hin. Der hat an unserer Schule nichts zu suchen, war inzwischen einhellige Meinung. Andererseits gab es rare Momente, die das gerundete Bild eines Versagers erschütterten. Zum Beispiel heute in politischer Weltkunde.
Es ging um die Weltanschauungen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Niederecker hatte gerade von Thomas von Aquin gesprochen, über seine Philosophie der natürlichen Verhältnisse, in die der Mensch sich einzufügen habe. „Wer war der prominenteste Vertreter der Gegenposition?”
Keine Antwort. Was ließ sich daraus noch machen? Der Decker schien wieder einmal mit seinen Gedanken woanders zu sein. „Nun, dann wird uns vielleicht Herr Decker verraten, wer sich nicht mit den natürlichen Verhältnissen abfinden wollte – etwa so, wie er selbst sich nicht mit den schulischen Verhältnissen abfinden kann. Angesichts der Seelenverwandtschaft sollte ihm die Antwort nicht schwer fallen”, ging Niederecker ihn an und hatte die Lacher auf seiner Seite. Amüsiert oder gleichgültig wartete alles darauf, dass der Loser wieder einmal die Segel strich.
Das vermeintliche Opfer schrak auf. Dieses Mal war ihm das Glück hold, er hatte die Frage mitbekommen. So zögerte Paul nicht und erklärte mit betont liebenswürdiger Stimme: „Das war Francis Bacon, der dem Schoß der Natur neue Geheimnisse entreißen wollte.”
Niederecker war verblüfft. Das war nicht der Vorführeffekt, den er sich erhofft hatte. Misstrauisch nahm er Pauls Platznachbarn ins Visier. <<Hat der ihm das gesteckt?> Nein, unmöglich, beschied er.
Paul grinste in sich hinein und machte sich einen Spaß daraus, Niederecker im Ungewissen darüber zu lassen, was er von ihm halten sollte. Und damit nicht auch nur der Hauch eines guten Eindrucks zurückblieb, setzte er eins drauf. „Ein Nachtrag”, meldete er sich zu Wort. „Am Samstag wird der 2. FC verlieren.”
Buhrufe und Gelächter durchmischten sich. Niederecker nickte in sich hinein. Nun wusste er wieder, woran er mit ihm war. Und der Loser war wieder in der ihm wohl vertrauten Rolle: Er allein gegen alle. Am liebsten wäre er gar nicht hier. Doch wo sonst?
…
Seit dem verstörenden Albtraum hatten sich Pauls nächtliche Fantasien verändert. Wie zumeist konnte er sich kaum erinnern. Doch waren schemenhafte Bilder - Farben und Formen - haften geblieben. Sie waren aufregend, nicht zuletzt, weil sich dahinter mehr zu verbergen schien.
Dieses Mal war es anders. Wieder einzelne Bilder, aber sie wirkten zum Greifen nahe und schienen in einem Zusammenhang zu stehen. Und sie waren sehr schön. Schon lange hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt wie in diesem Traum. Ihm schien, als schlüpfte er aus seiner Haut und entfernte sich. Er schaute zurück und sah seinen zusammengekauerten Körper im Bett liegen – klein und verloren.
Eine grüne Welt nahm ihn auf, gewaltige Bäume mit mächtigen Stämmen ragten um ihn gen Himmel. Obwohl heller Tag, wirkte das Licht wohltuend gedämpft. Jeder Laut war reiner Klang und das Raunen in den Blättern wie Balsam. Eine Brise fächelte zarte Düfte zu, in der klaren Luft war jeder Atemzug beglückend. Ein zuvor nicht gekanntes Wohlempfinden durchströmte ihn.
Urplötzlich schwebte er in den Lüften, unter ihm ein vielfarbenes Blütenmeer, hingetupft in die grüne Landschaft. Seltsame Vögel segelten in den Aufwinden. Sie flößten ihm jedoch keine Furcht ein. Kaum, dass sie Notiz von ihm nahmen, genossen sie die luftige Freiheit wie er.
Am Boden zeigten sich merkwürdige Gestalten, einige mit gewaltigen Körpern, andere von bizarrer Form. Es schien sich um Tiere zu handeln, obwohl er Wortfetzen zu hören vermeinte. Zuweilen waren die Silhouetten von Menschen zu sehen. Sie entschwanden jedoch seinem Blick, bevor er sich ihnen nähern konnte. Das Treiben strömte keinerlei Hast aus, über allem lag eine ruhige Gelassenheit.
So wechselten die Bilder wieder und wieder. Irgendwann verloren die Eindrücke an Schärfe, wurden bruchstückhaft, und bald hatte der gewöhnliche Schlaf die Regie übernommen.
Als Paul am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich trotz des trüben Wetters voller Tatkraft. Er konnte sich an vieles in seinem Traum erinnern und war wie beflügelt. <<Irgendwas muss sich ändern>> beschloss er. Er würde ein Zeichen setzen. Etwas Unübersehbares. Glanzvolles!
Gleich nach der Schule würde er diesen Entschluss umsetzen. Die - das waren alle anderen - würden sich wundern. Er freute sich schon auf die überraschten Gesichter. <<Denen zeig ich's !>
„Na, was sagen Sie? Das ist doch wirklich mal was ganz Besonderes!” Der Friseur betrachtete zufrieden sein Werk. <<Von mir kriegt jeder, was er will!> Nach diesem Motto bediente er seine Kunden.
Paul erschrak angesichts des grellen Pink-Grün-Lila im Spiegel. „Ja, es ist wirklich was Eigenes.” Die anderen Kunden starrten auf ihn wie auf ein exotisches Insekt und wichen ihm beim Verlassen des Ladens aus.
Zum Glück brauchte er nicht gleich nach Hause zu gehen. Es war der letzte Mittwoch im Monat, der Tag, an dem er Leo besuchte. Leonore, die jüngere Schwester seiner Mutter, war neben der Oma die einzige leibliche Verwandte, die er noch hatte, und er hing sehr an ihr. Sie trafen sich in regelmäßigen Abständen, gingen ab und an ins Kino oder machten einen Ausflug. Mit ihr konnte er offen und ungezwungen reden wie mit keinem oder keiner anderen.
Einige Jugendliche lungerten in einem Hauseingang, als er vorbeiging. „Was ist denn mit dem los?” „Nennt man, glaub ich, schillerige Kopfverwesung”, mutmaßte ein anderer. „Absolut Schmeißfliegen–like”, gab ein Dritter zum Besten. Paul machte, dass er weiterkam.
„Ist der mit dem K o p f in die Säge gekommen?” Ein kleiner Junge, der sich mit der Laubsäge in die Hand geschnitten hatte und mit dem Vater zum Arzt unterwegs war, drehte sich interessiert nach ihm um.
Zwei ältere Damen kicherten, als er an ihnen vorbeiging, was Paul auf sich bezog. <<Bloß weg von der Straße!> Er konnte den Umweg durch die Laubenkolonie nehmen, dafür reichte die Zeit. Dort war selten jemand unterwegs. Außerdem, es war Frühling. Da konnte man sich über die neuen Gartenzwergarrangements amüsieren.
Hübsch, die flauschigen Bälle blühender Apfelbaumkronen. Die Gartenzwergaufrüstung ließ allerdings noch zu wünschen übrig. Soeben auf den Querweg eingebogen, der aus der Kolonie hinausführte, stockte er. Ein gutes Stück vor ihm trieben drei Burschen, zwei ein gutes Stück größer als er, ihren Spaß mit einem kleinen Hund. <<Ausgerechnet ein Pinscher!> Sie hatten dem winselnden Tier einen Fidibus aus Zeitungspapier an den Schwanz gebunden. Gelächter, der Spaß war noch nicht zu Ende.
Der eine zückte ein Feuerzeug und zündete das Papier an, darauf setzten sie den jaulenden Hund auf den Boden. Grölend jagten sie ihn fort, auf Paul zu. Vom Brandherd an seinem Hinterteil maßlos erschreckt, suchte das arme Tier in seiner Panik, dem drohenden Schmerz durch hektisches Rennen zu entgehen.
In ihm regte sich etwas – Sympathie von Underdog zu Underdog. Und ein aufsteigender Unmut über die drei Spaßvögel. Als das angsterfüllte Tier ihn im Bogen passieren wollte, weiteres Übel befürchtend, bückte er sich blitzschnell, drückte es zu Boden und trat das Feuer aus. Der Hund hatte Glück, lediglich einige Haarspitzen des Schwanzes waren angesengt.
Er entwirrte den Knoten, der den Fidibus gehalten hatte und gab den Hund, von seinem Schrecken erlöst, frei. Der sprang zwei Sätze zur Seite, zögerte und schaute zu ihm. Dann kam er winselnd zurück und drängte sich zwischen seine Beine. Als Paul sich bückte, um ihn beruhigend zu streicheln, leckte er ihm die Hand.
Vielleicht war es das, vielleicht auch, dass die Burschen, um ihren Spaß gebracht, in drohender Haltung auf ihn zukamen. Es durchfuhr wie ein elektrischer Schlag, ihm wurde heiß und plötzlich fühlte er sich an den Rand gedrängt, als Beobachter im eigenen Körper, der sich verselbständigt hatte.
Inzwischen hatte dieser Körper sich aufgerichtet und in Bewegung gesetzt. Die Haltung schien entspannt, locker hingen die Arme herab. Die Gesichtszüge waren indes wie versteinert und im Blick lag eine fremdartige Kälte.
Der Paul im Paul verfolgte seine Veränderung mit ungläubigem Staunen, jedoch seltsam unaufgeregt – als säße er im Kino und folge einer überraschenden Wendung der Handlung.
Die Hundeschinder waren stehen geblieben und blockierten breitbeinig den Weg. „Dieser Pisspottindianer gehört doch schon längst in die ewigen Jagdgründe.” Beifall heischend wendete der Sprecher sich seinen Kumpanen zu.
Die vermochten indes seinen rhetorischen Genius nicht zu würdigen, denn Pauls Körper schritt in marionettenhafter Unbeirrbarkeit auf sie zu. Eine eingefrorene Miene – die Augen schienen auf einen fernen Ort hinter den drei Hindernissen gerichtet zu sein.
Und je näher er kam, desto befremdlicher wirkte er. Auf dem Gesicht unter der bizarren Frisur lag nun eine entrückte Bestimmtheit. Ein feines Lächeln umspielte die Lippen. Und der fast mitleidige Blick ließ keinen Zweifel, dass diese merkwürdige Gestalt ihren Weg weiterverfolgen würde – ungeachtet aller Hemmnisse, die sich ihr entgegenstellen mochten.
Wenige Augenblicke, und er würde in die drei hineinlaufen. Was würde geschehen? Der wirkliche Paul wollte aufschreien, aber er hatte keinen Mund. Nun war er bis auf zwei Schritte an den Langen in der Mitte heran, mit ungebrochener Zielstrebigkeit und ausdrucksloser Mimik.
War es nur ein Poker? Dem Großen war die seltsame Ausstrahlung dieses Typen unheimlich geworden. Im letzten Moment wich er zur Seite, wie schlafwandelnd ging Paul ging an ihm vorbei. Die Hundeschinder waren perplex, für einen Moment keiner Regung fähig. Hätte er sich umgedreht oder nur die geringste Nervosität gezeigt, wäre es wohl anders ausgegangen. Doch mit eingefrorener Haltung schritt er roboterhaft vorwärts und ließ die drei hinter sich zurück.
Dann hatte die Straße ihn wieder und er war Herr seiner Sinne und des eigenen Körpers. Jetzt zitterten ihm die Beine, er musste sich auf eine Bank setzen. <<Was ist mit mir passiert?> Welche unheimliche Kraft hatte ihn vorangetrieben? Und woher kam sie? Das Ganze überstieg seine Vorstellungskraft. Aber gewirkt hatte es – und wie!
…
Der Himmel war inzwischen dunkel geworden, vor der Stadt zogen sich graue Schleier bis zum Boden hinab. Paul hastete, dem Regen zuvorzukommen. Die ersten Tropfen klatschten aufs Pflaster, als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.
Leonore war promovierte Mikrobiologin und ihr Leben spielte sich vor allem im Labor ab. Oft war sie dort bis spät in den Abend hinein, um Experimente durchzuführen oder Berichte zu schreiben. Sie musste sich förmlich zwingen, hin und wieder auszuspannen.
Auf Pauls Mittwochsbesuche am Monatsende freute sie sich jedoch stets, war er doch ihr einziger Verwandter. Der Kontakt mit ihm hielt nicht zuletzt die Erinnerung an seine Mutter, ihre ältere Schwester, wach, die sie innig geliebt hatte.
Kurz nach drei Uhr klingelte es. Sie öffnete die Tür, bereit, ihren Neffen wie immer in die Arme zu schließen und herzlich zu drücken. Dieses Mal zuckte sie zurück. Vor der Tür stand ein Fremder: ein Junge mit kahlem Schädel, geziert von einer grotesk eingefärbten Irokesenbürste, deren Schillern an eine wenig geschätzte Fliegenart erinnerte. Erst im zweiten Hinschauen erkannte sie ihren Neffen. <<Ach du meine Güte, was soll denn das? Und obendrein diese Farben!> Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab.
<<Au wei, so schlimm?> Paul hatte sich eigentlich einen bewundernden oder doch achtungsvollen Blick für seinen Mut erhofft, gegen den Strom zu schwimmen. Linkisch drückte er Leo einen Tulpenstrauß in die Hand und stolperte in den Flur.
„Nun, die Überraschung ist dir gelungen. Woher kommt denn dieser plötzliche Entschluss?” Leonore konnte ihren Schreck nicht ganz verbergen. „Ich wollte mal was ganz anderes machen. Etwas Neues probieren, verstehst du?” Ja, sie verstand ihn. Da war die trotzige Oberfläche, die viele täuschen mochte. Aber dahinter…
Doch dazu musste man Pauls Geschichte kennen. Denn wie kaum ein anderer war er einer grausamen Ironie des Schicksals ausgesetzt. Seine leiblichen Eltern waren wie füreinander geschaffen gewesen. Es war eine Blitzliebe, und binnen kurzem waren sie verheiratet. Ein schönes Paar, und Leonore hatte ihre ältere Schwester Mona immer bewundert.
Nicht wegen des guten Aussehens, da brauchte sie sich selbst keinesfalls zu verstecken, sondern für ihr Einfühlungsvermögen, ihre Urteilskraft, ihre Stilsicherheit. Mona war Kunsthistorikerin und hatte es schon früh zu viel beachteten Veröffentlichungen gebracht. Sie spielte mehrere Instrumente und nahm darin das Talent ihres Vaters auf, der ein hervorragender Pianist gewesen war.
Die Heirat mit dem Geologen Dorian Decker rundete das lebensfrohe Bild ab. Eine glückliche Ehe, die nach kurzer Zeit zum Wunschkind führte: Paul. Aber die Idylle wurde jäh zerstört.
Leonore erinnerte sich einige Jahre zurück. Paul war in der Grundschule unausstehlich geworden, und nachdem seine jetzigen Eltern mehrfach in die Schule zitiert worden waren, schickten sie beim nächsten Mal Leonore für die Unterredung mit der Klassenlehrerin vor. Die Lehrerin war nicht bereit, ein gutes Haar an ihm zu lassen – angesichts seiner 'Sünden' sogar zu verstehen.
Daher fasste Leonore einen Entschluss. „Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Sie kann nichts entschuldigen, aber vielleicht lässt sich Pauls Wesen dann besser verstehen.” Die Miene der Lehrerin glich einer undurchdringlichen Mauer. Immerhin, sie war bereit zuzuhören.
„Paul ist das Kind von Dorian und Mona Decker, meiner Schwester. Durch eine Kette von tragischen Ereignissen wurde die Familie zerstört. Zunächst kam seine Mutter bei einer Höhlenerkundung um, die sie mit ihrem Mann unternommen hatte. Sein Vater heiratete wieder. Kurz darauf starb er bei einem Autounfall. Als wäre es nicht genug, verunglückten bei der Fahrt zur Beerdigung obendrein die Großeltern bis auf eine Großmutter tödlich.”
Leonore spürte, die tragische Geschichte hatte die Lehrerin berührt. Nicht zuletzt dank deren größeren Duldsamkeit konnte Paul das Tal der Tränen verlassen, in dem er sich damals befand, Doch hatte Leonore der Lehrerin nicht alles erzählt – nicht, dass jede Ungereimtheit in Pauls Entwicklung in ihr Besorgnis auslöste. Warum eigentlich? Sie wusste es nicht.
Seine Gereiztheit war zwar zuweilen nervend, doch nahm sie es eher mit Erleichterung wahr, als ein Zeichen von Normalität. Jedenfalls war nichts einfach, aber vielleicht war er ihr gerade auch deshalb so sehr ans Herz gewachsen.
Leonore fasste sich und war wieder in der Gegenwart. „Wie fühlst du dich denn selbst damit?”, fragte sie. „Weiß ich nicht genau”, kam die unwirsche Antwort. „Mir hängt alles so zum Hals raus: die Familie, die Schule – einfach alles.” „Na, das ist ja fast die ganze Welt, die bei dir in Ungnade gefallen ist.”
<<Typisch pubertäres Lamentieren>> dachte Leonore zwischendurch, als er in seinen Rundumschlag eingestiegen war. So über Mike: „Dieser Typ wird immer unerträglicher. Am liebsten würde ich ihm mal eine reinhauen. Wenn der bloß nicht so viel stärker wäre. Aber dann würde er sich das wohl auch nicht trauen, was er da abzieht. So traue ich mich nicht.”
„Vater hatte einmal gesagt, wenn man bereit ist, zwei einzustecken, um einen auszuteilen, zucken auch die viel Stärkeren zurück, weil sie Schmerz nicht gewohnt sind.” Kaum hatte Leonore es ausgesprochen, biss sie sich auf die Lippen. <<Als wenn ich einen Pudel auf einen Bullterrier hetzen würde>> Umso schlimmer, dass Paul nachdenklich geworden war.
Hastig lenkte sie vom Thema Mike ab. „Und sonst?” „Was schon. Typisch Schule. Eigene Einfälle sind unerwünscht.” „Zum Beispiel?” Leo sah ihn fragend an. „Na…gestern.” Er erzählte die Sache mit Niederecker. Das gefiel ihr, hatte er den Hinweis auf Francis Bacon doch vor längerem von ihr bekommen. Doch wofür war das ein Beispiel?
„Und das ist alles?” Sie runzelte die Stirn. „Ich bin noch nicht am Ende”, bremste Paul. Nun gab er die Sache mit dem 2. FC zum Besten.
Für einen Moment war Leonore belustigt, bis ihr klar wurde, was er da eigentlich gemacht hatte. „Weißt du, wie sich das für mich anhört? Dass du dir mit den Händen etwas aufbaust, um es dann mit dem Hinterteil wieder umzustoßen. Und das macht wirklich so viel Spaß?” Sie schüttelte den Kopf.
Paul sah sich in eine Verteidigungsposition gedrängt. „Ich kann nun mal nicht so anpasslerisch sein wie die anderen. Das ist nicht meine Bestimmung.”
„Ach nein?” fuhr Leonore ihn an. „Was ist es denn, was d u machst? Der Lehrer erwartet von dir, dass du den Unterricht nicht ernst nimmst. Prompt erfüllst du seine Erwartungen. Für die anderen Schüler bist du der Klassenclown. Und du hast nichts Besseres zu tun, als mit deinen Faxen in diese Rolle hineinzuschlüpfen. Wenn d a s nicht anpasslerisch ist, was sonst?” Sie hatte sich richtig in Rage geredet.
<<Oh>> Paul war beeindruckt. Das war eine andere Leo, als er sie sonst erlebte. Gleichzeitig war er irritiert. So hatte er die Sache noch nie gesehen. <<Da ist was dran>> Wie ärgerlich: Die Pose der Überlegenheit, in der er sich mit Bemerkungen wie der zum 2. FC wähnte, war nun ins Gegenteil gekehrt.
Irgendwie war es nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Hätte Leo sich aber bedingungslos auf seine Seite gestellt, hätte es ihm auch nicht gepasst. Anbiedern konnte er nicht ab.
„Was ist denn nun deine Bestimmung?”, ließ Leo nicht locker. Eine irgendwie unangenehme Frage, fand Paul. Merkwürdigerweise bildete sich ein Kloß in seinem Hals, und er musste an sich halten, um nicht zu seufzen. Er setzte an, zögerte. „Ich glaube, um das herauszufinden, muss ich erst aus meiner Haut fahren.” Er atmete schwer.
„Na, aus den Haaren bist du ja schon gefahren”, platzte Leonore heraus. <<Ein Glück. Er hat nicht zugehört>> Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
Paul war in der Tat in seine Gedanken verstrickt. Ihn beschlich das Gefühl, dass in den eigenen Worten mehr steckte als das, wonach sie sich anhörten. Wie war er auf diese eigenartige Formulierung gekommen? Dann fielen ihm seine Träume ein. Vor allem der letzte. Er erlebte es noch einmal nach: das Gefühl, aus dem Hier und Jetzt auszusteigen und in eine andere Welt einzutreten.
Sein Atem ging schneller. Pauls Körper, bisher mit eingefallenen Schultern wie schutzbedürftig Leonore gegenüber sitzend, straffte sich. Sein Blick suchte den ihren und hielt ihn fest. „Kannst du dir vorstellen, deinen eigenen Körper zu verlassen? Und in eine andere Welt hinüberzuwechseln?” Pauls Stimme war voller geworden, während er sprach und Leonore krisselte es auf den Armen.
„Genau das träume ich seit einiger Zeit.” Und er erzählte von Bäumen mit Stämmen, die Burgen glichen und die gewaltige Kronen zum Himmel streckten, von seltsamen Geschöpfen mit riesigen Schwingen, die unter der Sonne segelten und Menschen trugen, von endlosen Wäldern und silbern schimmernden Seen im Mondlicht.
Von urtümlich wirkenden Tieren, die auf den Wegen an der Seite der Menschen einherschritten. Und von Gärten mit Baldachinen aus verschlungenen Ranken, über und über mit Blüten bedeckt.
Mit den Worten gewann seine Sprache an Kraft, die Beschreibungen wuchsen zu lebensvollen, farbigen Bildern und allmählich geriet Leonore in den Bann der unwirklichen Erzählung. Der Zauber einer fremden Welt umfing sie, und sie wünschte sich sehnlich, daran teilzuhaben. Es schien ihr, als würde er stundenlang erzählen, so üppig und vielfältig waren die Landschaften, die sich vor ihr auftaten. Als er endete, war es jedoch draußen immer noch hell.
Leonore atmete tief durch. Es fiel ihr nicht leicht, sich aus dem Sog der Geschichte zu lösen und ihren nüchternen Verstand wachzurufen. War das noch derselbe Paul vor ihr wie vorher? Etwas war in ihm vorgegangen. Die stille Verzweiflung, die ihn zuvor umgeben und wohl auch in das kuriose Experiment mit dem Irokesenschnitt getrieben hatte, war gewichen.
Für einen Moment war es ihr, als würde ein Blitz alles erhellen und ihr einen Blick auf ihn gestatten, der Verborgenes erahnen ließ. Sie zuckte zusammen. Dann war es schon vorbei.
Beide schwiegen. Das monotone Trommeln des Regens gegen die Fensterscheiben überdeckte die Stille. Über ein Allerweltsthema kamen sie wieder ins Gespräch, doch die Luft war raus. „Nächste Woche Kino?” Leo nickte. Ihr war nicht mehr nach Reden.
…
Der auffrischende Wind fegte den Regen zuweilen fast waagerecht durch die Häuserschluchten, klatschte unangenehm auf den kahlen Schädel und vertrieb die Höhenflüge aus Pauls Gedanken. Zuhause angekommen, war er klitschnass und wieder aufs Normalmaß geschrumpft. Vielleicht auch, weil ihm die Sache mit dem Klassenclown noch auf der Seele lag.
Warum hatte er Leo nichts von dem Hund erzählt? Weil er nicht verstand, was sich in ihm abgespielt hatte? Jedenfalls war es unheimlich gewesen. <<Brrr>> Er schüttelte sich. <<Erst einmal raus aus den nassen Sachen>> Anschließend machte er sich beklommen auf den Weg ins Wohnzimmer. Gitta, Christiane und Mutter sahen auf – und erstarrten. Für endlose Sekunden herrschte Sprachlosigkeit.
Dann brach - wieder einmal - Gitta das eisige Schweigen: „Sieht aus wie ein rasierter Hühnerarsch!” Das war starker Tobak. „Was geht dich das an?”, herrschte Paul sie an. „Glaubst du, so ein Moppelfurz wie du kann das beurteilen?”, der angestaute Zorn fuhr aus ihm heraus.
Das saß. Gitta naschte gern, doch vertrug sie es nicht, wenn man sie mit den Folgen konfrontierte. Und er hatte voll auf ihre Schwachstelle eingedroschen. <<Ziemlich gemein>> Aber wenn er daran dachte, was er schon alles über sich ergehen lassen musste… <<Kein Wunder, wenn man da mal explodiert>>
Christiane guckte mit großen Augen und zitternden Lippen. Sie war das Sensibelchen in der Familie und konnte es nicht ertragen, wenn die anderen sich stritten.
Mutter gab ihm den Rest. Den Tränen nahe, flüsterte sie: „Warum tust du uns das an? Ist es denn nicht genug, dass Papa alle paar Monate zur Schule muss, um auszubügeln, was du dir wieder geleistet hast? Alle in der Straße reden darüber. Was wird man nur davon halten? Das fällt doch alles auf uns zurück und macht uns das Leben nur noch schwerer als es ohnehin ist.”
„Wer ist 'man'? Nenn doch mal die Namen von all diesen 'Männern', hinter denen du dich immer versteckst. Wie wäre es, wenn du mal eine eigene Meinung hättest?”
Rums – der nächste Hieb unter die Gürtellinie. Gundula Schwarz-Korte war auf ihre Weise gutwillig, aber nicht sehr fix in der Schaltgeschwindigkeit. Vergeblich rang sie nach Worten, schließlich stürzte sie aus dem Zimmer und wischte sich dabei die Augenwinkel.
<<Welch ein Schlamassel>> Bedrückt zog Paul sich in sein Zimmer zurück. <<Chatten!> Egal mit wem, bloß irgendwie ablenken. Später griff er zur Gitarre, aber die rechte Spiellaune kam nicht auf. Als er früh schlafen ging, war er unruhig, ob der Traum wiederkehren würde. Inzwischen sehnte er ihn herbei.
Es geschah wiederum, das Verlassen des eigenen Körpers, das Schweben über dieser fremden, friedlichen Welt. Dann…etwas Neues. Plötzlich befand er sich in einem eigenartigen Raum. Wände, Decke und Boden wirkten 'wurzelig'. Leuchtende Fische – ein großes Aquarium. Alles erschien so leibhaftig, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um etwas zu ergreifen.
Die Tür öffnete sich. Ein junger Mann trat herein, in seinem Alter, aber etwas größer und breiter als er, mit schwarzem Haar. Das Gesicht konnte er nur im Profil sehen, er fand es sympathisch. Plötzlich war eine Spannung in der Gestalt, sie straffte sich, als würde sie etwas Ungewöhnliches verspüren.
Wider seinen Willen glitt er aus der Szene. An deren Stelle traten andere Blicke wie aus den früheren Träumen, wechselten, wurden allmählich undeutlicher. Der Traum verlor sich.
Den nächsten Morgen zu überstehen, war qualvoll. Wenn doch bloß einer mit ihm reden würde. Aber nein, während des Frühstücks herrschte eisiges Schweigen. Vater versteckte sich hinter der Morgenzeitung und verweigerte die Kenntnisnahme. Gitta und Christiane glotzten, hielten aber den Mund. Marileen? Sie bedachte ihn mit einem mitleidig-verächtlichen Blick, der ihm unter die Haut ging. Und Mutter – sie schien durchsichtig geworden zu sein und weilte wie ein Geist am Tisch.
Paul floh so rasch er konnte aus dieser Gruftatmosphäre, bevor ihn womöglich Schuldgefühle ereilten. Dann lieber doch die Schule. Dort war es dagegen geradezu erholsam.
Es war feucht vom nächtlichen Regen und die Luft roch frisch und erdig. Der immer noch böige Wind trieb hoch aufgetürmte graue Wolken vor sich her. Von den Ahornbäumen, die die Straße säumten, waren trockene Zweigstücke herunter gefegt, abgerissene Blütenstände machten den Gehsteig hier und da rutschig.
Der Weg führte ihn vorbei an anderen Reihenhäusern - weißer Einheitsputz, die gleichen Giebelfenster und die gleichen Vorgärten mit sterilen Rasenflächen, zuweilen mit einem Magnolienbaum oder einer Zwergtanne aufgehübscht - bis eine Hundeleine den Gehsteig versperrte.
Ein Ende hielt der Frühpensionär Kajunke, drei Reihenhausblocks weiter oben wohnend. Am anderen Ende zerrte Pinscher Daisy, wie immer kläffend und nach Pauls Beinen schnappend, als der sich am Rande des Gehwegs vorbeiquetschte.
„Daisy!”, schnarrte Kajunke und riss an der Leine, dabei bedachte er Paul - wie stets - mit übellaunigen Blicken. Mehr noch als andere Passanten, die sich frei bewegen konnten und nicht angeleint einem Pinscher hinterher trotten mussten, hasste Kajunke allerdings Daisy. Ihre Existenz hinderte ihn daran, morgens auszuschlafen, wie er es sich vom Pensionärsdasein erträumt hatte.
Auch bei Paul war die kleine Kläfferin im Verschiss. Im Laufe der Zeit war es ihm zu einem innigen Bedürfnis geworden, es der boshaften Wadenbeißerin irgendwie heimzuzahlen.