GESCHICHTEN
Verlag C.H.Beck
“Die jungen Wilden aus dem literarischen Untergrund Berlins … Sie beobachten alles. Und sie erinnern sich an alles” – so Henryk M. Broder im SPIEGEL über Jochen Schmidt und seine schreibenden Kollegen, die sich regelmäßig in der Berliner Literaturszene zu öffentlichen Lesungen treffen. In der Tat schreibt Jochen Schmidt über all das, was er um sich herum erlebt, sieht und hört, und läßt daraus wunderbar skurrile Charaktere entstehen. Seine Geschichten tragen so schöne Titel wie Harnusch mäht als wärs ein Tanz oder Triumphgemüse. Sie sprechen vom Leben im Oderbruch und davon, wie eine Stadt sich verändert, sie sprechen von der Gegenwart und von der Vergangenheit, von Zeit im allgemeinen und von ihrem Stillstand im besonderen – und vom alten Harnusch, der so schön mähen konnte, daß sogar der Tod ihm seine Sense überließ.1999 hat Jochen Schmidt für seine Geschichte Harnusch mäht als wärs ein Tanz einen der drei ersten Preise des Open-Mike-Wettbewerbs der Literatur-WERKstatt Berlin gewonnen – wie zuvor schon Karen Duve, Julia Franck und die Bachmann-Preisträgerin Terézia Mora. Die vorliegende Sammlung von Geschichten enthält die prämierte Erzählung und zeigt zugleich das Spektrum seines Könnens in ganzer Breite.
Besuchen Sie Jochen Schmidt auf der Chaussee der Enthusiasten: http://jochen-schmidt.blogspot.de/
Jochen Schmidt ist 1970 in Berlin geboren und lebt dort. Er liest jede Woche in der Chaussee der Enthusiasten, hat bei C.H.Beck die Erzählbände „Triumphgemüse“ (2000), „Meine wichtigsten Körperfunktionen“ (2007) und „Der Wächter von Pankow“ (2015) sowie die Romane „Müller haut uns raus“ (2002) und „Schneckenmühle“ (2013) und, gemeinsam mit Line Hoven, „Schmythologie“ (2013) veröffentlicht.
Danke, Panke
Berufe: Der Bastler
Harnusch mäht als wärs ein Tanz
Berufe: Der Amerikaner
Der blaue Reifen
Berufe: Der Torwart
Die Kirche im Dorf
Berufe: Der Busfahrer
Berufe: Der Könner
Seltsamer Schwebezustand
Berufe: Der Komiker
Herr Tatziet versteht die Welt nicht mehr, und niemand will ihn verstehen
Berufe: Der Kleindarsteller
Es ist, was es ist, und das nicht zu knapp
Berufe: Der Stierkämpfer
Maik und der Tag X
Berufe: Der Kranführer
Triumphgemüse
Berufe: Der Stotterer
Berufe: Elf Trainer
Berufe: Der Eskimo
Chaussee Enthusiastow
Danke, Panke
Auf dir schwamm mir ein blaues Boot davon
Ich konnte es nicht mehr erreichen
Noch viele Boote schwammen mir davon
Und jedesmal wollt ich mir nicht mehr gleichen
Denn nur wenn etwas wegschwimmt geht man weiter
Als man bis dahin hatte gehen müssen
Und auf dem Rückweg ist man dann bereiter
Dem Leben zu mißtrauen, auch den kleinen Flüssen
Und darum gilt mein Dank der Pank
Die mir mein Boot nahm ohne Dank
Zur Strafe stauten wir sie an mit Müll
Als dann die Bagger kamen war da ein Gefühl
Als hätten wir uns in den Weltlauf eingewoben
Und hatten dabei nur den Wasserstand gehoben
Was bedeutet Gelingen? In vielen Berufen die Verwechselbarkeit des Produkts (der Polizist will immer die gleiche Ordnung, der Feuerwehrmann ist in immer gleicher Weise gegen das Feuer, der Zugführer darf selten so schnell fahren, wie er eigentlich schon immer will, und nie dorthin, wo er sich seit langem glücklicher wähnt). Die Leistung dieser Meister besteht darin, daß man ihre Arbeit nicht bemerkt. Nur mit ihren Berufskollegen könnten sie, wenn diese nicht so neidisch wären, ihre Befriedigung teilen. Von anderen Berufen nimmt überhaupt niemand Notiz. Soll das so bleiben?
will eigentlich immer ein Flugzeug bauen. Doch dann baut er doch wieder nur ein Wasserrad für eine Glühbirne, die keiner braucht. Niemandem verrät er seine Idee für eine Bienenwachsschmelze, die sich automatisch mit der Sonne dreht. Denn er vertraut den Menschen nicht, die nicht ahnen, wie sehr ein Bastler an seinen Ideen hängt. Eigentlich lebt er friedlich in seinem Haus. Alle paar Jahre muß er anbauen, um Platz für Materialien zu schaffen, denn weggeworfen wird nichts. Seine Frau nennt es Gerümpel, für ihn sind es Schätze, die er aus ihren Müllkästen birgt. Irgendwann kann schließlich alles einmal von Nutzen sein. Aluminiumkaffeetüten für Vogelscheuchen, Papierreste als Dämmstoff für den Hühnerstall, eine alte Sahnespritze als Wasserpistole für die Dorfkinder. Der Bastler sieht in den Dingen, was aus ihnen werden will. Er ist nämlich auch Lehrer. Was soll er nur mit den bösen Erinnerungen machen, die auf seinem Gewissen lasten – die würde er gerne wegwerfen. Er wünscht sich auch seinen Arm zurück, den er im Krieg gelassen hat. Viel besser könnte er mit zwei Händen basteln. Er hat sich aber längst abgewöhnt, mit Gedanken daran, Zeit zu vertrödeln, denn er hat noch so viel fertigzustellen, und überhaupt muß es vorwärts gehen. Nützlich wäre ein Zementmischer, der aus einer Waschmaschinentrommel geboren werden will. Oder eine neuartige Bienentränke. Ein Faltboot mit Segelantrieb. Und sollte die Wasserkaskade, wie er sie von Escher kennt, nicht doch zu bauen sein? Und was ist mit Leonardos Flugapparat? Was geht dem Bastler durch den Kopf, wenn er beim Essen schweigt, und seine Frau ihn weckt: «Träumst du schon wieder vom Meer?» Das gibt uns, wenn wir ihn als Kind besuchen, eine erste Ahnung davon, daß Männer träumen, wenn sie nichts tun. Vor allem Bastler, die die verträumtesten Menschen sind. Deshalb kommen ihre Bomben und Schießgewehre auch manchmal in falsche Hände. Dem beugen sie aber durch den Einbau von Fehlern vor. Das ist alte Bastlersitte.
«Harnusch weiß nich, was Krankheit uff sich hat», hatte Frau Tatziet jahrelang bewundernd, aber auch ein bißchen mißtrauisch versichert, denn bei Bauer Harnusch wußte man nie, und wenn der nicht krank wurde, dann war das nicht das einzige, was bei ihm nicht wie bei allen war.
«Und jetzt ist er tot, wenn man das so nennen kann.» «Wieso? Tot ist doch tot?» «Das sagst du so, aber das ist doch nicht das gleiche, ob einer wartet, bis seine Zeit gekommen ist, oder ob er sich einfach aus dem Staub macht.» «Er hat sich umgebracht?» «Doch nicht der Harnusch.» «Aber er lebt nicht mehr?» «Nein, leben lebt er nicht mehr, aber tot kann man das nicht nennen, ich weiß nicht, wie mans nennen soll, darüber zerbrich du dir mal den Kopf, du siehst ja auch schon wieder ganz vergeistigt aus, iß lieber noch was, die Wurst war für dich berechnet, oder soll ich das wieder einpacken? Iß mal, ich wasch ab, und du kannst dich verkrümeln.» «Jetzt will ich aber wissen, was mit Harnusch war, ob er gestorben ist, und warum das was anderes sein soll als tot.» «Ich quatsch doch sowieso schon bloß noch Unsinn.» «Ich weiß noch, wie er immer den Pirol verjagt hat, damit der keinen Regen bringt, und wie ich nie verstanden habe, was er gesagt hat, weil das ganz anders klang als bei uns. Er hat mir auch versucht, das Mähen beizubringen, aber ich konnte machen, was ich wollte, er hat immer nur den Kopf geschüttelt.» «Hier haben alle von ihm Mähen gelernt. Aber weil sies schnell haben wollen, kaufen sich die Jungen diese schrecklich lauten Motordinger. Muß man ja auch verstehen, wenn mans nicht richtig kann, ists kein Vergnügen.» «Ich weiß noch, wie er einmal zu mir gesagt hat: heut gibts Frikadellen, und ich sag: das heißt Fleischklößchen, und er sagt: ich kenn mich mit den Ausdrücken nicht so gut aus, und ich war ganz empört: Fleischklößchen ist doch kein Ausdruck! da sagt er: na, wenn ichs zu dir sage schon.» «Na bitte, du erinnerst dich doch selber.» «Deshalb muß ich aber jetzt auch wissen, wie das war zuletzt.» «Da muß ich mich erst in Ruhe hinsetzen, sonst krieg ich meine Gedanken nicht zusammen.» «Dann setz dich, ich hol dir die Wolldecke.»
*
«‹Heef mich hoch›, war immer sein erster Satz gewesen, wenn er am Morgen aufgewacht war, und seine Frau schon in die Pantoffeln schlüpfte: ‹Heef mich hoch, du alte Schachtel.› Du hast ja die Frau Harnusch nie anders als gebückt gesehen, weil sie immer bei der Arbeit war, immer was aufsammelte oder einpflanzte, und später war ihr Rücken krumm, und obwohl sie jünger war als Harnusch, trug sie schwerer an allem. Und sie stand auch wirklich immer vor ihm auf, aber nicht, weil sie so verliebt war in den Morgen, sondern, weil sie ihrem Mann aus dem Weg gehen mußte, der wurde ja, je weniger er sich bewegen konnte, um so streitsüchtiger. Jetzt hat ihn der Herrgott hochjeheeft, aber ob der sich das nicht noch mal anders überlegt, ich möcht fast dran glauben, bei Harnusch weiß man nie. Es gab keinen schlimmeren Deibel als den, seine Frau hat er ins Grab gebracht mit seinen Trietzereien, und die Enkelin, die für ihn sorgte, hatte es weiß Gott schwer, weil er noch immer nicht zur Ruhe gekommen war, in seinem Wesen, als Mann, du verstehst schon, da hat er ihr mit dem Stock nachgestellt, vom Bett aus, der Enkelin, so ein Deibel war das, aber du hast ihn ja auch noch mähen sehen, und da mußt du mir zustimmen, mähen mähte der, als wärs ein Tanz, so elegant wie einer vom Ballett, wie ichs mir jedenfalls vorstelle beim Ballett, ich habs ja nie gesehen.» «Du warst nie im Ballett?» «Wie denn? Soll ich die Hühner an der Garderobe abgeben? Ich kanns mir doch auch so ganz gut vorstellen, so wie der Harnusch gemäht hat, genau so stell ichs mir vor, wenn ichs mir vorstelle. Ich war übrigens überhaupt nicht mehr im Theater, seit der Theaterbus nicht mehr verkehrt, dabei war das immer ein treues Völkchen gewesen, im Theaterbus nach der Stadt, aber jetzt haben alle Autos, und die keins haben sind tot. Viel ist eben nicht mit Kultur bei uns, bis auf den Posaunenchor und den Theaterbus, dens nicht mehr gibt. Ich weiß noch, wie Irmchen Ulrich aus der Vorstellung getragen werden mußte, die hatte sich so erschreckt, da war was Neues gespielt worden, ich glaube von Brecht, das war schon was, wir kannten doch von früher nur unsere Durchhaltestücke und später meist Komödie und Russen, und bei dem Brecht, da trugen die Schauspieler Masken, und Irmchen war das so grausig, die ist grün angelaufen und mußte rausgetragen werden, die könnte mich übrigens auch mal besuchen, fällt mir ein, aber die ist vom Schloßberg, und da muß man schon sagen, sie soll kommen, damit sie dann auch kommt, von selber kommen die vom Schloßberg nicht. Na, jedenfalls, ich wollte sagen, beim Ballett bin ich nie gewesen, das gibts nicht in der Stadt, aber besser kann es da nicht sein, als wenn man Harnusch beim Mähen zusah, der tanzte mit seinen kurzen Beinen über die Wiese, und jede Bewegung war so leicht und elegant, wie einstudiert, daß man sich hätte verlieben können in den Anblick, und dabei wußte man, wie schwer der seiner Frau zusetzte, und wenn du mich fragst, hat er sie letztlich auch unter die Erde gebracht mit seinen Stänkereien, der verfluchte Deibel.»
«Haben das auch die Leute gedacht?»
«Was wußten denn die Leute? Für die war er ein Original. Aber für sich war er nur er selbst, und das konnte ihm manchmal zu wenig sein, dann streifte er herum, jedenfalls früher, als er dann aber nicht mehr laufen konnte ohne Stock, und auch damit nicht sehr weit kam, da fing er an die Frau zu trietzen, das war aber nur, weil ihm das nicht reichte, er zu sein. Als er noch konnte, ging er an solchen Tagen auf den Pletschenberg und sah zu den Polen hinüber, und wenn man ihn dort so stehen sah, dann konnte man meinen, er wolle sich die Beine vertreten, oder ein bißchen frische Luft schnappen, der alte Mann, aber nichts da, von wegen Beine vertreten, er stand nur gern im Wind, wenn der so richtig blies, das freute ihn: ‹Oben bläst der Wind, und unten läuft man sich ab, und am Ende ist man weg.› Er stand aber auch nicht nur so da im Wind, sondern er sah hinüber zu den Polen, zu einem ganz bestimmten Fleckchen, das war mal seins gewesen, vor dem großen Schlamassel. Nicht daß er da hinwollte, zu den Polen, zu seinem Fleckchen, sollten die die Streusandbüchse behalten, es war nur, daß er eben manchmal, wenn es ihn juckte, da hinaufgehen mußte, auf den Pletschenberg, um zu sehen, wie weit er es mal gebracht hatte, das macht einen demütig vor dem Schicksal, meinte er, und man regte sich nicht mehr so auf, jetzt wo man in der LPG war, schließlich: einmal die Knochen krummgebuckelt für nichts genügte, und wenn einer gelernt hatte, seine Habe zu lassen, was brauchte er da eine neue Habe? ‹Aber›, dachte er dann dort oben auf dem Pletschenberg, ‹aber eenet jutet hattet ja, daß ick hier steh und nich da unten, eenet jutet hattet ja, daß dat Schietwasser nämlich ruhig steigen kann, und ick bin oben und guck runter, und brauch keinen Kohl mehr ziehen im Sumpf, und kann statt dem Türen angeln aus dem Hochwasser für mein Haus, und das ist besser, als Schiß vor den Bisamratten haben, die den Deich zerfressen, wenn dat Schietwasser steigt.›»
«Solang er noch da hochgehn konnte, war er vergnügt, aber dann kam er immer weniger weit. Erst bis 1870/71, die Gedenktafel am Amtsgarten, da saß er und sah sich den Nachwuchs im Kindergarten an, dann, als es dafür nicht mehr reichte, bis zum Kriegerdenkmal an der Post, erster Weltkrieg, das kennst du noch gar nicht, das gibts erst seit ein paar Jahren, da sind die zu mir gekommen und wollten, daß ich auch was spende, das ist nun wirklich das letzte, wofür ich spenden werde, hab ich gesagt, ihr könnt das auch alleine, jetzt ham sie so einen Stahlhelm aus Stein hingesetzt ‹Für unsere Helden›. Da saß der Harnusch davor und grinste sich eins, das hat ihn verjüngt, der Spaß. Und als es dafür nicht mehr reichte, na, da mußte er eben zum Russenfriedhof gehen, wo früher Buschs wohnten, die Richtung Osten gegangen sind bei Kriegsende, den Russen entgegen, weil sie dachten, die hätten was für Kommunisten übrig. Sind nicht wiedergekommen, und Kinder hatten sie ja nicht, da haben die Russen ihren Friedhof hingesetzt, jedenfalls symbolisch, die meisten hat man ja so verbuddeln müssen, darf gar nicht dran denken. Bis dahin kam er noch und hat sich die Grabsteine angesehen und sich seinen Teil gedacht, und zuletzt, na, da kam er eben nur noch bis vors eigne Haus und stellte den Leuten seine Scherzfragen, die natürlich alle schon kannten: ‹Der Hahn, der Hahn und nicht die Henne›, aber wenn sie nicht stehenblieben und zuhörten, dann schrie er ihnen nach, und da blieben sie eben stehen, dann war er ganz friedlich. ‹Unsere Helden, hat er gesagt, ich komm nicht mal mehr bis zu unsern Helden!› Frau Tatziet, könn Sie sich das vorstellen? Wie gehts denn Ihrem Mann? Kommt der noch bis zu unsern Helden? Hat er mal wieder einen Saurierknochen gefunden? Ich hab da was Spektakuläres, das geb ich ihm aber nicht, wenn der das wüßte, würd er grün vor Neid, grüßen Sie mal Ihren Mann vom alten Harnusch, sagen Sie ihm, wir sollten bei der LPG anfangen, er und ich, als Nachtwächter, dann müßten wir nur alle Stunde auf die Uhr gucken und ich würd ihn anstoßen und sagen: ‹Tatziet, Knopp drücken›. 70/71, 14/18, 39/45, da standen seine Bänke, da durfte man ihn nicht treffen, sonst kam man nicht so bald wieder weg, sonst erzählte er einem, was man selber wußte, daß alles den Bach runterging, daß man das ja schon daran sehe, daß sie die Wally von der Post entlassen haben. ‹Das war eine Seele, die hat die Briefe bis ans Haus gebracht, und jetzt fährt da ein Postauto und das soll billiger sein als die Wally, so eine törichte Idee, wo die Wally die Briefe notfalls auch umsonst ausgetragen hätte, schließlich mußte sie doch nach ihren Leutchen sehen, aber die Herren da oben von der Post haben dafür kein Verständnis, nur, frage ich, wo findet man heute noch einen Postboten, der sich die Telegramme durchliest und selbst entscheidet, ob sie eilen oder nicht? So einen Postboten braucht man aber, dann kriegt man auch nicht jeden Tag Reklame, daß einem die Augen tränen von den bunten Bildern.›
Der einzige, mit dem Harnusch neben seiner Frau dauerhaft auf Kriegsfuß stand, war sein Nachbar Strutz. Aber dafür konnte Harnusch nichts, jedenfalls nicht, wenn man ihm glaubte, was sollte er denn tun? Er hatte seinen Hühnern schon tausendmal gesagt, sie sollten nicht bei Strutz in den Garten hüpfen, aber seine Hühner hatten nicht hören wollen, und jetzt hatte sich Strutz einen Schäferhund gekauft und ärgerte sich grün, daß der so nett zu den Menschen war, statt sie anzukläffen, wie er selbst es tat. Er hatte monatelang versucht, ihm das abzugewöhnen, erst mit schreien, dann mit einer Hundepfeife, dann mit Schlägen, aber das Biest war nicht auf dem Hof zu halten. Jetzt fand Harnusch öfter mal einen Haufen im Spargel, und das verdroß ihn. Und wie das ist, man weiß zwar nicht, wer angefangen hat, aber man will nicht der erste sein, der aufhört: ‹Der Herr Unterfeldwebel Strutz soll ganz stille sein, die Zeiten sind vorbei, wo man nach seiner Pfeife tanzen mußte. Der hat noch nie hierher gehört. Wenn ich das sehe, wie der seine Beete nach der Schnur zieht, und aus jedem Fleckchen zieht er Profit. Meine Tochter meint, sie hat ihn in der Stadt gesehen, da verkauft er seine Kirschen vor der Kaufhalle als Bioobst. Bioobst! Wenn das Gift nicht so teuer wäre, würde der doch gar kein Wasser mehr nehmen. Der würde doch am liebsten das Unkraut in die Erde zurückkommandieren. Wissen Sie, was dem seine größte Lebensleistung war? Daß er DDR-Meister geworden ist in Schreibtischordnung. Der war sogar noch stolz auf die Urkunde, so einer ist das, Schreibtischordnung, das kann er, aber guten Tag sagen, das ist zuviel verlangt vom Herrn Unterfeldwebel. Wenn ich den nicht noch tot erleben wollen würde, wär ich längst selbst abgetreten, aber auf das Spektakel freu ich mich schon, Unterfeldwebel Strutz vorm lieben Gott, der wird kehrt Marsch zurück ins Leben machen vor Schreck, daß ers nun doch noch mit dem lieben Gott zu tun bekommt, nachdem er immer nur an seinen Lenin geglaubt hat.›»
«Ja, die beiden hatten sich ganz schön in den Haaren zuletzt. Aber Harnusch war eben auch ein Deibel, er wußte genau, daß Strutz das auf die Palme brachte, wenn er ihn ‹Struutz› nannte, mit langem ‹U›, und noch dazu Unterfeldwebel, wo er doch Hauptmann der Reserve war. ‹Ja, ja, Herr Struutz, machen Sie mal, ziehen Sie mal Stacheldraht um ihr geometrisches Kunstwerk, die Rehe kommen trotzdem, das sieht dann natürlich auch viel schöner aus, wenn die über so einen hohen Zaun springen, das seh ich mir jeden Abend an und kraul dazu ihren freundlichen Schäferhund, Herr Unterfeldwebel.› Das hätte noch Mord und Totschlag gegeben, wenn Strutz nicht ins Altersheim gekommen wäre, wo eines Tages sein Alkoholikersohn ihn fast verprügelt hätte, weil er Geld wollte, einfach hat ers eben auch nicht gehabt, Strutz, der kam ja eigentlich aus Schlesien, den hatten sie umgesiedelt, naja, mit der Frau konnte man reden, aber sobald er das sah, pfiff er sie zurück, als wärs sein Hund. Und dann war er tot, und du glaubst es nicht, Harnusch hat ihn am Ende doch vermißt, denk ich jedenfalls. Erst die Frau, dann der Nachbar, jetzt blieb ihm wirklich nur noch die Enkelin zum Stänkern.
Aber das solltest du vielleicht alles gar nicht wissen, vielleicht ist es besser, wenn du ihn immer als Opa Harnusch in Erinnerung behältst, der den Pirol verjagt hat, alles andere ist doch nicht so wichtig, außer, daß er in seinem Fach ein Künstler war, nur daß man damit nicht berühmt wird, jedenfalls nicht über seine Grenzen hinaus. Es war ja nicht so, daß er der einzige gewesen wäre, der noch mit der Hand mähte, aber er war bestimmt der einzige, für den das ein Vergnügen war. Wenn die jungen Städter kamen, und um ihren Freundinnen zu imponieren mit der Sense rumfuchtelten, mit freiem Oberkörper in der Mittagssonne, dann baute sich Harnusch schmunzelnd daneben auf, in seinen ausgewaschenen blauen Arbeitshosen, und er mußte nicht lange warten, bis die jungen Städter sich den Rücken verdreht hatten, oder behaupteten, das Gras ginge gar nicht kürzer. Dabei konnte das nichts werden, gemäht wird morgens, wenn das Gras noch feucht ist, und wie die die Sense behandelten, das tat einem in der Seele weh, wenn das Eisen durch die Maulwurfshügel jagte. Die verstanden nicht, worum es ging beim Mähen, für die war das ein Sport, für Harnusch wars Erholung. Die meiste Zeit nämlich muß man beim Mähen damit verbringen, die Klinge zu schärfen, ohne sich dabei in den Daumen zu schneiden, und dann muß man die Klinge über den Boden gleiten lassen, und das geht so einfach, wenn mans richtig macht, das strengt selbst ein Männlein wie Harnusch nicht an, schließlich gibt es immer Gras zu mähen, und wenn man sich beeilt, muß man nur eher wieder von vorn anfangen. Aber das wollten die jungen Städter nicht verstehen, für die mußte Erholung anstrengend sein, sonst dachten die, sie machen was falsch. Sollten doch froh sein, daß sie sich noch nicht krummgebuckelt hatten bei der Arbeit, da mußte man doch nicht noch nachhelfen! Hin und her, und das Gras fällt, und dann wieder schleifen, und hin und her, und Schritt für Schritt, und nebenbei kann man immer noch nach den Mädchen schielen.» «Und was ist dann weiter passiert mit Harnusch? Jetzt mußt du mir auch den Schluß erzählen.»
«Ich weiß nicht, ob das gut ist, naja, der Strutz ist gestorben, im Altersheim, erst die Frau, dann der Nachbar, und Harnusch kam nicht einmal mehr bis zu den Russengräbern, geschweige denn bis 1918, und er saß auch nicht mehr auf der Bank vorm Haus, man konnte wieder ganz ungestört da vorbeigehen. Harnusch saß im Bett und als er nicht einmal mehr mit der Enkelin stänkerte, da gings zu Ende. Alles, was er noch wollte, war ein heißer Stein im Bett, wie seine Frau ihn früher hatte, die hatte immer einen heißen Stein im Bett gehabt, und Harnusch erzählte ja auch mit Vergnügen allen Kindern im Dorf, daß es bei seiner Frau qualmte, wenn die die Decke hochhob, jetzt brauchte er selber einen heißen Stein, weil ihm so kalt wurde mit einem Mal. Und eines Tages läuft die Enkelin ganz aufgelöst durchs Dorf und sucht den Alten. Er war nämlich nicht zu Hause, als sie nach ihm gesehen hatte, und alle haben mitgesucht, aber er konnte eigentlich gar nicht weg sein, er konnte doch nicht mehr laufen. Bis zum Pletschenberg hoch haben sie gesucht, man konnte ja nie wissen, bei Harnusch, am Ende war er da wieder raufgekrabbelt, um nach seinem Hof zu sehen. Aber gefunden haben sie ihn nicht. Da hatten gleich welche den Verdacht, daß er vielleicht ins Wasser gegangen war, natürlich nicht, um sich umzubringen, sondern um rüberzuschwimmen. Und das war dann auch so. Er muß sofort abgetrieben oder in die Strudel geraten sein, und sie haben ihn auch ein paar Tage später und weit stromabwärts rausgefischt. Ich bin sicher, daß er sich nicht umbringen wollte, er hat nur nach seinem Hof sehen wollen nach all den Jahren. Und da hat ihn dann der Sensenmann geholt. Das kann ich mir übrigens richtig bildlich vorstellen, wie der Sensenmann zu Harnusch sagt: ‹Harnusch, Zeit wirds›, und Harnusch antwortet: ‹Heef mich hoch, du alte Schachtel, was willst du denn mit der Sense? Wirst dir noch wehtun, oder gehört das zum Kulturprogramm? Mit dem stumpfen Rostschwengel kannst du doch nicht mähen wollen, gib mal her, ich schleif dir das Ding.› So stell ich mir das vor, und warum sollte es denn immer anders sein, als wie man es sich vorstellt? Ich bin nämlich sogar ziemlich sicher, daß, wenn niemand den Harnusch davon abhält, der Sensenmann ihn gleich bei sich behält, weil er sich nämlich selbst nicht sattsehn kann daran, wie elegant der Harnusch mäht, und dann gibts plötzlich eine Sterbewelle, aber wollen hoffen, daß er uns nicht vergessen hat und heimlich einen Bogen macht, wenn der Chef grad nicht guckt, so aufs heimlich Bogen machen hat er sich doch immer gut verstanden. Sag mal, wie spät ist es eigentlich? Ist doch schon längst meine Zeit, hab ich wieder viel zu lange dumm gequatscht, na, was andres kann ich ja auch nicht mehr. Leg dir mal noch ein paar Kohlen nach, wenn du noch sitzen willst, aber ich mein, du solltest auch mal wieder ausschlafen, du siehst schon wieder so vergeistigt aus, und gegessen hast du ja auch fast nichts.»
ist überall gern gesehen. Er duftet nach der freien Welt. Ohne seinen Cowboy-Hut und sein College-Sweatshirt wird er allerdings oft nicht erkannt. Doch spätestens, wenn er den Mund aufmacht, sagen alle: «Ein Amerikaner, er hat so weiße Zähne.» Das geht dem Amerikaner auf die Nerven, deshalb nuschelt er, um seine Zähne nicht zu zeigen. Er wird oft nach seinem Land gefragt, denn alle Welt beneidet ihn darum. Jeder kann ja auf Anhieb einige amerikanische Staaten aufzählen, und mancher hat sie auch schon gesehen. Wo er auftaucht, verbreitet der Amerikaner Sicherheit. Mit einem Amerikaner dabei, kann einem nichts passieren. Trotzdem hacken alle auf ihm herum, weil er nichts Gutes ißt, und weil er alle Vietnamesen töten will. Dabei möchte er in Wirklichkeit nur freundlich sein und mit freundlichen Menschen Feste feiern. Auf solchen Festen stellt er sich immer mit Namen vor und fragt ihm Unbekannte, wie es ihnen geht. Das irritiert. Was will der Amerikaner? Was heckt er aus unter seinem Cowboy-Hut? Warum hat er ihn nicht dabei? Und wo ist das College-Sweatshirt? Warum verkleidet er sich? Warum will er das Rauchen verbieten? Warum baut er so viele Atombomben? Fragen über Fragen, die den Amerikaner betreffen. Manchmal überfordert ihn das, und er wünscht sich zurück auf seine Ranch oder in sein Penthouse mit Blick auf den Central Park. Dort will er sein, wo die anderen auch Amerikaner sind. Wo er nicht so nach freier Welt duftet. Schnell steigt er in seinen Jet, fliegt nach Amerika und schreibt eine Essay-Reihe über Europa für die New York Times.
«Wirklich: er litt beim Anblick bestimmter Physiognomien, er betrachtete die väterliche oder abstoßende Miene mancher Gesichter fast als eine Beleidigung, er verspürte Lust, den mit gelehrter Miene und geschlossenen Augenlidern flanierenden Herrn oder diesen anderen, der sich, auf seinen Absätzen wippend, vor den Spiegeln zulächelte, zu ohrfeigen, aber auch jenen, der ganze Gedankenwelten in seinem Kopf zu bewegen schien und dabei doch nur mit zusammengezogenen Brauen Butterbrote und die Rubrik Vermischtes in der Zeitung verschlang.» Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich
Warum er nicht mehr ins Theater gegangen war seit seinem letzten Versuch, das fragte er sich im Theater, und ob er sich so eine Frage überhaupt beantworten konnte. Vielleicht gab es gar keinen Grund, und es war so wie mit dem Aufstehen, man lag wach und fragte sich, warum man noch liegenblieb, und wenn man gerade nicht daran gedacht hatte, überraschte einen der Körper damit, daß er ganz von allein aufstand.
Er war entschlossen, das Stück zu hassen, wenn es auch nur den kleinsten Anlaß dafür geben sollte. Die Zuschauer hatten ohnehin keine Chance bei ihm, aber das Stück durfte nur schlecht sein, sonst müßte er dem Zufall dankbar sein, der dafür gesorgt hatte, daß er ausgerechnet heute wieder im Theater saß und ein gutes Stück nicht verpaßte. Früher hatte er wenigstens genau gewußt, was es zu verpassen gab, und er hatte versucht, soviel wie möglich davon nicht zu verpassen. Wenn man viel Zeit opferte und viele Gespräche am Nebentisch mithörte, konnte man eine gute Quote schaffen. Seltsamerweise sah man früher auch immer die gleichen Menschen bei den nicht zu verpassenden Gelegenheiten, und man beneidete sie darum, wie unangestrengt und selbstverständlich sie dort auftauchten. Offenbar hatten sie bessere Verbindungen. Kein Wunder, sie wohnten ja auch nicht im Neubauviertel, sondern im Zentrum. Sicher hatten sie einen ausgedehnten Freundeskreis und trafen sich mindestens einmal in der Woche, um auf einen Geburtstag mit «Bärenblut» anzustoßen. Einen von diesen immer Anwesenden hatte er für sich Franz Liszt getauft, wegen seiner auffälligen Frisur. Dann gab es ein kleines langhaariges Mädchen, das immer im letzten Moment auf dem Fahrrad angefahren kam und in eine der ersten Reihen huschte. Seit nicht mehr früher war, hatte er diese beiden und all die anderen aus den Augen verloren.
Er war dreimal in der Woche ins Theater gegangen, manchmal auch öfter. Das war bemerkenswert, wenn man bedachte, daß er einen Rückweg von über einer Stunde hatte und morgens um sechs aufstehen mußte, um wiederum über eine Stunde zur Schule zu fahren. Wenn es kein neues Stück gab, dann sah er sich ein altes noch einmal an. Es gab aber so viele Theater und so viele Premieren, daß er ein Stück selten öfter als dreimal sehen mußte. Er kaufte sich die Programmhefte, legte die Eintrittskarte hinein, schrieb sich auf, wen er im Theater gesehen oder getroffen hatte, und legte die Theaterkritiken aus drei oder vier Zeitungen dazu, die er sorgfältig ausgeschnitten und natürlich auch gelesen hatte. Und nach dem Stück stand er todmüde auf dem S-Bahnhof Schönhauser Allee und wartete auf die nächste Bahn nach Berlin-Buch. Er hatte den Zug wie immer gerade noch ausfahren sehen, weil die Straßenbahn genau zwei Minuten zu lange brauchte. Deshalb mußte er zwanzig Minuten auf dem Bahnhof auf- und abgehen und versuchen, an irgend etwas zu denken, was ihm diese unendliche Zeitspanne, die er in der Kälte zubringen mußte, verkürzen könnte. So langsam war die Zeit nur vergangen, wenn er krank im Bett lag und ab halb zehn sehnsüchtig darauf wartete, daß es zehn würde, und das Vormittagsprogramm endlich anfinge. Dann vertrieb er sich die Zeit damit, mit der Pausenbilduhr um die Wette zu zählen. In sechzig Sekunden bis 300. Und wieder war eine Minute geschafft. Eine Minute ausruhen und ein neuer Versuch. Gut war, wenn man am Dienstag krank war, dann kam die Wiederholung des UFA-Montagsfilms. Sonst mußte man mit English for you Vorlieb nehmen, oder zum dritten Mal die Chemiesendung über Alkohol sehen. Inzwischen war das Leben zum Glück nicht mehr ganz so langweilig wie damals, außer natürlich wenn man zwanzig Minuten auf die S-Bahn warten mußte, die wie zum Hohn schon in Sichtweite vor dem Bahnhof stand und nur auf den Gegenzug wartete, um endlich einzufahren.
Er versuchte, beim Ausatmen nichts von der warmen Luft zu verschwenden und sie sorgfältig unter seinen Schal in die Jacke zu blasen. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre, hätte er sich auf eine Bank gesetzt, in der Hoffnung, daß sich keine Besoffenen neben ihn setzen würden, und er hätte sich in Robert Merle vertieft, der bei ihm Karl May abgelöst hatte. Die zwanzig Minuten Bahnfahrt würden lesend wie im Flug vergehen, aber die zwanzig Minuten Wartezeit in der Kälte waren die Strafe für sein Kulturinteresse. Unvergleichlich schnell verging die gleiche Zeitspanne, wenn er morgens den Wecker auf zwanzig vor sechs gestellt hatte, um ihn viermal klingeln zu lassen und viermal wieder auszustellen. Eine sinnvolle Funktion, die dieser Wecker aus dem Intershop aufwies. Klingeln, Knopf drücken, einschlafen, Klingeln, Knopf drücken, einschlafen, und hoffen, beim vierten Mal etwas munterer zu sein. Weil er in den Entwicklungsjahren so wenig geschlafen hatte, war er so klein geblieben. Davon war er überzeugt. Denn man wuchs im Schlaf, hatte er einmal gelesen. Das Exil in Buch hatte ihn seine Größe gekostet. Aber dafür würde ihn niemand entschädigen. Er hätte natürlich auch auf das Theater verzichten können, das mußte man fairerweise zugeben. Auch das Theater hatte ihn ein paar von den Zentimetern gekostet, die er so bitter nötig gehabt hätte. Denn die Zeit drängte. Beim Anstehen vor der Sportstunde war er immer weiter durchgereicht worden. Und jetzt stand nur noch der Körperklaus der Klasse neben ihm und gierte darauf, vor jeder Stunde den Größentest zu machen und ihn auf den letzten Platz zu verweisen. Dann stände er neben den Mädchen. Von solchen Gedanken konnte er sich früher vor allem im Theater erholen. Und wenn die Straßenbahn wieder kein Einsehen hatte, ging er eben nachher auf dem S-Bahnhof auf und ab und versuchte, sich die Schienenersatzverkehr- und die Pendelverkehrmeldungen einzuprägen, um vielleicht einmal nicht davon überrascht zu werden. Und wie immer auf Bahnhöfen dachte er an diesen Vortrag im Jugendclub, wo ein junger Kunstwissenschaftler mit vielen Dias den Zusammenhang zwischen Kunst und Erotik belegt hatte. Daran dachte er, weil dieser beneidenswerte Kunstwissenschaftler in einem Nebensatz berichtet hatte, wie reizvoll es sein könne, auf einem Bahnhof mit der Freundin zu schlafen. Jürgen hatte weder eine Freundin, noch hatte er mit einem Mädchen geschlafen, noch konnte er auf dem Bahnhof schlafen, nicht wenn es so kalt war und man Angst vor den Besoffenen haben mußte. Aber die Aussicht auf ein solches Erlebnis mit seiner späteren Freundin, deren Eintreffen in seinem Leben er jederzeit erwartete, beseelte ihn wie andere die Aussicht auf Erlösung. Mehr mußte eigentlich nicht geschehen in seinem zukünftigen Leben, und er dachte auch nicht darüber nach, was danach geschehen könnte, dazu fehlte ihm die Phantasie.
Er sah die Böschung hinauf und versuchte, im Dunkeln etwas zu erkennen. Oben sah man die Rückseite eines der Häuser an der Schönhauser Allee und dahinter den Hof, der über die Böschung zu erreichen gewesen wäre. In der fensterlosen Wand des Hinterhauses gab es eine kleine Tür, über der «Kostümverleih» stand. Solche Hinterhäuser mit mysteriösen Geschäften gab es in Buch nicht. Aber was gab es dort nicht nicht? Er hatte gehört, daß es auf der Schönhauser Allee eine Tanzschule geben sollte, wo man sogar Break Dance lernen konnte. Genaueres hatte er nicht erfahren, das war genau wie mit dem Theater, wenn man nicht höllisch aufpaßte, verpaßte man das Entscheidende. Aber für Break Dance gab es keine Zeitungskritiken, auf die man achten konnte, da war man ganz auf Mundpropaganda angewiesen. Einmal war er auf den vagen Hinweis hin, am Alex würde «gebreakt», in die Stadt gefahren und hatte dort nur leere Betonflächen vorgefunden. Wer hatte das Gerücht verbreitet? Oder war es kein Gerücht gewesen, und er war nur zu spät gekommen? Wurde hier an anderen Tagen gebreakt? Oder woanders? In der Tanzschule an der Schönhauser Allee? Er hatte sich nie aufgerafft, auch diesem Gerücht nachzugehen. Die Break-Dance-Tanzschule zu finden und dort mit Gleichgesinnten zusammenzukommen blieb eines der Projekte, an die er zwar ständig dachte, denen er aber nie nachging, weil der Zufall ihm nicht die Hand reichte. Das war so ähnlich wie mit dem Aufstehen, nur daß es sich nicht irgendwann von selbst erledigte. Aber immer wenn er auf dem Bahnhof Schönhauser Allee stand, dachte er an die glücklicheren Jungen, die jetzt dort oben mit OP-Handschuhen aus der Apotheke bewaffnet über den Boden wirbelten. In seiner Vorstellung befand sich die Tanzschule genau auf diesem geheimnisvollen Hinterhof, in den man vom Bahnhof aus hineinsah. Aber statt sich einmal dorthin zu trauen, saß er aufgeregt vor dem Fernseher, wenn in irgendeinem Bericht über New York oder über einen Film, der im Westen im Kino anlief, jemand breakte. Und er versuchte, sich blitzschnell eine Schrittfolge oder eine Bewegung einzuprägen, die eine Gruppe amerikanischer Jugendlicher vorführte, die der Reporter sich als Hintergrunddekoration für seinen Bericht ausgesucht hatte, und sie anschließend in seine eigene Kür, von der niemand etwas wußte, einzubauen. Natürlich kam er auf diese Art nicht sehr weit. Die Break-Dance-Fragmente waren zu dünn gesät und wurden immer wieder tagelang von anderen Sendungen unterbrochen. Kein Wunder, daß er davon träumte, in einer Straße wie der Schönhauser Allee zu wohnen, wo man sogar Unterricht im Breaken bekommen konnte.
Auf der Böschung wuchsen ein paar Pappeln und Kastanien. Am Ast einer der Kastanien hing ein blauer Hula-Hoop-Reifen. Den mußte ein Kind, das auf dem Hinterhof wohnte, da hochgeworfen haben. Oder ein Besoffener hatte ihm den Reifen weggenommen und hochgeworfen. Jedenfalls sah Jürgen ihn schon seit Jahren da oben hängen. Im Winter konnte man ihn natürlich besser sehen, aber wenn man wußte, wo er hing, konnte man ihn auch im Sommer durch die Blätter erkennen. Fünfzehn Jahre seines Lebens begleitete ihn dieser Reifen. Seit er mit einem Schulfreund und einer Rolle Butterkekse den weiten Weg ins Colosseum an der Schönhauser gefahren war, um zum erstenmal ins Kino zu gehen, dann die vielen Male, wo er hier nach den Fußballspielen Angst hatte, daß ihn die besoffenen BFC-Fans auf die Schienen stoßen könnten, und später nach jedem Theaterbesuch. Zuletzt sah er ihn nur noch, wenn er an Weihnachten zu seinen Eltern nach Buch fuhr. Solange der Reifen da war, war zwar nicht alles, aber wenigstens etwas wie früher. Doch dann war das Bahnhofsgebäude abgerissen und ein Kaufhaus gebaut worden. Jetzt war über den Gleisen ein Betondach, man sah die alte Fußgängerbrücke nicht mehr und auch den Hinterhof nur noch zur Hälfte, auf dem der Kostümverleih längst dichtgemacht hatte. Und um die Überdachung zu stützen, waren Betonpfeiler in die Böschung gerammt worden, und man hatte einige von den Pappeln und Kastanien gefällt. Dabei war auch der blaue Reifen verschwunden.
Früher war er dreimal in der Woche und öfter ins Theater gegangen. Und er hatte die Stücke auch beim dritten Mal noch nicht verstanden, war bei den gleichen Monologen eingeschlafen, und hatte sich trotzdem am Platz gefühlt. Schon weil irgendwo über ihm Franz Liszt hüstelte und vorne, bereits im Dunkeln, die kleine Fahrradfahrerin hineingehuscht war, und natürlich weil er gerade dabei war, etwas nicht zu verpassen. Nach der Wende war ihm seine Begeisterung unmerklich abhanden gekommen. Aber zunächst sah er sich die Stücke ein viertes Mal an, mit seiner ersten Freundin, mit der er zwar nicht auf Bahnhöfen schlief, mit der er aber seine Schätze teilen wollte. So hatte er es empfunden, auch wenn sie nicht ihm gehörten, aber es konnte auch nicht seine Freundin sein, solange sie sie noch nicht gesehen hatte. Seine zweite Freundin wollte sich nichts mit ihm ansehen, was