Martin Suter
Der letzte
Weynfeldt
Roman
Die Erstausgabe
erschien 2008 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Gemälde von
Félix Vallotton, ›Femme nue devant une salamandre‹,
1900 (Ausschnitt)
Für Ana und Antonio
Und zum Andenken an Daniel Schmid
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2022
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23933 1
ISBN E-Book 978 3 257 60048 3
[5] 1
»Tu es nicht«, wollte er sagen, aber es ging nicht.
Adrian Weynfeldt hielt den Blick auf die weißen, sommersprossigen Fäuste der Frau gerichtet. Sie hatten das schmiedeeiserne Geländer so fest umklammert, dass die Knöchel noch weißer hervortraten. Er wagte nicht, ihr in die Augen zu schauen. Sie hatte ihn als Zeugen ausgesucht. Er hoffte, ein Sprung ohne Blickkontakt wäre ihr zu unpersönlich.
Zwischen Balkonboden und Geländer guckten ihre nackten Füße herein. Jeder Zehennagel war in einer anderen Farbe lackiert. Das war ihm schon gestern Abend aufgefallen. Rot, gelb, grün, blau, violett der rechte. Der linke in der umgekehrten Reihenfolge. Violett, blau, grün, gelb, rot. So leuchteten die beiden mittleren Zehennägel in der gleichen Farbe: grün.
Bei den Fingernägeln hatte sie auf das Spiel verzichtet. Sie trugen einen transparenten Lack und waren dort, wo sie über das Nagelbett hinausragten, weiß hintermalt. Er konnte sie in diesem Moment zwar nicht sehen, aber er erinnerte sich. Weynfeldt war ein Augenmensch.
Das Weiß ihrer Knöchel verdunkelte sich ein wenig, was bedeutete, dass sie ihren Griff lockerte. »Das sind nur gut zehn Meter«, warf er rasch ein, »das überlebst du vielleicht. Stell dir lieber nicht vor, wie.«
[6] Die Knöchel wurden wieder weißer. Weynfeldt zog seinen linken Fuß auf die Höhe des rechten und schob diesen einen halben Schritt vor.
»Bleib, wo du bist!«, sagte die Frau.
Hieß sie Gabriela? Er konnte sich nicht erinnern, sein Namensgedächtnis taugte nichts. »Abgemacht: Ich bleibe, wo ich bin. Aber du auch.«
Sie gab keine Antwort, aber die Knöchel blieben weiß.
Hinter den Bürofenstern in der Neorenaissance-Fassade gegenüber brannte sonst fast den ganzen Tag über Licht. Aber heute waren sie dunkel. Es war Sonntag, noch früh am Vormittag. Die Straßen waren menschenleer, in großen Abständen fuhren Trams vorbei, und ganz selten war ein Auto zu hören. Weynfeldt schauderte bei der Vorstellung, die Szene könnte sich an einem Werktag abspielen. Die Frau trug einen schwarzen BH und ein dazu passendes knappes Höschen. So hoffte er jedenfalls – das grüne Segeltuch, das als Blickschutz vor dem Geländer hing, verdeckte sie von der Taille an abwärts. Und als er erwacht war, war sie schon dort draußen gestanden.
Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Kein Geräusch, eher das fremde Parfum. Er war eine Weile mit geschlossenen Augen dagelegen und hatte versucht, sich an ihren Namen zu erinnern. Ihr Gesicht hatte er vor sich.
Ein wenig hagerer vielleicht, ein wenig entschlossener, ein wenig illusionsloser. Aber die gleiche helle, sommersprossige Haut, die gleichen etwas schrägen grünen Augen, die gleichen roten Haare und vor allem: der gleiche Mund, dessen Oberlippe sich in ihrer Form kaum von der Unterlippe unterschied.
[7] Es war das Gesicht, das er seit so vielen Jahren zu vergessen und zu erinnern versuchte.
Adrian Weynfeldt hatte den Samstagabend wie immer zugebracht: im Kreise der älteren seiner Freunde. Er hatte zwei Freundeskreise, die keine Berührungspunkte besaßen: Der eine bestand aus Leuten, die fünfzehn oder noch mehr Jahre jünger waren als er. Bei ihnen galt er als das etwas exotische Original, dem man sich anvertrauen, das man aber auch ein wenig belächeln konnte, das diskret die Restaurantrechnungen beglich und auch ab und zu bei finanziellen Engpässen aushalf. Sie behandelten ihn mit betonter Nonchalance als einen der ihren und sonnten sich doch heimlich im Glanz seines alten Namens und Geldes. Mit ihnen besuchte er Clubs und Lounges, für die er sich allein zu alt gefühlt hätte.
Sein anderer Bekanntenkreis bestand aus Leuten, die noch seine Eltern gekannt hatten oder zumindest aus ihren Kreisen stammten. Sie waren alle über sechzig, einige älter als siebzig, und ein paar von ihnen hatten die achtzig überschritten. Und dennoch gehörten sie seiner Generation an. Ihre Eltern waren ungefähr im gleichen Alter wie die seinen gewesen, denn Adrian Weynfeldt war das späte Kind eines lange kinderlos gebliebenen Paares. Seine Mutter war vierundvierzig gewesen, als er zur Welt kam, und vor bald fünf Jahren, genau an seinem Fünfzigsten, mit fast fünfundneunzig gestorben.
Freunde in seinem eigenen Alter besaß Weynfeldt keine.
Den Samstagabend hatte er also im Kreise der betagteren Freunde zugebracht, in der Alten Färberei, dem gutbürgerlichen Restaurant eines Zunfthauses in der Altstadt, keine [8] zehn Gehminuten von seiner Wohnung entfernt. Dr. Widler war da gewesen, der alte Hausarzt seiner Mutter, der in den letzten Monaten immer apathischer geworden, um ein paar Kleidergrößen geschrumpft war und in seinen Maßanzügen verlorenzugehen drohte. Umso lebhafter seine Frau, immer noch tadellos geschminkt, tadellos frisiert und tadellos gekleidet. Und noch immer machte sie sich einen Spaß daraus, ihre Porzellandamenhaftigkeit mit Kraftausdrücken und ordinären Äußerungen zu kontrastieren.
Remo Kalt war dazugestoßen, sein kürzlich verwitweter Vetter mütterlicherseits, Mitte siebzig, im schwarzen Dreiteiler mit goldener Uhrkette und kurz getrimmtem Thomas-Mann-Schnurrbart, als käme er direkt aus einer Porträtsitzung mit Ferdinand Hodler. Remo Kalt war Treuhänder, hatte das Vermögen von Weynfeldts Eltern verwaltet und tat das weiterhin für deren Sohn. Adrian hätte das auch selbst übernehmen können, aber er brachte es nicht übers Herz, Kalt sein letztes Mandat zu entziehen. Viel falsch machen konnte der nicht. Es handelte sich zwar nicht um ein riesiges Vermögen, aber um ein solides. Und es war konservativ und langfristig angelegt.
Sie hatten die Bernerplatte bestellt, die im Winter jeden Samstagabend auf der Karte stand. Dr. Widler hatte kaum etwas angerührt, seine während ihrer bald achtzig Jahre von gertenschlank über dünn nun mager gewordene Frau Mereth hatte sich von allem – Speck, Zunge, Saucisson, Geräuchertem – zweimal servieren lassen. Kalt hatte mitgehalten, und Weynfeldt hatte gegessen wie ein Mann, dem es noch nicht ganz egal war, wie er aussah.
Es war ein angestrengt lustiger Abend geworden. [9] Angestrengt, weil Mereth Widlers Provokationen schon etwas abgegriffen waren und weil auf der Tischrunde die Gewissheit lastete, dass es wohl eines der letzten Male sein würde, an denen ihr Mann mit am Tisch saß.
Widlers verabschiedeten sich früh, Weynfeldt trank mit Remo Kalt noch one for the road, und als ihnen kurz darauf der Gesprächsstoff ausging, bestellten sie ein Taxi für Kalt.
Weynfeldt wartete mit ihm vor dem Eingang. Es war ein frühlingshafter Abend, viel zu mild für Februar. Der Himmel war klar, und ein noch fast voller Mond schwebte hoch über den steilen Dächern der Altstadt. Die Gasse war menschenleer bis auf eine ältere Frau mit einem aufgeregten Spitz an der Leine. Sie beobachteten schweigend, wie sie sich hilflos von ihrem Hund spazieren führen ließ, stehenblieb, wo er schnüffeln, den Schritt beschleunigte, wo er vorbeigehen und die Route änderte, wo er die Gasse überqueren wollte.
Endlich krochen die Lichtkegel zweier Scheinwerfer hinter der Biegung hervor, gefolgt von einem Taxi, das langsam auf sie zufuhr und auf ihrer Höhe stehenblieb. Sie verabschiedeten sich mit einem formellen Händedruck, und Weynfeldt schaute dem Wagen nach, dessen Taxischild erloschen war und dessen Bremslichter vor der Einmündung in die Hauptstraße aufglühten.
Sein Heimweg führte ein Stück am Fluss entlang und am La Rivière vorbei, an welchem er um diese Zeit – es war erst kurz vor elf – nur schwer vorbeigehen konnte. Er betrat das Lokal, wie so oft an einem Samstagabend, den er in Gesellschaft seiner betagteren Freunde verbracht hatte.
Das La Rivière war noch vor zwei, drei Jahren eine etwas [10] angestaubte Konditorei gewesen. Dann wurde es von einem der vielen aufstrebenden Gastronomieunternehmen der Stadt übernommen, das daraus eine sehr amerikanische Cocktailbar machte. Man trank dort aus schlichten Gläsern Martinis, Manhattans, Daiquiries und Margaritas, die einem von zwei Barkeepern in eierschalenfarbenen Dinnerjackets gemixt wurden. An Samstagabenden spielte ein Trio gedämpft seine Smooth Jazz Classics.
Jetzt war das La Rivière noch halbleer, doch das würde sich in der nächsten Viertelstunde ändern, wenn die Kinos aus waren. Weynfeldt setzte sich an seinen Stammplatz an der Bar, den ersten Hocker an der Wand. Von dort aus konnte er das Geschehen überblicken und musste sich nie mit mehr als einem Sitznachbarn abgeben. Der Barman kannte ihn und brachte ihm seinen Martini, von dem er nur die Olive essen würde. Weynfeldt war ein mäßiger Trinker.
Er neigte auch sonst nicht zu Ausschweifungen. Wenn er auf dem Nachhauseweg noch in einer Bar hereinschaute, tat er das nicht wie andere Junggesellen auf der Suche nach einem bisschen Gesellschaft, Wärme, Sex. Er litt nicht unter Einsamkeit. Im Gegenteil: Er genoss es, allein zu sein. Wenn er dennoch immer wieder Gesellschaft suchte, tat er das mehr, um seiner Neigung zum Einzelgängertum entgegenzuwirken.
Was sein Bedürfnis nach Sex betraf: Es spielte seit einer Episode – besser gesagt: seit einem Schicksalsschlag – in seinem früheren Leben eine immer nebensächlichere Rolle.
Deswegen war der weitere Verlauf des Abends alles andere als typisch für Adrian Weynfeldt.
Kaum hatte ihm der Barman den Martini gebracht, betrat [11] eine Frau das La Rivière, steuerte auf die Bar zu, legte Mantel und Handtasche auf den Hocker neben Weynfeldt, setzte sich auf den nächsten und bestellte einen Gin-Fizz.
Sie trug eine grüne, chinesisch geschnittene Seidenbluse, aus deren kurzen, enganliegenden Ärmeln weiße Arme ragten. Dazu einen engen schwarzen Rock und hochhackige Pumps, ungefähr im Grün der Bluse. Das lange rote Haar war hochgesteckt und wurde über dem schmalen, vom Stehkragen der Bluse lose umfassten Nacken mit einer Spange aus Schildpattimitat zusammengehalten.
Bis jetzt hatte sie sich Weynfeldt nicht zugewandt, aber als der Barman den Drink vor sie hinstellte, ergriff sie die Cocktailschale und prostete Weynfeldt flüchtig zu. Sie wartete nicht, bis dieser das Glas erhoben und die Geste erwidert hatte. Aber als sie es in einem Zug bis zur Hälfte geleert hatte, blickte sie ihn an und lächelte.
Weynfeldt kannte dieses Lächeln.
So erschrocken war er darüber, dass er sein Glas an die Lippen setzte und – hinunterkippte. Die Frau, die ihn anlächelte, besaß eine so große Ähnlichkeit mit Daphne, dass es unmöglich sein konnte, dass sie nicht englisch sprach – ihr melodisches, walisisch gefärbtes Englisch –, sondern ihm ein akzentfreies »Pröschtli« zuraunte. Ihre Sprache brach den Bann denn auch etwas und schwächte den Eindruck ab, dass er Daphnes Wiedergängerin vor sich habe. Vor allem, da ihr Gin-Fizz wohl nicht das erste alkoholische Getränk an diesem Abend war und sie mit etwas schwerer Zunge sprach. Daphne hatte nie getrunken.
»Die Olive«, sagte sie, »wenn Sie sie nicht mögen, ich erlöse Sie davon.«
[12] Weynfeldt hielt ihr das leere Glas hin. Sie fischte den Zahnstocher heraus und steckte sich die Olive in den Mund. Während sie sie aß, studierte sie ihn ungeniert, spuckte den Kern in die Handfläche und ließ ihn in Weynfeldts leeres Glas fallen. Dann trank sie ihres aus. »Lorena«, sagte sie.
»Adrian Weynfeldt«, erwiderte er. Er war kein Spontanduzer.
Lorena nahm ihre Handtasche – ein gut eingetragenes, schlichtes, markenloses Modell aus schwarzem Leder – und brachte ein ausgebeultes Portemonnaie zum Vorschein. Sie legte es auf die Theke, zählte halblaut ihr Geld, steckte es zurück und verstaute den Geldbeutel wieder in der Handtasche. »Was kostet ein Gin-Fizz?«, wollte sie vom Barman wissen.
»Achtzehn«, antwortete der.
»Dann reicht es für drei.«
»Wenn Sie erlauben«, sagte Weynfeldt, »komme ich für die Getränke auf.«
»Ich erlaube es. Aber ich trinke dennoch nie mehr, als ich selbst bezahlen könnte. Alte Regel für alleinstehende Mädchen.«
»Sehr vernünftig.«
»Wenn es vernünftig ist, dann nehme ich es zurück. Vernünftig macht alt. Bestellst du mir noch einen?«
Weynfeldt bestellte einen Gin-Fizz.
»Und einen Martini für den Herrn.«
Der Barman schaute Weynfeldt an. Der zuckte mit den Schultern und nickte.
»Du brauchst ihn ja nicht zu trinken«, sagte Lorena, »bei Männern ist vernünftig okay.«
[13] »Und macht auch nicht alt?«
»Alt bist du auch so.«
Weynfeldt leistete Lorena vier Gin-Fizz lang Gesellschaft, während denen der Martini unberührt neben seinem Ellbogen stand. Als sie noch einen fünften wollte, bestand er darauf, sie nach Hause zu bringen, und bestellte ein Taxi.
»Wohin?«, fragte der Fahrer Weynfeldt.
»Wohin?«, fragte Weynfeldt Lorena.
»Keine Ahnung«, antwortete sie.
»Du weißt nicht, wo du wohnst?« Er hatte den Widerstand gegen das Du aufgegeben.
»Ich weiß nicht, wo du wohnst«, antwortete sie mit halbgeschlossenen Augen.
So kam es, dass Adrian Weynfeldt nach er wusste nicht wie vielen Jahren wieder einmal weit nach Mitternacht in Damenbegleitung nach Hause kam. Die Leute vom Sicherheitsdienst würden ihre Freude daran haben, wenn sie die Videoaufzeichnungen auswerteten.
Er schloss die schwere Haustür auf, führte Lorena herein, lehnte sie gegen die Wand, schloss die Tür wieder zu und behielt dabei seinen Gast im Auge, der jederzeit das Gleichgewicht verlieren konnte. Er holte seine Badge aus der Brieftasche, steckte sie in den Schlitz neben der inneren Sicherheitstür, führte Lorena zum Lift, der sich auch nur mit seiner Badge bedienen ließ, und fuhr hinauf zum dritten Stock.
Weynfeldts Wohnung lag in einem Haus aus den Gründerjahren in bester Geschäftslage. Er hatte es von seinen Eltern geerbt. Im Erdgeschoss hatte sich noch zu Lebzeiten seiner Eltern eine Bank eingemietet, die in den übrigen vier [14] Stockwerken auch ihre Büros untergebracht hatte. Die Sicherheitsvorkehrungen der Bank waren zwar manchmal etwas lästig, aber sie kamen Weynfeldt auch nicht ganz ungelegen, da er in seiner Wohnung eine wertvolle Sammlung Schweizer Kunst aus dem neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts beherbergte.
Er ging nicht ein auf die regelmäßigen Vorstöße der Bank, die sich die Wohnung gerne einverleibt hätte und ihn immer wieder mit Wohnungen in ruhigeren Lagen zu verlocken versuchte. Er hatte bis auf seine Internatsaufenthalte und sein Jahr in London sein ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht. Als Kind bewohnte er ein Zimmer in der Nähe der Räume seiner Eltern, je älter er wurde, desto weiter zog er an die Peripherie der gut fünfhundert Quadratmeter Wohnfläche. Als er studierte, baute man die Personalräume zu einer Wohnung mit Küche aus, und die Haushälterin bezog eines der drei Gästezimmer. Das zweite wurde bald benötigt für die Unterbringung der Hauspflege von Weynfeldts Vater, der mit fünfundsiebzig ein Pflegefall geworden war.
Seine Mutter überlebte ihren Mann um fast zwanzig Jahre und verbrachte diese, die vier letzten rund um die Uhr betreut, ebenfalls in der Wohnung. Gleich nach ihrem Tod beauftragte Weynfeldt einen Architekten aus seinem jüngeren Freundeskreis, die Räume von Grund auf zu renovieren. Dieser verwandelte die altmodischen Bäder und WCs in durchdesignte Nasszellen aus sandgestrahltem Glas, mattiertem Chrom und grauem Granit, ersetzte die knarrenden Nussbaumparkette durch Eichenriemen, strich Tapeten und Stuck weiß oder grau und befreite die ganze Wohnung vom Muff der letzten hundert Jahre.
[15] Weynfeldt lagerte das Mobiliar ein bis auf ein paar besondere Stücke und möblierte die Räume mit seiner rasch wachsenden Sammlung von Schweizer Designmöbeln der zwanziger, dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre.
In diese Wohnung bat er jetzt die mehr als nur beschwipste Lorena, die im Vestibül Mantel und Handtasche auf das Parkett fallen ließ und sagte: »Wow!«
Sie sagte noch ein paarmal »Wow!« während ihres Rundgangs durch die Wohnung. »Wow! Wie ein Museum.« Und: »Wow! Bewohnst du das allein?«
Die Besichtigung schien sie etwas auszunüchtern. In Weynfeldts Arbeitszimmer, einem großen Raum mit einer ebenfalls während des Umbaus eingebauten raumhohen Glasfront gegen den Hinterhof, fragte sie:
»Und hier?«
»Hier arbeite ich.«
»Was arbeitest du?«
»Ich arbeite für ›Murphy’s‹. Als Experte für Schweizer Kunst.«
»Was tut man da so?«
»Man macht Expertisen, betreut Auktionen, produziert Kataloge et cetera.«
»Klingt langweilig.«
»Ist es nicht.«
»Darum die ganze Kunst.«
»Umgekehrt: Wegen der ganzen Kunst der Beruf.«
»Findest du auch etwas zu trinken in diesem Palast?«
»Nur alkoholfrei.«
»Du lügst.«
»Was willst du denn?«
[16] »Das Gleiche wie du.«
»Dann einen Verveine.«
Als er mit dem Tablett zurückkam, war sie nicht mehr im Arbeitszimmer. Auch in keinem der Salons. Er fand sie schließlich im Schlafzimmer. Sie lag in Höschen und BH auf seinem Bett und sah aus, als schlafe sie.
Weynfeldt ging ins Bad, duschte und zog einen frischen Pyjama an. Wie jeden Abend. Er besaß vierzehn Pyjamas, alle von seinem Hemdenmacher, alle mit Monogramm, sechs hellblaue für die geraden Tage, sechs blauweiß gestreifte für die ungeraden, zwei weiße für die Sonntage. Eine der kleinen Marotten, die er sich leistete und mit denen er ein wenig Luxus und ein wenig Regelmäßigkeit in sein Leben brachte. Denn er glaubte an die Regelmäßigkeit als lebensverlängernde Maßnahme.
Es gab auch die andere Theorie: Die Regelmäßigkeit mache die Tage gleichförmig, und je mehr sich die Ereignisse und Gewohnheiten wiederholten, desto ähnlicher würden sich die Tage und damit die Jahre. Bis das Leben einem wie ein einziges Jahr vorkomme.
Weynfeldt war vom Gegenteil überzeugt. Je öfter man die gleichen Dinge tat, die gleichen Orte besuchte und die gleichen Leute traf, desto kleiner würden die Unterschiede. Und je kleiner die Unterschiede, desto unmerklicher vergehe die Zeit. Jemand, den man jeden Monat sieht statt nur jedes Jahr, bleibt immer gleich alt. Und man selbst kommt dem andern auch immer gleich alt vor.
Die Regelmäßigkeit verlangsamt den Lauf der Zeit. Davon war Weynfeldt fest überzeugt. Die Abwechslung mag [17] das Leben ereignisreicher machen, aber sie machte es bestimmt auch kürzer.
Er kam ins Schlafzimmer zurück. Lorena lag noch in der gleichen Stellung auf dem Federbett. Er betrachtete sie. Sie war sehr schlank, zart gebaut, fast ein wenig mager. Über der rechten Leiste sah er ein kleines Tattoo, das aussah wie ein chinesisches Schriftzeichen. Im Bauchnabel blitzte ein Piercing. Ein Stein im Diamantschliff, der jetzt aufglitzerte, als Weynfeldt auf den Schrank zuging und ein zweites Federbett herausnahm. Er legte sich neben Lorena und deckte sie beide zu.
»Und bumsen?«, fragte sie schlaftrunken.
»Morgen«, antwortete er. »Falls du noch magst.«
»Okay.«
Er löschte die Nachttischlampe.
Sie streckte die Hand aus und ließ sie auf seiner Brust flach und reglos liegen. Bald ging ihr Atem wieder ruhig und regelmäßig.
Schön blöd, dachte Weynfeldt, bevor er einschlief.
Reden, reden, reden. So hatte Weynfeldt es in den Filmen gesehen, in denen ein Polizist einen Selbstmörder von der Tat abzuhalten versucht. Oder ein Unterhändler einen Geiselnehmer. Wenn es gelingt, sie von ihrem Vorhaben abzulenken, war das Spiel schon halb gewonnen. Aber es fiel ihm nichts ein. Wie im Traum, wenn man rennen muss und nicht vom Fleck kommt, stand er vor der Selbstmörderin und brachte kein Wort heraus.
Wie damals, vor bald dreißig Jahren. Als Daphne gesagt hatte: »Ich gehe jetzt.« Nicht einmal »Geh bitte nicht!« hatte [18] er sagen können. Oder: »Nein!« Nicht einmal die eine Silbe »nein«. Dabei wollte sie, dass er etwas sagte, das hatte er gespürt. Sie hatte dagestanden mit ihrem Köfferchen und ihm die Chance gegeben, sie zurückzuhalten.
Daphne war eine Austauschstudentin gewesen. Er hatte sie auf einem kunsthistorischen Seminar kennengelernt. Alle hatten sich in sie verliebt, warum sie ihn erhört hatte, war ihm bis heute ein Rätsel geblieben. Als sie zurück nach England fuhr, folgte er ihr. Gegen den resignierten Widerstand seines Vaters und den wütenden seiner Mutter. Sie nahmen sich eine kleine Wohnung in Chelsea und verlebten ein Jahr, das in seiner Erinnerung mit jedem Jahr glücklicher geworden war.
Weshalb es zu Ende ging, hatte er nie richtig begriffen. Ein Streit, eine kleine Abnutzungserscheinung, ein Fall von grundloser Eifersucht, er konnte es beim besten Willen nicht rekonstruieren. Aber er war sich sicher, dass sie heute noch zusammen wären, wenn er damals eine – eine einzige – Silbe herausgebracht hätte.
Er hatte sprach- und tatenlos mit ansehen müssen, wie sie gegangen war. Nicht entschlossen oder wütend, sondern niedergeschlagen und zögerlich. Als wartete sie bis zum allerletzten Moment, dass er sie zurückhalte.
Sie hatte gesagt, sie werde ihre Sachen in ein paar Tagen abholen lassen. Als sie das nach einer Woche noch immer nicht getan hatte, schöpfte er wieder Hoffnung. Nach zehn Tagen rief er bei ihren Eltern an. Von ihnen erfuhr er, dass sie zwei Tage nach ihrem Weggang einen Autounfall hatte. Sie war noch an der Unfallstelle gestorben.
Er sah, wie sich der Griff der Fäuste wieder lockerte, die [19] Farbe der Knöchel sich der der übrigen Hand anpasste. »Tu es nicht«, wollte er sagen, »bitte, bitte, tu es nicht.« Stattdessen stand er nur da und spürte die Gleichgültigkeit auf seinem Gesicht, gegen die er genauso machtlos war wie gegen die Sprachlosigkeit. Es war, als breite sich die Lähmung seiner Zunge auf seine ganze Mimik aus. Als ob die Haut und die Muskeln erschlafften und dadurch ungewollt einen Ausdruck von unsäglich blasierter Gleichgültigkeit annahmen.
»Dir ist es scheißegal, ob ich springe«, sagte sie.
Weynfeldt gelang es, den Blick zu heben und ihr ins Gesicht zu sehen. Auch jetzt im schonungslosen Licht des hellgrauen Sonntagmorgens erschreckte ihn die Ähnlichkeit mit Daphne. Zwar trug es Spuren von Resignation und Illusionslosigkeit, die er bei Daphne nie gesehen hatte, nicht einmal an dem Tag, als alles vorbei war. Dennoch kam es ihm vor, als kannten sie sich seit dreißig Jahren.
»Scheißegal«, sagte sie noch einmal.
Jetzt gelang es ihm, den Kopf zu schütteln.
»Die Sauerei stört dich und das Aufsehen. Und die ganzen Formalitäten mit der Polizei sind natürlich auch lästig. Aber sonst…« Sie löste eine Hand vom Geländer und hob sie zu einer gleichgültigen Geste.
Hilflos stand er da. Wie ein Ölgötze, hätte seine Mutter gesagt. Dann schüttelte er wieder den Kopf.
Sie ließ die Hand sinken, führte sie aber nicht an das Geländer zurück, sondern streckte sie hinter sich, blickte an ihr entlang auf die Straße hinunter und lehnte sich zurück, nur noch einhändig gesichert, wie eine Trapezkünstlerin, die ihren Applaus entgegennimmt. »Nenne mir einen Grund, nicht loszulassen. Nur einen einzigen.«
[20] Er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten und sich sein erstarrtes Gesicht verzerrte. Dann löste sich ein lauter Schluchzer aus seiner Brust.
Sie wandte überrascht den Kopf und schaute den weinenden Mann im weißen Pyjama an. Dann kletterte sie zurück auf den Balkon, führte Weynfeldt zum Bett, legte den Arm um ihn und heulte ebenfalls los.
»Hast du das nie? Dass dir alles sinnlos vorkommt? Dass du dir nicht vorstellen kannst, wie du den nächsten Tag überstehen sollst? Dass dir nur noch Dinge einfallen, die dich deprimieren? Dass du keinen einzigen Grund findest zu leben, aber tausend, tot zu sein? Hast du das wirklich nie?«
Sie saßen im Bett, die Kissen zwischen Wand und Rücken gestopft, auf dem Federbett ein Tablett mit kaum angerührten Aufback-Croissants, Honig, gelblich glänzender weicher Butter und zwei leeren Tassen mit Schokoladerändern. Sie waren erschöpft wie ein Paar nach einem großen, dramatischen, an den Grundfesten der Beziehung rüttelnden Streit.
Weynfeldt überlegte. Es gab schon Tage, an denen er etwas schwermütig war, traurigen Gedanken nachhing und auf nichts Lust hatte. Aber seine einzige Reaktion war dann jeweils, diesen Tag vorzeitig zu beenden. Nicht das Leben. »Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: ›Ich versuche, meine eventuellen Depressionen in der Kategorie ‚schlechte Laune‘ unterzubringen.‹ Hat mir gut gefallen.«
»Wenn ich ein Leben hätte wie Karl Lagerfeld oder du, würde ich vielleicht auch mehr daran hängen.«
»Was hast du denn für ein Leben?«
»Ein Scheißleben.«
[21] »Jedes Leben ist lebenswert.«
»So ein Kitsch.«
»Vor ein paar Jahren bin ich durch Mittelamerika gereist. In einem Dorf, dessen Namen ich vergessen habe, hatten wir eine Panne, irgendetwas mit dem Vergaser. Es regnete in Strömen. Wir standen an der Einbiegung einer kleinen, aufgeweichten Naturstraße, die zu ein paar aus groben Brettern und Wellblech gezimmerten Hütten führte. Während mein Fahrer unter der Motorhaube bastelte, wartete ich im Wagen. Ich hatte das Fenster halb geöffnet, denn es war heiß und stickig. Ein Paar ging vorbei, jung, halbe Kinder. Er ging vor ihr und trug ein in ein Tuch gehülltes Neugeborenes. Sie folgte ihm, bleich, erschöpft, aber lächelnd. Sie bogen in das Sträßchen ein, das zu den Hütten führte. Ihre Schuhe versanken tief im Schlamm. Da hörte ich sie sagen: ›Jetzt ist das Glück vollkommen.‹«
Sie sagte nichts. Als er sie nach einer Weile anschaute, hatte sie wieder Tränen in den Augen. Er zupfte drei Kleenex aus der Box und reichte sie ihr.
Als sie sich geschneuzt hatte, sagte sie: »Solche Geschichten trösten mich nicht. Solche Geschichten geben mir den Rest.« Sie stand auf, ging ins Bad und blieb lange. Er hörte die Toilette und die Dusche. Als sie wiederkam, trug sie einen seiner Morgenröcke mit dem Monogramm A.S.W. Er reichte ihr fast bis auf den Boden, die Ärmel hatte sie hochgekrempelt. »Ich muss jetzt gehen.«
»Ich bring dich runter.« Er ging ins Bad und ins Umkleidezimmer. Als er eine Viertelstunde später ins Schlafzimmer kam, war sie nicht mehr dort und das Bett gemacht. Sie wartete im Vestibül in einem Stahlrohrsessel und hatte schon [22] den Mantel an. Sie sah ihn etwas spöttisch an. »Du bindest dir sogar für eine Liftfahrt eine Krawatte um?«
Im Aufzug schwiegen sie. Er ließ sie durch die Sicherheitsschleuse und dann durch die schwere Eingangstür auf die Straße. Einen Moment lang standen sie etwas verlegen auf dem Trottoir. Weynfeldt zückte die Brieftasche und gab ihr seine Karte. »Falls.«
»Falls was?«
»Falls was immer.«
Sie las die Karte. »Aha, Doktor«, sagte sie und steckte sie in die Handtasche. »Ich habe leider keine.«
Weynfeldt wollte sie nach ihrer Telefonnummer fragen, aber dann ließ er es bleiben.
Sie blickte in den grauen Himmel. »Fürs Wetter hat es sich nicht gelohnt, am Leben zu bleiben.«
»Aber sonst.«
»Wofür sonst?«
Er zuckte mit den Achseln. »Es gibt immer etwas, wofür es sich lohnt, am Leben zu bleiben.«
Sie betrachtete ihn ernst. »Garantierst du mir das?«
»Garantiert.«
Sie umarmte ihn mit dem freien Arm und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dann lächelte sie ihn an. »Eines Tages tu ich’s.«
Und jetzt gelang es ihm: »Tu es nicht«, sagte er.
»Lorena. Du hast meinen Namen vergessen. Tu es nicht, Lorena.«
Sie ging die Straße hinunter. Er sah ihr nach, aber sie wandte sich nicht mehr um.
[23] 2
Von seinem Bürofenster aus sah Adrian Weynfeldt den Quai, die Anlegestelle der weißen Kursschiffe, die meistens aus irgendeinem Grund beflaggten Trams, die stockende Kolonne der Autos und den steten Strom der eiligen Passanten.
Es war kurz vor fünf, die Stoßzeit hatte begonnen, aber die schallisolierten Fenster sperrten den Verkehrslärm aus, die belebte Szenerie sah aus wie ein Fernsehbild ohne Ton. Schon oft hätte er gerne bei offenen Fenstern gearbeitet, aber eine Klimaanlage hielt das ganze Jahr über Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit auf einem gleichmäßigen Niveau, mit Rücksicht auf die wertvollen Bilder und Kunstgegenstände, die bei ›Murphy’s‹ lagerten.
Doch an einem Tag wie diesem hielt Weynfeldt die Fenster ganz gerne geschlossen. Weder warm noch kalt, weder feucht noch trocken, weder klar noch düster. Ein Tag von einer deprimierenden Durchschnittlichkeit, dem er wünschte, es möge etwas Außergewöhnliches geschehen, damit er sich an ihn erinnere.
Er hatte den ganzen Tag an der Frühjahrsauktion »Swiss Art« gearbeitet, Werke beschrieben und ihre Laufbahn aufgelistet, nach Sekundärliteratur gesucht und Preise geschätzt. Es blieb ihm zwar noch Zeit bis zum Redaktionsschluss des [24] Katalogs, aber die brauchte er auch. Er hatte kein gutes Gefühl. Die Auswahl war etwas homogen. Er hatte kein einziges Los, das Aufsehen erregen und einen Rekordpreis erzielen könnte. Das beste Werk war ein Hodler, eine Landschaft, Öl auf Leinwand, die eine Landstraße mit Telegrafenmasten zeigte. Er schätzte sie auf hundertfünfzig- bis zweihunderttausend Franken und erhoffte sich einen Hammerpreis von etwa dreihunderttausend. Dann kam bereits das schlafende Hirtenmädchen von Segantini, ein Aquarell zu einem Schätzpreis von sechzig- bis achtzigtausend. Und in dieser Kategorie waren auch eine Gebirgslandschaft von Calame, eine Dorfidylle von Benjamin Vautier, ein Rosenbild von Augusto Giacometti. Danach die Ölbilder der weniger bekannten Namen – Castan, Vallet, Frölicher, Zünd, Barraud. Der Rest waren Studien – Zeichnungen und Aquarelle – der großen Namen: Anker, Hodler, Vallotton, Amiet, Segantini, Giacometti, Pellegrini in ein- bis zweistelligen Tausenderbeträgen. Was fehlte, war die obere Mittelklasse, Werke zwischen hundert- und zweihunderttausend Franken, und ein oder zwei Conversation Pieces, wie sich Véronique, seine Assistentin, ausdrückte. Bilder und Geschichten, mit denen sie die Presse füttern konnte.
Véronique saß in seinem Vorzimmer vor den beiden Bildschirmen, neben sich eine schwarze quadratische Plastikbox mit thailändischen Snacks. Seit der thailändische Designer-Takeaway in der Parallelstraße eröffnet worden war, erlag sie mehrmals am Tag der Versuchung, auf einen Sprung hinunterzugehen und sich etwas zu holen. Wenn immer möglich tat sie es im Verborgenen, in der Hoffnung, dass Weynfeldt ihre Abwesenheit nicht bemerkte. Nicht, weil er etwas [25] dagegen gehabt hätte, Weynfeldt war ein toleranter Chef, sondern weil sie, wie alle Süchtigen, es nicht einmal sich selbst eingestehen wollte, dass sie süchtig war.
Véronique war Mitte dreißig, hatte ein rundes, stark geschminktes, faltenloses Gesicht, das von einem blonden Pagenschnitt eingefasst wurde, wohl in der Hoffnung, es dadurch etwas länger und schmaler zu machen. Ihr Körper war dick und wirkte formlos durch die körperferne Garderobe, die sie in diesem Stadium bevorzugte. Weynfeldt hatte in den Jahren ihrer Zusammenarbeit auch andere Stadien erlebt. Véronique war eine Jo-Jo-Frau. Sie hungerte mit der gleichen Maßlosigkeit, mit der sie aß. Sie konnte im gleichen Jahr alle Gewichtsklassen von unterernährt bis übergewichtig durchmachen. Für das Arbeitsklima waren nach Weynfeldts Meinung Letztere viel bekömmlicher, aber er würde so etwas natürlich nie laut sagen.
Er hatte sie zu seiner eigenen Verlegenheit vorhin ertappt, als sie mit ihrem Thai-Snack zurückkam. Er hatte genau in der Sekunde das Vorzimmer durch die Verbindungstür betreten, als sie durch die Eingangstür hereinkam. Es sei ihr »etwas langweilig ums Maul« gewesen, erklärte sie, wie immer, wenn eine Erklärung nicht zu vermeiden war. Weynfeldt ging nicht darauf ein, holte nur den Segantini-Katalog von ihrem überorganisierten Schreibtisch – auf seinem eigenen herrschte ein hoffnungsloses Chaos – und zog sich diskret zurück. Bevor er die Tür hinter sich schloss, registrierte er noch den Duft von Ingwer, Koriander und Zitronengras und beglückwünschte sich zur Eröffnung des Thai-Takeaways. Früher war das nächstgelegene ein Wurststand gewesen.
Weynfeldt wäre ohne Véronique verloren. Er war zwar [26] ein anerkannter Fachmann auf dem Gebiet der Schweizer Kunst des neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, man zog ihn zu Expertisen heran, und sogar die konkurrierenden Auktionshäuser hielten große Stücke auf seine Schätzungen. Aber vom administrativen, vom organisatorischen, vom führungstechnischen Teil seiner Funktion hatte er keinen blassen Schimmer. Er war ein Chaot und ein von Natur aus unpraktischer Mensch.
Zum Beispiel hatte er nie gelernt, mit einem Computer umzugehen. Zuerst hatte er es nicht gewollt, es passte nicht in das Bild, das er von sich hatte. Und später, als er es lernen wollte, hatte er es nicht geschafft. Dabei lernte er leicht. Er hatte sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen und seinen Doktor summa cum laude. Er sprach Französisch, Englisch, Spanisch und Italienisch fließend und für manchen Geschmack fast etwas zu akzentfrei und war dabei, Russisch zu lernen, was ihm selbst mit vierundfünfzig keine Mühe bereitete. Aber mit dem Computer hatte er sich nie anfreunden können.
Deshalb standen auf Véroniques Schreibtisch zwei Bildschirme. Der Computer war natürlich für seinen Job ein unverzichtbares Werkzeug. Undenkbar, dass ein Spezialist von ›Murphy’s‹ nicht über E-Mail erreichbar war, sich für seine Recherchen einer Suchmaschine bediente und von den diversen Kunstmarkt-Websites über Preisentwicklungen und Marktbewegungen auf dem Laufenden gehalten wurde. Das alles wickelte Véronique ab. Sie druckte ihm seine Post aus und tippte die Antworten ab, die er von Hand darunter schrieb. Kaum jemand ahnte, dass Weynfeldt mit dem Computer auf Kriegsfuß stand.
[27] Auch das Handy hatte noch keinen Eingang in Weynfeldts Welt gefunden. Véroniques Versuche, ihn damit anzufreunden, waren an seinen zwei linken Händen gescheitert. Falls sie ihn im Verdacht hatte, er stelle sich absichtlich ungeschickt an, um sich einen Rest Unabhängigkeit zu bewahren, ließ sie sich das nicht anmerken. Weynfeldt war einfach nicht zu erreichen, wenn er unterwegs war. Aber er rief Véronique regelmäßig von einer der immer seltener werdenden Telefonkabinen oder von einem Restaurant aus an, um sich à jour zu halten. Zu Hause besaß er immerhin einen Telefonbeantworter. Er wusste zwar nicht, wie man diesen abhörte. Aber Frau Hauser, die seine riesige Wohnung in Ordnung hielt, konnte es.
Sie war schon die Haushälterin seiner Mutter gewesen und ging – aber das mit noch immer strammem Schritt – auf die achtzig zu. Er hatte sie erst vor kurzem dazu überreden können, sich für die Putzarbeiten eine Hilfe zu engagieren und die Wäsche in die Wäscherei zu geben. Seither traf er in seiner Wohnung Frauen unterschiedlichster Nationalitäten und Hautfarben an, die den strengen Maßstäben von Frau Hauser immer nur kurze Zeit gewachsen waren und die rasch und unzeremoniell ersetzt wurden. Sehr zum Ärger der Security-Abteilung der Bank, die die neuen Mitarbeiterinnen jedes Mal ihrem aufwendigen Sicherheitsclearing unterziehen musste.
Frau Hauser war eine sehr kleine, hagere Person mit seit Weynfeldt sich erinnern konnte lila aufgefrischtem weißem Haar. Sie betrat die Wohnung an jedem Werktag um Punkt sieben und verließ sie um fünf Uhr abends. Es sei denn, Weynfeldt hatte Gäste, dann servierte sie Häppchen, die sie [28] selber zubereitete, oder sie kommandierte, wenn es sich um größere Einladungen handelte, aus dem Hintergrund die Brigaden des Catering Service. Sie hatte ein ehemaliges Dienstbotenzimmer in der Nähe der Wirtschaftsräume belegt, in welches sie sich zu kurzen Ruhepausen zurückzog oder wo sie, wenn es spät wurde, auch einmal übernachtete. Sie besaß die Angewohnheit, halblaut vor sich hin zu schimpfen, nicht mit Worten, sondern mit Stöhnen, Brummen, Seufzen und einem gelegentlichen »Jajajajaja«, als wäre wieder einmal etwas eingetroffen, was sie schon lange erwartet hatte. Weynfeldt hörte das alles nur, er wusste nie, was den Unmut von Frau Hauser hervorrief, denn er vermied es, sich im selben Raum mit ihr aufzuhalten. Aber er ging davon aus, dass es jedes Mal mit seiner Unordentlichkeit zu tun hatte. Es verging kein Tag, an dem sie ihm gegenüber nicht seine Mutter erwähnte. Was diese immer gesagt hatte, zu tun pflegte oder zum Glück nicht mehr erleben musste.
Mit Véronique war leichter auszukommen. Nicht nur, weil sie nie seine Mutter erwähnte, obwohl sie sie noch persönlich gekannt hatte, sie gab Adrian auch nie zu verstehen, dass sie seine Unordentlichkeit und seine Hilflosigkeit praktischen Dingen gegenüber störte. Sie waren es dem Respekt, den sie einander entgegenbrachten, schuldig, dass jeder des anderen Unzulänglichkeiten ignorierte.
Weynfeldt saß auf dem Bürostuhl aus seiner privaten Sammlung, einem bequemen ledergepolsterten Sessel mit verchromtem, federndem Stahlrohrgestell, den Robert Haussmann 1957 entworfen hatte. Er blätterte im Segantini-Katalog, ohne sich zu erinnern, wonach er suchte. Bei »Sul balcone« hielt er inne. Das Bild zeigte ein junges Mädchen in [29] indigoblauer Bluse und langem Rock. Es lehnte, die rechte Hand in die Hüfte gestützt, an der hölzernen Brüstung eines Balkons, den Rücken dem windschiefen Bergdorf und seinem Kirchturm und dem milchigen, durchlässigen Himmel zugewandt. Sie trug eine weiße Haube, hatte den Kopf geneigt, nachdenklich, nichts Bestimmtes im Auge. Sie stand da wie Lorena, fuhr es ihm durch den Kopf, nur dass sie sich noch innerhalb der Balkonbrüstung befand.
Seit jener seltsamen Begegnung genügte auch schon eine viel vagere Assoziation, um Weynfeldt an Lorena zu erinnern. Ein Frauenporträt ohne die geringste Ähnlichkeit, manchmal auch nur ein Gegenstand, etwas Japanisches wegen ihrer Bluse oder ein Möbelstück von Werner Max Moser, weil sie zum Schluss auf einem seiner Sessel auf ihn gewartet hatte. Manchmal noch weniger: Ähnliches Wetter wie an jenem Sonntagmorgen, Croissants, einer seiner weißen Sonntagspyjamas. Und immer öfter bedurfte es überhaupt keines Anlasses, um das Bild von Lorena entstehen zu lassen. Das von Lorena oder das von Daphne.
Der dramatische Sonntagmorgen lag nun schon über zwei Wochen zurück. Er hätte Lorena um ihre Telefonnummer bitten sollen. Oder wenigstens um ihre Adresse.
Er hatte inzwischen schon vier Mal außerhalb seines Turnus im La Rivière hereingeschaut und war jedes Mal für zwei Martini geblieben, die er nach dem immer gleichen Ritual konsumierte. Er ließ das Glas während einer knappen Stunde unbeachtet neben seinem Ellbogen stehen, fischte dann den Zahnstocher mit der Olive heraus, aß diese langsam und legte den Kern auf das kleine Untertellerchen, das ihm der Barkeeper jedes Mal zum Drink servierte. Das war [30] für diesen jeweils das Zeichen, dass er das volle Glas abräumen und durch ein frisches ersetzen durfte. Nur ein einziges Mal hatte der Barman versucht, ihm einen Martini mit zwei Oliven zu servieren. Weynfeldt hatte eine davon kommentarlos auf das Tellerchen gelegt.
Er hatte sich nicht dazu aufraffen können, den Barkeeper nach Lorena zu fragen. Aber der wusste bestimmt, weshalb Weynfeldt plötzlich so oft hier war. Wenn er etwas Näheres wüsste, hätte er es ihm bestimmt gesagt.
Das Telefon klingelte, und Weynfeldt zwang sich, es zwei, drei Mal klingeln zu lassen. Falls es Lorena war, sollte sie nicht glauben, er habe neben dem Apparat auf ihren Anruf gewartet.
Aber es war nicht Lorena. Es war Klaus Baier, auch eines dieser um fast eine Generation älteren Kinder von Altersgenossen seiner Eltern. Baiers Vater war Textilunternehmer gewesen und hatte mit der Handelsfirma Weynfeldt & Cie. zusammengearbeitet. Die Freundschaft der beiden Väter hatte die Übernahme der beiden Firmen durch lebenstüchtigere Konkurrenzunternehmen überdauert. Sie waren beide leidenschaftliche Jäger, luden sich gegenseitig auf ihre Pachten ein und reisten in den fünfziger Jahren mehrmals zusammen nach Ostafrika auf Safari.
Die beiden Söhne hatten wenig Kontakt. Zuerst trennte sie der Altersunterschied und später ihre Interessen. Während Adrian sich auf seine Leidenschaft, die Kunst, konzentrierte, ging es Klaus ums Geld. Nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahr 1962 begann er, sein Erbe auf riskante Art zu vermehren. Er entwickelte sich zum wagemutigen instinktsicheren Spekulanten, der immer wieder sein Vermögen aufs Spiel [31] setzte und es mehr als einmal bis auf seine eisernen Reserven verlor.
Zu diesen eisernen Reserven gehörten auch ein paar wertvolle Bilder, Überbleibsel der respektablen Sammlung von Schweizer Kunst, die sein Vater hinterlassen hatte. Eine Seelandschaft in Öl und zwei Aquarelle von Ferdinand Hodler, ein Frauenporträt von Segantini, zwei Blumenstillleben von Augusto Giacometti und ein bemerkenswerter Rückenakt von Félix Vallotton.
Diese kleine Bildersammlung war später denn auch der Anlass für die Wiederbelebung ihrer Beziehung geworden. Klaus hatte Adrian kurz nach Abschluss der Doktorarbeit angerufen und ihn gebeten, seine Bilder zu schätzen. Es war der erste Auftrag in Adrians Karriere gewesen, und er hatte einen unglaublichen Aufwand betrieben, um auf einigermaßen vertretbare Zahlen zu kommen. Klaus Baier, der wie viele, die mit großen Summen spekulieren, im Umgang mit den kleinen zur Knauserigkeit neigte, hatte den Auftrag mit einem Nachtessen honoriert. Adrian war das egal gewesen. Erstens hatte er schon damals keine materiellen Sorgen. Und zweitens war er bei seinen Recherchen auf den damaligen Schweiz-Experten von ›Murphy’s‹ gestoßen, der ihn für ein symbolisches Gehalt als Assistenten eingestellt hatte.
Seit diesem Auftrag hatten sie sich ab und zu in großen Abständen zum Essen getroffen. Meistens kam die Initiative von Klaus Baier und war ein Vorwand für eine Gratiskonsultation. Er wollte von Adrian wissen, wie sich der Marktwert seiner Bilder entwickelte. Wenn die Auskunft günstig war, bezahlte er das Essen, wenn nicht, ließ er sich einladen.
Baiers sicherster Wert war die kleine Seelandschaft von [32] Hodler. Der Marktpreis des Künstlers hatte sich in den ganzen Jahren ohne große Schwankungen nach oben entwickelt. Auch der Augusto Giacometti war ein Blue Chip, dessen Wert sich jederzeit realisieren ließe. Aber das wirklich heiße Spekulationsobjekt war der Vallotton. Der Künstler hatte zwar stark schwankende Indizes, aber ein Bild wie »Nue devant une Salamandre« war in der Lage, unabhängig vom aktuellen Kurs des Künstlers einen sensationellen Preis zu erzielen. Es besaß einen großen Bekanntheitsgrad, denn es war ein Renner in vielen Plakateditionen und trotzdem von einem Geheimnis umwoben: Niemand wusste, wer es besaß. In allen Werk- und Ausstellungskatalogen – das Bild war oft auf Ausstellungen, denn das tat seinem Kurs gut – war seine Herkunft lediglich als »Privatbesitz« bezeichnet. Wenn es plötzlich auf den Markt käme, würde das einiges Aufsehen erregen. Adrian Weynfeldt pflegte es auf einen realistischen Wert zu schätzen, aber immer hinzuzufügen: »Unter dem Hammer könnte es leicht das Doppelte erzielen.«