NAVID KERMANI

WER
IST
WIR?

Deutschland und seine Muslime

Mit der Kölner Rede zum
Anschlag auf
Charlie Hebdo

C.H.Beck


Zum Buch

Ohne darüber nachgedacht zu haben, ist Deutschland zu einem Einwandererland geworden. Mit den Menschen kam auch eine neue Religion: der Islam. In seinem neuen Buch erzählt der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani von seinem Leben als Kind iranischer Eltern in Deutschland und berichtet von seinen Erfahrungen als Mitglied der Deutschen Islam-Konferenz. Wer dieses kluge und meisterhaft erzählte Buch gelesen hat, weiß: Es geht nicht darum, die multikulturelle Gesellschaft zu verabschieden. Es geht darum, sie endlich zu gestalten.

Über den Autor

Navid Kermani, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für seine Romane, Reportagen und wissenschaftlichen Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken (2011), dem Heinrich-von-Kleist-Preis (2012) sowie dem Joseph-Breitbach-Preis (2014). Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt «Ungläubiges Staunen. Über das Christentum» (2015), der Reportageband «Ausnahmezustand» (Paperback 2015) sowie «Zwischen Koran und Kafka» (3. Auflage 2015).

Inhalt

Grenzverkehr

Eine bürgerliche Ideologie

Deutschland wird weltoffener

Wir sind Murat Kurnaz

Die Terroristen sind unter uns

Der Koran und die Gewalt

Ist der Islam integrierbar?

Lob der Differenz

Die Islamkonferenz

Anhang

Warum der Westen seine Leitkultur missionarisch ausbreiten sollte und Warum Deutschland seinen Lehrerinnen erlauben sollte, das Kopftuch zu tragen

Wir Menschen

Zum Gedenken an Professor Abdoldjavad Falaturi

(1926–1996)

Grenzverkehr

Gut kann ich mich an den kleinen Grenzverkehr meiner Kindheit erinnern. Auf dem Berg, auf dem wir lebten, war ich, soweit ich es wahrnahm, der einzige Ausländer. Es gab außer meinem Namen und meinen schwarzen Haaren nichts, was mich im Kindergarten oder in der Grundschule, auf der Straße und unter Freunden als Fremden markiert hätte. Sogar mein Deutsch hatte die Melodie und das rollende R unserer Mittelgebirgslandschaft. Wenn ich jedoch nach Hause kam, war es, als ob ich eine Grenze überschritten hätte. Von einem Schritt auf den anderen Schritt wechselte die Sprache, änderten sich meine Verhaltensweisen, folgte ich anderen Benimmregeln und war, ohne es zu reflektieren oder gar als problematisch zu empfinden, umgeben von Formen, Gerüchen, Geräuschen, Menschen und Farben, die es jenseits der Türschwelle nicht gab.

Für mich war sie so gewöhnlich wie meine eigene Haut, aber auf meine Freunde übte diese Welt, wenn ich mich nicht täusche, eine Faszination aus, die sich darin äußerte, daß sie es in der Regel vorzogen, bei uns zu spielen. Vielleicht war es die Neugier, die das Fremde weckte, vielleicht waren es nur die anderen, für uns Kinder laxeren Gesetze, die in unserer Welt herrschten. Es gab keine verbotenen Räume, keine festgelegten Essenszeiten, keine Eltern, die sich in alles einmischten, nur ein paar Brüder, die schon deshalb nicht störten, weil sie älter waren und mit lauter spannenden Angelegenheiten beschäftigt: Freundinnen, Feten, Fußball, Rockmusik. Ansonsten waren Haus und Garten unser. Ich weiß nicht und habe damals auch nicht darüber nachgedacht, ob die Verhältnisse bei uns typisch persisch waren, aber sie waren anders als bei meinen Freunden, und das spürten diese so gut wie ich. Mit diesem Bewußtsein, daß es drinnen und draußen, jenes und dieses gibt, bin ich großgeworden, und ich habe heute das anmaßende Gefühl, meinen Freunden in dieser Hinsicht etwas vorausgehabt zu haben. Ich brauchte niemals Aufklärung darüber, daß das, was ist, nicht alles ist.

Nun waren die Welten nicht so streng geschieden, wie man vermuten könnte. Es gab Einschulungen und Kindergeburtstage, Elternsprechtage und Besuche meiner Eltern auf dem Fußballplatz, und bei all diesen Gelegenheiten waren die Trennlinien aufgehoben, ich sprach Deutsch und im nächsten Satz, wenn ich mich zu meinen Eltern wandte, Persisch in meinem siegerländisch-isfahanischen Akzent. Gelegentlich war das ein bißchen komisch, aber für mich eben dennoch normal: Zum Beispiel sieze ich meine Eltern auf persisch, was im Deutschen nicht mehr möglich ist, ohne sich lächerlich zu machen. Also versuchte ich damals schon zu vermeiden, meine Eltern auf deutsch anzusprechen; ich sprach zwar, wenn meine Freunde dabei waren und es sein mußte, mit ihnen deutsch, aber ich redete sie nicht an; ich suchte andere, indirekte Formulierungen, denn andernfalls hätte ich sie duzen müssen, und das wäre mir unangenehm gewesen. Aber siezen konnte ich sie natürlich auch nicht, zumal nicht im Beisein von meinen Freunden. Wie hätten sie mich denn angeschaut, wenn ich gesagt hätte: Vati, bitte holen Sie mich um drei vom Fußballplatz ab? Es war nicht, daß ich es als Zwang empfand, meine Eltern zu siezen; daß ich sie duzen wollte, aber es nicht gedurft hätte. Es war für mich so normal, wie es normal ist, zum Schlafengehen einen Schlafanzug anzuziehen. Es war mir auch nicht peinlich, und so habe ich kein Geheimnis daraus gemacht, daß ich meine Eltern siezte; ich kann mich erinnern, es ein paarmal meinen Freunden erzählt zu haben, als Kuriosität, nicht als Geständnis. Und das Kuriose entstand, wenn ich es mir heute versuche deutlich zu machen, eben dadurch, daß sich die beiden Räume, von denen ich sprach – das Innen und das Außen –, durch die Anwesenheit meiner Eltern auf dem Fußballplatz oder dem Schulhof ineinander geschoben hatten und ich nun die beiden Verhaltenskodexe oder Umgangsformen, die normalerweise strikt voneinander geschieden waren, gleichzeitig anwenden mußte. Das war nicht der normale Zustand, aber es war auch nicht schlimm. Es war ab und zu nur ein wenig kurios.

Ich will nicht behaupten, daß ich meine Fremdheit niemals als Problem empfunden hätte. Aber es war, wenn überhaupt, kein besonders großes Problem. So war ich beispielsweise niemals so ordentlich wie die anderen Kinder, und das hatte etwas mit meinen Eltern zu tun, das spürte ich. Mein Ranzen zum Beispiel war niemals so systematisch gepackt wie die Ranzen der anderen Kinder, meine Hefte waren nicht so sorgsam gepflegt, und niemals hatte ich so schöne Brotzeitdosen wie meine deutschen Freunde. Mein Butterbrot hatte meine Mutter immer in kleine Plastiktüten gepackt, die sie vom Einkaufen mitgebracht hatte, also zum Beispiel aus der Apotheke oder der Drogerie. Ich erwähnte bereits, daß wir zu Hause keinen so minutiös geregelten Alltag hatten wie meine Freunde, und was ich normalerweise gut fand, daß ich nämlich mehr Freiheiten hatte als sie, das empfand ich gelegentlich auch als Nachteil. Ich hätte auch gern so ordentlich geschmierte, wie mit dem Lineal abgeschnittene Butterbrote und nagelneue Brotzeitdosen gehabt, aber das von meiner Mutter zu erwarten war völlig unrealistisch, und das hatte wohl auch damit zu tun, daß wir aus einer anderen Kultur stammen, in der eine solche Ordnung und Ordentlichkeit, diese klinische Reinlichkeit und feste Regelung des Tagesablaufs unbekannt sind. Es gab also durchaus Momente, in denen mir mein Fremdsein als etwas Hinderliches auffiel, doch waren sie nicht sonderlich gravierend. Als Siebenjähriger hielt ich die Geometrie von Butterbroten für wichtig, aber nicht für existentiell.

Daß Menschen gleichzeitig mit und in verschiedenen Kulturen, Loyalitäten, Identitäten und Sprachen leben können, scheint in Deutschland immer noch Staunen hervorzurufen – dabei ist es kulturgeschichtlich eher die Regel als die Ausnahme. Im Habsburger oder im Osmanischen Reich, bis vor kurzem in Städten wie Samarkand oder Sarajewo, heute noch in Isfahan oder Los Angeles waren oder sind Parallelgesellschaften kein Schreckgespenst, sondern der Modus, durch den es den Minderheiten gelang, einigermaßen unbehelligt zu leben und ihre Kultur und Sprache zu bewahren. Ohne sie gäbe es vermutlich keine Christen mehr im Nahen Osten, und ihr heutiger Exodus hat viel mit dem verhängnisvollen Drang mal der Mehrheitsgesellschaft, mal der Staatsführer, mal von ein paar hundert Terroristen zu tun, Einheitlichkeit herzustellen und kulturelle Nischen auszumerzen.

Dieser Drang ist nicht auf die islamische Welt, den Balkan oder Schwarzafrika beschränkt, sondern hat sogar das Mutterland des Multikulturalismus erfaßt: Indien. 2002 sind im indischen Bundesstaat Gujarat bei Ausschreitungen 2500 Muslime ums Leben gekommen. Eigentlich waren es keine Ausschreitungen; wie sich herausgestellt hat, war es ein präzise vorbereitetes, gut organisiertes Massaker. Nun läßt sich in Indien mit Geld und Alkohol relativ leicht ein Mob aufhetzen, Gewaltausbrüche sind also nicht so ungewöhnlich. Ungewöhnlich war das Ausmaß der Gewalt, vor allem aber die Tatsache – und die indische Presse spricht inzwischen von einer Tatsache –, daß die Regierung in Gujarat das Massaker aktiv befördert hat. So sah die Polizei der Gewalt tagelang tatenlos zu, schlimmer noch: trieb sie an vielen Orten Menschen, die fliehen wollten, zurück in den Mob. Parlamentsabgeordnete der Regierungspartei BJP, sogar Kabinettsmitglieder gaben per Handy Anweisungen, welches muslimische Viertel als nächstes überfallen werden sollte. Die Verfahren gegen die Beteiligten verliefen sämtlich im Sande.

Die BJP ist keine kleine extremistische Partei, sondern regiert zahlreiche indische Bundesstaaten und hat bis vor kurzem auch in der Hauptstadt Delhi den Ministerpräsidenten gestellt. Nach den nächsten Parlamentswahlen könnte sie wieder an die Regierung kommen. Neben der säkularen Kongreß-Partei ist die BJP, die man mit gutem Grund fundamentalistisch nennen kann – indische Intellektuelle wie Arundhathi Roy bezeichnen sie sogar als faschistisch –, die zweite politische Kraft des Landes. Wenn man die Nachrichten liest, könnte man daher meinen, Indien werde akut vom Extremismus bedroht. Der Eindruck im Land ist ein völlig anderer. Natürlich gibt es Extremisten, und in einem Bundesstaat mit immerhin 60 Millionen Einwohnern, in Gujarat, stellen sie sogar die Regierung. Die Situation der religiösen Minderheiten dort, auch der Christen, ist weiterhin trostlos. Aber der Extremismus prägt nicht das Lebensgefühl der Inder und wäre bei nationalen Wahlen nicht mehrheitsfähig. Noch immer sind die Trennungslinien zwischen Hinduismus, Islam und anderen Religionen in der Regel weit durchlässiger, als es sich religiöse Führer in Kairo oder Rom je werden ausmalen können. Selbst die BJP ist als Ganze nicht einfach nur fundamentalistisch, sondern in weiten Teilen eine zwar konservative, aber pragmatische und vor allem wirtschaftsliberale Partei. Die gleiche BJP, die in Gujarat ein Massaker gegen Muslime ideologisch vorbereitete und praktisch unterstützte, hat in Delhi 2002 einen Muslim zum Staatspräsidenten gewählt. Selbst diejenigen Politiker der BJP, die 2002 hinter dem Massaker standen, geben sich heute gemäßigt – wahrscheinlich nicht, weil sie sich geläutert haben, sondern weil sich mit radikalen hinduistischen Parolen keine Wahlen gewinnen lassen, nicht einmal mehr in Gujarat. Was ich auf meinen Reisen in Indien vorgefunden habe, war nicht die Ausbreitung einer aggressiv-fundamentalistischen Ideologie, sondern etwas viel Unscheinbareres, das gleichwohl in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist: die Entdeckung und Konstruktion dessen, was als das Eigene gilt, das Bestreben nach kultureller Homogenität und Reinheit, die Rückbesinnung auf die eigenen Werte.

Wir nehmen den Fundamentalismus und überhaupt die Rückkehr der Religionen in der Regel nur dann wahr, wenn sie mit politischen Forderungen auftreten oder gar mit physischer Gewalt. In der Breite ist der Fundamentalismus seit seinen Anfängen im frühen zwanzigsten Jahrhundert bis heute überall – sei es im Nahen Osten, in Südasien oder den Vereinigten Staaten – eine Bewegung, die den einzelnen einbindet in die klar umrissene Ordnung eines Kollektivs, das streng unterschieden ist von anderen Kollektiven. Das muß keine aggressive Unterscheidung sein. Fundamentalistische Lebensentwürfe sind attraktiv, weil sie die Menschen mit dem versorgen, was ihnen in der modernen, globalisierten Welt am meisten fehlt: Eindeutigkeit, verbindliche Regeln, feste Zugehörigkeiten – eine Identität.

Seinem ganzen Ursprung und seiner Unabhängigkeitsbewegung nach ist Indien ein Staat, der sich gerade nicht durch die Homogenität, sondern die Vielfalt und Unterschiedlichkeit seiner Kulturen, Sprachen und Religionen definiert. Aber plötzlich achten Fernsehsender auf die religiöse Unbedenklichkeit ihrer Programme und werben abgeschlossene Wohnsiedlungen damit, daß in ihnen «das harmonische Leben, wie es in den Veden und Vedantas vorgeschrieben ist», zurückgekehrt sei. Das Lebensgefühl, das sich in solchen Anzeigen ausdrückt, ist nicht durch Haß bestimmt, der sich auch kaum mit den Wunschbildern vertrüge, die die moderne Werbeindustrie produziert, sondern eher durch Selbstvergewisserung, Wertverbundenheit und Frömmigkeit. Entgegen der emphatischen Säkularität der indischen Staatsgründer und der urwüchsigen Multikulturalität des Subkontinents, von der Europa auch heute noch lernen könnte, sehnen sich immer mehr Inder nach einer hinduistischen Leitkultur, innerhalb der Muslime und Christen durchaus Filmstars werden können, Wirtschaftsführer oder sogar Spitzenpolitiker. Aber ihren Glauben sollten die Filmstars und Spitzenpolitiker nun nicht gerade öffentlich praktizieren, wohingegen die hinduistische Prominenz sich noch in jeden Pilgerzug einreiht, der gerade von einer Fernsehkamera gefilmt wird.

Wie vertraut mir diese Entwicklung war! Wenn ich mit Geschäftsleuten sprach, die ihre Religion wiederentdeckt hatten, Debatten verfolgte über die Bedrohung der eigenen Kultur, in Illustrierten blätterte, in denen Fernsehstars ihre Frömmigkeit anpriesen, oder nur durch die Städte streifte, vor allem durch bürgerliche Viertel, wähnte ich mich manchmal in Ägypten oder Indonesien oder mitten in den Vereinigten Staaten – die gleichen bigotten Werbesprüche, die gleichen religiösen Fernsehsender, derselbe Typus des modernen Predigers, adrett und frohgemut, die gleichen Läuterungsromanzen und Bekenntnisse der Filmsternchen zur Größe und Wahrheit der eigenen Kultur. Und immer wieder die Beteuerung, man habe nichts gegen andere Menschen oder Religionen, man besinne sich eben nur auf die eigene.

Identität ist per se etwas Vereinfachendes, etwas Einschränkendes, wie jede Art von Definition. Es ist eine Festlegung dessen, was in der Wirklichkeit vielfältiger, ambivalenter, durchlässiger ist. Das ist zunächst nicht schlimm, sondern ein ganz normaler Vorgang. Ich sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr, und zugleich blende ich damit tausend andere Dinge aus, die ich auch bin und die meiner Religionszugehörigkeit widersprechen können – ich schreibe zum Beispiel freizügige Bücher über die körperliche Liebe oder bejahe die Freiheit zur Homosexualität. Das ist ein Widerspruch. Der Islam lehnt die Homosexualität ab, und Erzählungen über Sex legt der Koran auch nicht eben nahe. Wahrscheinlich ließe sich eine Interpretation konstruieren, welche die Homosexualität oder die Schilderung sexueller Handlungen islamisch legitimiert. Aber das beschäftigt mich nicht. Nicht alles, was ich tue, steht in bezug zu meiner Religion. Für mich selbst bin ich durch solche Handlungen und Bekenntnisse in meinem Muslimsein überhaupt nicht eingeschränkt. Das mag sich paradox anhören, aber mit dieser Religiosität bin ich aufgewachsen, mit all diesen Ambivalenzen, Brüchen, Widersprüchen. Gut, keiner meiner Vorfahren hat, soweit ich weiß, Erzählungen über Sex geschrieben, aber dafür hatten sie andere Angewohnheiten, die nun auch nicht sämtlich im Einklang mit der reinen Lehre standen. Manche meiner älteren Verwandten hielten zum Beispiel streng ihr Ritualgebet ein, verzichteten deswegen aber nicht auf den abendlichen Wodka. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einem Muslim, der auch Alkohol trinkt, die Zugehörigkeit zum Islam streitig zu machen. Genausowenig hätte jemand den Alkoholkonsum islamisch begründet. Wenn etwas fehlte, war es Eindeutigkeit.

Der Fundamentalist würde sagen: Das darf nicht sein, der Muslim ist so oder so, alle anderen sind keine Muslime. Und der deutsche Fernsehexperte sagt mir: Sie sind ja gar kein «echter», sondern zum Glück nur ein «gemäßigter» Muslim, denn ein echter Muslim lehnt die Demokratie ab, will die Einheit von Staat und Religion und nimmt den Koran als Gottes unverrückbares Gesetz. Dem würde ich erstens entgegnen, daß ich meinen Glauben sehr wohl als «echt» empfinde. Zweitens würde ich den Fundamentalisten und seinen deutschen Experten bitten, sich einmal in einem islamischen Land umzuschauen (es muß nicht gerade Saudi-Arabien sein). Man könnte die islamische Kultur, die Poesie, die Architektur, die Mystik, gerade durch den Widerspruch definieren, in dem sie zur sogenannten reinen Lehre steht – aber auch dadurch, daß dieser Widerspruch möglich ist und ausgehalten wird, genau wie in allen anderen Kulturen, nicht zuletzt der abendländischen: Man muß sich nur einmal in der Sixtinischen Kapelle umsehen, um staunend zu bewundern, welch scheinbar unchristliche Sinnenfreude und pralle Lüsternheit der Katholizismus nicht nur hinnimmt, sondern in sein eigenes Zentrum rückt. Genauso wie der Islam ist das Christentum immer auch das Gegenteil von dem, was diese oder jene Gelehrten als christlich definieren.

Ich bin Muslim, ja – aber ich bin auch vieles andere. Der Satz «Ich bin Muslim» wird also in dem Augenblick falsch, ja geradezu ideologisch, wo ich mich ausschließlich als Muslim definiere – oder definiert werde. Deshalb stört es mich auch, daß die gesamte Integrationsdebatte sich häufig auf ein Für und Wider des Islams reduziert – als ob die Einwanderer nichts anderes seien als Muslime. Damit werden alle anderen Eigenschaften und Faktoren ausgeblendet, die ebenfalls wichtig sind: woher sie stammen, wo sie aufgewachsen sind, wie sie erzogen wurden, was sie gelernt haben.

Ich habe bereits angedeutet, daß ich mir in der Schule oder unter Freunden zwar meines Andersseins bewußt war, ebenso wie es meinen Freunden bewußt war, daß ich aus einem anderen Land stammte. Aber es war für mich nicht eben sensationell oder gar beunruhigend; ich fühlte mich deswegen nicht unwohl oder gar benachteiligt, oder anders gesagt: Mein Fremdsein war eine Information, kein Zustand. Es gab kaum etwas in meinem Verhalten, durch das ich mich von den anderen Kindern unterschied, oder jedenfalls sehr wenig, was ich damit in Verbindung brachte, Ausländer zu sein.

Das war in der Schule so, aber es war nicht überall so. Mit sechs Jahren trat ich in den Fußballverein ein, in dem ich bis zum Abitur kontinuierlich spielte; zweimal die Woche Training, am Wochenende ein Meisterschaftsspiel. Im nachhinein muß ich sagen, daß dies eine der wichtigsten, prägendsten Erfahrungen meines Lebens war. Im Fußballverein lernte ich eine Welt kennen, die mir neu war – er war meine erste Fremde: Ich bin in einem sozialen Umfeld der oberen Mittelschicht großgeworden; die meisten Kinder in meiner Nachbarschaft und in meiner Grundschule stammten aus verhältnismäßig begüterten Elternhäusern. Sie waren nicht durchweg reich, doch wohnten auch so gut wie keine Arbeiterkinder bei uns, keine Kinder von Arbeitslosen, keine armen Leute und entsprechend keine «Gastarbeiter». Die wenigen Ausländer, die ich kannte oder die mir in meiner Nachbarschaft begegneten, waren wie wir allesamt Angehörige iranischer Arztfamilien. In der Fußballmannschaft dagegen war ich der einzige, der in einem eher wohlhabenden Viertel wohnte. Das heißt, alle Vereinskameraden gehörten einer anderen sozialen Schicht an. Ohne daß ich ihn hätte benennen können, spürte ich diesen Unterschied. Zum Beispiel war der Umgangston rauher, und die Eltern der an-deren fuhren keinen Mercedes Benz, sondern einen Opel Rekord oder einen Renault vier. Das Mindeste, was ein Familienvater bei uns auf dem Berg fuhr, war ein Opel Senator; das höchste, was die Väter meiner Vereinskameraden fuhren, war ein Ford Taunus – wenn sie überhaupt ein Auto besaßen. Als Erwachsener mag man das seltsam finden, aber für mich als Sechsjährigen war es wichtig zu erfahren, daß ein Auto keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und es Kinder gab, deren Eltern kein Auto besaßen. Und diese Kinder, mit denen ich normalerweise nie etwas zu tun gehabt hätte, wurden durch den gemeinsamen Spaß am Fußball zu Kameraden, die ich zu Hause besuchte oder die mich in unserem Einfamilienhaus besuchten. Allerdings hat das eine Zeit gebraucht, und der Wohlstand meiner Eltern war im Fußballverein jedenfalls nicht von Vorteil; er war mir eher peinlich, weil ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, einer Gruppe nicht wirklich anzugehören, wenigstens am Anfang.

Normalerweise fuhr meine Mutter mich zum Training oder samstags zu den Spielen oder zumindest zum Treffpunkt, von wo wir zu den Auswärtsspielen aufbrachen; da fiel der Unterschied nicht so auf, weil meine Mutter einen Volkswagen fuhr. Aber wenn mein Vater mit seinem Benz vorfuhr – das war schon seltsam. Es gab außerdem bestimmte Wörter oder Sätze, die ich zwar kannte, aber selbst nicht gebrauchte. Es war auch eine bestimmte Diktion, die die anderen beherrschten und ich nicht, sie waren viel forscher als ich oder, so kam es mir vor, männlicher, wie echte Kerle. Wenn ich auf dem Platz nicht gut mitgehalten hätte, hätte ich rasch Probleme bekommen. Zum Glück spielte ich recht gut. Ich hatte meinen Stammplatz und wurde deswegen von den anderen akzeptiert. Es gab immer zwei oder drei unter uns, die nicht besonders anerkannt waren und deswegen auch nicht lange blieben; es waren immer diejenigen, die auch auf dem Platz nicht mithielten. Das heißt, die soziale Anerkennung wurde im wesentlichen durch die Leistung auf dem Platz definiert; das war bisweilen hart, aber es war nicht ungerecht, schließlich waren wir Fußballer. Ich fühlte mich also nicht als Außenseiter und wurde wegen meiner sozialen Herkunft denn auch, sobald ich einmal in die Gruppe aufgenommen worden war, keineswegs geschnitten. Aber dennoch blieb ich fremd, und zwar nicht, weil ich aus einem muslimischen, sondern weil ich aus einem sozial gutgestellten Elternhaus kam. Wenn ich den einen oder anderen aus meiner Mannschaft besuchte, war das für mich wie eine Reise ins Ausland.

Oft wird beklagt, wie wenig sich die Muslime in die deutsche Gesellschaft einbringen wollen. Wer beobachtet hat, wie schlecht viele türkische Kinder bei der Einschulung Deutsch sprechen, oder die Situation vieler türkischer Mütter kennt, die am öffentlichen Leben kaum teilhaben, wird diese Kritik nicht einfach als ausländerfeindlich abtun können. Aber die Gründe dafür erscheinen mir zumindest teilweise recht einfach: Die meisten Muslime in Deutschland, also die meisten Türken, stammen – jedenfalls in der Einwanderergeneration – aus ländlichen, wenig entwickelten Gebieten; ihre Auswanderung nach Deutschland war vielfach eine Zeitreise. Die Schwierigkeiten, sich in einer städtischen, industrialisierten Welt einzugewöhnen, sowie die Abwehrmechanismen, mit denen sie auf diese Schwierigkeiten reagieren, sind zu einem großen Teil die gleichen, die als Folge der Landflucht über-all in den Metropolen der islamischen Welt zu beobachten sind.

Nicht alle, aber doch ein großer Teil der Probleme, die im Zusammenleben mit Muslimen auftauchen – Parallelgesellschaften, Bildungsgefälle, die Benachteiligung der Frau –, sind nicht nur theologisch zu erklären, sondern haben so-ziale Gründe. Das bedeutet auch, daß diese Probleme weit unscheinbarer wären, stammte das Gros der muslimischen Einwanderer aus den Städten. So wird immer wieder verwundert vermerkt, daß Migranten aus dem Libanon oder aus Iran, deren Zahl weltweit mehrere Millionen beträgt, häufig in die Bildungs- oder Wirtschaftseliten ihrer neuen Heimat vorstoßen. In Deutschland und anderen westlichen Ländern dürften etwa die Iraner unter allen Bevölkerungsgruppen den höchsten Anteil an Akademikern aufweisen. Das liegt gewiß nicht an ihrer überdurchschnittlichen Intelligenz (wie mir meine iranischen Landsleute gern versichern) oder an einem etwaigen Abfall vom Glauben (wie meine deutschen Landsleute oft meinen, wenn sie diejenigen Muslime, die ihren Glauben nicht an äußerlichen Zeichen oder Regeln festmachen, als areligiös wahrnehmen); es liegt einfach daran, daß sie bereits in der alten Heimat Angehörige jener privilegierten Schicht waren. Daß sie kaum Schwierigkeiten haben, sich an die neue Umgebung anzupassen, ist kein Wunder, wenn man ihre alte Umgebung kennt; sie ist der neuen ziemlich ähnlich.