Jan Assmann

Thomas Mann und Ägypten

Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 

 

 

 

 

WOLF-DANIEL HARTWICH
(1968–2006)
in memoriam

Über den Autor

Jan Assmann ist Professor em. für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Professor für allgemeine Kulturwissenschaft an der Universität Konstanz. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Historikerpreis (1998), Thomas-Mann-Preis (2011), Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (2016), Karl-Jaspers-Preis (mit Aleida Assmann, 2017) und dem Balzan Preis (mit Aleida Assmann, 2017). Zahlreiche Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte vor allem in den USA, Frankreich und Israel. Er ist Mitherausgeber der kritischen Ausgabe von „Joseph und seine Brüder“ im Rahmen der „Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe“ der Werke Thomas Manns (2018). Zu Jan Assmanns bekanntesten Büchern gehören „Das kulturelle Gedächtnis“ (72013), „Ägypten. Eine Sinngeschichte“ (42005), „Moses der Ägypter“ (72011), „Tod und Jenseits im Alten Ägypten“ (32010) sowie „Exodus. Die Revolution der Alten Welt“ (32015).

Zum Buch

Jan Assmann geht den bahnbrechenden religions- und kulturwissenschaftlichen Einsichten Thomas Manns nach, die dieser vor allem in seinem Romanzyklus Joseph und seine Brüder vermittelt. Auf faszinierende Weise läßt er seine Leser nicht nur das literarische Kunstwerk der Josephsromane mit neuen Augen sehen, sondern vor allem auch den Schriftsteller und Kulturwissenschaftler Thomas Mann.

In der Begegnung mit dem Alten Ägypten erschloß sich Thomas Mann eine kulturelle Tiefendimension der Zeit. Seine Josephsromane kreisen um die Frage, die auch Proust, Bergson und Freud beschäftigte: in welcher Weise die Vergangenheit unsere Gegenwart bestimmt, und sie geben darauf einige der klügsten Antworten. Gerade in seinen Einsichten zum Wesen des Mythos, zur Entstehung des Monotheismus, zum kulturellen Gedächtnis und zur historischen Anthropologie und Psychologie erweist sich Thomas Mann als einer der bedeutendsten Kultur- und Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Den bislang noch wenig erschlossenen Dimensionen seines Werkes geht Jan Assmann in seinem neuen Buch nach. Er beschreibt das Ägyptenbild der Josephsromane und vergleicht die Josephsgeschichte Thomas Manns mit der biblischen Erzählung sowie ihrer ägyptischen Urgestalt. Höchst aufschlußreich sind auch die abschließenden Vergleiche mit zeitgenössischen Werken wie Arnold Schönbergs Moses und Aron und Sigmund Freuds Der Mann Moses.

„Assmanns glänzend geschriebenes Buch … zeigt, daß viele von Thomas Manns erzählerischen Konzepten den Erkenntnissen der neuesten Wissenschaft entsprechen.“ Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung

Inhalt

Vorwort

I
Der Brunnen der Vergangenheit

Zum Ursprung der Dinge – und zurück

Ironie, Wissenschaft und tiefere Bedeutung

Bruch contra Kontinuität

Fiktion und Fest

II
Das mythische Ich

Die mythische Würde des Ich

Mondgrammatik und das «nach hinten offene Ich»

Schrift und Selbst

Mythische und rituelle Identität

III
Die mythische Zeit

Mythische Gleichzeitigkeit

Das kulturelle Gedächtnis

Das Unbewußte – die «kotigen Wurzeln»

IV
Ägypten: Urteile und Vorurteile

Erste Initiation: Jaakobs Vorurteil und Josephs Vorbehalt

Zweite Initiation: der midianitische Kaufmann

Dritte Initiation: die Reise nach Theben

V
Versuchung

Die biblische Geschichte von Potiphars Weib

Die griechische Version: Bellerophontes und Anteia

Die ägyptische Urform: der Hirte und das Weib des Ackermanns

Joseph und Mut-em-enet

Keuschheit, Scham und Sünde

VI
Monotheismus bei Echnaton und bei Abraham

Joseph und Echnaton

Abrahams Gott und der Weg des Monotheismus

VII
Monotheismus und Widerstand:
Sigmund Freud, Thomas Mann, Arnold Schönberg

Sigmund Freud: der Fortschritt in der Geistigkeit

Thomas Mann: Gott ist die Zukunft

Arnold Schönberg: das Denkbare und das Lehrbare

Abkürzungen und Zitierweise

Anmerkungen

Zitierte Literatur

Namenregister

Sachregister

Vorwort

«Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung», schrieb Goethe in Dichtung und Wahrheit über die Geschichte Josephs in den letzten 14 Kapiteln des 1. Buchs Mose, «nur scheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.» Dieser Berufung hat sich Thomas Mann, der ja gern in den Spuren Goethes ging, ab 1925, kurz nach Erscheinen des Zauberberg gestellt. Was zunächst als Novelle geplant war, wuchs sich schnell zu einem vierbändigen Riesenwerk aus; das Ende 1926 geschriebene «Vorspiel» setzt bereits die Proportionen der Tetralogie voraus. Nach ausgedehnten Vorstudien und einer Mittelmeerreise im Jahre 1925 begann Thomas Mann 1926 mit der Niederschrift.[1] Der erste Band, Die Geschichten Jaakobs, erscheint erst 1933, aber Lesungen und Erstabdrucke einzelner Kapitel gehen bis 1927 zurück. 1934 folgt der zweite Band, Der junge Joseph. Der 1936 erschienene dritte Band ist dann bereits weitgehend im Schweizer, der vierte Band, der nach einem langen Intervall erst 1943 erschien, im kalifornischen Exil entstanden. Nicht nur nach ihren Proportionen, sondern auch nach ihrem künstlerischen und vor allem intellektuellen Anspruch steht die Joseph-Tetralogie neben den großen Romanwerken der Moderne, Prousts Recherche und Joyces Ulysses;was jedoch den Stoff und die Form seiner Behandlung betrifft, stehen die vier Josephsromane in der Literaturgeschichte ziemlich einzigartig dar. Es handelt sich hier ja nicht nur um einen Zyklus historischer Romane, die in einer ganz ungewöhnlich weit zurückliegenden Epoche spielen, sondern auch um eine Art literarischen Recyclings, die ausschmückende Erzählung einer altbekannten Geschichte, die denn auch weniger erzählt, als vielmehr «zelebriert» wird im «Fest der Erzählung», das den feierlich gestimmten, archaisierenden Ton der Erzählung bestimmt.

Diese Sonderstellung, der ehrfurchtgebietende Umfang und vielleicht auch die archaisierende Sprache haben einer breiten, den anderen Hauptwerken – Buddenbrooks, Der Zauberberg, Doktor Faustus – vergleichbaren Rezeption der Josephsromane lange Zeit im Wege gestanden. Vor allem haben die Wissenschaften, bei denen sich Thomas Mann für diese Romane bedient hat, also alttestamentliche Theologie, Judaistik, Assyriologie, Ägyptologie und Religionsgeschichte auf diese einzigartige Anregung und Herausforderung kaum reagiert, die diese Romane für sie darstellen sollten. Obwohl Thomas Mann auf diesen Gebieten im allgemeinen der Nehmende war, geht man trotzdem sicher nicht fehl, wenn man ihn zu den bedeutendsten Religions- und Mythostheoretikern seiner Zeit rechnet.

An diesem Punkt setzt das vorliegende Buch an. Ich strebe keine literaturwissenschaftliche Behandlung der Josephsromane an, setze mich also weder mit Fragen von Form und Stil, Aufbau und Erzählperspektive auseinander noch mit der Frage der Quellen, die Thomas Mann in seinem Werk verarbeitet hat, auch wenn es sich im Fortgang der Untersuchung immer wieder als unmöglich erwiesen hat, von diesen beiden Aspekten ganz abzusehen. Zweitens will ich weder die bestehenden Kommentare zu den Josephsromanen (vor allem den kleinen, unschätzbaren Kommentar von Hermann Kurzke, Mondwanderungen, und das monumentale Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen von Bernd-Jürgen Fischer) ergänzen noch dem Kommentar zur Großen Frankfurter Ausgabe, an dem ich (mit Dieter Borchmeyer, Peter Huber und bis zu seinem Tod am 15.1.2006 Wolf-Daniel Hartwich) selbst mitarbeite, in irgendeiner Weise vorgreifen. Mein Ziel ist vielmehr, einige der großen Themen zur Geschichte Gottes und des Menschen aufzugreifen, die Thomas Mann in diesen Romanen anschneidet und die er nicht nur mit der unvergleichlichen Sprachkunst des Dichters, sondern auch mit der bewundernswerten Kühnheit und Gescheitheit eines ungewöhnlich gebildeten Intellektuellen behandelt. Darüber will ich mit dem Autor von der anderen Seite der historischen Wissenschaft, besonders der Ägyptologie und der Religionsgeschichte, ins Gespräch kommen und so einige der zahllosen Anregungen aufnehmen, die Thomas Mann in dieser Richtung ausgestreut hat.

Diese Studie ist aus einer Vorlesungsreihe hervorgegangen, die ich auf Einladung der Münchner Universitätsgesellschaft und des Thomas-Mann-Förderkreises im November 2005 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität gehalten habe. Ich danke Inka Mülder-Bach sehr herzlich für die Vermittlung dieser Einladung und die ebenso gastliche wie intellektuell inspirierende Rahmung der Vorlesungen. Mein Dank gilt ferner dem Verlag C.H.Beck für die Drucklegung und großzügige Ausstattung meines Textes und Ulrich Nolte für die sorgfältige Betreuung im Lektorat. Ganz besonders bedanken möchte ich mich bei meinen Freunden Nicole und Florian Ebeling, die mich bei meinen Münchner Vorlesungen nicht nur begleitet und betreut, sondern auch noch beherbergt und verwöhnt haben. Zweimal, 1992/93 und 2002/03, hatte ich das Glück, mit dem Heidelberger Germanisten Dieter Borchmeyer, der zu den hervorragendsten Thomas-Mann-Kennern gehört, Seminare über die Josephsromane zu veranstalten, an denen auch Wolf-Daniel Hartwich, beim ersten als Student, beim zweiten als Privatdozent, sehr maßgeblich beteiligt war. Am zweiten Seminar nahmen darüber hinaus der Neutestamentler Klaus Berger und der Assyriologe Stefan Maul teil. Dieter Borchmeyer, Peter Huber und Hermann Kurzke nahmen die Mühen einer kritischen Lektüre des Manuskripts auf sich. Ihnen allen bin ich für zahlreiche Anregungen und Hinweise zu Dank verpflichtet. Widmen möchte ich dieses Buch in Trauer und Dankbarkeit dem Andenken des allzu früh verstorbenen, genialen Germanisten und Religionswissenschaftlers Wolf-Daniel Hartwich, mit dem mich in diesem wie in vielen anderen Themen ein enger, langjähriger Gedankenaustausch verband.

I
Der Brunnen der Vergangenheit

Die Frage des Menschen aber, woher er kommt, wohin er geht, die Frage nach seiner Stellung im All ist uns allen in diesen aufwühlenden Jahrzehnten zum geistig-religiösen Anliegen geworden, zum Problem, das sich jeder Lösung entziehen und bestimmt sein mag, ein Geheimnis zu bleiben, dem aber der Denker, der Anthropolog, der Altertumsforscher und Paläontolog, der Gesellschaftsphilosoph, der Dichter, jeder auf seine Art und mit seinen Mitteln seinen produktiven Tribut darzubringen sich gedrängt fühlt.[1]

Zum Ursprung der Dinge – und zurück

«Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?» Mit diesen Worten – einem der ganz großen Anfänge der Romanliteratur – beginnt Thomas Manns Tetralogie der Josephsromane. Die Seiten, die mit diesen Sätzen anheben, sind als «Vorspiel: Höllenfahrt» überschrieben. Dieses «Vorspiel» ist etwas ganz Einzigartiges, wie der ganze Roman ja in seiner Art ein kühnes, nie dagewesenes und einzigartiges Unterfangen ist. Eine der Besonderheiten dieses Vorspiels ist, daß es keine Einleitung in die mit dem ersten Kapitel anhebende Romanhandlung darstellt und auch gar nicht dem erzählenden Genre angehört. Der Roman könnte ebensogut ohne dieses Präludium anfangen, das den Leser mit Themen und Gedankengängen befrachtet, die zunächst einmal in dem was folgt kaum eine Rolle spielen und den Einstieg eher erschweren als erleichtern. Und tatsächlich ist der erste, «Ischtar» überschriebene Abschnitt des ersten Hauptstücks ein klassischer, einleitender Romananfang, der in großen geographischen und astronomischen Linien die raumzeitlichen Koordinaten absteckt, in denen sich die folgenden Szenen abspielen. Dies ist zweifellos der eigentliche Anfang der Erzählung; das «Vorspiel» ist ein Stück für sich und steht auf einer anderen Ebene. Bei einer Oper unterscheidet man zwischen einer «Ouvertüre», die vor geschlossenem Vorhang erklingt, auch allein für sich gespielt werden kann und dem symphonischen Genre angehört, und einer «Introduktion», die bei sich öffnendem Vorhang erklingt, bereits zur ersten Szene und zum dramatischen Genre gehört. Genau so läßt auch Thomas Mann seine Joseph-Tetralogie anheben: Das Vorspiel der Höllenfahrt, ein Essay im erörternden Genre, der auch für sich allein gelesen werden könnte, bildet die Ouvertüre, und der einleitende, «Ischtar» überschrie-bene Abschnitt des ersten Kapitels im erzählenden Genre bildet die Introduktion. Dazu hat aber Thomas Mann die beiden so verschiedenen Formen durch einen Trick miteinander verknüpft, indem er das erörternde Vorspiel unmittelbar, in musikalischer Terminologie würde man sagen «attacca», in das erste Kapitel übergehen läßt, wobei das Stichwort «Brunnen» die Brücke bildet. Vom allegorischen Brunnen der Vergangenheit, dessen unergründliche Tiefe das Vorspiel andeutet, versetzt uns das erste Kapitel an einen echten Brunnen, an dem sich die ersten Szenen der Handlung abspielen. Das Vorspiel verhält sich also zum Roman wie eine Ouvertüre zur folgenden Oper, in der ja auch einzelne wichtige Motive schon anklingen, die aber auch für sich allein aufgeführt werden kann und ihre eigene Struktur mit Anfang, Mitte und Ende hat.[2]

In der Tat ist ja die «Höllenfahrt» dem Vorspiel zur Ring-Tetralogie Richard Wagners nachempfunden, diesem in tiefster Tiefe auf dem Contra-Es anhebenden und dann über schier endlose Takte hin ausgefalteten Es-Dur-Akkord,[3] aber bei Wagner ist die thematische Nähe des gurgelnden und sprudelnden Es-Dur zum Thema Rhein (Rheingold, Rheintöchter), das sich in der folgenden Szene auftut, sehr viel leichter nachzuvollziehen. Thomas Mann dagegen gibt sich alle Mühe, sein Vorspiel zu einem ganz und gar eigenständigen und anspruchsvollen Essay auszugestalten. So locker nun aber die Beziehung des Vorspiels zu den ersten Kapiteln, so dicht ist sie zur Tetralogie insgesamt.

Worum geht es in diesem Essay? Es geht um die Vergangenheit und den Versuch, sich in ihr zu orientieren. Erzählen hat ja, wie wir von Harald Weinrich gelernt haben, mit der Vergangenheit zu tun. Alles Erzählen ist eine Rekonstruktion der verlorenen Vergangenheit und eine Exploration jener Dimension, die Thomas Mann mit der Brunnentiefe oder auch mit den Dünenkulissen einer Strandwanderung vergleicht. Die erzählende oder mythische Erinnerung macht sich an «Ursprüngen» und Erstmaligkeiten fest, die sich bei näherer Betrachtung als bloße «Kulissen» oder «Vorgebirge» erweisen, hinter denen sich immer weitere Kulissen auftun, ohne daß die forschende Rückbesinnung jemals an absoluten Anfängen haltmachen könnte. Im zweiten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen, der dem mythischen Denken gewidmet ist und 1925, also gleichzeitig mit Thomas Manns Vorarbeiten zum Joseph-Projekt erschien, hat Ernst Cassirer etwas ganz Ahnliches als den Gegensatz von Mythos und Geschichte beschrieben:

Wenn die Geschichte das Sein in die stetige Reihe des Werdens auflöst, innerhalb dessen es keinen ausgezeichneten Punkt gibt, in dem vielmehr jeder Punkt auf einen weiter zurückliegenden hinweist, so daß der Regreß in die Vergangenheit zu einem regressus in infinitum wird – so vollzieht der Mythos zwar den Schnitt zwischen Sein und Gewordensein, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, aber er ruht in der letzteren, sobald sie einmal erreicht ist, als einem in sich Beharrenden und Fraglosen aus.[4]

Der Mythos löst das Sein nicht ins Gewordensein auf, sondern verleiht ihm Tiefe, Bedeutung und Farbe. Der Forscher aber, der durch die mythischen Bilder hindurch den Stufen des Gewordenseins nachgeht, läuft Gefahr, sich in den anfangslosen Abgründen der Geschichte zu verlieren. Spielerisch, oder, wie er selbst es nennt, «in einer Art von pseudowissenschaftlich-humoristischer Fundamentlegung»[5] schlüpft Thomas Manns Erzähler-Persona in diesem Vorspiel in die Rolle des Forschers, der sich auf eine solche Zeitreise in die scheinbar bodenlose Vergangenheit begibt.

Dieses als «Höllenfahrt» überschriebene Vorspiel inszeniert das Vorhaben der Erzählung als eine Zeitreise, und diese als eine senkrechte Fahrt hinab in den Brunnenschacht der Vergangenheit. An die christliche «Hölle» dürfen wir dabei nicht denken; der Titel zitiert einen babylonischen Mythos, der als «Ischtars Höllenfahrt» bekannt war. Der Abstieg in die Unterwelt (Descensus ad inferos) ist ein in der ganzen Alten Welt und weit darüber hinaus verbreitetes mythisches Ur-Motiv, das im Christentum bis heute lebendig ist.[6] Zugleich ist ein Leit- und Zentralmotiv des ganzen Romanzyklus, wie im letzten Abschnitt des dritten Kapitels gezeigt werden soll, die Grundstruktur des Mythos, den Joseph seinem Selbstverständnis und seiner Lebensführung zugrunde legt, der Weg vom Leben durch Tod und Unterwelt zu neuem Leben. Thomas Mann läßt in seinen Josephsromanen konsequent drei verschiedene Bedeutungen von «Tiefe» ineinander übergehen: Welttiefe, Zeittiefe und Seelentiefe. Der Begriff «Hölle» bezieht sich auf die Welttiefe oder das Totenreich; hier aber steht er für die Zeittiefe, «die Unterwelt des Vergangenen» (7/IX), und der Abstieg wird zur Zeitreise. Das Motiv der Zeitreise ist plausibel genug: Das kühne Unterfangen, einen Roman in einer dreieinhalb Jahrtausende zurückliegenden Zeit spielen zu lassen, erfordert eine erklärende Vorbereitung. Dieses Thema wird aber erst am Ende des Vorspiels wiederaufgenommen, wo dem Leser erklärt wird, daß es gar so weit hinab ja nicht geht und daß er es letzten Endes mit Menschen wie unser einem zu tun haben wird, «einige träumerische Ungenauigkeiten ihres Denkens als leicht verzeihlich in Abzug gebracht» (40/LVIII). Das Motiv der Zeitreise bildet nur das Rahmenthema für Erörterungen sehr viel allgemeineren und grundsätzlicheren Charakters.

Ich kann mir keine bessere Einleitung in mein eigenes Projekt denken als eine etwas eingehendere Betrachtung der in diesem Vorspiel angeschnittenen Themen. Es handelt sich da um einen durchaus philosophischen Text, der um die Frage kreist, in welcher Weise uns die Vergangenheit gegeben ist, dieselbe Frage, die auch Proust, Bergson und Freud beschäftigte und der die moderne Kulturwissenschaft unter dem Stichwort des kulturellen Gedächtnisses nachgeht. In diesem Buch möchte ich die Josephsromane als einen Beitrag zu derartigen Fragen diskutieren, und zwar – unabhängig von jeder literarischen Qualität, die hier, wie gesagt, gar nicht zur Debatte steht – als einen der klügsten, reflektiertesten und differenziertesten, den sie nur irgend erfahren haben. Für das Thema des kulturellen Gedächtnisses kann man es nur als einen ganz einzigartigen Glücksfall bezeichnen, daß sich ein Dichter, ein Meister der Sprache seiner angenommen hat.

Ziehen wir also, um diese Fragestellung zu beleuchten, die großen argumentativen Linien des Vorspiels nach. Den Hauptteil zwischen dem Rahmenthema der Zeitreise bildet eine zweifache Bewegung. Zunächst wird am Beispiel dreier Ursprungsmythen der Gedanke der Kulissenbildung illustriert. Der biblische Mythos der Sintflut erweist sich als Umschrift eines viel älteren babylonischen Originals, und dieses wiederum zeigt durch seine vielen kommentierenden Glossen, daß ihm ein noch viel älteres, inzwischen unverständlich gewordenes Original vorausliegen muß. Von einer großen Flut wissen auch chinesische Quellen – sie liegt um 4200 Jahre zurück. Viel weiter in die Vergangenheit verweist der Mythos von Atlantis, das vor 11.000 Jahren in den Fluten versunken sein soll. «Chaldäische Berechnungen» setzen die Flut gar 39 180 Jahre vor der ersten babylonischen Dynastie an. Jede dieser Fluterzählungen ist nur Erinnerung an weiter zurückliegende Erzählungen. Nicht viel anders steht es mit der Erzählung vom Turmbau zu Babel. Wann und von wem wurde der Turm gebaut? Von Nimrod, dem ersten König von Babel? Auch dies ist nur eine Dünenkulisse; hinter ihr erhebt sich die große Pyramide des ägyptischen Königs Cheops, und auch die Leute von Cholula in Mittelamerika hatten ihren großen Turm und sahen in ihm das Bauwerk von Einwanderern aus dem Osten, wohl Kolonisten aus Atlantis. Schließlich die Erzählung vom Paradies. Wo lag der Garten Eden? Handelt es sich um die Oase von Damaskus? Ist damit das Niltal gemeint? Oder Babylon, das «Tor der Götter»? Oder das armenische Hochland? «Mit solcher Einsicht aber», schreibt Thomas Mann, «und indem man dem Lande Armenien die Palme reichte, wäre höchstens der Schritt zur nächstfolgenden Wahrheit getan; man hielte eben nur eine Kulisse und Verwechselung weiter.» Wie in der Zeit, so tun sich auch im Raum immer neue Distanzen auf. Für ihn ist klar, daß

der da und dort angesiedelte Paradiesgedanke seine Anschaulichkeit aus der Erinnerung der Völker an ein entschwundenes Land bezog, wo eine weise fortgeschrittene Menschheit in ebenso milder wie heiliger Ordnung glückselige Zeiten verbracht hatte. Daß hier eine Vermengung der Uberlieferung vom eigentlichen Paradiese mit der Sage eines Goldenen Zeitalters der Menschheit walte, ist nicht zu verkennen. Der Brunnen der Zeiten erweist sich als ausgelotet, bevor das End- und Anfangsziel erreicht wird, das wir erstreben; die Geschichte des Menschen ist älter als die materielle Welt, die seines Willens Werk ist, älter als das Leben, das auf seinem Willen steht. (28/XLf.)

Dreimal setzt der Erzähler, vom Heute ausgehend, an, um in der Zeit zurückdenkend einen Anfang festzumachen, und dreimal muß er erkennen, daß sich hinter diesem scheinbaren Anfang weitere Abgründe auftun. Damit wird die Unergründlichkeit der Brunnentiefe erwiesen, die Vergeblichkeit, im Abstieg in die Vergangenheit jemals auf festen Grund zu stoßen. Dann jedoch kehrt sich die Zeitrichtung um. Der Erzähler tastet sich nun nicht mehr vom Jetzt ausgehend zurück zu dem vermeintlich allerersten Anfang, sondern geht von einem jenseitigen, transzendenten und absoluten Ursprung aus: der «Gestalt des ersten oder des vollkommenen Menschen, des hebräischen adam qadmon, zu fassen als ein Jünglingswesen aus reinem Licht, geschaffen vor Weltbeginn als Urbild und Inbegriff der Menschheit.» Das ist der Roman der Seele, «jener Roman, dessen eigentlicher Held die abenteuernde und im Abenteuer schöpferische Seele des Menschen ist und der, ein voller Mythus in seiner Vereinigung von Ur-Kunde und Prophetie des Letzten, über den wahren Ort des Paradieses und die Geschichte des ‹Falles› klare Auskunft gibt.» Es geht um den Abstieg der Seele aus der göttlichen Lichtwelt in die Niederungen der materiellen Verkörperung. Auch dies ist eine Abwärtsbewegung, das Thema «Tiefe» ist beiden Teilen gemeinsam. Im ersten Teil jedoch geht es um einen chronologischen Abstieg, vom Jetzt zum Einst in illo tempore, im zweiten um einen ontologischen, aus dem Empyreum der Transzendenz in die niedere Welt der Materie.

Trotz dieser Gemeinsamkeit ist aber die Struktur der Gegenbewegung vorherrschend: zuerst aus der Immanenz des Hier und Jetzt heraus und hinein in die nie erreichbare Transzendenz eines absoluten Ursprungs, dann aus der Transzendenz eines absoluten Ursprungs hinein und voraus in die Immanenz der Zeit und Entwicklung. «Es ist kein Zweifel», betont Thomas Mann, «daß hier das letzte ‹Zurück› erreicht, die höchste Vergangenheit des Menschen gewonnen, das Paradies bestimmt und die Geschichte des Sündenfalls, der Erkenntnis und des Todes auf ihre reine Wahrheitsform zurückgeführt ist. Die Urmenschenseele ist das Älteste, genauer ein Ältestes, denn sie war immer, vor der Zeit und den Formen, wie Gott immer war und auch die Materie.» (31/XLIVf.)

Diese Seiten hat Thomas Mann unter intensiver Benutzung eines Aufsatzes des Iranisten und Religionswissenschaftlers Hans Heinrich Schaeder über «Die islamische Lehre vom vollkommenen Menschen, ihre Herkunft und ihre dichterische Gestaltung» (1925) geschrieben. In diesem Aufsatz geht es um den gnostischen Mythos des Urmenschen, wie er in späteren islamischen Quellen verarbeitet wurde, und damit um eine völlig andere Art von Mythos als in den Erzählungen, die Thomas Mann im ersten Teil des Vorspiels behandelt hat. Der erste Teil bezieht sich auf alte Legenden, der zweite auf einen neuen, philosophischen Mythos. Zwischen den Mythen des ersten Teils und dem Mythos des zweiten Teils liegt also eine entscheidende Grenze: die Grenze zwischen dem mythischen Denken des antiken und vorantiken Polytheismus und der theologisch-philosophischen Spekulation der Spätantike, die auf der (platonischen, iranischen, biblischen) Entdeckung der Transzendenz beruht. Der «Roman der Seele» ist von grundsätzlich anderer Art als die Mythen des ersten Teils. Nichtsdestotrotz ist aber auch er ein Mythos und kann daher die Grundlage für Thomas Manns Verfahren bilden, das Prinzip Mythos mit beiden Seiten, der weltimmanent-polytheistischen und der welttranszendent-monotheistischen zu verbinden.

Von dem Roman der Seele, mit dem die Zeitreise in den Brunnen der Vergangenheit an ihr äußerstes Ziel, den absoluten Ursprung aller Dinge, gelangt, greift Thomas Mann dann wieder in die fernste Zukunft aus und entwickelt seinen eigenen Mythos von der Synthese von Seele und Geist, der ein Mythos nicht des Ursprungs, sondern der Zukünftigkeit ist. Steht das Prinzip der «naturverflochtenen Seele» für die Vergangenheit, dann steht das Prinzip des «außerweltlichen Geistes»[7] für die Zukunft. «Das Geheimnis aber und die stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in ihrer Vereinigung, nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.» (36/LII) In einem Brief an Georg Vollmer, der ihn nach der im Vorspiel vertretenen «Weltanschauung» gefragt hatte, nennt Mann diese Stelle und schreibt: «Dies ist der Humanismus, der, eine Weltanschauung, wenn man will, das ganze Werk durchzieht und hier, wie ein Hauptmotiv einer Oper im Vorspiel zum ersten Mal aufklingt.»[8]

Ironie, Wissenschaft und tiefere Bedeutung

In der Brust des Erzählers, den Thomas Mann in diesem Vorspiel einführt, wohnen zwei Seelen. Er erscheint erstens als ein skeptischer Archäologe, der sich mit den Scheinantworten der Mythen nicht zufrieden gibt und tiefer gräbt, als es die landläufige Uberlieferung wissen will. Er ist ein gelehrter Kommentator, der den biblischen Stoff unablässig auf seine historische Stimmigkeit abklopft und unter dem biblischen Text die noch schwach lesbaren Spuren babylonischer, sumerischer und ägyptischer Textschichten zu entziffern vermag. So stoßen wir zum Beispiel gleich im ersten Satz des ersten Kapitels auf den Ortsnamen Urusalim. In der Tat, so heißt die Stadt Jerusalem in den Amarna-Briefen, der im ägyptischen Tell el-Amarna gefundenen, in babylonischer Sprache abgefaßten diplomatischen Korrespondenz aus dem 14. Jahrhundert v. Chr., dem Jahrhundert, in dem Thomas Mann seinen Roman spielen läßt.[9] Davon weiß die Bibel nichts; hier taucht Jerusalem erst viel später auf, als König David die Stadt von den Jebusitern erobert und zur Hauptstadt seines Königreichs macht. Auch die moderne Stadt Jerusalem weiß von ihrer Vorgeschichte als Urusalim nichts: sie führt sich nur auf David zurück und feierte im Jahre 1996 ihre Dreitausendjahrfeier. Das ist so ein typischer Pseudo-Ursprung, wie ihn der gelehrte Erzähler in diesem Vorspiel aufs Korn nimmt. Die volkstümliche Erinnerung macht sich an Fixpunkten fest, die der Historiker als Konstruktion durchschaut bzw. «dekonstruiert»; das ist die Rolle, in der sich Thomas Manns Erzähler mit sichtlichem Behagen gefällt, aber nicht nur das. Dieser Erzähler ist zweitens auch ein Denker, der seine Beobachtungen und Reflexionen zur Anfangslosigkeit der kulturellen Tiefenzeit zu einer weit gespannten und reich veranschaulichten Phänomenologie und Theorie des kulturellen Gedächtnisses und des mythischen Denkens ausbaut, die sich neben den gleichgerichteten Bemühungen Ernst Cassirers und anderer Theoretiker sehen lassen kann. Wir müssen uns also davor hüten, der berühmten Mannschen Ironie auf den Leim zu gehen: ironisch, humoristisch und pseudowissenschaftlich-spielerisch, wie er selbst immer wieder unterstreicht, ist nur die Rolle als orientalistisch und ägyptologisch ausgebildeter Historiker, also sein Umgang mit Daten und Fakten, zu verstehen. Diese Rolle ist textimmanent und gehört zur Erzählung dazu. Dazu schreibt Thomas Mann in seinem Essay «Joseph und seine Brüder»:

Die erörternde Rede, die schriftstellerische Einschaltung braucht nicht aus der Kunst zu fallen, sie kann ein Bestandteil davon, selber ein Kunstmittel sein. Das Buch weiß das und spricht es aus, indem es auch noch den Kommentar kommentiert. Es sagt von sich selbst, daß die oft erzählte und durch viele Medien gegangene Geschichte hier durch eines gehe, worin sie gleichsam Selbstbesinnung gewinne und sich erörtere, indem sie sich abspiele. Die Erörterung gehört hier zum Spiel, sie ist eigentlich nicht die Rede des Autors, sondern des Werkes selbst, sie ist in seine Sprachsphäre aufgenommen, ist indirekt, eine Stil- und Scherzrede, ein Beitrag zur Schein-Genauigkeit, der Persiflage sehr nahe und jedenfalls der Ironie: denn das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte ist pure Ironie.[10]

Die Ironie bezieht sich also nur auf den skeptischen, erörternden Historiker, aber nicht auf den reflektierenden Denker und seine Ambitionen als philosophisch, religions- und literaturwissenschaftlich gebildeter Intellektueller, und die Einsichten in das Wesen des mythischen Denkens und die Formen und Funktionen des kulturellen Gedächtnisses, an denen diese Romane und ganz besonders der erste so überreich sind, sind nicht nur sehr ernst gemeint, sondern verdienen auch sehr ernst genommen zu werden. Sie sind nicht nur in ihrer erfindungsreichen Anschaulichkeit und ihrem unerschöpflichen Detailreichtum das Schönste, sondern in ihrer geistigen Durchdringung des Gegenstands auch das Klügste, was jemals zur Verankerung des menschlichen Daseins in Vergangenheit und Zukunft, also zum kulturellen Gedächtnis gesagt wurde. Der Erzähler hat seine philosophischen Neigungen so geschickt hinter der ironischen Maske des skeptischen Kommentators versteckt, daß diese Ebene des Werks bisher einigermaßen unterbelichtet geblieben ist. Daher möchte ich den Vorschlag machen, die Josephsromane einmal nicht als sprachliches Kunstwerk, sondern als eine Art «Sachbuch» zu lesen.

Die Lektüre der Josephsromane als «Sachbuch» provoziert einen naheliegenden Einwand. Thomas Mann hat seine Erzählung auf den Ton ironischer Heiterkeit gestimmt und sein Projekt brieflich einmal als einen «Mammut-Spaß» charakterisiert.[11] In einem anderen Brief wehrt er sich dagegen, für einen philosophisch anspruchsvollen Autor gehalten zu werden:

… besonders absurd kommt es mir dann vor, daß man mich manchmal für einen olympisch feierlichen Autor hält, «ponderous» und philosophisch anspruchsvoll, wo ich doch wesentlich ein Humorist bin und all das Meine voll von Späßen und Musik ist.[12]

In seinen brieflichen Äußerungen über das Joseph-Projekt, die Hans Wysling und Marianne Eich-Fischer zu einem «Selbstkommentar» zusammengetragen haben, begegnet das Attribut «humoristisch» auf Schritt und Tritt.[13] Wer die Josephsromane trotzdem als einen wichtigen Beitrag zur historischen Anthropologie und Religionstheorie ernst nimmt, liest sie gegen den Strich und muß sein Unternehmen rechtfertigen. Ohne jeden Zweifel ist ihr Anspruch, die «frommen Historien so [zu] erzählen, wie sie sich wirklich zugetragen haben»,[14] also den Abstand zwischen jeder wissenschaftlichen Rekonstruktion und der niemals unmittelbar wiederzugewinnenden Vergangenheit mit den Mitteln der künstlerischen Imagination im Medium der literarischen Fiktion zu überspringen, spaßhaft, spielerisch und ironisch zu verstehen. Dieser fiktionale Zugriff auf das schlechthin Entzogene läßt sich in einem historischen Roman aber auch ohne jede Ironie und unter vollkommener Ausblendung einer Erzähler-Persona realisieren wie etwa in Flauberts Salammbô. Thomas Mann wählt den umgekehrten Weg und personifiziert diesen Zugriff in der Gestalt eines auktorialen Erzählers, der durch seine unverkennbaren Ironiesignale die fiktional übersprungene Distanz andeutet.[15]

Ins Arsenal des ironischen und humoristischen Kommentators gehört das historische Sachwissen, mit dem der Erzähler seine Geschichte unterfüttert. Dieses Sachwissen meine ich nicht, wenn ich vorschlage, die Josephsromane als «Sachbuch» zu lesen. Thomas Mann hat sich bekanntlich für seine Romane sehr viele auch wissenschaftliche Kenntnisse angeeignet – soziologische, medizinische, musikalische, und in unserem Fall eben auch orientalistische, ägyptologische, alttestamentliche, judaistische und religionsgeschichtliche – die er dann nach Vollendung des jeweiligen Werkes schnell wieder vergessen hat. Auf einer tieferen Ebene seiner geistigen Existenz aber haben sich diese mit so ungeheurem Fleiß angelesenen Wissensgebiete zu einer einzigartigen intellektuellen Bildung verdichtet, die seiner Stimme bei aller spielerischen Ironie eine große Autorität verleiht. In dieser Hinsicht gehen die Josephsromane weiter als die übrigen Werke Thomas Manns, vielleicht sogar einschließlich des Doktor Faustus. Von keinem anderen seiner Werke kann die betroffene Wissenschaft so viel lernen wie von diesem. Mit «betroffener Wissenschaft» meine ich freilich nicht Fächer wie Orientalistik, Ägyptologie, Theologie usw., sondern die allgemeine Kulturwissenschaft, wie sie sich erst in den letzten zwanzig Jahren, also lange nach Thomas Manns Tod, etabliert hat. In dem Autor der Josephsromane hat sie, diese These würde ich aufzustellen wagen, ihren bedeutendsten Pionier und Vorläufer. Das gilt in einem ganz besonderen Sinne für jene Richtung innerhalb der allgemeinen Kulturwissenschaft, der sich Aleida Assmann und ich verschrieben haben und die mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses verbunden ist. Vielleicht liegt es an dem verspäteten Aufkommen dieser Wissenschaft, daß die Josephsromane bislang noch nicht jenseits ihres literarischen Rangs in ihrer wissenschaftlichen und philosophischen Bedeutung so richtig zur Geltung gekommen sind.[16] In diesem Buch bemühe ich mich um eine kulturwissenschaftliche Lektüre der Josephsromane. Das heißt, daß die literaturwissenschaftlichen Fragestellungen, nach Aufbau, Sprache und Erzählperspektive, Quellen und Einflüssen, Rezeption und Wirkung eher im Hintergrund bleiben und die Fragen nach den Beobachtungen, Argumenten, Konzepten und Theorien, wie man sie auch an ein wissenschaftliches Werk stellen würde, im Mittelpunkt stehen werden. Dabei werde ich mir auch die Freiheit nehmen, den Kulturwissenschaftler Thomas Mann – natürlich nicht den Dichter – gelegentlich zu kritisieren, denn nichts anderes heißt ja, einen Autor intellektuell ernst zu nehmen. Umgekehrt bedeutet der ständige Rekurs auf dichterische Freiheit, die referenzlose «Heiterkeit» der Kunst und die ironische Pseudowissenschaftlichkeit des Joseph-Projekts einen Verzicht auf historische Erkenntnis, mit dem Thomas Mann, das wage ich einmal zu behaupten, ganz gewiß nicht einverstanden wäre.[17] Das ist natürlich Dichtung, fiktionale Konstruktion und nicht wissenschaftliche Rekonstruktion mit Hunderten von Anmerkungen, die jede Aussage mit Quellenverweisen unterfüttern. Es wäre aber ein, wenn nicht leichtes, doch jedenfalls mögliches Unterfangen, diese Hunderte oder gar Tausende von Anmerkungen zu ergänzen und Thomas Manns Roman gewissermaßen in eine wissenschaftliche Rekonstruktion zurückzuübersetzen. Der Autor selbst hätte sich den Spaß machen können, überall dort, wo er ganz offensichtlich Informationen aus der Sekundär- und Primärliteratur benutzt, eine entsprechende Fußnote anzubringen. Natürlich hat er das nicht getan, denn das hätte die literarische Form des Werks zerstört.

Wir berühren hier das Problem der «wissenschaftlichen Prosa», für die zum Beispiel die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen jährlichen «Sigmund-Freud-Preis» ausgeschrieben hat. Hätte Thomas Mann sich mit den Josephsromanen diesen Preis verdient? Sicherlich nicht: auch in ihren anspruchsvollsten Partien wahrt seine Prosa immer den Abstand zwischen dem Literarischen und dem Wissenschaftlichen. Der Begriff der Fiktionalität genügt nicht, um die literarische Prosa zu kennzeichnen, denn wir sprechen ja von Partien und Aspekten des Werkes, die den Anspruch erheben, sich auf tatsächliche, zum Beispiel anthropologische Tatbestände wie das «mythische Denken» zu beziehen. Auch die bei Thomas Mann immer spürbare Anwesenheit des Erzählers oder Berichterstatters reicht nicht hin, seine Prosa als literarisch zu kennzeichnen, denn gerade dieses Element zeichnet auch die Sprache Sigmund Freuds aus und berechtigt die Darmstädter Akademie, sie als Vorbild «wissenschaftlicher Prosa» herauszustellen. Normale Wissenschaftler produzieren keine «Prosa», sondern informative und mehr oder weniger lesbare Texte. Zur Prosa wird ein wissenschaftlicher Text erst durch eine besondere Brillanz, wie sie im Falle Sigmund Freuds durch die spürbare Anwesenheit eines Autors gegeben ist, der jeden Schritt der Argumentation reflektierend begleitet und sich und dem Leser Rechenschaft ablegt über die Beschaffenheit des festen oder schwankenden Bodens, auf dem er sich bewegt. Dieses Verfahren ist dem Thomas Manns durchaus vergleichbar. Für seine Form des ironischen Realismus hat auch die Wissenschaft, nachdem sie sich vom positivistischen Ideal historischer Objektivität losgesagt und die Standortgebundenheit jeder wissenschaftlichen Rekonstruktion einzusehen gelernt hat, einen ganz neuen Sinn entwickelt.

Mann hat sich übrigens selbst in einer Miszelle anläßlich des Erscheinens einer deutschen Ausgabe von Leonard Woolleys Ur und die Sintflut[18] zur Frage der Nähe und Distanz zwischen wissenschaftlicher und literarischer Prosa geäußert:

Es gibt einen Büchertyp heute, mit dem an Interesse zu wetteifern der Roman, die komponierte Fiktion, allergrößte Mühe hat. Es ist schwer, ihn zu kennzeichnen; um anzudeuten, welchen ich meine, nenne ich «Urwelt, Sage und Menschheit» von Dacqué, Yahudas «Sprache des Pentateuch», «Die Wirklichkeit der Hebräer» von Goldberg, «Totem und Tabu» von Freud, Max Schelers «Stellung des Menschen im Kosmos», die aufregenden Essays von Benn, betitelt «Fazit der Perspektiven»...[19]

Eine seltsame Liste! Edgar Dacqué,[20] Abraham Yahuda[21] und Oskar Goldberg kann man zu den vergessenen Autoren rechnen, auch wenn Oskar Goldberg in der Thomas-Mann-Forschung ein gewisses Nachleben beschert ist.[22] Ihre Bücher sind aus heutiger Sicht bestenfalls als verstiegen zu kennzeichnen, bei allem Interesse, das Thomas Mann bei seinen Vorstudien zu den Josephsromanen für sie aufgebracht haben mag. Die Bücher von Freud und Scheler dagegen sind heute Klassiker, genau wie die Essays von Benn, bei denen man allerdings nicht weiß, auf welche Seite der Schattenlinie zwischen wissenschaftlicher und literarischer Prosa man sie stellen soll. Dies jedenfalls sind Bücher, mit denen Thomas Mann «an Interesse wetteifern» will. Was ist das für ein Interesse? Gewiß kein literarisches, sondern ein sachlich-thematisches. Das sind Bücher, denen sich Thomas Mann mit seinem Joseph-Projekt thematisch verwandt fühlt.

Was nun jene Schattenlinie angeht, so liegt der Unterschied im Falle Thomas Manns in Humor und Ironie.[23] Beide, der Dichter und der Wissenschaftler, streben eine Art von reflektiertem Realismus an, der sich der Aufgabe verschreibt, die Wirklichkeit darzustellen und dabei zugleich über die Möglichkeit solcher Darstellung und die Wirklichkeit des Dargestellten Rechenschaft abzulegen. Der ironische oder humoristische Charakter solcher Reflexion, die Eigenheit der Mannschen Methode, wäre allerdings für den Wissenschaftler absolut vernichtend. Dadurch entzieht sich der literarische Erzähler einer argumentativen Regreßpflicht, die für den Wissenschaftler konstitutiv ist. Ironie fungiert in Thomas Manns Erzähltechnik als Markierung von Differenz, als ein Abgrenzungssignal gegenüber solcher wissenschaftlichen Regreßpflicht. Der Verzicht auf diese Regreßpflicht erlaubt ihm so weitgehende Hypothesen wie die Rekonstruktion des frühen Menschentums im Sinne der «nach hinten offenen» Identität von «Menschen, die nicht so recht wußten, wer sie waren», auf die wir im ersten Kapitel ausführlich eingehen werden. Um eine so schlüssige und umfassende Wesensbestimmung des frühen Menschen könnten wir Wissenschaftler Thomas Mann gar nicht anders als glühend beneiden, denn das ist genau das Ziel jeder historischen Anthropologie – wenn er sie nur irgend belegen könnte. Er gibt aber dafür keine anderen Beispiele als die von ihm geschaffenen Figuren seiner Erzählung, und so ist auch diese Wesensbestimmung ein Produkt seiner spekulativen Phantasie, was nicht heißt, daß sie falsch ist, sondern nur, daß sie in historischen Quellen nicht zu belegen und daher unverbindlich ist. Der Lohn für die wissenschaftliche Regreßpflicht ist die Verbindlichkeit der wissenschaftlichen Aussage, die daher nur soweit gehen kann, wie der Autor dafür aufgrund seiner Quellen einzustehen vermag. So wie für die wissenschaftliche Prosa Sigmund Freuds die Ironie, so wäre für die literarische Prosa Thomas Manns die fußnotengestützte Regreßpflicht tödlich. So konstitutiv und unverzichtbar sie für den wissenschaftlichen, so unvereinbar ist sie mit dem literarischen und ästhetischen Text. Das heißt aber nicht, daß Thomas Mann seine Idee des frühen Menschentums nicht durchaus ernst meint. Abwehr argumentativer Regreßpflicht bei gleichzeitigem Wahrheitsanspruch ist im übrigen nicht das ausschließende Kennzeichen des Literarischen, sondern kennzeichnet weit darüber hinausgehend eine bestimmte Form des Erzählens, zu der etwa auch der Mythos gehört. Thomas Mann zieht in den Josephsromanen mit dem Mittel der ironischen Distanz eine deutliche Grenze zwischen Dichtung und Wissenschaft, die er jedoch vielfältig überschreitet und unterminiert. Das macht die Modernität und den Rang dieser Romane aus. Die Trennung zwischen fact und fiction ist konventionell und seit der Antike fest etabliert. Das Besondere ist ihre Überschreitung, ist die Produktion eines literarischen Textes, der seinen Lesern zugleich mit der fiktionalen Romanwelt auch eine Sachwelt erschließt, und zwar in einer Deutlichkeit und Konkretheit, wie sie nur der literarischen Einbildungskraft im hypothetischen Vorgriff auf Belegbarkeit möglich ist.

Bruch contra Kontinuität

Um an einem Beispiel zu veranschaulichen, wie die Josephsromane als Sachbuch zu lesen und mit ihrem Autor in ein kritisches Gespräch zu kommen wäre, möchte ich die These von der Beginnlosigkeit und bruchlosen Kontinuität der geistigen Entwicklung der Menschheit herausgreifen, die Thomas Mann im Vorspiel zu den Josephsromanen entfaltet. Ich sehe das recht anders. In meinen Augen ist die geistige Welt voll von «Gründungen», die etwas zu ihrer Zeit radikal Neues darstellten und diese Welt von Grund auf veränderten: die Erfindung des Ackerbaus und damit der Seßhaftigkeit, die Erfindung der Schrift und des Staates, der Monotheismus, das wissenschaftliche Denken, die Demokratie, der Buchdruck – wie haben diese Erfindungen die Welt und vor allem den Menschen verändert, der sich ihrer bedient! Aber angesichts der extremen Form, in der das «Vorspiel» den – von dem heute vergessenen Paläontologen Edgar Dacqué übernommenen[24] – Gedanken der bodenlosen Beginnlosigkeit durchführt, darf man sich wohl mit Recht fragen, ob es Thomas Mann damit so ganz ernst war. Ernst war es ihm aber auf jeden Fall mit der These von der «Einheit des Menschengeistes», die jeden grundsätzlichen Wandel zwischen den frühen Hochkulturen und den religiösen und philosophischen Bewegungen in Israel und Griechenland leugnet, wie ihn die monotheistischen Religionen mit ihrer Ausgrenzung des «Heidentums» und die Wissenschaft mit ihrer Trennung von Mythos und Logos betonen. Der Philosoph Karl Jaspers hat diese grundsätzliche Wasserscheide des Denkens und Glaubens in seinem 1949, also lange nach den Josephsromanen erschienenem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte als «Achsenzeit» beschrieben. Darunter versteht Jaspers eine menschheitsgeschichtliche Wende, in der zuallererst, wie er meint, «der Mensch entstand, mit dem wir bis heute leben».[25] Damit ist die genaue Gegenposition zu Thomas Manns Geschichtskonzeption bezeichnet. Wo Thomas Mann Beginnlosigkeit und Kontinuität postuliert, plädiert Jaspers fur die Entstehung von etwas ganz und gar Neuem und für einen radikalen Bruch mit dem Alten. Ich selbst neige mehr der Jaspersschen Sicht zu und meine, daß mit dem Monotheismus und dem wissenschaftlichen Denken in der Tat etwas ganz Neues in die Welt gekommen ist.[26] Dennoch steht Thomas Manns Position in meinen Augen der Jaspersschen an Seriosität und Überzeugungskraft in nichts nach. Die Achsenzeit, in Jaspers’ Sicht, umfaßt die Jahrhunderte um 500 v. Chr. In dieser Zeit traten in Ost und West ungefähr gleichzeitig die großen Individuen auf, Konfuzius, Laotse, Mengtse, Buddha, Zarathustra, Jesaja und die anderen biblischen Propheten, Pythagoras, Sokrates, Platon usw., die es auf sich nahmen, unabhängig von jeder staatlichen oder religiösen Institution die Rahmenbedingungen der menschlichen Existenz radikal neu zu durchdenken und auf die Grundlage von Gewißheiten zu stellen, die in einem ganz neuen Sinne als wahr erkannt wurden. Der erste, der auf die eigentümliche Gleichzeitigkeit dieser Entwicklungen aufmerksam gemacht hat, war Anquetil DuPerron, ein Iranist des 18. Jahrhunderts und Entdecker des Zend-Avesta. Er sprach von einer «grande révolution du genre humain»,[27] und genau das ist auch die Bedeutung, die Jaspers und andere Kulturphilosophen wie Alfred Weber[28] und Eric Voegelin[29] dieser Epoche zusprachen. Nachdem der Jerusalemer Soziologe Shmuel Eisenstadt diese Theorie seit den siebziger Jahren in einer Serie von internationalen Tagungen mit den Vertretern der betroffenen Disziplinen diskutiert und erheblich verfeinert hat, gilt sie heute als allgemein anerkannt.[30] Um so wichtiger ist es, Thomas Manns wohlbegründeten Einspruch zur Kenntnis zu nehmen.

Keineswegs, würde Mann entgegenhalten, entstand der «Mensch, mit dem wir bis heute leben» irgendwann zwischen 800 und 200 v. Chr. Das würde ja bedeuten, daß uns jedes Verständnis für die früheren, in archäologischer Terminologie: «bronzezeitlichen» Kulturen wie Babylonien und Ägypten verwehrt ist, daß deren Menschentum uns unzugänglich ist und deren Texte für uns unlesbar sind. Was Thomas Mann in seinen Josephsromanen – und ganz besonders im ersten, den Geschichten Jaakobs – unternimmt, ist nichts Geringeres als der Versuch, uns die Menschen des 14. vorchristlichen Jahrhunderts als Unsereiner vor Augen zu führen und sie uns gerade in der Andersartigkeit ihrer geistigen Bildung, ihres Weltbilds und ihrer Denkformen verständlich zu machen. Wo Jaspers, Alfred Weber, Voegelin usw. einen Bruch postulieren (Voegelin spricht sogar von einem leap in being, einem Seinssprung), da postuliert Thomas Mann Kontinuität. Für ihn führt eine ungebrochene Linie geistiger Entwicklung von Abraham, den die Tradition noch in der mittleren Bronzezeit, irgendwann im 18. Jahrhundert v. Chr. ansetzt, bis in unsere Tage, und in seinem Joseph ist nicht nur die Vergangenheit bis weit zurück zu Gilgamesch und Osiris gegenwärtig, sondern auch schon die jüdische, griechische und christliche Zukunft ahnungsvoll präfiguriert. Obwohl Thomas Mann einmal den erstaunlichen Satz formuliert: «Gott ist die Unterscheidung», ist er selbst doch kein Denker der Differenz. Das Andere wird in seiner Fremdheit bei ihm nicht deutlich; anders als in romantischen Klischees, die er mehr oder weniger spielerisch und ironisch vor allem aus Johann Jakob Bachofen bezieht, tritt das Archaische bei ihm nicht in Erscheinung. Ich möchte auch dies an einem Beispiel veranschaulichen, auf das ich noch oft zurückkommen werde. Mann entwickelt seine Theorie der Verwandlung des Archaischen vom Vorbildlichen, Musterhaften, zu Greuel und «Unflat» im Licht einer fortschreitenden Entwicklung des menschlichen Denkens und Empfindens und läßt seinen Joseph diese Idee in einem sehr hübschen Gleichnis entfalten:

Weiß wohl auch der heitere Wipfel viel von der kotigen Wurzel? Nein, sondern ist mit dem Herrn hinausgekommen über sie, wiegt sich und denkt nicht ihrer. Also ist’s, meines Bedünkens, mit Brauch und Unflat, und daß die fromme Sitte uns schmecke, bleibe das Unterste nur hübsch zuunterst.[31]

Dieser Gedanke wird jedoch in seinen großartigen Möglichkeiten nicht ausgeführt; die in dieser Vorstellung implizierte ständige Bedrohung der Gegenwart durch das Vergangene, das sie als Phobie und Abscheu – «die kotige Wurzel» – in sich trägt, wird einem Optimismus nicht zum Problem, der davon ausgeht, das Unterste «nur immer hübsch zuunterst» halten zu können.

Fiktion und Fest