Die Welt und ich
FÜR DIE WELTENTDECKER M. UND J.
1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2016
© 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Innengestaltung und -illustration: designhoelle
Einbandgestaltung: knaus. büro für konzeptionelle
und visuelle identitäten, Würzburg
Einbandillustration: Constanze Guhr
Umschlagtypografie: KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion,
Stelle/Hamburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80601-3
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Inhalt
Erstes Kapitel, in dem Sina über andere Kulturen nachdenkt
Ein fremder Gast ist (k)eine Last
Meine Sprache, meine Welt
Andere Länder, andere Schulsysteme
Zweites Kapitel, in dem Sina vom Reisefieber gepackt ist
Austauschrausch
Sicher ist sicher
3 - 2 - 1 … der Countdown läuft
Drittes Kapitel, in dem Sina Freiheit spürt
Buenos días!
Herz verloren
Fiesta de la luna
Viertes Kapitel, in dem Sina Zukunftspläne schmiedet
Solche Sehnsucht
Abi, und dann?
Up and away
ERSTES KAPITEL, IN DEM SINA ÜBER ANDERE KULTUREN NACHDENKT
Ein fremder Gast ist (k)eine Last
Ich liege in meinem Bett und kann nicht schlafen. Im Zimmer ist es heiß, drückend und stickig, aber ich darf das Fenster nicht auf Kipp stellen. Denn neben mir auf dem Sofa schnorchelt tief und fest meine im höchsten Grade zugempfindliche Austauschschülerin Laurence; gerade eben hat sie sogar im Schlaf einen Grunznieser losgelassen. Ich kann nicht behaupten, dass ich sie mag, denn seit sie vor zwei Tagen hier in Deutschland aus dem Bus gestiegen ist, macht sie mir das Leben schwer. Schuld an der ganzen Schüleraustauschmisere sind meine Eltern, genauer gesagt, meine Mutter, die meinte, es sei doch eine gute Idee und pas de problème, ein fremdes Mädchen für ein paar Tage im eigenen Reihenhaus zu beherbergen. Dass ihr ach so toll dekoriertes Haus leider kein Gästezimmer hat und diese Laurence deshalb mit mir ein Zimmer teilen muss, hat sie dabei leider vergessen … Frau Müller-Rochefoucauld, unsere Französischlehrerin und Großorganisatorin des alljährlichen deutsch-französischen Schüleraustauschs, hatte in allerletzter Sekunde dringend einen Platz gesucht. Denn Laurencé eigentliche Austauschpartnerin, unsere gut entwickelte und beleibte Melanie, musste urplötzlich absagen, weil sie kurzfristig einen Nachrückplatz für ihre Diätkur in der Schweiz erhalten hat. Jetzt soll ausgerechnet ich, Sina Rosenmüller mit den großen Füßen und dem Null-Talent für die französische Sprache, einem total schüchternen, super-spießigen und langweiligen Franzosenmädchen Deutschland und die Deutschen näherbringen!
Und wie soll das bitte gehen? Wo ich kaum Französisch spreche und nicht mal weiß, was typisch deutsch ist?!
Wer jetzt denkt: Was ist denn diese Sina für eine Krätze, die ätzt ja nur rum, dem kann ich sagen: Normalerweise bin ich ÜBERHAUPT nicht so. Ich bin offen und tolerant, habe Spaß am Leben und fast immer gute Laune. Ich knüpfe schnell neue Kontakte, halte Omis die Tür auf, räume freiwillig die Spülmaschine aus und helfe kleinen Jungs beim Bäcker, die Brötchentüte samt Wechselgeld in die Tasche zu friemeln. Ich engagiere mich als Klassensprecherin, bin Lerncoach für Fünftklässler und Streitschlichterin. Aber diese Laurence schafft es leider, mir dermaßen auf die Nerven zu gehen, dass ich völlig neue, zugegebenermaßen unausstehliche Seiten an mir entdecke. Da muss ich jetzt noch ein paar Tage durch – und mit mir alle meine Freunde und Freundinnen.
Mein Freund Yannis dagegen hat es richtig gut getroffen. Sein Austauschschüler Clement ist ein prima Kerl, erzählt von dem Leben in Frankreich und versucht, Deutsch zu sprechen, so gut er es eben kann. Und wenn nicht, verständigt er sich mit Händen und Füßen. Außerdem probiert er ausnahmslos alles, was Stefanie, Yannis’ Mutter, auf den Tisch stellt – was man von meiner Laurence nicht behaupten kann. Mama ist auch schon ganz frustriert deswegen, dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben, typisch deutsche Gerichte zu kochen: rheinischen Sauerbraten, Sauerkraut mit Kassler, Kartoffelsalat mit Würstchen … Und Papa hatte sogar in seinem besten Wörterbuchfranzösisch bei Laurence nachgefragt, ob sie Lust hat, echte Frankfurter Grüne Soße zu probieren, das sei Goethes Leibspeise gewesen, und man höre und staune – sie hatte zugestimmt.
Um es vorwegzunehmen: Genauso wenig, wie sich über DIE Franzosen Pauschalaussagen treffen lassen, genauso wenig gibt es DAS deutsche Essen. Eher ist es so, dass in Deutschland von Region zu Region unterschiedliche Speisen bevorzugt werden, die Grenzen sind fließend und die Geschmäcker auch: Im Schwäbischen mag man Maultaschen und Kässpätzle, in Bayern lieber Weißwürste, Leberkäse und Brezn (also Brezeln), in Franken werden Nürnberger (Bratwürste) oder Lebkuchen gegessen, in Hessen Grüne Soße, Handkäse oder Rippchen mit Sauerkraut. Im Rheinland isst man gerne Sauerbraten (aus Pferdefleisch) oder Himmel und Äd (Kartoffelbrei mit Apfelmus und Blutwurst), in Nordwestdeutschland dagegen Eintöpfe, Bohnen mit Speck, Grünkohl oder Rote Grütze, in Nordostdeutschland mag man Eisbein, Buletten (Frikadellen) und Currywurst, in Mitteldeutschland wiederum Thüringer Würstchen, Eisbein, Dresdner Stollen und Mutzbraten (gegrillte Schweineschulter).
Ich bin mir nicht sicher, ob Laurence weiß, wer überhaupt Johann Wolfgang von Goethe war, geschweige denn, was eine Leibspeise ist. So sauertöpfisch, wie sie aussieht, hat sie weder Lust am Essen noch am Trinken noch an sonst irgendetwas. Wenn sie nicht gerade livehaftig hier neben mir liegen und mir noch drei weitere Tage die Laune verderben würde, könnte mir das ja auch vollkommen egal sein. Aber so muss ich aushalten, dass sie morgens gleich nach dem Aufstehen anfängt zu heulen und zum Gesichtwaschen und Zähneputzen gerade mal fünf Minuten im Badezimmer verschwindet – die Haare hängen ihr mittlerweile strähnig ins Gesicht. Ich habe ihr natürlich ausführlich gezeigt, wie unsere Dusche funktioniert, ihr mein Lieblingsduschgel von Lush hingestellt, ein sauberes, kuscheliges Handtuch herausgesucht, den Föhn und alles, was man als normales vierzehnjähriges Mädchen halt noch so braucht, aber seit ihrer Ankunft hat Madame nicht einen Wasserhahn zu oft aufgedreht. Beim Frühstück löffelt sie mit Leidensmiene Mamas frisch geschrotetes Müsli; ihr Pausenbrot und den Bio-Apfel rührt sie später kaum an. Mein jüngerer Bruder Leon hat ihr deswegen gestern früh extra Croissants vom Bäcker geholt und Papa hat ihr dazu einen Milchkaffee in seiner großen Lieblingstasse mit dem Hahn drauf zubereitet, aber Laurence hat nicht einen Bissen angerührt, nur geheult, geschnieft – und geschwiegen. Kein Merci, kein Non, rien de rien.
Rien ne va plus!!!
Jetzt wälze ich mich also unruhig hin und her und frage mich, wie ich die nächsten Tage mit diesem Trauerkloß durchstehen soll. Ich habe nicht eine freie, fröhliche Minute für mich! Was hat sich meine Mutter nur dabei gedacht? So nötig habe ich es nun auch wieder nicht, mich bei Frau Müller-Rochefoucauld einzuschleimen, miese Note hin oder her. Das hätten wir uns echt sparen können, zumal außer Kleo niemand von meinen Freundinnen an diesem Schüleraustausch teilnimmt. Kleo war mal meine allerallerbeste Freundin, doch in den letzten Jahren haben wir uns ziemlich auseinandergelebt und sind nicht mehr ganz so dicke. Trotzdem verbringen wir viel gemeinsame Zeit in der Schule, beim Basketball oder nachmittags im Eiscafé Antonio, wenn es die Hausaufgaben und Ambra, Kleos Hovawart-Hündin, erlauben. Kleo hat wie Yannis Glück: Ihre Camille ist hundeverrückt wie sie, beide spazieren stundenlang über die Felder oder tauschen sich über ihre Lieblinge aus, Camille hat eine ganze Fotogalerie von ihrem Mischlingsrüden Tintin auf ihrem iPod.
Meine ABF Milli dagegen langweilt sich derzeit zu Tode und macht mir Stress, weil ich keine Zeit mehr für sie habe, seit ich Laurence babysitten muss. Milli hat zwar international erfolgreiche Manager-Eltern und entsprechend viel Platz für Gäste in ihrer Villa, aber beim Thema Schüleraustausch hat Frau Kaiser nur pikiert die Nase gerümpft und Milli in den Ferien ein qualifiziertes Französisch-Camp mit Gütesiegel in Aussicht gestellt.
Die meisten Gymnasien haben ein oder mehrere Austauschprogramme mit befreundeten Schulen im europäischen Ausland, beispielsweise mit Frankreich, England, Spanien oder Italien. Für etwa eine Woche reisen Schüler und Schülerinnen der 9. oder 10. Klassen in die Fremde und leben dort in ihrer Gastfamilie, teilen Alltag und Schulunterricht, um Land und Leute besser kennenzulernen und die Sprache auszuprobieren. Bezahlt werden müssen nur die Reisekosten und ein Taschengeld. So ein von der Schule organisierter Schüleraustausch ist eine gute und günstige Gelegenheit, in eine fremde Kultur zu schnuppern.
Sprachferien dagegen haben in erster Linie das Ziel, deine Sprachkenntnisse zu verbessern; meistens bist du auch in Familien untergebracht, hast zusätzlich täglich vier Stunden Sprachunterricht, aber natürlich auch eine entsprechende Freizeitgestaltung. Es gibt verschiedene Anbieter mit verschiedenen Konzepten – ist jedoch nicht ganz billig. Tipp: Auch die Wohlfahrtsverbände wie die AWO, die Caritas oder das Diakonische Werk bieten Sprachreisen an, die etwas günstiger sind als die bei den kommerziellen Anbietern.
Julia, die dritte in unserem Freundinnen-Bund, durfte an dem Schüleraustausch auch nicht teilnehmen, weil Familie Püttner mit Austauschschülern schlechte Erfahrung gemacht hat. Ashley, Julias große Schwester, hatte vor einigen Jahren eine heiße Liebesgeschichte mit ihrem Austauschpartner, einem gewissen Javier. Der hatte als echter Don Juan nicht nur seine und Ashleys Ehre mit seinen Fäusten verteidigt, sondern sie auch noch mit Drogen in Kontakt gebracht. Soweit ich aber weiß, will Julia trotzdem (oder erst recht?!) beim nächsten Spanienaustausch teilnehmen und ich bin mir sicher, sie schafft es, weil sie ihren Eltern eine zweite Chance abbetteln wird. Niemand kann das so hartnäckig und herzerweichend wie Julia. Auch Jolina durfte leider nicht mitmachen, allerdings war nicht ihre Mutter, sondern unsere Französischlehrerin die Spielverderberin. Jolinas Noten insgesamt seien zu schlecht, meinte sie. Unser Scream-Girl vom Dienst hat sich stundenlang darüber aufgeregt, weil sie hinter der Absage etwas ganz anderes vermutet. Und wahrscheinlich liegt sie damit gar nicht mal so falsch. Denn Frau Müller-Rochefoucauld kann sich mit Jolinas freizügigem Style so gar nicht anfreunden, letztens hat sie sie sogar deswegen aus ihrem Unterricht und zum Umziehen nach Hause geschickt. Vermutlich hat sie Angst um ihren guten Ruf – und um fünfzehn männliche Franzosenherzen … Letzteres nicht ganz unberechtigt, wenn ihr mich fragt.
Genervt drehe ich mich wieder auf die andere Seite. Ich fühle mich total erschöpft und hundemüde, aber meine Gedanken kreisen wie in einem Karussell durch meinen Kopf und lassen mich nicht einschlafen. Morgen machen wir einen Ausflug an den Rhein zu den Loreleyfelsen, fällt es mir ein, während ich die Bettdecke zurechtzupfe. Noch tourihafter ging es wohl nicht. Grinsend muss ich an die reisenden Asiaten denken: See Europe in fourteen days!
Das würde ich in vierzehn Tagen
Deutschlandreise anschauen:
Jeweils eine Stadt im Norden, Süden, Westen, Osten, Mitte, zum Beispiel Kiel, Konstanz, Köln, Dresden, Darmstadt. Eine Insel, einen Fluss, ein Gebirge, einen Wald, einen Gipfel, zum Beispiel Juist, den Main, den Hunsrück, den Spessart, die Zugspitze. Eine Kirche, ein Dorf, eine Kleinstadt, eine Großstadt, zum Beispiel den Hamburger Michel, Monreal, Rothenburg ob der Tauber, Berlin. Einen Biergarten, ein Kino, ein Opernhaus, eine Kirmes, ein Reitturnier, ein Fußballspiel, ein Grillfest, ein Ritterfest, ein Konzert der Toten Hosen und dann ist die Zeit auch schon um.
Der Deutsche Tourismusverband hat die TOP 10 der deutschen Sehenswürdigkeiten ermittelt. Welche davon hast du schon besichtigt?
1. Kölner Dom
2. Brandenburger Tor
3. Dresdner Frauenkirche
4. Schloss Neuschwanstein
5. Hamburger Hafen
6. Fernsehturm in Berlin
7. Münchner Oktoberfest
8. Hauptstadt Berlin
9. Hamburger Michel
10. Heidelberger Schloss
Welche Sehenswürdigkeit (sie muss nicht aus dieser Liste sein, sondern vielleicht auch dein spezieller Insider-Tipp) ist für dich die Nummer 1 in Deutschland?
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Was ist DIE Sehenswürdigkeit in deiner Stadt/deinem Dorf/ deiner Region?
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Gestern haben wir bereits eine Stadtrallye durch Frankfurt gemacht und heute waren wir natürlich im Goethe-Haus, was unsere französischen Schulkollegen nicht die Bohne interessiert hat. Uns auch nicht, denn als Schüler aus der Region haben wir alle mehrfach ausführliche Führungen genossen und fühlen uns dort wie zu Hause (Witz!) … Warum können wir mit unseren Schulkollegen nicht ganz normale Dinge tun, die wir sonst auch machen, und sie einfach zu unseren Freizeitaktivitäten mitnehmen: zum Basketball (Frau Leineweber trainiert zweimal die Woche, da könnte Laurence glatt was lernen in der kurzen Zeit!), zum Shoppen (okay, das ist mit Laurence wahrscheinlich nicht der Brüller), zum Eisessen (ob Antonio sie aus der Reserve locken kann?); wir könnten gemeinsam Musik hören (garantiert hört Laurence nur Kuschelrock) oder ins Schwimmbad gehen, ins Kino … Wenn ich mich mit Laurence besser verstehen würde, könnte sie mir auch bei den Französisch-Hausaufgaben helfen. Aber so muss ich mich leider alleine quälen und in meinem stümperhaften Französisch meinen Beitrag für das Jahresheft unseres Goethe-Gymi über den Schüleraustausch selbst verfassen.
Wenn ich gleich nicht einschlafe, stehe ich auf und öffne das Fenster, nehme ich mir vor …
…
…
…
…
Also gut! Ahhh, tut das gut, ich sauge die frische Nachtluft tief ein, atme durch. Ich blinzele in den sternenklaren Himmel hinauf. Wäre doch gelacht, wenn ich die nächsten Tage mit dieser Franzosentussi nicht auch noch gut hinter mich bringen würde, denke ich, da habe ich schon Schlimmeres überstanden!
Ich schwöre, ich habe mir letzte Nacht fest vorgenommen, so nett wie möglich zu dieser Laurence zu sein. Aber wie sie jetzt mit fettigen Haaren und übel gelaunt neben mir am Frühstückstisch sitzt, weiß ich: Das schaffe ich nicht. Dennoch versuche ich, ihr mit Händen und Füßen zu erklären, was wir heute vorhaben und warum wir so zeitig aufstehen mussten. Ihre Reaktion: Sie verzieht nicht eine Miene.
Das ist unfair, absolut unfair!!!
Hilflos gucke ich meine Mutter an, doch die weiß auch nicht weiter.
»Ich habe gestern Abend noch mit Frau Müller-Rochefoucauld telefoniert und ihr unser Leid geklagt«, sagt sie und senkt noch nicht einmal die Stimme dabei. Was, wenn Laurence sie doch versteht?
»Sie hat versprochen, mit ihr zu reden und herauszufinden, was mit ihr los ist.«
In diesem Moment springt Laurence wie von der Tarantel gebissen auf, hechtet in unser Gästeklo – und dann hören wir nur noch Würgen und Kotzgeräusche.
»Na super, den Ausflug können wir knicken«, seufze ich. »Und ich hatte mich so darauf gefreut.«
»Aber dir ist doch nicht schlecht«, meint Leon schlau, der gerade die Treppe hinuntergeschlurft kommt. »Du kannst den Ausflug doch machen. Mama ist da und kann auf sie aufpassen.«
»Echt?« Das wäre ja grandios, ich wage es kaum, mein Glück zu fassen und Mama anzuschauen. Die nickt mir nur gottergeben zu.
»Leon hat recht. Geh nur, Sina, wahrscheinlich will Laurence nur den Ausflug schwänzen …« Mama rollt genervt die Augen. »Dann soll sie halt, so langsam ist mir das auch egal. Ich koche ihr einen Kamillentee und stelle ihr Zwieback hin, mehr kann ich wirklich nicht für sie tun.«
Als Laurence jetzt kreideweiß und zitternd von der Toilette zurückkommt, habe ich doch ein bisschen Mitleid mit ihr. »Geht’s wieder?«, fragte ich.
Sie lässt sich auf ihren Stuhl plumpsen und nickt schweigend. Als ich ihr dann in meinem besten Schulfranzösisch vorschlage, heute im Bett zu bleiben, huscht ein Anflug von einem Lächeln über ihr Gesicht.
So kommt es, dass ich keine zwanzig Minuten später neben Yannis im Bus sitze und mich so unbeschwert fühle wie seit Tagen nicht mehr. Während die anderen aus meiner Klasse gleich Erdkunde, Chemie und PoWi büffeln müssen, werde ich heute Freizeit genießen und mich der deutschen Kultur widmen, jawohl. Genüsslich kuschele ich mich an meinen Freund, lasse mir von ihm lauter kleine Küsschen ins Haar hauchen und halte seine Hand dabei ganz fest. Endlich mal wieder Yannis! Ich schließe die Augen, immerhin habe ich heute Nacht kaum geschlafen, und während der Bus jetzt auf die Autobahn fährt und beschleunigt, nicke ich in dem gleichmäßigen Dahinrauschen einfach ein.
»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin, ein Märchen aus uralten Zeiten, das geht mir nicht aus dem Sinn …« – mit diesem lautstarken Gesinge und Gejohle werde ich geweckt. Juri, typisch. Unser Klassenclown vom Dienst muss sich mal wieder wichtig machen!
»Hey, Junge, lass gut sein, wir müssen uns gleich noch lang genug mit diesem Uralt-Märchen herumschlagen«, fährt ihn Yannis an und legt ritterlich seinen Arm um mich.
Gut so!!! Mehr davon …
»Qu’est ce que c’est, L-o-r-e-l-ey?«, fragt Clement und guckt Yannis erwartungsvoll an. Woraufhin mein Freund beflissen antwortet und erklärt, dass es sich um einen hoch aufragenden Schieferfelsen handelt, der aufgrund seiner besonderen Lage die Schifffahrt am Rhein erschwert. Natürlich kann er es nicht lassen und erzählt Clement auch von dem Säuretankerunglück im Januar 2011.
»Stell dir vor, da sind über 1500 Tonnen Schwefelsäure in den Rhein geflossen«, ereifert sich Yannis. »Bis jetzt weiß man noch nicht, welche Folgen das für die Fische und Pflanzen im Rhein hat.«
Doch Clement zuckt nur mit den Schultern. »Et alors?«, murmelt er.
»Ich finde das auch nicht so schlimm«, wiegele ich ab. »Der Rhein hat so viel Wasser, das ist doch alles längst verdünnt.« »Ich glaub’s ja nicht«, empört sich Yannis und zieht seinen Arm zurück. »Sag das noch mal?«
»Mais non, Sina a raison, ce n’est pas grave … les allemands sont trés …« Clement sucht nach den passenden Worten … »trés hystérique, im Stress, comme vous direz.« Er lächelt mir charmant zu und ich denke: Da hat er wohl recht, wir Deutschen neigen öfters mal zu Panik, siehe Yannis, wo doch jeder einigermaßen naturwissenschaftlich begabte Mensch weiß, dass sich die Substanzen verdünnen und für uns Menschen dann unschädlich sind. Wirkliche Umwelt- bzw. Naturkatastrophen sehen anders aus, wie zum Beispiel die Abholzung des Regenwaldes oder das schwere Erdbeben in Japan. Gemessen daran sind ein paar Liter Schwefelsäure nicht der Rede wert, finde ich.
»Sina, ich erkläre dir jetzt mal was«, hebt Yannis an und ich denke, oh-oh, jetzt kommt wieder eine seiner sachdienlichen Belehrungen. »Ein Hai kann dank seiner Sinneswahrnehmung einen Tropfen Blut auf drei Kilometer Entfernung riechen. Jetzt ist Blut ein harmloser Stoff für die Natur, aber Schwefelsäure ist eine der aggressivsten Säuren, die es gibt! Meinst du wirklich, dass die für die Tier- und Pflanzenwelt im Rhein so ungefährlich ist?« Er schaut mich herausfordernd an.
Diesen Blick kenne ich. Wenn ich jetzt nicht einlenke, ist Yannis für die nächsten Tage dauerbeleidigt und wird kein Wort mehr mit mir sprechen. Für einen Moment halte ich inne, überlege. Aber auch wenn sich Yannis’ Argumentation plausibel anhört und ich im tiefsten Inneren meines Herzens natürlich diese Umweltsauerei auch nicht gutheiße, kann ich es jetzt nicht zugeben, ich finde seine Reaktion reichlich übertrieben. Er muss doch hier nicht den dauerbesorgten Deutschen raushängen lassen und damit das Klischee der Franzosen bestätigen. Also zucke ich gleichgültig mit den Schultern, murmele ein »Schon ...« und lästere die restliche Fahrt mit dem relaxten Clement gemeinsam über die »gestressten, ernsthaften« Deutschen, die von den Franzosen les Houillards genannt werden. Yannis guckt mich finster an, als ich über Clements Kommentare lache. Stimmt doch, denke ich, viele von uns Deutschen reden laut, haben kaum Sinn für Humor, sind superdiszipliniert und alles andere als spontan. Ich sage nicht, dass wir dafür auch sauber sind (im Gegensatz zu Laurence!), fleißig (wie Papa) – und ständig am Grübeln (wie ich?!) und am Tüfteln (wie Yannis!!!), weshalb wir – bekannt für die German Gründlichkeit – zu den führenden Industrienationen der Welt zählen. Neben Frankreich natürlich (also sind Pünktlichkeit, Fleiß und Ernsthaftigkeit doch nicht alles???). Denn dass Clement stolz auf seine Nationalität ist, schwingt in jeder Silbe mit. Ich bin auch gerne Deutsche und finde mein Land toll, aber ich würde es niemals dauernd so raushängen lassen.
Das kommt mir einfach nicht so leicht über die Lippen.
Die Deutschen leiden im Vergleich zu anderen Nationen unter einem mangelnden Selbstwertgefühl und besitzen kaum Nationalstolz. Das hat vor allem mit der Kriegsvergangenheit der Deutschen zu tun. Seit der unrühmlichen Zeit des sogenannten Dritten Reichs hat sich kein Deutscher mehr getraut, Deutschland zu bejubeln, weil man den pathetischen Nationalstolz Hitlers noch zu sehr in den Ohren hatte. Bis vor ein paar Jahren war deshalb ein »guter« Deutscher einer, der sich mit den Nachbarländern verbrüderte und beispielsweise bei einer Fußball-WM auch den Franzosen und den Holländern die Daumen drückte.
Seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland hat sich jedoch im Lande das Bewusstsein für Schwarz-Rot-Gold verändert. Die Deutschen haben es hinbekommen, auf eine gesunde Art ihre Mannschaft anzufeuern und somit einen Nationalstolz zu entwickeln – und gleichzeitig gute Gastgeber zu sein. Der Knoten war geplatzt. Während man seit der Nachkriegszeit und bis zum Ende des letzten Jahrtausends Schwierigkeiten mit nationalen Symbolen hatte, ist es für heutige Jugendliche längst gang und gäbe, die schwarz-rotgoldene Fahne ans Fahrrad oder Auto zu hängen, Häuser zu dekorieren, entsprechende Outfits samt Schminke zu tragen.
»La vie, la France, Lasagne«, lästert Juri in Anspielung auf den Garfield-Film. »Es lebe die deutsch-französische Freundschaft!« Natürlich meint er damit Clement, der mir beim Aussteigen ritterlich die Hand reicht. Kichernd lasse ich mich von ihm aus dem Bus ziehen, muffig beäugt von Yannis.
»Ta gueule«, fährt ihn Clement an und lässt einen Schwall Französisch auf ihn ab, dass mir schwindelig wird.
Mist, verdammt, warum verstehe ich kein Wort?! Warum redet der nicht Deutsch?
»Mach mich nicht an«, wehrt sich Juri und guckt ihn provozierend an, »was immer du da losgeblasen hast, du kannst mich mal, Franzosengroßmaul!«
Hätte Frau Müller-Rochefoucauld nicht in jenem Moment nach uns gerufen, die beiden hätten eine astreine deutsch-französische Klopperei hingelegt, jede Wette. So sind sie aber erst mal abgelenkt, weil sich eine blonde Wallehaartussi als unsere Gästebegleiterin vorstellt. Und während sich Juri und Clement nur noch ein paar missgünstige Blicke zuwerfen, erklärt sie der mehr oder weniger lauschenden Truppe, dass sie mit uns in den nächsten vier Stunden die Loreley erwandern und uns alles Wissenswerte über Historie, Brauchtum und aktuelles Weltkulturerbe vermitteln will. Mittlerweile stehe ich eingehakt zwischen Kleo und Camille und wir drei sind uns einig: Das wird todsterbenslangweilig!
»Da wäre ich doch lieber bei der kotzenden Laurence geblieben«, seufze ich und versuche, Camille zu erklären, was passiert ist. Die rollt nur mit den Augen, flüstert irgendwas zu ihren französischen Schulkolleginnen Pauline und Oceane, was ich nicht verstehe. Kleo hält sich erschrocken die Hand vor den Mund und lauscht gebannt, was die drei erzählen.
Ich verstehe kein Wort. »Jetzt sag schon«, nerve ich Kleo und zupfe sie ungeduldig am Ärmel, doch Kleo wehrt mich mit einer wedelnden Geste ab und stellt Camille ein paar Fragen. Also marschiere ich alleine los und weiß bald nicht, was ich schlimmer finde: Die langweiligen Ausführungen von unserer »Loreley«, den steilen Treppenweg oder dass sich Kleo sprichwörtlich hinter meinem Rücken mit den Franzosenmädchen verbündet hat. Doch mein Ärger währt nicht lange, denn irgendwann taucht Kleo wieder neben mir auf, entschuldigt sich und berichtet mir brühwarm, was sie erfahren hat.
»Stell dir vor, Sina, Laurence’ Vater war ernsthaft dagegen, dass sie nach Deutschland fährt. Weil sein Großvater im Krieg gefallen ist und die Deutschen ihr französisches Dorf besetzt und ausgeplündert haben! Die ganze Familie muss total deutschfeindlich sein …« Kleo schüttelt den Kopf. »Und jetzt hat sie natürlich Angst davor, wieder nach Hause zu kommen, weil sie befürchtet, dass er austickt.«
Ich zucke mit den Schultern. »Na, und?«
»Jetzt sei doch nicht so, Sina, das Mädel ist arm dran, stell dir mal vor, du hättest solch ausländerfeindliche Eltern!« Kleo macht eine theatralische Geste. Wahrscheinlich denkt sie insgeheim: Dann lieber eine überfürsorgliche Mutter wie meine!
»Trotzdem. Sie ist der totale Miesmuffel. Und ich frage mich, weshalb sie dann gegen den Willen ihrer Eltern hierher gekommen ist, wenn sie doch in Wirklichkeit überhaupt keinen Bock auf Deutschland hat.« Ich verdrehe die Augen.
»Weil sie ein Geheimnis hat, das sie vor ihren Eltern verbergen muss.« Kleo blinzelt mich verschwörerisch an und winkt mich ganz dicht zu sich heran. »Sie ist nämlich schwanger!«