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Dr. Norden Bestseller
– Box 2 –

E-Book 6-10

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-879-8

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Saskia und der Fremde

Ein schönes Mädchen schwebt in Gefahr

Roman von Patricia Vandenberg

Felicitas Norden träumte. Es war zuerst ein wunderschöner Traum. In duftige zartgrüne Schleier gehüllt, tanzte sie mit Daniel unter blühenden Bäumen. Um sie herum hatten Kinder einen Kreis gebildet. Ein kleines Mädchen hielt ihr eine Rose hin, doch bevor sie nach dieser greifen konnte, drängte sich ein großes Mädchen dazwischen und wollte etwas sagen.

Dann läutete das Telefon.

Das Telefon gehörte nicht in ihre Träume. Es stand auf ihrem Nachtschränkchen, immer griffbereit. Mechanisch griff Fee gleich danach.

»Norden«, meldete sie sich.

»Bitte, bitte, kommen Sie. Meine Mutter …« Die ferne junge Stimme erstickte in Schluchzen.

»Wer spricht da?«, fragte Fee nun gleich hellwach.

»Saskia Boerden.«

Den Namen Boerden kannte Fee. »Ja, Dr. Norden kommt«, sagte sie rasch.

»Dr. Norden kommt«, murmelte es neben ihr schlaftrunken.

»Schnell, Danny, mit Frau Boerden ist etwas«, sagte Fee laut.

Wenn sie ihren Mann dem Schlummer entreißen musste, nannte sie ihn »Danny«, damit ihm das Aufstehen wenigstens etwas versüßt wurde.

Dr. Daniel Norden sprang mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett. »Wahrscheinlich wieder ein Herzanfall«, murmelte er und war in Windeseile angekleidet. Fee jedoch auch.

»Ich komme mit, da war ein Kind am Telefon«, sagte sie.

»Ein Kind? Ich wüsste nicht, dass Frau Boerden ein Kind hat«, sagte Daniel verwundert.

»Saskia. Sie sagte ›meine Mutter‹. Es wäre ja fatal, wenn es noch eine Frau Boerden gäbe.«

»Zu meinen Patientinnen zählt nur eine«, wurde sie von ihrem Mann beruhigt. »Ja, warum sollte sie kein Kind haben. Sie war bisher immer in der Praxis. Sie hat mich nie ins Haus geholt.«

Sie fuhren mit dem Lift abwärts in die Tiefgarage, und bald darauf waren sie auf der Straße, die westwärts führte.

Nachtdunkel war sie und still. Man konnte sich nicht vorstellen, dass sich schon eine Stunde später ein nicht abreißender Autostrom über sie ergießen würde.

»Ist sie schon länger deine Patientin?«, fragte Fee, die zwar den Namen aus der Kartei kannte, aber nicht Frau Evelyn Boerden persönlich.

»Etwa ein Jahr.«

»Wie alt?«

»Vierzig, verwitwet und schwer herzkrank«, erwiderte Daniel. »Und sehr vermögend.«

Das verriet auch der komfortable Bungalow, vor dem sie hielten, und der für eine alleinstehende Frau wohl doch zu geräumig gewesen wäre.

Es war jetzt halb sechs Uhr, und der Frühlingsmorgen begann zu erwachen. Ein junges Mädchen in zartgrünem Morgenmantel öffnete die Tür.

Es zitterte am ganzen Körper und deutete nur mit der Hand auf eine Tür, auf die Dr. Norden nun schnell zuging. Fee nahm sich des Mädchens an.

»Beruhigen Sie sich doch«, sagte sie.

»Es ist schrecklich. Ich habe so etwas noch nicht erlebt«, flüsterte das Mädchen Saskia.

Fee schätzte sie auf achtzehn Jahre. Sie war neunzehn, wie sie dann erfuhr. Mit einem Ohr lauschte Fee allerdings zu dem Zimmer hinüber.

Dr. Norden konnte nicht viel für Frau Boerden tun. Er hatte ihr eine Spritze gegeben, aber ihr Zustand war bedenklich. So bedenklich, dass er schnellstens die Behnisch-Klinik angerufen hatte. Evelyn Boerden hatte das Bewusstsein verloren.

Saskia hatte Fee gerade erzählt, dass sie erst zwei Tage hier sei, als er aus dem Zimmer kam.

»Der Krankenwagen wird gleich kommen«, sagte er. »Ihre Mutter muss schleunigst in die Klinik, Fräulein Boerden.«

Entsetzt sah ihn das Mädchen an. »Ich soll mit ihm allein bleiben in dem Haus? Mit diesem Mann. Nein!«

Sie schrie es fast, und da kam aus einer Tür am Ende des Ganges ein Mann im roten Schlafrock.

Er musste schon einen sehr tiefen Schlaf haben, wenn er bei all diesen Geräuschen nicht erwacht war. Er sah eigentlich nicht übel aus, aber er war Fee schon deshalb unsympathisch, weil er so unwillig fragte: »Was ist denn hier los?«

Den Ton mochte Daniel nun auch gar nicht. »Ein schwerer Krankheitsfall«, erwiderte er eisig.

Saskias kleine Hand verkrampfte sich in Fees Ärmel. »Bitte, ich möchte mit zur Klinik«, flüsterte sie. Aber Fee ahnte, dass sie vor allem nicht hier bei diesem Mann bleiben wollte.

»Ich nehme Sie mit, Saskia«, sagte sie.

Der Mann war nähergekommen. Er mochte etwa vierzig sein und machte den Eindruck, als hätte er die Nacht durchgefeiert.

»Mein Name ist van Reyken«, stellte er sich jetzt vor. »Ich teile die Wohngemeinschaft mit Frau Boerden. Was fehlt ihr? Wieder eine Herzattacke? Ja, es ist wohl das Beste, wenn sie in klinische Behandlung kommt. Ich habe ihr das schon immer empfohlen.«

»Ich nehme Fräulein Boerden mit«, sagte Fee zu ihrem Mann. Sie wollte das Mädchen schnell wegbringen, da sie instinktiv noch einen Zwischenfall fürchtete.

In aller Eile hatte sich Saskia angekleidet. Sie trug jetzt eine graue Hose und einen grünen Pulli. Vielleicht war grün ihre Lieblingsfarbe, doch darüber dachte Fee jetzt nicht nach.

»Bring sie zu uns«, raunte Daniel seiner Frau leise zu. Sein Blick besagte, dass er für Evelyn Boerdens Schlimmes fürchtete. Fee konnte ihm fast alles von den Augen ablesen, so gut waren sie aufeinander eingespielt.

Sie sagte es Saskia erst im Wagen. »Mein Mann bringt Ihre Mutter in die Klinik, und Sie kommen mit zu uns, Fräulein Boerden.«

»Sagen Sie doch Saskia«, bat das Mädchen. »Ich danke Ihnen sehr.«

Während der Fahrt stellte Fee keine Fragen, und Saskia sagte nichts. Im Lift standen sie sich dann gegenüber, beide fast gleich groß. Erst jetzt, in dem hellen Neonlicht, bemerkte Fee, dass dieses Mädchen von einem ungewöhnlichen exotischen Reiz war, fremdländisch wie ihr Name. Blauschwarzes Haar umrahmte ein hellbraun getöntes Gesicht, mandelförmige dunkelbraune Augen blickten melancholisch durch einen Schleier sehr dichter, langer tiefschwarzer Wimpern. Wunderschöne, wohlgeformte Hände strichen nervös über das Gesicht und durch das Haar. Sie sah Fee mit einem Blick an, in dem aller Schmerz der Welt lag.

»Muss meine Mutter sterben?«, fragte sie bebend.

Ganz eigentümlich sprach sie das Wort Mutter aus, mit einer fast unheimlichen, rätselhaften Ausdruckskraft.

Es konnte daran auch der leichte fremdländische Akzent schuld sein, der Fee vermuten ließ, dass sie in einem französisch sprechenden Land aufgewachsen war.

Trotz ihres jetzt saloppen Anzuges waren ihre Bewegungen voller Grazie. Fee war ihr eine Antwort schuldig geblieben, und als sie nun die Wohnung betraten, ruhten die wunderschönen Augen des Mädchens wieder fragend auf ihr.

»Es wird bestimmt alles für Ihre Mutter getan, was menschenmöglich ist«, sagte Fee leise. »Mein Mann bringt sie in eine Klinik, mit dessen Chefarzt wir befreundet sind. Sie wird dort in den allerbesten Händen sein.«

»Ich glaube, das alles hilft nicht viel, wenn ein Mensch nicht mehr leben will«, sagte Saskia leise.

Fee kroch ein Frösteln über den Rücken. Sie ergriff Saskias Hand. »Ihre Mutter hat Sie«, sagte sie verhalten.

»Zu kurz und zu spät«, sagte Saskia voller Trauer.

Fee öffnete die Tür, die zur Dachterrasse führte. »Ich mache uns einen Tee«, sagte sie.

Saskia trat durch die Tür hinaus ins Freie. »Über den Dächern einer großen Stadt«, sagte sie vor sich hin. Sie sang es fast, und Fee dachte an ein Lied, das so begann.

Sie ging in die Küche und setzte Teewasser auf in dem kupfernen Samowar. Sie wusste selbst nicht, warum sie nicht Kaffee kochte. Irgendwie schien es ihr, als gehöre dieser Samowar oder ein ähnlicher auch zu ihrem Traum.

Und als sie ihn dann auf dem Servierwagen hereinbrachte, stand Saskia in der Tür und sah den Samowar mit verschleierten Augen an.

»Eigenartig«, sagte sie, »wie in der Heimat meines Vaters.« Vielleicht erwartete sie eine Frage, doch diese blieb aus.

Fee war eingefangen in einen fremden Zauber, gefangen auch noch in einem Traum, von dem nur ein Teil in ihrer Erinnerung geblieben war, den sie jetzt aber von sich weisen wollte, weil sie sich einredete, dass ihr dieses Mädchen im Traum erschienen sei.

»Mein Vater war ein persischer Fürst«, sagte Saskia geistesabwesend.

Dann blickte sie rasch auf und fuhr sich über die Augen. »Mein Gott, Sie werden denken, ich erzähle Märchen.«

»Nein, das denke ich nicht«, sagte Fee, und für sich dachte sie, dass Saskia wie eine orientalische Prinzessin aussähe und nicht einen Deut anders, auch jetzt noch in Hose und Pulli. Nur der Name Boerden wollte nicht dazu passen.

»Sie werden jetzt ja doch alles erfahren«, fuhr Saskia fort. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich mitgenommen haben, gnädige Frau.«

»Felicitas Norden«, sagte Fee lächelnd.

»Meine Mutter war zweimal verheiratet«, sagte Saskia. »In erster Ehe mit dem Fürsten Edjali, doch die Ehe bestand nur ein Jahr, bis ich geboren wurde. Ich war nur ein Mädchen. Sie ging mit mir zurück in die Heimat. Die Scheidung war so schnell ausgesprochen wie die Eheschließung. Drei Jahre später heiratete meine Mutter Magnus Boerden. Er war mein eigentlicher Vater. Er adoptierte mich, und ich liebte ihn sehr. Er wurde ermordet, als ich zehn Jahre alt war. Es hieß, dass es ein Jagdunfall gewesen wäre, aber ich weiß, ebenso wie meine Mutter, dass er ermordet wurde. Sie hatte Angst um mein Leben und brachte mich nach Frankreich, in die Bretagne. Dort wuchs ich in einem Internat auf. Ich war acht Jahre dort und bin seit zwei Tagen hier. Ich hatte Sehnsucht nach meiner Mutter. Sie ist doch der einzige Mensch, der mir nahesteht. Und dann fand ich diesen Mann im Hause vor, einen Mann, vor dem meine Mutter sich stets fürchtete, allein schon vor seinem Namen. Und er wohnte im selben Haus wie sie. Das ist mir noch immer ein Rätsel. Ich erzähle Ihnen das, Felicitas Norden, damit es ein Mensch weiß, falls mir etwas zustoßen sollte.«

Das sagte sie jetzt ganz ruhig. Fee hatte schon gespürt, dass sie mit jedem Wort ruhiger geworden war und war erleichtert gewesen, doch nach diesen letzten Worten erschrak sie zutiefst. Entsetzt sah sie das Mädchen an.

»Saskia«, stammelte sie.

»Sie denken, ich rede Unsinn. Sie meinen, dass ich verwirrt sei. O nein. In meinen Adern fließt auch orientalisches Blut, wenn es mir auch verhasst ist. Aber Orientalen haben einen anderen Instinkt als Europäer, sie haben manchmal auch so etwas wie einen sechsten Sinn. Meine Mutter hat sich gefürchtet in diesem Land, in dem sie kurze Zeit leben musste. Sie war sehr jung und sehr romantisch, als sie den Fürsten heiratete, und sie war sehr schön. Ich bin nur jung«, erklärte Saskia.

Und wunderschön, dachte Fee, aber sie sprach es nicht aus, weil sie spürte, dass dieses seltsame Mädchen solche Worte nicht hören wollte.

»Ihnen wird niemand etwas zuleide tun«, sagte sie impulsiv. Sie stehen unter unserem Schutz.«

»Glauben Sie, dass ich Menschen in Gefahr bringen würde, die gut zu mir sind? O nein.« Saskia nippte an dem Tee. »Er ist köstlich. Sie sind eine vollkommene Frau«, sagte sie.

»O nein«, widersprach nun auch Fee. »Welcher Mensch ist wohl vollkommen?«

»Gute Menschen sind für mich vollkommen«, sie faltete die Hände, »meine Mutter ist ein armer verwirrter Mensch. Sie verschwendete ihre erste Liebe an einen Mann, für den sie ein Spielzeug war und dem sie einen Sohn gebären wollte. Sie heiratete einen zweiten, weil sie einen Beschützer brauchte und erkannte dann, dass er ihre große Liebe war. Er wurde ihr genommen. Sie lebt eigentlich schon lange nicht mehr.« Saskia blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich weiß es seit einer Stunde«, fuhr sie sehr leise fort. »Ich habe große Schmerzen, sagte sie, aber gestorben bin ich schon vor neun Jahren. Ich möchte jetzt sehr gern bei meiner Mutter sein, Felicitas Norden.«

»Wir fahren zur Klinik«, sagte sie.

Der Hauch eines Lächelns legte sich um Saskias Mund. »Sie stellen keine Fragen. Es ist wunderbar. Ich habe noch niemals so mit einem Menschen sprechen können.«

*

»Da kann man nicht viel mehr tun als warten und hoffen, Daniel«, sagte Dr. Dieter Behnisch zu seinem Freund. »Es ist nicht das Herz allein.«

»Was noch?«, fragte Daniel.

»Knoten in der Brust. Sie brauchen nicht bösartig zu sein, aber wenn die Untersuchung es ergibt, könnte man sie nicht einmal mehr operieren. Eine Vollnarkose würde das schwache Herz nicht überstehen.

»Und Akupunktur?«

Dr. Behnisch zuckte die Schultern. »Das müsste ein anderer machen. Ich traue es mir nicht zu. Außerdem ist ihre Lebenserwartung auch dann so gering, dass man sie nicht quälen sollte. Ich kenne dich. Du wirst sagen, dass man sie doch nicht einfach sterben lassen kann, aber vielleicht will sie gar nicht mehr leben?«

»Sie hat eine Tochter.«

Und in diesem Augenblick kamen Fee und Saskia.

Fast hörbar zog Dr. Behnisch die Luft ein.

»Saskia möchte bei ihrer Mutter sein«, sagte Fee schlicht. Ihr Blick suchte Halt bei Daniel.

»Dem steht wohl nichts im Wege, Dieter«, sagte er schnell.

»Nein.«

»Danke«, sagte Saskia höflich.

Sie wurden von den beiden Ärzten zu einer Tür begleitet, die die Nummer neunzehn trug. Wieder fröstelte es Fee. Genauso alt war Saskia.

Das Mädchen sah sie aus weit offenen Augen an. »Ich weiß, was Sie denken, Felicitas Norden. Haben Sie tausend Dank.«

»Sie werden zu uns kommen, Saskia«, sagte Fee.

»Ich muss meinen Weg gehen«, erwiderte das Mädchen. Dann beugte sie sich vor und küsste Fee auf die Wange. Kurz darauf schloss sich die Tür des Krankenzimmers hinter ihr.

»Wache oder träume ich?«, fragte Dieter Behnisch.

»Vor allem scherze nicht, Dieter«, sagte Fee. »Mir ist nämlich zum Weinen zumute.«

Daniel legte den Arm um sie und zog sie an sich.

Dieter starrte zu Boden.

»So war das nicht gemeint, Fee«, sagte er. »Sie scheint einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht entstiegen zu sein.«

»Ist sie auch in gewissem Sinne. Das ungewöhnlichste Mädchen, das mir je begegnet ist. Es darf niemand an sie heran, Dieter. Sie ist in Gefahr. Sie fühlt es, und ich fühle es auch. Ich werde euch alles erzählen.«

»Eine Viertelstunde habe ich noch Zeit«, sagte Dieter Behnisch.

»Für uns beginnt der Tag auch bald richtig«, warf Daniel ein.

»Ich werde mich beeilen«, sagte Fee.

Indessen hatte Saskia am Bett ihrer Mutter Platz genommen. Ganz still saß sie mit gefalteten Händen und blickte in das leidvolle Gesicht, das auch jetzt noch Spuren einstiger Schönheit zeigte.

*

Die beiden Ärzte waren tief beeindruckt gewesen von dem, was sie von Fee gehört hatten. Dr. Behnisch war ganz blass geworden. Bei ihm fiel das sehr auf, weil er immer eine frische Farbe hatte.

»Ich werde höllisch auf die Prinzessin aufpassen«, sagte er.

»Aber nicht verraten, dass ich geschwatzt habe«, bat Fee.

»Das war wichtig, und was wichtig ist, ist kein Geschwätz«, meinte Dieter. »Aber ich kann sie nicht festbinden. Und weiß man denn, ob dieser Reyken nicht so ein Bursche ist, der das ganze Haus ausräumt?«

Ja, dieser Reyken war eine rätselhafte, und wie Fee meinte, auch gefährliche Figur in diesem Drama. Aber unternehmen konnte man nichts.

Unterwegs hatte Fee dann eine Idee. »Du hast doch neulich diesen netten Privatdetektiv behandelt, Daniel«, sagte sie nachdenklich.

»Edwin Pichler?«

»Ja, behandelst du noch mehr Detektive?«

»Seinen Partner auch. Kurti Schnell. Isabel nennt ihn Kurti.«

»Das soll sie nur Jürgen nicht hören lassen«, meinte Fee.

»Ach was, Kurti ist so breit wie lang, und der eifersüchtigste Mann könnte nichts Gefährliches an ihm entdecken.«

»Einer von den beiden könnte doch mal so ein paar Informationen über diesen Reyken einholen«, sagte Fee.

»Wir müssen Saskia einfach helfen, auch wenn sie sich nicht helfen lassen will.«

»Du machst es schon richtig, Liebling«, sagte Daniel. »Nimm du es in die Hand. Ich habe heute massig zu tun. Plötzlich wollen alle Frauen Mammographien machen lassen. Wenn eine Präsidentenfrau an Brustkrebs operiert wird, ist es anregender, als wenn man sachlich auf Vorsorgeuntersuchungen hinweist.«

Er dachte plötzlich an die Diagnose, die Dieter über Evelyn Boerden gestellt hatte. Davon hatte er Fee noch nichts gesagt, und er wollte es vorerst auch für sich behalten.

Ihn als Arzt erschreckte es auch, wie viele Frauen solche Leiden hatten und wie schnell sie ihnen den Tod bringen konnten, wenn etwas übersehen wurde.

Molly war schon fleißig bei der Arbeit, als sie in die Praxis kamen, aber Fee musste wieder einmal hören, dass dies alles Patienten für den Herrn Doktor waren, die im Wartezimmer saßen.

Fee nahm es mit Humor, Helga Moll nicht sosehr, aber heute war Fee gar nicht darüber bedrückt.

»Ich fahre hinauf in die Wohnung. Habe noch einiges zu erledigen«, sagte sie zu Molly. »Wenn ich doch noch gebraucht werden sollte, rufen Sie mich.«

Sie wurde von Lenchen empfangen.

»Nanu, was ist denn heute wieder los?«, fragte das schwerhörige, aber noch immer hurtige Lenchen. »Tee hat man schon getrunken, und weg aus dem Haus ist man zu nachtschlafener Zeit. Werdende Mütter sollen länger ruhen.«

»Ich trage mich noch nicht schwer an dem winzigen Etwas«, erwiderte Fee in munterem Ton, um Lenchen nicht Anlass zu weiteren Ermahnungen zu geben. »Wir mussten eine Patientin in die Klinik bringen, Lenchen.«

»Früher hat der Doktor das auch allein gekonnt, aber jetzt macht er ja rein gar nichts mehr ohne seine Frau.«

»Ist doch schön, Lenchen«, sagte Fee. Dann ging sie zum Telefon.

»Kein Kaffee?«, rief Lenchen laut.

»Doch, den könnte ich jetzt schon brauchen.« Damit war das gute Lenchen beruhigt.

Während Fee die Nummer von Edwin Pichler heraussuchte, dachte sie unwillkürlich wieder an ihren Traum, und während sie die Nummer gewählt hatte und auf das Freizeichen wartete, betrachtete sie den Samowar.

Seltsam war es, dass sie im Traum unterschwellige Assoziationen zum tatsächlichen Geschehen fand. Aber vielleicht spielte ihr doch die Fantasie einen Streich.

Endlich klang nach dem ›bitte warten‹ eine Männerstimme an ihr Ohr. Eine gemütliche Stimme, so ein bisschen schläfrig, aber sofort hellwach, als sie ihren Namen nannte.

»Ich hätte Sie gern in einer dringenden Angelegenheit gesprochen, Herr Pichler«, sagte Fee. »Könnten Sie bitte zu uns kommen? – Ja, das ist fein. In die Privatwohnung bitte.«

Der Name Norden schien Herrn Pichler zu beflügeln, denn schon zehn Minuten später war er da. Er versicherte, dass er gern mit einer so bezaubernden Frau Kaffee trinken würde.

Er war lang und dünn, hatte abstehende Ohren und eine Glatze. Fee war sicher, dass ihr eifersüchtiger Daniel nichts dabei finden würde, dass sie Herrn Pichler zu einer Tasse Kaffee eingeladen hatte.

Er ließ es sich schmecken, während sie ihm ihr Anliegen vortrug, dabei aber so wenig wie möglich von Saskia erwähnend.

»Anatol van Reyken?«, fragte Edwin Pichler ganz nebenbei.

Fee sah ihn verwundert an. »Seinen Vornamen kenne ich nicht«, sagte sie.

»Wenn es sich um den van Reyken handelt, kann ich Ihnen bald einiges Material vorlegen, Frau Doktor. Da haben wir vor acht Wochen für einen anderen Klienten Ermittlungen angestellt.«

Nun war Fee doch neugierig, aber bevor sie eine Frage stellen konnte, erklärte Edwin Pichler: »Allerdings kann ich über den Klienten keine Auskunft geben. Das ist Berufsgeheimnis. Aber Auftrag ist Auftrag, und was kann ich dafür, wenn zwei Klienten Auskunft über den gleichen Mann haben wollen.«

»Vielleicht sind es zwei verschiedene«, meinte Fee. »Der Vorname passt nicht zum Nachnamen, finde ich.«

»Der Vater war Holländer, die Mutter Perserin. Ich werde mich sofort auf die Beine machen.«

Die Mutter war Perserin!, klang es in Fees Ohren. Wie seltsam. Sie war sicher, dass es der richtige van Reyken war. Aber welche Rolle spielte er in Evelyn Boerdens Leben?

Da war sie nun mittendrin in einer merkwürdigen Geschichte um eine zauberhafte Prinzessin. Ja, so stellten sich wohl romantische kleine Mädchen ein Prinzeßchen vor.

Wie nüchtern Saskia von ihrem Vater gesprochen hatte, wie liebevoll verhalten von dem andern, der ihr dann Vater geworden war.

War er wirklich ermordet worden, oder hatten sich das Mutter und Tochter in ihrem Schmerz nur eingeredet, weil sie es nicht begreifen wollten, dass er nicht mehr bei ihnen war?

Eigentlich hätte ich Herrn Pichler auch bitten sollen, ein paar Erkundigungen über Magnus Boerden einzuziehen, ging es Fee durch den Sinn. Ob das große Vermögen der Frau Boerden von ihm stammte?

Viele Fragen standen offen, wie in einem spannenden Krimi, aber Fee dachte dann auch für sich, dass Daniel bestimmt nicht erpicht darauf wäre, schon wieder einmal in einen Fall verwickelt zu werden, in dem die Polizei mitspielte.

Sie rief jetzt schnell in der Behnisch-Klinik an und bekam Dr. Jenny Lenz an den Apparat, die von Dr. Behnisch eingeweiht worden war. Er konnte das unbesorgt tun, denn zwischen den beiden herrschte ein großes Vertrauensverhältnis. Außerdem war Jenny Lenz sehr verschwiegen.

Saskia war noch in der Klinik. Jenny hatte kurz mit ihr gesprochen. Sie sagte, dass Saskia wohl bleiben würde.

Was aber ging indessen in der Villa Boerden vor? Zu gern hätte Fee das gewusst. Aber sie war völlig ahnungslos, dass währenddessen drunten in der Praxis dieser rätselhaften Geschichte schon ein weiteres Kapitel zugefügt wurde, ohne dass Daniel einen Zusammenhang erkennen konnte.

Molly sah die Fremde, die gegen zehn Uhr kam, forschend an. Sie war noch nie in der Praxis gewesen. Molly hatte ein gutes Personengedächtnis, und eine solche Erscheinung konnte man auch kaum vergessen.

Diese Frau, hochgewachsen, schwer schätzbaren Alters, slawisch geschnittenem Gesicht, schmalen Katzenaugen, auffallend elegant gekleidet, beeindruckte Molly durch ihre große Liebenswürdigkeit. Mit rauchiger Stimme bat sie darum, nicht lange warten zu müssen, da sie Dr. Norden nur um ein Rezept bitten wolle. Sie sei auf der Durchreise und hätte einen schweren Migräneanfall.

Nun ja, das könnte der Doktor wohl schon mal einschieben, dachte Molly, die wie hypnotisiert war von dem Blick der Katzenaugen. Sie hätte später nicht mehr sagen können, warum sie zu einer Ausnahme bereit gewesen war.

Dr. Norden selbst allerdings auch nicht.

Tatjana Anatol nannte sich die Fremde, und sie wusste auch, welches Mittel sie verschrieben haben wollte. Sie zeigte Dr. Norden die Packung.

»Ein sehr starkes Mittel«, stellte er fest. »Dafür bin ich nicht sosehr, wenn man unterwegs ist. Ans Steuer dürfen Sie sich nicht setzen.«

»Ich habe meinen Chauffeur«, erwiderte sie liebenswürdig.

Dr. Norden registrierte im Unterbewusstsein, dass diese Liebenswürdigkeit nicht zum Ausdruck ihrer Augen passte, aber was sollte er sich Gedanken machen? Er würde sie kaum wiedersehen. Dem Rauschgiftgesetz unterlagen diese Kapseln nicht, also hatte er auch da nichts zu fürchten.

»Eine starke Migräne hat immer eine tiefere Ursache«, sagte er jedoch. »Ich würde diese an Ihrer Stelle ergründen lassen.«

»Es ist noch kein Arzt darauf gekommen«, erwiderte sie, »aber wenn ich wieder hierherkomme, werde ich mich in Ihre Behandlung begeben. Vielleicht gehören Sie zu den seltenen Ausnahmen, die eine richtige Diagnose stellen können.«

»Eine kleine Untersuchung müssen Sie sich aber doch gefallen lassen«, sagte Dr. Norden. »Wenn Sie nämlich herzkrank sind, kann ich Ihnen diese Tabletten guten Gewissens nicht verschreiben.«

»Nein, herzkrank bin ich nicht«, erwiderte sie mit einem eigentümlichen Auflachen, an das er sich später erinnerte. Davon war auch nichts festzustellen. Migräne war ebenfalls schwer zu diagnostizieren. Er schrieb ihr das Rezept aus, und sie bestand darauf, die Beratung sofort zu bezahlen. In einer Versicherung sei sie sowieso nicht.

Tatjana Anatol verabschiedete sich wieder. Dr. Norden wandte sich seinen anderen Patientinnen zu.

Fee sah die Fremde, als sie aus dem Lift stieg, in den diese nun einstieg, nachdem Fee ihn verlassen hatte.

»Eine neue Patientin?«, fragte sie Molly, als sie die Praxis betrat.

»Nur auf der Durchreise«, erwiderte Molly. »Sie wollte nur ein Rezept.«

Eigentlich hätte Fee nun nicht weiter darüber nachdenken müssen, aber dann sah sie die Karte, die Molly gewissenhaft ausgefüllt hatte, denn selbst dann, wenn jemand nur ein Rezept haben wollte, musste ein Beleg über den Besuch vorhanden sein. Da gab es gar nichts.

Molly war überaus korrekt.

»Anatol«, sagte Fee gedankenvoll. »Wie seltsam!«

*

Edwin Pichler hatte sich auf den Weg zur Villa Boerden gemacht. Da er Anatol von Reyken nie persönlich begegnet war, konnte er das ruhig wagen.

Er läutete und musste sich nun einige Zeit gedulden. Dann jedoch öffnete ihm van Reyken selbst die Tür.

Eine Fotografie hatte Edwin Pichler schon von ihm gesehen. Er erkannte ihn sofort als den Mann, über den er bereits Auskünfte eingezogen hatte, die allerdings mit dem Namen Boerden nicht in Zusammenhang gestanden hatten.

»Sie wünschen?«, fragte van Reyken.

»Stiebel ist mein Name«, sagte Edwin Pichler. »Ich möchte zu Frau Boerden.«

»Frau Boerden ist erkrankt. In welcher Angelegenheit kommen Sie?«

Lauernd musterten ihn die zusammengekniffenen Augen.

»In einer geschäftlichen«, erwiderte Edwin Pichler. »Tut mir leid, dass Frau Boerden erkrankt ist. Schwer?«

»Ziemlich. Sie liegt in der Klinik.«

»In welcher?«

»Wenn Sie mir sagen, worum es sich handelt, werde ich Ihnen sagen, in welcher Klinik sie liegt«, erwiderte van Reyken sarkastisch.

»Tut mir leid, einer dritten Person kann ich keine Auskünfte geben. Frau Boerdens Tochter ist auch nicht zu Hause?«

Van Reyken starrte ihn an. »Woher wissen Sie von Frau Boerdens Tochter?«, fragte er erregt.

»Dürfte ich es nicht wissen?«, fragte Edwin Pichler ironisch. Dann drehte er sich um, aber Reyken packte ihn am Arm.

»Vielleicht zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis«, stieß er hervor.

»Sind Sie von der Polizei?«, fragte Edwin Pichler grinsend. »Wer sind denn Sie überhaupt?«

Reyken ließ ihn los, schob ihn hinaus und schlug die Tür zur.

Edwin Pichler machte das nichts aus. Erst einmal hatte er genug erfahren. Reyken war derjenige, den er vermutet hatte. Er wohnte hier, obgleich ein anderer ihn in in Wien vermutete. Das war äußerst interessant. Durch Zufall hatte er da eine seltsame Verbindung gefunden, über die er sich Gedanken machen musste. Er beschloss, seinen früheren Auftraggeber aufzusuchen, der ihm wohlbekannt war und so überaus seriös, dass man ihm keine unreellen Geschäfte zutrauen konnte.

Sicher lohnte es sich, diesen Reyken zu beobachten, aber das sollte Kurti übernehmen. Edwin Pichler nannte seinen Kompagnon auch Kurti.

Immerhin aber wäre es für ihn sehr interessant gewesen, Reyken gleich beobachten zu lassen, denn er verließ eine halbe Stunde später das Haus und fuhr mit seinem amerikanischen Straßenkreuzer in die Stadt, wo er sich mit jener Frau treffen wollte, die sich bei Dr. Norden Tatjana Anatol genannt hatte.

*

Saskia rührte sich nicht vom Bett ihrer Mutter. Schwester Doris, ein freundliches junges Mädchen, hatte ihr Kaffee gebracht und Gebäck, aber Saskia hatte beides noch nicht angerührt.

Sie wartete sehnsüchtig, dass ihre Mutter die Augen aufschlagen würde, mit der Angst in ihrem jungen Herzen, dass dies nie mehr sein könnte. Doch ihr stilles Flehen wurde erhört.

Gegen Mittag kam Evelyn Boerden zu sich.

Zärtlich streichelte Saskia ihre Hände. »Mutter, liebste Mutter«, flüsterte sie.

»Aimée«, hauchte Evelyn Boerden. Es war ihr Kosename für ihr Kind. Ihre durchscheinenden Augenlider flatterten, und als sie sich dann endlich hoben, blickte Saskia in fiebrig glänzende Augen.

»Wo bin ich?«, fragte Evelyn.

»In der Behnisch-Klinik. Dr. Norden hat dich hergebracht. Du hattest einen schlimmen Herzanfall.«

»Es ist nach den Tabletten noch schlimmer geworden«, sagte Evelyn geistesabwesend. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Früher haben sie immer geholfen.«

Saskia wusste nicht, wovon ihre Mutter sprach, aber sie merkte sich alles.

Sie wollte mit Dr. Behnisch und Dr. Norden über diese Tabletten sprechen.

»Es wird dir bald wieder bessergehen«, sagte sie tröstend.

»Kind, mein Liebes, ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich muss dir noch manches sagen, aber ich bin so müde. Wende dich an Dr. Camphausen, wenn ich keine Kraft mehr habe. Sprich mit Reyken kein Wort.«

»Warum wohnt er in deinem Haus, Mutter?«, fragte Saskia flehend.

»Ich weiß es nicht.«

Saskia glaubte nicht richtig zu hören. »Du weißt es nicht?«, fragte sie.

»Nein, ich weiß es nicht«, erwiderte ihre Mutter monoton. Und die wenigen Worte, die sie gesprochen hatte, schienen schon wieder zu viel für sie gewesen zu sein.

Angsterfüllt drückte Saskia auf die Glocke, und gleich kam Dr. Jenny Lenz. Sie fragte nicht viel, sondern verabreichte der Kranken erneut eine Injektion.

»Meine Mutter war bei Bewusstsein«, erklärte Saskia. »Wir konnten einige Worte miteinander sprechen. Sie sagte etwas von Tabletten, die ihr sonst geholfen hätten, aber diesmal sei es noch schlimmer geworden.«

»Welche Tabletten?«

»Ich weiß es nicht. Dr. Norden wird sie ihr wohl verschrieben haben.«

»Dann werden wir es erfahren. Aber Dr. Norden hat ihr gewiss kein Medikament verschrieben, das ihr schaden könnte. Dass Ihre Mutter sehr krank ist, wissen Sie nun schon, Fräulein Boerden.«

»Ja, ich weiß es. Wäre ich nur früher gekommen, aber Mutter …«, sie unterbrach sich. Was ging es andere an, dass ihre Mutter sie eindringlich gebeten hatte, noch nicht zu kommen.

Hing das mit Reyken zusammen? Was sollte diese unerklärliche Antwort bedeuten, dass sie nicht wüsste, warum er in ihrem Hause wohnte? Saskia hatte einen scharfen Verstand. Man hatte ihr im Reifezeugnis eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt, aber in manchen Dingen war ihre Intuition noch stärker als ihre Intelligenz.

Sie hatte Reyken in den wenigen Tagen, die sie im Hause ihrer Mutter weilte, nur selten gesehen und überhaupt nicht mit ihm gesprochen. Irgendetwas lehnte sich von Anfang an in ihr gegen ihn auf. Und das nicht nur, weil er einen despotischen Ton ihrer Mutter gegenüber angeschlagen hatte und sie sich ihm gegenüber fast unterwürfig benahm.

Saskia hatte ihre Mutter gefragt, wer dieser Mann sei. »Er heißt Anatol und ist mein Freund«, hatte ihre Mutter erwidert. In welch einem eigentümlichen Tonfall hatte sie es doch gesagt! Saskia grübelte darüber nach, weil das, was ihre Mutter eben gesagt hatte, nicht zu dieser Antwort passte.

Nun saß sie wieder still da und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit wandern. Erst nach dem Tode von Magnus Boerden hatte sie von ihrer Mutter erfahren, dass er nicht ihr richtiger Vater gewesen sei. An ihre frühe Kindheit hatte sie keinerlei Erinnerung, jene ausgenommen, dass sie in einem warmen südlichen Land gelebt hatte. Ihre Mutter hatte ihr später erzählt, dass dies die Insel Korsika gewesen sei, und dass sie dort Magnus Boerden kennengelernt hätte.

An ihn konnte sich Saskia genau erinnern. Sie hatte ihn abgöttisch geliebt. Er hatte ihr wunderschöne Geschichten erzählt, war mit ihr viel herumgelaufen und hatte ihr alles erklärt, was in der Natur vor sich ging. Sie hatten dann in einem hübschen Haus in den Bergen gelebt, in der genau richtigen Höhenlage, die der zarten Gesundheit ihrer Mutter am zuträglichsten war.

Und dort war es dann geschehen, dass er von einer Fahrt in die nahe Stadt nicht zurückgekommen war.

»Ich möchte gerne mitfahren, Papi«, hatte Saskia gebeten.

Aber er hatte erwidert, dass er etwas ganz Dringendes zu erledigen hätte und sie sich bestimmt langweilen würde, wenn sie warten müsste.

Und später hatte ihnen dann niemand erklären können, warum ihn im Wald eine Kugel getroffen hatte, angeblich eine verirrte Kugel, da dort gejagt wurde. Es war Herbst gewesen. Ganz genau konnte sich Saskia an diesen Tag erinnern.

»Sie haben ihn dorthin gelockt, sie haben ihn umgebracht«, hatte ihre Mutter den Männern entgegengeschrien, die die Nachricht brachten.

»Papi wollte in die Stadt«, hatte sie gesagt, die kleine Saskia, für die eine Welt zusammengestürzt war.

Damals hatte sie Papi und Mami gesagt, dann, als sie keinen Papi mehr hatte, sagte sie Mutter. Ganz von sich aus. Evelyn hatte nie gefragt warum.

Ein eigenartiges Kind war Saskia immer gewesen. Scheu und abweisend benahm sie sich auch, als eines Tages ein junger Mann kam, von dem ihre Mutter sagte, er sei der Sohn von Magnus. Sie hatte nicht glauben wollen, dass ihr Papi noch einen großen Sohn hatte. Sie hatte diesen Gedanken von sich gewiesen, sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Er war wieder abgereist, und die Mutter hatte nie von ihm gesprochen.

Jetzt dachte Saskia auch daran. Cornelius hatte der Sohn geheißen. Aber wie alles andere auch, was geschehen war, blieb es ihr auch unbegreiflich, dass er der Sohn ihres geliebten Papis gewesen sein sollte.

»Ich werde es dir erklären, wenn du größer und verständiger geworden bist«, hatte ihre Mutter gesagt, aber dazu war es nie gekommen. Saskia hatte es nicht wissen wollen. Es war schmerzlich genug zu wissen, dass ein anderer ihr Vater gewesen war und Magnus Boerden einen richtigen Sohn hatte.

Wer war nun Dr. Camphausen? Auch diesen Namen hatte sie nie gehört. Sie zermarterte sich den Kopf über all diese geheimnisvollen Fragen und Geschehnisse. Sie fand doch keine Antwort.

*

»Hat’s geschmeckt?«, fragte Lenchen.

»Gut, wie immer«, erwiderte Fee lobend.

»Und jetzt sollte man ein Stündchen ruhen, wenn man schon in der Nacht herausgeholt wird«, sagte Lenchen besorgt.

Daran war gar nicht zu denken. Daniel musste gleich Hausbesuche machen und Fee wollte zur Behnisch-Klinik fahren.

Aber sie musste ihren Mann vorher noch etwas fragen. »Da war heute eine Frau Anatol bei dir. Sie wollte ein Rezept.«

»Ja, sie war auf der Durchreise. Hatte Migräne. Ist sie dir aufgefallen, Fee?«

»Man kann sie nicht übersehen. Mich berührte ihr Name seltsam, denn heute vormittag habe ich von Herrn Pichler erfahren, dass van Reyken mit Vornamen Anatol heißt.«

»Seltsamer Zufall«, sagte Daniel.

»Ich frage mich, ob es ein Zufall ist«, sagte Fee.

»Kleines, halt die Fantasie im Zaum«, meinte Daniel nachsichtig. »Sie wollte nur das Rezept. Sie hat keine Fragen gestellt. Außer ihrer Erscheinung war nichts Auffälliges an ihr.«

»Ich finde es dennoch merkwürdig.«

»Woher weiß denn Pichler, dass van Reyken Anatol heißt?«, fragte Daniel, der ein paar Sekunden überlegt hatte.

»Er hat für einen anderen Klienten Auskünfte über ihn eingezogen. Für wen und welcher Art wollte er natürlich nicht verraten. Ich bin gespannt, was er mit erzählen wird.«

»Da bin ich auch gespannt«, sagte Daniel. »Aber nichtsdestotrotz muss ich jetzt meine Besuche machen. Pass schön auf dich auf, mein Liebes.« Fee bekam einen zärtlichen Kuss, und fort war er.

Sie überließ sich noch eine Viertelstunde ihren Gedanken, aber zu einem Ergebnis kam sie auch nicht. Nun fürchtete sie, dass Herr Pichler kommen würde, während sie aus dem Hause war. Sie rief in seinem Büro an, erfuhr von der Sekretärin aber, dass beide Herren unterwegs wären. Sie tröstete sich dann mit dem Gedanken, dass Herr Pichler nicht erwarten würde, dass eine Ärztin ständig daheim sein würde und fuhr in die Klinik.

Es war ihr eine Beruhigung zu erfahren, dass Saskia noch immer hier sei. Dr. Behnisch sagte ihr, dass Evelyn Boerden zeitweise kurz bei Bewusstsein wäre, sich ihr Zustand aber nicht gebessert hätte. Sie sah ihm an, dass er dies auch nicht mehr erwartete.

Leise betrat sie dann das Krankenzimmer.

Saskias Augen leuchteten kurz auf, als sie ihre Hand nahm.

»Ich hätte Sie gern gesprochen, Saskia«, sagte sie leise. »Würden Sie bitte mit nach draußen kommen?«

»Mutter hört uns nicht«, sagte Saskia.

Aber dann stand sie doch auf und folgte Fee in das Wartezimmer.

Irgendwie kam es Fee doch vermessen vor, sich in die so privaten Angelegenheiten der Boerdens einzumischen, aber aus Sorge um dieses junge Mädchen tat sie es dann doch.

»Mir bereitet der Gedanke Sorge, dass Sie mit diesem Mann eventuell allein in dem Hause wären, Saskia«, begann sie. »Haben sie hier gar keine Freunde, die Ihnen dort einige Tage Gesellschaft leisten könnten?«

»Nein. Ich möchte das auch nicht. Van Reyken hat in dem Haus nichts zu suchen. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihn hinausbekomme. Meine Mutter hat mir vorhin gesagt, dass sie nicht weiß, warum er dort wohnt. Ja, es klingt eigenartig, aber ich glaube, dass sie so denkt, wie sie spricht. Es ist alles so undurchschaubar. Und dann das mit den Tabletten.«

Fee lauschte interessiert. »Das werden wir von meinem Mann genau erfahren, aber vielleicht hat sie falsche Tabletten genommen?«

»Und wer hätte die ihr wohl gegeben?«, fragte Saskia.

Nun, immerhin bestand die Möglichkeit, dass bei einem so schweren Anfall auch die verordneten Tabletten nicht mehr halfen, aber solange man nicht wusste, welche Tabletten Frau Boerden genommen hatte, konnte man überhaupt nichts sagen.

»Haben Sie schon einmal den Namen Tatjana Anatol gehört?«, fragte Fee.

Saskia runzelte leicht die Stirn. »Anatol heißt von Reyken mit Vornamen, aber Tatjana Anatol? Nein. Merkwürdig!«

»Ja, ich finde es auch merkwürdig. Eine Tatjana Anatol war heute bei meinem Mann in der Sprechstunde.«

»Ich muss in dieses Haus zurück«, sagte Saskia plötzlich. »Ich muss suchen, ob ich etwas finde, was mir weiterhelfen kann. Ich muss es finden, bevor es beiseitegeschafft wird. Was treibt dieser Mann in Mutters Haus? Ich weiß doch gar nichts.«

»Aber allein dürfen Sie dorthin nicht, Saskia. Bitte, seien Sie vorsichtig.«

Mit einem seltsamen Ausdruck sah Saskia sie an. »Spüren Sie auch diese Gefahren? Haben Sie auch eine Antenne für das Unheimliche, Felicitas Norden?«, fragte sie.

»Ich glaube ja«, erwiderte Fee ohne zu überlegen.

»Ich danke Ihnen so sehr. Allein das Gefühl, dass es einen Menschen gibt, dem ich vertraue, bedeutet soviel.«

»Sie können bei uns wohnen, Saskia«, sagte Fee herzlich.

»Jetzt werde ich erst einmal hierbleiben. Das muss ich. Vielleicht sagt Mutter mir noch etwas, was wichtig ist. Aber ich muss in das Haus. Etwas zieht mich dorthin.«

»Dann werde ich Sie begleiten«, sagte Fee impulsiv.

Saskias Lider senkten sich. »Es wäre schrecklich, wenn Ihnen irgendetwas geschehen würde«, flüsterte Saskia.

»Was soll uns schon geschehen, wenn wir zu zweit sind. Wenn Reyken aufkreuzt, werden wir ihm sagen, dass wir einige Sachen für Ihre Mutter holen müssen.«

Daniel wäre damit wohl nicht einverstanden, aber Fee schob solche Gedanken von sich. Sie fuhr mit Saskia sofort los. Zu Jenny Lenz sagte sie, dass Saskia für sich einige Kleidungsstücke holen wolle.

*

Herr Pichler hatte endlich den Mann erreicht, den er so dringend sprechen wollte. Es war der Konsul und Rechtsanwalt Dr. Frederic Camphausen. Er residierte in einer prachtvollen Villa im Süden der Stadt. Wohnen konnte man es wahrhaft nicht nennen, denn dieses Haus glich mehr einem Schloss. Es beherbergte eine Sammlung von Kostbarkeiten, die man in solcher Vielzahl und Schönheit selten zu sehen bekam.

Herr Pichler musste einige Minuten warten. Dr. Camphausen hatte gerade anderen Besuch, den Herr Pichler aber nicht zu Gesicht bekam, in diesem Hause ging alles mit größter Diskretion vor sich.

Dr. Camphausen, ein Mann von Anfang sechzig, hochgewachsen und straff wie ein Offizier, der er wohl auch einmal gewesen war, weißhaarig, sehr vornehm, sehr dezent und diplomatisch.

Er konnte sein Erstaunen nicht ganz verbergen, als Edwin Pichler ihm erklärte, dass er ihn nochmals in der Angelegenheit van Reyken sprechen müsse.

Über das sonst so undurchsichtige Gesicht des Diplomaten lief ein Zucken.

»Für uns war dieser Auftrag doch abgeschlossen, Herr Pichler«, sagte er mit seiner ruhigen leisen Stimme.

»Es hat sich aber ein neuer Gesichtspunkt ergeben, den ich Ihnen nicht verschweigen möchte. Ich fühle mich dazu verpflichtet. Durch einen Zufall habe ich in Erfahrung gebracht, dass Anatol von Reyken sich hier in München aufhält und zwar in dem Haus einer Frau Evelyn Boerden.«

Die Wirkung seiner Worte war durchschlagend.

Dr. Camphausen sprang auf und starrte ihn entsetzt an.

»Das ist doch nicht möglich!«, sagte er erregt.

»Ich habe mich selbst davon überzeugt. Heute vormittag war ich dort und habe mit van Reyken gesprochen. Nach dem Foto habe ich ihn sofort erkannt.«

Dr. Camphausen war maßlos erregt, das konnte er mit aller Beherrschung nicht verbergen.

Zu Edwin Pichlers Verblüffung gab er es auch zu.

»Sie haben mich erschreckt, Herr Pichler, aber ich bin Ihnen auch ungeheuer dankbar, dass Sie mir diese Information sofort weitergegeben haben«, sagte er. »Wie aber sind Sie in dieses Haus gekommen?«