Hans-Martin Gauger

Das Feuchte und
das Schmutzige

Kleine Linguistik
der vulgären Sprache

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Wenn wir Deutschen beleidigen, fluchen und überhaupt vulgär werden, verwenden wir normalerweise Ausdrücke, die sich auf Exkrementelles beziehen, während unsere Nachbarsprachen zu diesem Zweck fast immer ins Sexuelle gehen. Anhand einer überwältigenden Fülle an Beispielen aus über einem Dutzend Sprachen widmet sich Hans-Martin Gauger dem Thema mit Witz und Scharfsinn. Der Leser wird gut unterhalten, erfährt viel Wissenswertes über Europas Sprachen – und darüber, wie man sprachlich korrekt multilingual beleidigt und flucht.

Über den Autor

Hans-Martin Gauger ist emeritierter Ordinarius für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Freiburg. Er ist Träger des Bayerischen Staatspreises (Karl Vossler-Preis) für wissenschaftliche Sprache von literarischem Rang und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Über Sprache und Stil (1994); Das ist bei uns nicht Ouzo. Sprachwitze (2006).

«Tretet ein, auch hier sind Götter!»[*]

* Der griechische Philosoph Heraklit (um 500 v. Chr.) soll dies gesagt haben, als er Freunde, die ihn aufsuchten, dazu aufforderte, in den Backofen einzutreten, in den er sich gesetzt hatte, um sich zu wärmen. Diesen Satz stellte Lessing seinem «Nathan der Weise» voran.

Inhalt

  1. Zidane und Materazzi

  2. Zwei Hinweise

  3. Erste Annäherung: französisch baiser

  4. Einschub: Das Handgelenk der Madame Arnoux

  5. Baiser ‹faire l’amour›

  6. Baiser ‹betrügen›

  7. Noch ein französisches Beispiel: foutre

  8. Italienisch fottere und spanisch joder

  9. Nur was jeder und jede kennt

10. Einschub: Etymologie. Außerdem: die Wichtigkeit des Sprachbewusstseins

11. Ein interessantes Wort: obszön

12. Cicero: «Was nicht verwerflich ist, wenn man es im Verborgenen tut, ist schmutzig, wenn man darüber redet», «est obscenum dicere»

13. Ein witziges Wort des Nuntius Roncalli

14. Ein «Sonderweg» des Deutschen – und die übliche Entsprechung: Fuck off!/Verpiss dich!

15. Beide sind wichtig: die Gemeinsamkeiten der Sprachen und die Unterschiede zwischen ihnen

16. Was man mit Scheiße alles machen kann

17. Und mit den Wörtern um Scheiße herum

18. Der deutsche Mittelfinger

19. Das ferne Holland (‹Ich fühl mich hodig!›) und das nähere Schweden (‹Ein Satanstag!›)

20. Mit Karacho – ein starkes Wort aus Spanien

21. Englisch – die «Sechs Großen» und einige Kleinere dazu

22. Französisch – «Le père Barrault est un con»

23. Italienisch – ‹È una ficata!›

24. Spanisch – ‹¡Una cosa cojonuda!›

25. Katalanisch – ‹Estic molt fotut›

26. Portugiesisch – ‹Vai pra caralho!›

27. Rumänisch – ‹Seid mösig!› (und ‹Sächsisch›: Aursch, Drak, Mäst)

28. Ungarisch – Der Pferdeschwanz

29. Russisch – als ‹Muttersprache›

30. Kroatisch – ‹So ist das halt!›

31. Türkisch – ‹Ananı sikerim›

32. Einschub: Das lateinische Wort obscēnum – die Analyse im ‹alten Georges› und die Ähnlichkeit des Lateinischen mit dem Deutschen in diesem Fall

33. Frankreich – ein Mischland

34. Was genau liegt insgesamt vor?

35. Die räumliche Ausnahme im Deutschen

36. Der südwestdeutsche Seckel

37. Die zeitliche Ausnahme im Deutschen: Einbrüche (oder Normalisierung) bei der Jugend

38. Hierzu einiges Literarische

Der feine Herr und – «Affenschwanz!!»

«Potz Fickerment!»

Der Herr Seehahn und seine «innere Schärfe»

Sartres Großmutter im Elsass – zum Begriff des Skatologischen

Flaubert: «Vorwärts, vorwärts!» Eine lange Fahrt in einer Kutsche. Oder «la baisade dans le fiacre»

Goethe: «Walpurgisnacht» – und der «Walpurgissack»

39. Junge Männer – Eine versteckte Anwesenheit von Sexuellem im Deutschen

40. Einschub: Rhetorik – Was ist das eigentlich?

41. Junge Männer (Fortsetzung)

42. Sprachkritischer Einschub: Eine seltsame Lücke im Deutschen – Junge, Bube

43. Literarischer Einschub: Die Rückgabe eines besonderen Stifts auf dem «Zauberberg»

44. Junge Männer (Fortsetzung)

45. Einschub: Eine besondere Art von Etymologie. Außerdem: Freuds wichtige Unterscheidung zwischen Bewusstem, Unbewusstem und Vorbewusstem

46. Junge Männer (Schluss)

  47. Frauenbilder

48. Einschub: Shakespeare – ein gewagter Vers: «Doch da sie dich für Frauenlust gerüstet …», «But since she pricked thee out for women’s pleasure…»

49. Sprache und Sexualität

Was ist Sexualität?

Biologische Grundlage der Sprache

Stärke des Sexuellen und die Wörter für ‹Liebe›

Noch einmal: Zum Obszönen

Ist das sexuell gemeint?

Über das Bezeichnen – allgemein und speziell hier

Eine Männerwelt

Ein deutschsprachiger «Sonderweg»

Das Gesäß

Reden über Sexuelles

Schimpfwörter weltweit (nach Reinhold Arnan) – und im Deutschen

Woher der deutschsprachige Sonderfall?

Wie ist der deutschsprachige Sonderfall zu bewerten?

Ein ungerechtes, aber ökonomisches ‹Arbeitsprinzip› des Deutschen und vieler anderer Sprachen

Anmerkungen

Wortregister

 

1. Zidane und Materazzi

Zu den Freunden und Kennern des Fußballs gehöre ich keineswegs. Aber ich beneide sie um ihre Leidenschaft. Sie kommt mir vor wie ein fester Schutzwall gegen Langweile, ja gegen Suizid, denn immer steht ein wichtiges Spiel bevor, dessen Verlauf und Ergebnis unbedingt noch erlebt werden müssen. Ich lasse mich nur gelegentlich anstecken. Und dann weiß ich, dass die Kenner ein Jahrzehnte überspannendes Gedächtnis haben. Nur beim Fußball, sagte einmal Peter von Matt, Germanist in Zürich, nicht ohne Ironie, ist uns Geschichte wirklich noch wichtig, nur da denken wir noch historisch.

Daher verlasse ich mich darauf, dass sich viele noch sehr genau an die Szene erinnern, die mir vorschwebt: Sommer 2006, das letzte Spiel, in Berlin, der Fußballweltmeisterschaft, Frankreich gegen Italien, und Sieg, erst im Elfmeterschießen, der Italiener. Dann aber und vor allem, in der 109. Minute, die Sache mit Zinedine Zidane und Marco Materazzi, Zidane in der französischen Mannschaft, Materazzi in der italienischen. Man sah, wie es einen kurzen, offenbar heftigen Wortwechsel zwischen beiden gab, wie Zidane weglief, dann aber, nach einigen Sekunden, wie plötzlich entschlossen, zu Materazzi zurückkehrte und ihn zu unserer Verblüffung, ja Erschütterung, mit gesenktem Kopf heftig gegen die Brust stieß, so dass Materazzi augenblicklich zu Boden ging. Der Schiedsrichter hatte es nicht gesehen. Er wurde jedoch, aber erst nach Minuten, vom vierten Schiedsrichter darauf aufmerksam gemacht (vermutlich weil der die Fernsehwiederholung gesehen hatte). Dann wurde Zidane vom Platz gestellt. Es war bewegend, weil der immer etwas schüchtern wirkende Zidane uns stets als ein Herr erschienen war, dem wir so etwas nicht zutrauten. Deshalb blieben wir auch, nach dem Vorfall, affektiv auf seiner Seite. Irgendwie, dachten wir, muss er recht gehabt haben.

Was war geschehen? Was hatte Materazzi zu Zidane gesagt? Lange wurde gerätselt. Seit dem 18. August 2007 ist es klar, weil Materazzi selbst es an diesem Tag im Fernsehen und übrigens bedauernd, geradezu zerknirscht, berichtet hat. Materazzi hatte Zidane damals am Hemd angefasst, worauf dieser zu ihm gesagt habe (auch Zidane spricht ja, wenn er will, italienisch): «Wenn dir mein Hemd so gefällt, kannst du es nachher haben!» Darauf nun Materazzi: «Ich will lieber deine Schwester, die Nutte!» Im Original: «Preferisco la puttana di tua sorella!» Also ganz genau und wörtlich übersetzt: «Ich ziehe die Nutte von deiner Schwester vor!» Das war’s. Da also lief Zidane zunächst weg, kehrte dann aber, nachdem er sich klar gemacht hatte, was Materazzi gesagt hatte, mit einem Entschluss wie ‹nein, das geht nun nicht anders!› zurück und stieß den Verdutzten nieder.

Ein kurzes Gespräch also, das in eine Handlung mündete, die nicht mehr sprachlich war. Wobei wir gleich festhalten wollen, dass auch Materazzis Satz eine Handlung war – nur eben eine bloß sprachliche. Es war eine regelrechte Handlung in beiden Fällen. Und dann der Unterschied, der schon auch wichtig ist, zwischen ‹bloß sprachlich› und ‹nicht mehr bloß sprachlich›. Überhaupt muss ich nun darum bitten, den Fußball-Hintergrund des Ganzen wirklich im Hintergrund zu lassen, denn ab jetzt geht es um etwas anderes. Was muss uns – rein sprachlich – an diesem kurzen Gespräch interessieren?

Materazzi hatte Zidane schwer beleidigt. So schwer jedenfalls, dass es schließlich für Zidane – von ihm her gesehen, so wie er es erlebte – nur eine Reaktion dieser Art geben konnte. Das Ganze natürlich war emotional: ‹Es war stärker als ich›, sagen die Franzosen in solchem Fall, ‹c’était plus fort que moi!›: eine treffende Wendung der französischen Sprache. So etwas gibt es, man wird ‹übermannt›, wie wir im Deutschen sagen (auch wieder charakteristisch – ein ‹überfraut› gibt es nicht). Solche Übermannung geschah Zidane. Gianni Salerno in Freiburg, der mir die Haare schneidet (übrigens tatsächlich aus Salerno), wirklich kein schmächtiger Mann, aber auch kein Herkules, sicher aber ein guter Psychologe, sagte mir, als wir über Materazzis Satz sprachen, sich die Sache vergegenwärtigend und amüsiert über ihr stehend: «Ja, natürlich, wenn so etwas gesagt wurde, kann es nicht mehr bei bloßen Worten bleiben.»

Zunächst also war da eine heftige Beleidigung, eine Beschimpfung. Und zwar eine mit einem doppelten sexuellen Hinweis, einer doppelten sexuellen Referenz: er wolle, sagte Materazzi, die Schwester (erste Referenz) und nennt diese (zweite Referenz) ‹Hure›. Und diese doppelte sexuelle Referenz bezieht sich – dies ist entscheidend – auf die Schwester, also die Frau, die, neben oder nach der Mutter, jedem Mann am nächsten ist. Mutter und Schwester stehen unter seinem sozusagen ‹natürlichen› Schutz, so dass, wer diese beleidigt, unmittelbar ihn selbst trifft. Man beleidigt den Mann, indem man seine Mutter oder seine Schwester oder beide zusammen beleidigt. Die eigene Frau bleibt da übrigens seltsam aus dem Spiel. Materazzi hätte also bei gleicher oder noch stärkerer Wirkung auch Zidanes Mutter nennen können. Oder er hätte sie zusätzlich nennen können. Und zunächst hatte man ja auch vermutet, dass von der Mutter die Rede war. Wobei dann diejenigen, die den Italiener verteidigten, von dessen besonders respektvollem Verhältnis zu seiner Mutter zu berichten wussten.

Schließlich, was uns Deutsche oder Deutschsprachige angeht, die Überraschung: uns überrascht zuerst einmal die sexuelle Referenz überhaupt, dann gerade diese ganz besondere. Wie in aller Welt, fragen wir uns, kam Materazzi bei dieser beleidigenden und beleidigen wollenden Beschimpfung gerade auf die Schwester? Oder (was also hier tatsächlich nicht der Fall war, aber der Fall hätte sein können) auf die Mutter? Warum begnügte er sich nicht, so scheint uns, wie ein rechter Mann, mit einem doch völlig ausreichenden «Hau ab, du Idiot!» oder «Du Arschloch!»? Tatsächlich erklärte Materazzi unmittelbar nachher sich entschuldigend (oder vielmehr: sich gerade nicht entschuldigend, sondern sich rechtfertigend), er habe doch nur gesagt, was jedem in solcher Lage als allererstes einfalle. Aber eben – ihm, dem Italiener, dem ‹Südländer›, fiel dies ein; uns können wir da nur sagen, fällt dergleichen keineswegs ein: nicht als erstes und auch nicht als zweites.

Und dies gilt sicher nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die anderen Deutschsprachigen, die Österreicher und auch für die sich von uns so verschieden fühlenden Schweizer. Dies Sich-verschieden-Fühlen der deutschsprachigen Schweizer trifft, nebenbei, gerade, wenn es um Fußball geht, dramatisch zu: gegen welche Mannschaft, höre ich, eine deutsche auch immer spielt, immer ist man in der Schweiz geschlossen für die andere. Oder ist dies übertrieben? Jedenfalls gehört es nicht hierher.

Hierher aber gehört, dass man beim Thema ‹Sprache und Sexualität›, um das es uns in diesem Buch neben anderem geht, so unvermutet wie unabweisbar auf einen «deutschen Sonderweg» stößt, einen seltsamen und also zu erklärenden «Sonderweg» oder eben, genauer, auf einen «Sonderweg» nicht der Deutschen, sondern der Deutschsprachigen. So wie uns unsere Sprache mit den alemannischen Schweizern und den Österreichern verbindet und diese, ob sie es nun wollen oder nicht, mit uns, so verbindet uns Deutschsprachige dieser «Sonderweg» untereinander, denn offensichtlich: er gehört zu unserer Sprache. Die sexuelle Referenz dient uns Deutschsprachigen weit weniger als unseren (näher oder weiter entfernten) Nachbarn als Mittel der Beschimpfung und der Beleidigung.

Übrigens ging damals, was Zidane und Materazzi betrifft, aus der Mitteilung der «Deutschen Presseagentur» hervor, dass man da die Sache gar nicht verstanden hat. Materazzi habe, hieß es da, Zidanes Schwester «als Prostituierte beleidigt». Ein Unfug, denn dies kam ja nur noch hinzu! Es war nur die zweite sexuelle Referenz, die zur Beleidigung schon gar nicht mehr nötig war. Die Beleidigung, als solche schon völlig ausreichend, lag bereits in dem – gleichsam rituell erklärten und zur Sprache selbst gehörenden – Wunsch, über die Schwester sexuell verfügen zu können. Das mit der «Nutte», der «puttana», war nur noch Verstärkung! Der (uns Deutschsprachigen in der Tat fremde) Gedanke ist offensichtlich der: damit, über deine Schwester nämlich, schade ich dir so kräftig es nur irgend geht, damit stelle ich dich bloß, mache dich fertig – als Mann. Ich erinnere mich auch, dass ein deutscher Sportjournalist im Radio, im Deutschlandfunk, die nun restlos abwegige Frage stellte, wie Materazzi denn bei dieser Gelegenheit überhaupt dazu gekommen sei, von der Schwester Zidanes zu reden – ob er die etwa persönlich kenne? Über eine solche Frage könnten ein Italiener, ein Spanier, ein Portugiese nur höhnisch lachen: ‹Mein Gott, was sind das für Männer!› Davon also und von einigem anderen, das dazugehört, wird hier – so ausführlich und so genau wie nötig – die Rede sein.

Am 2. März 2010 meldete die «Süddeutsche Zeitung» unter der Rubrik «Leute»: «Zinedine Zidane, 37, früherer französischer Fußball-Star, würde lieber sterben, als sich bei dem italienischen Nationalspieler Marco Materazzi für seinen Kopfstoß im WM-Finale 2006 zu entschuldigen: ‹Ich bitte den Fußball, die Fans, die Mannschaft um Verzeihung›, sagte Zidane der spanischen Zeitung El País. Gegenüber Materazzi könnten ihm, sagte er, solche Worte jedoch niemals über die Lippen kommen. ‹Das würde mich entehren. Ich ziehe es vor zu sterben›, beteuerte Zidane». Kann man es engagierter sagen? Und nun in der «Süddeutschen» – die Erläuterung in jener Meldung für die Nicht-Informierten, die Ahnungslosen: «Zidane war in dem Endspiel vom Platz geflogen, nachdem er Materazzi einen Kopfstoß gegen die Brust versetzt hatte … Zidane hatte seinen Angriff damit begründet, dass Materazzi mehrmals sehr harte Worte gegen seine Mutter und seine Schwester verwendet habe». Letzteres zeigt, dass auch der Verfasser dieser Notiz über die ganze Geschichte nicht vollständig im Bilde war und sie nur ansatzweise verstanden hatte. Er war noch nicht so weit, wie es meine Leser jetzt schon sind.

Und nun also: beginnen wir! Es ist eine Reise in ein jedem sehr nahes, aber doch auch fremdes Land. Ganz kurz und nur kurzweilig kann sie daher nicht sein.

 

2. Zwei Hinweise

Die Einschübe in die Darlegung, die ich meist als solche gekennzeichnet habe, sind mir nicht unwichtig, sonst hätte ich sie nicht geschrieben, sie können aber, was die eigentliche Argumentation angeht, übergangen werden: sie wollen illustrieren oder zusätzlich informieren. Zweitens. Dieses Buch ist das Buch eines Sprachwissenschaftlers, und es will auch ein sprachwissenschaftliches Buch sein. Ich habe mich aber bemüht, das Fachliche zurückzudrängen, vor allem auch in der Ausdrucksweise, im Stil. Jedoch: es ganz zu unterdrücken, war unmöglich.

 

3. Erste Annäherung: französisch baiser

Es soll in diesem Buch das Deutsche mit anderen Sprachen verglichen werden. An den Beobachtungen zu Materazzis Worten und zu Zidanes Kopfstoß fesselt mich, dass sich das Deutsche, wenn es um das Beschimpfen, Beleidigen, Verletzen, Verwünschen geht, von anderen Sprachen unterscheidet. Also muss ich unvermeidlich andere Sprachen heranziehen. Und das ist ein Problem – für die Darstellung. Ich werde, wenn ich von anderen Sprachen rede, dies so tun, dass man sie nicht kennen oder gar können muss. Dies aber heißt, dass ich oft genötigt bin, etwas umständlich zu sein, wozu auch das Übersetzen gehört.

Ich beginne mit einem französischen Wort. Dass ich gerade mit dem Französischen beginne, hat nichts damit zu tun, dass diese Sprache, nach einem allgemeinem Urteil, eine besondere Nähe zum Erotischen hat – es ist ein Vorurteil, aber auch Vorurteile sind Urteile.

Im Deutschen ist aus dem französischen Wort baiser, mit dem ich beginne, eine Bezeichnung für ein süßes Schaumgebäck geworden. Französisch gibt es das Zeitwort baiser, dann das Hauptwort le baiser. Baiser heißt immer noch, zunächst einmal, ‹küssen›, das Hauptwort le baiser ist vom Zeitwort abgeleitet und heißt ‹der Kuss›.

Zunächst aber war dieses Hauptwort offensichtlich einfach ein Zeitwort, das zum Hauptwort gemacht wurde, so wie im Deutschen ‹das Denken›, ‹das Schlafen›, ‹das Wachen› und so fort. Also meinte le baiser zunächst ‹das Küssen›. Danach aber und seit sehr langem schon meinte es ‹den Kuss›, also den einzelnen, woraus auch mehrere oder viele einzelne werden können, also les baisers. «Le Baiser» heißt zum Beispiel das bekannte und schöne Standbild von Auguste Rodin. Eigentlich ist es ja ein ‹Sitzbild›. Es zeigt, so ist es gemeint und so empfinden wir es, nicht nur einen ganz bestimmten oder irgendeinen Kuss, sondern – eben «Le baiser» – den Kuss überhaupt, den Kuss schlechthin, den zwischen Mann und Frau. Und dass man hier Mann und Frau, Frau und Mann, so oder so herum, in eine Reihenfolge bringen muss, stört bereits: aber man kann nun einmal, wenn man redet, nicht zwei Dinge zugleich sagen, sondern nur das eine nach dem anderen. Diese Skulptur ist ja so, dass beide in ihrem Kuss ganz eins sind. Da wäre die Frage, wer da wen küsst, unsinnig. Bei Gottfried von Straßburg, dem großen Dichter aus dem Mittelalter, heißt es in seiner Versdichtung «Tristan und Isolde» gleich am Anfang: «Ein man ein wip, ein wip ein man/Tristan Isot, Isot Tristan» – «ein Mann, eine Frau, eine Frau ein Mann, Tristan Isolde, Isolde Tristan».[1] So in der Tat ist es in Rodins Bild. Da ist keine Reihenfolge, auch kein wer und kein wen: beide küssen und sind dabei eins – weltlos, wie es sich für Liebende gehört. Sie sind sich gegenseitig ihre Welt.

Das Hauptwort le baiser heißt also nur ‹der Kuss», sonst nichts. ‹Elle lui donna un baiser› – ‹Sie gab ihm› (oder auch ‹ihr›) ‹einen Kuss›. Hier ist nun aber im Französischen ein kleines grammatisches Problem, das mit unserer Sache zu tun hat: ob ‹ihm› oder ‹ihr›, bleibt in diesem Sätzchen offen, weil lui für männlich und für weiblich steht. Man sagt hier gern, das Französische lasse dies, ob also weiblich oder männlich, offen. Die Sprache wird da gleichsam als eine Person genommen, die also dann hier etwas, schnippisch sozusagen, offen lässt. Wenn man jedoch schon so problematisch redet, als wäre eine Sprache eine Person, so lässt das Französische dies keineswegs ‹offen›. Es überlässt die Klärung dem jeweiligen Zusammenhang, der dies klarstellt oder vielmehr, denn so ist es ja eigentlich, der Zusammenhang lässt den Zweifel ‹ihm› oder ‹ihr› gar nicht aufkommen. Also: das ist im Einzelfall immer schon völlig klar. Eigentlich wird da auch nichts dem Zusammenhang ‹überlassen›. Man könnte genauso gut – im Vergleich der beiden Sprachen – sagen, dass das Deutsche hier unnötig und pedantisch etwas zusätzlich sagen muss, was ohnehin, nämlich im jeweiligen Zusammenhang, klar ist. Man weiß ja doch in aller Regel, ob, im gegebenen Fall, eine Frau oder ein Mann Objekt des Kusses ist. Oder ob, wie bei Rodin, Subjekt und Objekt zusammenfallen. Manche Sprachwissenschaftler meinen, von der Software des Computers her gedacht (soweit sind wir nun schon, aber das merken diese Linguisten nicht), da müsse erst etwas entzweideutigt oder, mit dem Fremdwort, «disambiguiert» werden. Dies stellt nun wirklich die Dinge auf den Kopf! Diese Offenheit von lui – ‹ihm› oder ‹ihr› – ist nichts anderes, wieder einmal, als eines der vielen Beispiele für die große Elastizität einer Sprache und dafür, dass solche Offenheiten deutliches Sprechen nicht behindern. Zudem heißt lui ja auch noch ‹er›, meint also auch noch den Nominativ: also können französisch lui deutsch er, ihm und ihr entsprechen: drei, vom Deutschen her gesehen, ganz verschiedene lui. Und natürlich kann das Französische, wenn es nötig ist, durchaus auch klarstellen: ‹Elle lui donna un baiser, à lui› – ‹Elle lui donna un baiser, à elle›.

Wichtig ist für unsere Zwecke hier, dass es beim Zeitwort baiser ganz anders ist als beim Hauptwort. Das Zeitwort, das Verb baiser, kann zwar, wie gesagt, auch ‹küssen› heißen. Aber eben: nur ‹auch›. Und ‹küssen› meint baiser immer dann und eigentlich nur dann, wenn Gegenstände oder Körperteile genannt werden.

Gegenstände und Körperteile, sage ich, obwohl es sicher sinnvoll ist, zwischen beidem zu unterscheiden, auch wenn die französische Sprache es hier, bei der Verwendung von baiser, nicht tut. Da sieht sie nur ‹Gegenstände› in einem abstrakten Sinn und behandelt auch Körperteile als solche.

Also: baiser la main, baiser le front ‹die Hand›, ‹die Stirn küssen›, und le baise-main ist dann der ‹Handkuss›, oder dann auch baiser la croix, ‹das Kreuz küssen›, und so weiter. Ein wichtiges großes Wörterbuch definiert baiser ganz richtig so: «Seinen Mund auf eine Person, eine Sache drücken» oder, abstrakter, aber das Deutsche ist eben nicht so abstrakt wie das Französische, «applizieren» – also mit oder ohne Druck. Und dann werden auch die Gründe genannt: «aus Zuneigung, Liebe, Respekt».[2]

 

4. Einschub: Das Handgelenk der Madame Arnoux

In dem sehr bewegenden vorletzten, dem sechsten Kapitel in Gustave Flauberts Roman «Erziehung des Herzens», «L’Education sentimentale» (1869), blicken die beiden gescheiterten Liebenden, Madame Arnoux und Frédéric Moreau, als sie sich nach langer Trennung wiedersehen, auf die Geschichte ihrer Liebe zurück. Gescheitert ist ihre Liebe, weil sie auch nicht den Ansatz einer Erfüllung fand, was nicht an ihnen selbst, sondern an den Umständen lag. Also war sie in anderer Hinsicht gerade nicht gescheitert. Madame Arnoux sucht Frédéric, nach langer Trennung, unangemeldet und völlig unerwartet in dessen Pariser Wohnung auf. In dem Augenblick, in dem sie sich wiedersehen, ist noch keineswegs klar, dass sie sich gleich für immer trennen werden, dass also dieser Besuch kein Wiederfinden, was er auch hätte sein können, sondern ein definitiver, implizit vereinbarter Abschied ist.

Es ergibt sich zunächst ein wie beiläufiges, aber emotional äußerst intensives Gespräch. Madame Arnoux ist ja gekommen, um «sich anzubieten» (so steht es im Roman selbst) – jedenfalls musste sie fest damit rechnen, dass Frédéric dies so versteht. Dergleichen war damals ungewöhnlich, wohl nahezu eine Ungeheuerlichkeit. Und bei einem solchen Besuch wäre ja auch noch heute die Sache kaum anders. Und Madame Arnoux sagt auch nachher (es ist ein großer, großartiger, ungeheuer direkter, wie definitiv abrechnender Satz): «Dies war meine letzte Unternehmung als Frau», «C’était ma dernière démarche de femme».

Natürlich ist der Satz auch sehr bedenklich. Denn heißt er nicht: was ich von jetzt an noch mache, mache ich nicht mehr als Frau, sondern nur noch – als Mensch? Hier reduziert sich die ‹Frau› ganz aufs Erotische. Oder nicht? Und dann die schwierige Frage: liefe der analoge Satz eines Mannes – ‹Dies ist meine letzte Unternehmung als Mann› – auf dasselbe hinaus? Wäre er ebenso realistisch?

Frédéric will an einem bestimmten Punkt des Gesprächs wissen, woran seinerzeit Madame Arnoux seine Liebe zuerst gemerkt – wie sie ihn, so sagt er, «entdeckt» habe. «Das war an einem Abend», sagt sie, «wie du mein Handgelenk zwischen Handschuh und Ärmel geküsst hast. Da sagte ich mir: ‹Aber er liebt mich ja, er liebt mich …›». Im Französischen heißt es wörtlich übersetzt: «wie du mir das Handgelenk zwischen Handschuh und Ärmel geküsst hast» – also mit dem Dativ und dem bestimmten Artikel: «C’est un soir que vous m’avez baisé le poignet entre le gant et la manchette». Das mag uns direkter und also sinnlicher vorkommen als im Deutschen – du hast mir das Handgelenk geküsst»; es liegt aber an der französischen Sprache selbst und ist hier gleichsam ihre Vorgabe, so wie die normale deutsche Übersetzung (also die mit dem besitzanzeigenden Fürwort) ‹mein Handgelenk geküsst› die Vorgabe der deutschen Sprache ist, obwohl französisch ‹vous avez baisé mon poignet› auch ginge und zur Not sogar umgekehrt deutsch ‹du hast mir das Handgelenk geküsst».

Vorgaben, also, der Sprache: man sagt eben jeweils im Französischen und im Deutschen eher so als so. Übrigens habe ich in der Übersetzung ‹du› geschrieben, obwohl es französisch «vous» heißt, weil das Sie im Deutschen doch sehr unwahrscheinlich wäre an dieser Stelle; das Verhältnis von tu und vous entspricht, und es ist wieder eine verschiedene Vorgabe der jeweiligen Sprache, keineswegs genau, sondern nur ungefähr dem von du und Sie.[3]

Danach sagt Frédéric: «die Wonnen des Fleisches und der Seele» – so weit geht er – «waren für mich in deinem Namen enthalten, den ich mir wiederholte, indem ich versuchte, ihn auf meinen Lippen zu küssen», «les délices de la chair et de l’âme étaient contenues pour moi dans votre nom que je me répétais, en tâchant de le baiser sur mes lèvres».[4] Baiser passt also auch wenn man einen Namen küsst, was ja schwierig ist. Aber, was Frédéric sagt, leuchtet doch sogleich ein: den Namen der oder des Geliebten auf den eigenen Lippen küssen.

Man spürt: diese Seiten, die zu den großen der Weltliteratur gehören und übrigens überaus traurig, geradezu trostlos sind, sind erotisch geladen, obwohl hier körperlich gar nichts passiert. Hier knistert es gleichsam überall: erotisch und auch gerade sexuell. Und in der Tat: es hätte auch etwas passieren können. Oder eigentlich: es hätte etwas passieren müssen. Es hätte anstelle des tatsächlichen Abschieds, eine Wende, einen Neuanfang, einen richtigen Anfang geben können. Und man beachte gerade in unserem Zusammenhang auch die, man möchte, von heute aus betrachtet, sagen, große ‹Keuschheit› dieser sexuellen Erotik: das Handgelenk, die freie, die unbedeckte Stelle zwischen dem Handschuh und dem Ende des Ärmels, der Manschette!

Aber uns interessiert in unserem verengten Zusammenhang an dieser Szene jetzt nur dieses übrigens gewiss einmalige Küssen, also jeweils nur ein Kuss, auf das zwischen Ärmel und Handschuh freie Handgelenk, «le poignet».

Und dann doch auch dieses Wort: «ma dernière démarche de femme». Wir wollen es in seinen Zusammenhang stellen. Marie Arnoux sagt zuletzt, und hier geht es wieder auch nur um einen Kuss, einen einzigen: «Lebwohl, mein Freund, mein lieber Freund! Ich werde dich nicht mehr sehen! Dies war meine letzte Unternehmung als Frau. Meine Seele wird dich nicht verlassen. Aller Segen des Himmels möge mit dir sein!», «Que toutes les bénédictions du ciel soient avec vous!». Dann: «Und sie küsste ihn auf die Stirn wie eine Mutter», «Et elle le baisa au front comme une mère». Wieder also baiser, und wieder geht es da um einen ‹Gegenstand› – die Stirn. Und natürlich: «wie eine Mutter». Es ist doch die Negierung des Sexuellen. Oder nicht? Psychoanalytisch jedenfalls, und Flaubert schrieb dies ja lange vor Freud, ist dieses «comme une mère» überaus bemerkenswert. Bei diesem Kuss ist Madame Arnoux schon außerhalb dessen, was sie zuvor «als Frau» unternommen hat.

 

5. Baiser ‹faire l’amour›

Es geht mir jetzt nicht um das Hauptwort le baiser, sondern nur um das Zeitwort baiser. Dieses Wort ist oft absolut normal, und es ist ein völlig unanstößiges Wort: «vous m’avez baisé le poignet», ‹Du hast mein Handgelenk geküsst› und «baiser votre nom sur mes lèvres», wie wir eben hörten, ‹deinen Namen auf meinen Lippen küssen›. Das Zeitwort baiser ist hier genauso unanstößig wie das Hauptwort le baiser.

Ganz anders aber, wenn kein Körperteil, kein Gegenstand genannt ist, wenn also baiser gleichsam absolut gebraucht wird und sein ‹Gegenstand› eine Frau ist oder ein Mann.[5] Dann meint baiser nicht ‹küssen›, sondern und nun vulgär oder auch schon bloß familiär tatsächlich den sexuellen Akt. Von einem Mann zu sagen ‹Avant de partir il a baisé sa femme›, ist nicht falsch. Man kann es aber keinesfalls sagen, wenn man meint, dass der Mann seine Frau, bevor er wegging, geküsst hat. Da müsste man sagen: ‹il a embrassé sa femme›. Das Zeitwort baiser allein, ohne Nennung von ‹Gegenständen› gebraucht, heißt also jetzt und schon lange nicht mehr ‹küssen›, sondern im familiär-vulgären Sprachgebrauch ‹den Sexualakt vollziehen› oder dann (dies entspräche ‹stilistisch›, von der Sprachebene her) ‹vögeln› oder ‹bumsen›, um ein drastischeres Zeitwort zu vermeiden (das wir aber hier nicht durchweg vermeiden können). Durch diese vulgäre Verwendung ist dann auch die normal unanstößige von baiser gleich ‹küssen›, wenn also Personen im Spiel sind, blockiert. So kann das Wort nicht in jeder Situation verwendet werden. Andererseits ist diese Verwendung sehr häufig. Das genannte Wörterbuch, der «Petit Robert», definiert: «vulgär ‹sexuell besitzen›». Wobei das mit dem «Besitzen» etwas altväterlich und problematisch ist. «Der Akt des körperlichen Besitzes», sagt Marcel Proust als Erzähler einmal sehr beiläufig, «in dem man übrigens nichts besitzt», «l’acte de la possession physique où d’ailleurs l’on ne possède rien» – eine der vielen profunden Beiläufigkeiten dieses Autors.[6]

Die Nähe zwischen dem Familiären und dem Vulgären ist im Französischen seit jeher größer als im Deutschen. In einem vor dem ersten Krieg erschienenen «Studienführer» fand ich einen sozusagen frankreichkundlichen Rat an die damals nahezu ausnahmslos männlichen Philologie-Studenten, die, um ihr Französisch zu verbessern, nach Frankreich gingen: «Die Französin, namentlich die verheiratete Französin, legt im Reden erotisch eine Freizügigkeit an den Tag, die uns ungewohnt ist. Es wäre töricht für den Studenten, daraus falsche Schlüsse zu ziehen». Vollkommen richtig, und vermutlich ist da immer noch etwas dran.

Keineswegs ist das so gebrauchte baiser so vulgär oder ordinär wie das deutsche ‹ficken›, das auch nur beherzt auszusprechen den Alten und Älteren immer noch schwerfällt. Wie es zu dieser Verwendung von baiser kam, ist nicht schwer zu verstehen: hier wird ein Teil für das Ganze genommen, eine Teil-Ganzes-Bezeichnung. Und eigentlich war der Ausdruck hier zunächst etwas wie eine verhüllende, andeutende oder schonende oder abmildernde, eine, wie man sagt, ‹euphemistische› Bezeichnung.

Wir stoßen hier auf die Verschiebung der Bedeutung im Sinne der «Nachbarschaft» oder, mit dem Fremdwort, «Kontiguität». Dies hat die Sprachwissenschaft, genauer die Semantik, noch genauer die Wortsemantik herausgearbeitet. Wir finden dies Verfahren der «Kontiguität» auch in diesem Bereich immer wieder. Denn nach diesem Prinzip der «Nähe» oder «Nachbarschaft» oder «Berührung» (letzteres meint «Kontiguität» ursprünglich: ‹sich berühren›) arbeitet die Sprache, wenn es darum geht, etwas zu bezeichnen. Man sagt ja auch, ohne dass man darauf käme (man muss erst darauf gebracht werden): ‹Wir haben dann noch zwei Gläser› oder auch ‹zwei Glas’ getrunken› und meint – «Nachbarschaft» – das, was drin war. Und übrigens (auch das ist hierin, im ‹Trinken›, ungesagt enthalten, es ist impliziert): es muss sich da um Alkoholisches gehandelt haben. Wenn nicht, müsste man es eigens sagen. Wenn es um Apfelsaft ging, sagt man nicht ‹Wir haben dann noch zwei Gläser zusammen getrunken›.

Aus baiser ‹küssen› wurde also baiser ‹faire l’amour›. ‹Faire l’amour› ist übrigens der normale ganz und gar unanstößige Ausdruck. Er meint nichts anderes als das vulgäre ‹baiser›, aber er meint es auf anständige, keinesfalls vulgäre Weise. Faire l’amour kann man immer sagen, wenn man überhaupt (denn es geht ja nicht immer) davon sprechen kann.

Da hat sich also etwas verschoben: baiser als Zeitwort ohne Nennung von Körperteilen und Gegenständen meint jetzt den sexuellen Akt und zwar – vom Wort her gesehen – auf vulgär familiäre Weise. Das Vulgäre gehört zum Wort in dieser und nur in dieser Verwendung. So wurde also das Zeitwort baiser für ‹jemanden küssen› unbrauchbar.

Da man aber ein Wort für ‹küssen› dringend braucht, ist dafür ein anderes eingetreten, nämlich embrasser, was zunächst nur ‹umarmen› hieß, denn natürlich steckt in diesem Zeitwort le bras, ‹der Arm›. Und embrasser heißt auch noch immer ‹umarmen›. Embrasser hat also jetzt zwei Bedeutungen: ‹mit den Armen umfassen› und dann ‹küssen›, also in französischer Umschreibung: ‹serrer dans ses bras› und ‹donner des baisers›. Wieder zeigt sich hier die Elastizität der Sprache: wenn embrasser ‹küssen› meint, ist der Arm im Bewusstsein des Sprechenden und Hörenden nicht mehr da. Sonst würde ja der ganz normale Satz ‹Il l’a embrassée sur la joue›, ‹Er hat sie auf die Wange geküsst›, mehr als seltsam klingen: ‹Er hat sie auf der Wange› (oder ‹auf die Wange›) umarmt›. Baiser ‹küssen› wurde somit, wenn also keine Körperteile und Gegenstände genannt werden, vulgär zu ‹Verkehr haben›, und an die Stelle von baiser ‹küssen› trat in diesen Fällen embrasser.

Damit wurde nun aber eine Wortfamilie zerstört. Was gleichzeitig zeigt, dass dies gar nichts ausmacht (die Sprache funktioniert weiter) – wieder ihre Elastizität. Unter einer solchen ‹Familie› versteht man Wörter, die gleichzeitig, von ihrer lautlichen Form und ihrem Inhalt her, zusammengehören, wovon die Sprechenden ein sicheres Gefühl haben. Man vergleiche: küssen – der Kuss, englisch to kissthe kiss, spanisch besar – el beso, portugiesisch beijaro beijo, italienisch baciareil bacio usw. Nun aber französisch: embrasserle baiser. Überall in den genannten Sprachen jener lautliche und inhaltliche Wortfamilienzusammenhalt, nur französisch nicht. Natürlich hängen für das Bewusstsein der Franzosen embrasser und le baiser trotzdem zusammen.

Würde man mir nach dem bisher Dargelegten ungeduldig die Frage stellen ‹Ja und? Was soll das alles? Was soll daran bemerkenswert sein?›, müsste ich dem Einwand fast in jeder Hinsicht Recht geben. Immerhin ist aber doch, was ich unter dem zusammenfassenden Stichwort ‹Elastizität› hervorgehoben habe, ein interessanter Punkt: die Sprache, hier die französische, ‹funktioniert› mühelos – auch im ‹Bereich› des Sexuellen, der hier in Rede steht. Sie ‹funktioniert› trotz dieses äußerst nahen und gefährlich anmutenden Nebeneinanders: einerseits also baiser la croix, le drapeau, la joue, la main, le front, les lèvres, also ‹das Kreuz, die Fahne, die Wange, die Hand, die Stirn, die Lippen küssen› und dann andererseits ‹François baise Nicole› und auch ‹Nicole baise François›, wo doch baiser etwas sehr anderes meint. Und dann ist da zusätzlich diese Merkwürdigkeit: das Substantiv le baiser bleibt ganz und gar unangegriffen durch den vulgären Gebrauch von baiser. Das Anstößige und das Unanstößige bleiben also, trotz aller Nähe im Bewusstsein der Sprechenden, vollständig geschieden. Und die beiden ganz unanstößigen Bedeutungen von embrasser – ‹umarmen› und ‹küssen› – bestehen ebenfalls, wie wenn umarmen und küssen dasselbe wären, ohne sich zu stören, nebeneinander fort. Elastizität also: sie findet sich freilich nicht nur in dem Bereich, der uns hier interessiert, sondern überall in der Sprache und natürlich nicht nur in der französischen. Sie gehört zur Sprache überhaupt und ist als solche erstaunlich. Allerdings hat sie, wie wir auch hier gesehen haben, doch ihre Grenzen: baiser kann nicht nebeneinander oder abwechselnd familiär-vulgär und nicht familiär-vulgär verwendet werden.

Was die beiden Beispiel-Sätzchen ‹François baise Nicole› und ‹Nicole baise François› angeht, ein kurzer, nicht unwichtiger grammatischer Nachtrag. Es hat sich nämlich hier oder auch hier, es ist immerhin bemerkenswert, seit drei oder vier Jahrzehnten eine Emanzipation des Weiblichen vollzogen oder durchgesetzt. Vormals ging baiser in dieser Verwendung nur mit einem Mann als ‹Subjekt› und einer Frau als ‹Objekt›: ‹François baise Nicole›, ja, aber dann musste man sagen ‹Nicole baise avec François›, also ‹François vögelt Nicole›, aber ‹Nicole vögelt mit François›. Das ist nun aber nicht mehr so klar. Man kann jetzt (und schon seit einiger Zeit) auch sagen ‹Nicole baise François› ganz analog zu ‹François baise Nicole›. Ein kundiger, mir befreundeter Franzose, Leiter eines «Institut Français» in Freiburg, Jean-Claude d’Orléans, sagte mir seinerzeit, beides gehe jetzt, man höre beides, aber, setzte er witzig hinzu, streng genommen sei nur ‹François baise Nicole› richtig, ‹Nicole baise François› aber falsch – dies sei «der korrekte vulgäre Gebrauch», «l’emploi vulgaire correct». Dieser «korrekte vulgäre Gebrauch» sei nun aber, sagte er scherzhaft bedauernd, durchlöchert. Er stelle, fügte er hinzu, dies nur fest und lasse die Bewertung offen, die Frage also, ob dies «eine Verarmung» sei oder aber eine «Bereicherung».

Doch in dem Lexikon von Jacques Cellard und Alain Rey, dem schönen «Dictionnaire du français non conventionnel», der also (der Titel ist scheinheilig) das unübliche Französisch zum Gegenstand hat, steht es (noch) anders: als erste Bedeutung von baiser wird hier angegeben «eine Frau besitzen», das ist nun also klar vom Mann her gesehen, noch dazu mit «besitzen» (also der klassischen Besitzmetapher), als zweite ‹faire l’amour› und das nun für den Mann im Blick auf die Frau. Man könne auch sagen, wenn von beiden die Rede ist «on a baisé» (on also im Sinne von ‹wir›), ‹Wir haben gevögelt›. Nicht aber gehe etwa «Agnès baise Henri». Bei einer Frau müsse man sagen baiser avec («elle baise avec tout le monde» wird da als Beispiel genannt). Dieses «Wörterbuch des nichtkonventionellen Französischen» bleibt also in diesem Punkt konventionell. Eine weitere, dritte Bedeutung von baiser (und diese ist die interessanteste) wird, was seltsam ist, von Jacques Cellard und Alain Rey gar nicht genannt. Vermutlich weil sie nicht direkt das Sexuelle betrifft. Indirekt und gar nicht so sehr indirekt tut sie es aber doch.

 

6. Baiser ‹betrügen›

Tatsächlich – und nun gehe ich einen Schritt weiter – ist das bisher Gesagte nur ein Teil (und nicht der wichtigste) dessen, was mich bei dieser Fragestellung interessiert. Das Bisherige war bloß unvermeidliche und mäßig fesselnde Vorbereitung. Ich wollte von Anfang an auf die dritte Bedeutung von baiser hinaus, und sie ist nun wirklich einschlägig und nicht trivial.

Sie ist ebenfalls überaus häufig – wohl die häufigste. Baiser heißt nämlich auch ‹betrügen›, ‹hereinlegen›, ‹drankriegen›, ‹anschmieren› oder im Passiv ‹geschnappt› oder ‹erwischt werden›; im Passiv gibt es zwei Möglichkkeiten: être baisé und se faire baiser. Und auch diese Verwendung von baiser ist vulgär. Womit ich nur meine, dass man das Wort auch in dieser Bedeutung wirklich nicht in jeder Situation verwenden kann. Man kann hier aber ebenso gut von ‹familiär› sprechen. Und diese Bedeutung hat die sexuelle Bedeutung zur Voraussetzung.

Ein Beispiel: ‹On nous a baisé dans ce restaurant› oder auch in der (in diesem Fall praktisch dasselbe bedeutenden) Form des Passivs ‹On s’est fait baiser dans ce restaurant›. Dies sind zwei ganz normale umgangssprachliche, nur mäßig ins Vulgäre gehende Sätze. Sie meinen: ‹Man hat uns in dem Restaurant reingelegt› oder passivisch: ‹Wir sind in dem Restaurant reingelegt worden›. Oder ein weiteres, noch überraschenderes Beispiel: ‹Il a roulé à 150 et il s’est fait baiser par la police›, ‹Er ist mit 150 gefahren und wurde von der Polizei erwischt›. Das Wörterbuch «Le Petit Robert» nennt unter dem Stichwort «Schuljargon» («argot écoles») noch eine Bedeutung dieser Art, nämlich ‹verstehen› und bringt als Beispiel: «On n’y baise rien», ‹Man kapiert gar nicht›. Da wäre baiser also positiv. Baiser ‹betrügen› ist nun klar ein übertragener, metaphorischer Gebrauch der Bedeutung ‹faire l’amour›. Da geht es nicht, wie bei der Erweiterung von baiser ‹küssen› zu baiser ‹faire l’amour›, um eine Teil-Ganzes-Beziehung, um eine Bezeichnung des Ganzen durch einen Teil von ihm, nicht also um eine Metonymie, auch nicht, wie bei baiser ‹faire l’amour›; um eine Bezeichnung nach der ‹Nachbarschaft›, der ‹Kontiguität›. Hier geht es um eine Gleichsetzung – eine Gleichsetzung im Sinne der Metapher, eines Bilds, denn eine Metapher ist eine Gleichsetzung. Sie ist nicht bloß ein Vergleich, nicht ein bloßes Nebeneinanderhalten, was vergleichen ja eigentlich meint. Der sexuelle Akt, also im Falle von baiser, wird als Metapher, als Bild herangezogen zur Bezeichnung von etwas Negativem, nämlich konkret dem Hereingelegt-, Betrogen-, Angeschmiert- oder auch Erwischtwerden. ‹Metapher› meint: a ist b, oder, schärfer: a ist eigentlich b.

Der sexuelle Akt, der doch eine pauschal negative Bewertung nicht verdient, wird hier zum gleichsetzenden Bild für etwas ohne Einschränkung Negatives. Das muss doch überraschen. Es gibt freilich Leute, die sind prinzipiell nicht zu überraschen, die wundert gar nichts mehr. Und dieser Typus ist (es ist nur auf den ersten Blick erstaunlich) auch unter Wissenschaftlern nicht selten, weil diese, da sie professionell alles zu wissen glauben oder meinen, sie müssten, zumindest auf ihrem Gebiet, in der Tat alles wissen, geradezu eine Art Panik vor Neuem haben, es sei denn sie wären selbst darauf gekommen.

Der Tatbestand ‹metaphorische Bezeichnung von Negativem durch Ausdrücke für Sexuelles› muss gerade uns Deutschsprachige von unserer Sprache her besonders überraschen, denn würde man die Metapher auch mit übersetzen, was ich ja nicht getan habe, müsste man, unter Berücksichtigung auch der leicht vulgären Stilebene, sagen: ‹Die haben uns in dem Restaurant gevögelt› und ‹Er ist mit 150 gefahren und wurde von der Polizei gebumst› und ‹Da vögelt man gar nichts›. Das wäre jeweils die wörtliche Übersetzung, denn ganz genau das wird hier französisch gesagt (nur ist wohl der Ausdruck ‹vögeln› etwas zu nett). Und diese Übersetzung wäre natürlich falsch, weil man sich deutsch so nicht ausdrückt (wenn dies gemeint ist). Würde man es deutsch so sagen, würde man vermutlich gar nicht verstanden. Man würde nur – ‹wie bitte?› – schockieren oder zumindest in Erstaunen versetzen wegen des sexuell orientierten Ausdrucks, der bei uns nur dies bedeutet, der also nicht metaphorisch verwendet wird. Und im Blick auf die Polizei, wenn man ihr selbst dies so sagte, könnte man gar zusätzliche Probleme bekommen. Jedenfalls hörte ich von einer entsprechenden Anzeige in Bayern: Polizeibeamten erstatteten Anzeige, weil jemand behauptet hatte, er sei von der Polizei gevögelt worden (faktisch hatte er einen härteren Ausdruck verwendet).[7]

Ist es nicht überraschend und eigentlich skandalös, dass gerade dafür ein Wort für Sexuelles herangezogen wird? Dies heißt doch, dass der sexuelle Akt selbst negativ bewertet wird. Zumindest muss die Bewertung doch partiell so sein. Die Bewertung wäre also jedenfalls ambivalent. Sonst wäre diese Metapher ja gar nicht möglich, sie wäre undenkbar. Man gebraucht doch nicht etwas Positives, um etwas Negatives zu bezeichnen oder zu kennzeichnen! Man muss also die Frage stellen: was geschieht hier eigentlich? Und unser Erstaunen muss sich steigern, wenn wir erfahren, uns darüber klar werden, dass baiser ‹hereinlegen› usw. beileibe kein Einzelfall ist, sondern nur ein Beispiel unter sehr, sehr vielen. Und nicht nur im Französischen. Bleiben wir aber zunächst noch bei dieser Sprache! Nehmen wir einen anderen, sehr ähnlichen Fall.

 

7. Noch ein französisches Beispiel: foutre

Baiser ‹faire l’amour› hat ein anderes, sehr altes Wort für dieselbe Bedeutung verdrängt, nämlich foutre. Es ist aber noch sehr lebendig, bloß finden wir es fast nur noch in übertragener Verwendung, aber die alte, die direkte, die nicht übertragene Bedeutung ist immer noch im Bewusstsein gegenwärtig – sonst wäre da ja keine Übertragung, keine Metapher! Übertragung meint immer die gleichzeitige Anwesenheit zweier Bedeutungen, von denen die eine, als Übertragung, auf der anderen beruht.

Für foutre nennt der «Petit Larousse» als erste Bedeutung: «faire l’amour», stellt aber zugleich fest, sie sei «veraltet». Das Wort foutre geht wie baiser direkt auf das Lateinische zurück: baiser auf basiáre und foutre auf futúěre. Für die Bedeutung des lateinischen futúěre gibt der «Petit Larousse»: «sexuelle Beziehungen zu einer Frau haben» – da haben wir wieder in dieser Definition (nicht in der Bedeutung selbst) die Sicht vom Mann aus, wie aus «mit einer Frau» klar hervorgeht), im «Lateinisch-Deutschen Schulwörterbuch», dem «Kleinen Stowasser» steht neutraler: «mit jemandem schlafen».

Die Fortsetzungen von futúěre finden sich in allen romanischen Sprachen. Da haben wir das große «Romanische Etymologische Wörterbuch» von Wilhelm Meyer-Lübke, das die Wörter aller romanischen Sprachen behandelt. Es erschien 1935 in dritter Auflage, und seitdem hat sich, vor allem weil das Material so enorm angewachsen ist, kein Romanist mehr an eine solche Aufgabe herangetraut. Das Werk verdient also nicht den geringsten Spott. Da wird futúěre mit «beschlafen» übersetzt. Was das Lautliche angeht, muss sich die Betonung später auf das erste u vorgeschoben haben, und das zweite u muss verstummt sein. Man muss also, sonst könnte man die romanischen Ergebnisse nicht erklären, die Form fútěre voraussetzen.

Französisch also foutre. Beginnen wir danach mit der östlichsten romanischen Sprache: rumänisch a fúte, dann italienisch fóttere, im Rätoromanischen des Engadin fuóter, dann, südlich des Französischen, provenzalisch und ebenso weiter südlich katalanisch fótre, westlich davon im Spanischen erscheint das Zeitwort ziemlich abweichend vom lateinischen Ausgang als joder (gesprochen chodér) und noch weiter nach Westen im Portugiesischen als fodér (die Akzentzeichen setze ich hier gegen die Regeln der jeweiligen Rechtschreibung, um die richtige Akzentuierung zu markieren). Die spanische und die portugiesische Form setzen eine andere lateinische voraus, nämlich futére, also nicht fútěre, denn der Ton ist hier auf dem e, was nur möglich ist, wenn ein futére der Ausgang war.

Was die Sprachebene angeht, sind diese Wörter alle mehr oder minder vulgär. Zur Bedeutung merkt Meyer-Lübke an: «Das Wort hat namentlich in Frankreich eine reiche Entwicklung auch als Verlegenheitsverb … und ist … auch als Fluch- und Verwünschungswort üblich». Zum Lautlichen sagt er, es habe auch «mancherlei Verschleierung erfahren». Da meint er lautliche Umformungen, die es halbwegs unkenntlich machen sollen, so dass es also unter der «Verschleierung» noch immer erkennbar ist. Und mit «Verlegenheitsverb» meint er die abgeleiteten Bedeutungen, was hier ein schiefer Ausdruck ist, denn wo sollte hier «Verlegenheit» sein?

Was die lautlichen «Umformungen» angeht, nennt Meyer-Lübke mehrere, darunter die wichtigste, nämlich im Französischen ficher oder auch fiche. Dies ist gleichsam ein Nebenwort, auch sehr alt, zu foutre, das deutlich weniger anstößig ist. Wenn man ficher sagt – ‹Fiche-moi la paix!›, ‹Lass mich in Frieden!› –, ist dem Hörer klar, das der oder die Redende eigentlich foutre im Sinne hat – ‹Fous-moi la paix!› – und dies nur «verschleiernd» nicht sagen wollte. Daher ist oder war bis vor einigen Jahrzehnten gerade ficher besonders im Mund von Frauen häufiger als foutre. Es gehört zur Emanzipation der Frau, dass dies kaum mehr so ist, ein Phänomen, auf das wir auf diesem Feld oft stoßen.[8]