Über das Buch:
Alaska:
Bailey Craig hat sich geschworen, niemals nach Yancey zurückzukehren. Doch ein mysteriöser Flugzeugabsturz lässt der erfolgreichen Hochschuldozentin keine andere Wahl: Sie muss sich den Schatten der Vergangenheit stellen …
Cole McKenna hat keine Angst vor gefährlichen Rettungsmissionen. Auch der Verdacht, dass ein gefährlicher Mörder in seiner Heimatstadt sein Unwesen treiben könnte, versetzt den passionierten Tiefseetaucher nicht in Panik. Doch der Anblick seiner Jugendliebe Bailey Craig lässt das Blut in seinen Adern gefrieren.
Gut, dass Cole den ganzen McKenna-Clan an seiner Seite weiß. Zusammen mit seinen Geschwistern und dem Polizisten Landon versucht er Licht in die rätselhaften Vorfälle in Yancey zu bringen … nicht ahnend, dass er sich damit in wilde Wasser begibt – und Bailey gleich mit.

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. „Wilde Wasser“ ist das erste Buch von ihr, das auf Deutsch erscheint. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

7

Landon folgte seinem Vorgesetzten und Cole ins Last Frontier Adventures, das Geschäft, dessen Eigentümer Cole war und das er zusammen mit seinen Geschwistern führte. Anstelle einer Türglocke erklang der Surfersong „Wipe Out!“, als sie eintraten.

Eine von Pipers Ideen.

Wandgemälde im Stranddesign und Surfposter schmückten die Wände. Polynesische Blumenkränze hingen über den Auslagen und der Duft von Kakaobutter lag in der Luft.

Wären nicht die Neoprenanzüge gewesen, die beim Tauchen in kaltem Klima notwendig waren, hätte man meinen können, man wäre in einem tropischen Tauchladen gelandet.

Piper blickte von einem Gespräch mit einem Kunden auf und lächelte.

Landon betete, dass nicht sie die Ausrüstung vermietet hatte. Nicht, dass er glaubte, irgendetwas könnte damit nicht gestimmt haben. Die McKennas waren sehr vorsichtig, was die Ausrüstungen betraf. Aber er wusste, wie sensibel Piper war. Falls sie der Toten begegnet war, würde es ihr das Herz brechen, wenn sie erfuhr, dass sie nun tot war.

„So, dann hast du alles“, sagte Piper und reichte Nancy Bowen ihre Quittung und das Heft. „Der Kurs fängt am fünften an. Sei um sieben hier.“

„Frisch wie der junge Morgen.“ Nancy drehte sich mit einem Lächeln um. „Cole, Sheriff.“ Ihr Lächeln wurde breiter. „Landon.“

Er tippte mit einem Finger gegen seine Mütze. „Nancy.“

Ihre Wangen röteten sich. „Ich habe gerade den letzten Platz in Coles Wracktauchkurs ergattert. Piper hat mir erzählt, dass du ihm dabei hilfst?“

Piper stellte sich auf die Zehenspitzen und grinste ihn über Nancys Schulter hinweg an.

„Ach ja, hat sie das?“ Er sollte sie übers Knie legen. Wenn sie nicht die kleine Schwester seines besten Freundes wäre …

„Landon?“, sagte Nancy.

Er blickte auf sie hinunter. Nancy stand nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt. Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen. Sie war ein nettes Mädchen. Aber er spürte einfach nicht den Funken, den er bei einer potenziellen Lebenspartnerin zu verspüren hoffte.

„Hatte sie recht?“

„Hm?“

„Hatte Piper recht?“

Piper rieb sich hinter Nancy die Hände und wartete schadenfroh ab, was er antworten würde. „Ja, ich helfe bei dem Kurs.“

„Super. Dann sehen wir uns ja.“ Sie schob sich an ihm vorbei zur Tür, während er Piper böse anfunkelte. Leider schien sein Versuch, bedrohlich zu wirken, sie nur noch mehr zu belustigen.

„Wipe Out!“ ertönte, als Nancy ging.

„Piper, ich sollte –“

„Mir danken?“, schlug sie kess vor, während sie um den Tresen herumkam, um Cole mit einer Umarmung zu begrüßen.

„Hallo, Kleines.“ Cole drückte einen Kuss auf ihre Stirn. „Ich glaube, du solltest aufhören, Landon zu verkuppeln.“

„Warum? Nur weil er brummig ist?“

„Du könntest es als Wink mit dem Zaunpfahl verstehen“, sagte Landon und biss die Zähne zusammen.

Wieder erklang „Wipe Out!“. Diesmal trat Gage ein, gefolgt von einer ganzen Horde Leute mit geröteten Wangen und vom Wind zerzausten Haaren. Sie alle hatten den Vormittag in den Stromschnellen verbracht.

„Gute Fahrt?“, fragte Cole.

Gage schob seine Sonnenbrille hoch, doch anhand der Blässe in seinem ansonsten frisch gebräunten Gesicht war gut zu sehen, wo sie gesessen hatte. „Klasse.“

Alle um sie herum schnatterten wie eine Schar Entenküken.

Gage zeigte wie üblich gutes Gespür und blickte zwischen Cole und Slidell und Landon hin und her. „Alles in Ordnung?“

Landon nickte. „Slidell hat nur ein paar Fragen an Piper und Jake.“

„Ist gut. Dann kümmere ich mich mal draußen um den Anhänger.“

„Wir kommen gleich helfen“, sagte Cole.

„Keine Sorge.“ Gage pfiff, um die Aufmerksamkeit seiner Gruppe zu erlangen. „Wenn ihr mir bitte folgen wollt, es gibt frische Limonade und selbst gebackene Muffins für alle.“

Der Lärm verstärkte sich, während die Leute hinausschlurften, und nahm dann langsam ab, bis nur noch ein leises Murmeln aus der hinteren Garage zu hören war.

Pipers braune Augen konzentrierten sich auf Landon. „Was ist los?“

Slidell räusperte sich. „Ich habe ein paar Fragen an –“

Erneut ertönte „Wipe Out!“. Slidell schnitt verärgert eine Grimasse.

„Touristensaison.“ Cole zuckte mit den Schultern. „Im Sommer können wir von Glück sagen, wenn wir ein paar Minuten Freizeit haben.“

Kayden kam mit einer braunen Papiertüte in der einen Hand herein und einer vollen Palette Getränkedosen in der anderen.

Slidell schob sich an Landon vorbei. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Er zog an der Getränkepalette.

„Es geht schon, danke.“

„Ich bestehe darauf.“ Er entriss ihr die Dosen förmlich und bot an, auch die Tüte zu nehmen.

„Wollen Sie sich wieder für einen Rundflug anmelden?“, fragte sie.

Landon lachte hinter vorgehaltener Hand leise in sich hinein. Slidell meldete sich für alles an, woran Kayden beteiligt war.

„Nein, ich fürchte nicht.“ Slidell stellte die Getränkepalette und die Tüte auf den Verkaufstresen. „Ich bin dienstlich hier.“

„Oh.“

Jake Westin kam mit einem Eimer voller Kayakhelme in der Hand aus dem hinteren Teil des Hauses in den Laden.

„Ah.“ Sheriff Slidell stolzierte auf ihn zu. „Da ist ja der Mann, den ich sprechen will.“

Jake stellte den Eimer auf den Tresen und sah Slidell mit der üblichen Gleichgültigkeit an.

Obwohl Jake seit beinahe einem Jahr in Yancey wohnte, behandelte Slidell ihn immer noch wie einen Landstreicher.

„Ich muss mit Jake reden. Ihm ein paar Fragen stellen.“

Kayden warf Cole einen „Hab ich’s doch gesagt“-Blick zu. „Was hat er ausgefressen?“

Cole schnitt eine Grimasse. „Er hat nichts ausgefressen. Slidell muss mit ihm und Piper über eine Druckluftflasche sprechen, die wir vermietet haben.“

„Oh.“ Ihre überhebliche Art verflog. Offenbar hatte sie gedacht, sie bekäme jetzt die Information, die sie brauchte, um Cole zu beweisen, dass er unrecht hatte.

„Was ist mit der Druckluftflasche?“, fragte Piper.

Landon schluckte, weil er wusste, dass die Nachricht sie erschüttern würde. „Die Leiche einer Taucherin ist gefunden worden.“

„Und sie trug eine Ihrer Flaschen“, fügte Slidell hinzu, bevor Landon weitersprechen konnte.

Piper riss die Augen auf. „Eine von uns? Wer war es denn?“

„Sie war nicht von hier“, sagte Landon in der Hoffnung, dass sie daraus Trost schöpfen konnte.

„Was wollen Sie denn von uns wissen?“, fragte Kayden.

Slidell zog seinen Notizblock aus der Hemdtasche und blätterte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte. „Ich habe die Seriennummer der Druckluftflasche. Ich brauche einen Namen und jede Information, die Sie dazu haben.“

Jake verschränkte die Arme vor der Brust. „Und Sie nehmen natürlich an, dass ich derjenige war, der sie ihr vermietet hat.“

„Niemand nimmt hier irgendetwas an“, sagte Landon und versuchte die Situation damit zu entspannen. Er nahm es Jake nicht übel, dass er verärgert war; Slidell hatte wieder einmal die falschen Schlüsse gezogen. Aber auf Konfrontation zu gehen, würde es nicht besser machen.

Slidell machte seinem Ruf alle Ehre und näherte sich Jake bis auf wenige Zentimeter. „Sie haben im Laden bedient.“

Jake zuckte nicht zurück. „Piper auch.“

„Ich hole das Auftragsbuch“, bot Piper an, wie üblich die Friedensstifterin.

Kayden stand dabei und ihre Miene war angespannt.

Piper legte das Buch aufgeschlagen auf den Verkaufstresen. „Wenn Sie so weit sind, Sheriff …“

Er nannte die Seriennummer.

„Ich habe sie. Zwanzig Flaschen, vermietet am Neunundzwanzigsten. Rückgabetermin übermorgen.“ Piper überflog die Seite. „Sie war so jung.“

„Wie jung?“, fragte Slidell.

„Achtzehn, neunzehn.“

„Das heißt, Sie erinnern sich an sie?“

„Ja. Sie war ganz reizend.“ Piper holte die entsprechende Karte aus dem Karteikasten und reichte sie Slidell.

„Liz Johnson“, sagte er. „Was können Sie mir sonst noch über sie sagen?“

„Nicht viel. Sie war sehr nett, wie ich schon sagte, aber auch irgendwie …“

„Irgendwie …?“, hakte Slidell nach.

„Ausweichend, könnte man wohl sagen. Verschlossen. Wir haben öfter solche Leute.“

„Wer war bei ihr?“

Piper zuckte mit den Schultern. „Niemand.“

Slidell zog eine Augenbraue hoch. „Die junge Frau hat zwanzig Druckluftflaschen für sich selbst ausgeliehen?“

„Sie sagte, sie würde sich mit Freunden treffen und ihre Aufgabe sei es, die Flaschen zu besorgen.“

„Hat sie Namen genannt?“

Piper schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Oder erwähnt, woher sie kommt?“

„Von der Westküste, hat sie gesagt.“

„Hat sie gesagt, warum sie tauchen wollte?“ Slidells Tonfall wurde mit jeder Frage ungeduldiger.

„Einfach zum Spaß, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.“

„Mit zwanzig Druckluftflaschen? Damit kann man viel tauchen.“ Slidell schnaubte verächtlich.

„Kann doch sein, dass sie neun Freunde hatte“, sagte Jake. „Wir verhören unsere Kunden nicht.“

Slidell zog seine Hose hoch. „Vielleicht sollten Sie das aber tun.“

„Wir versuchen, uns mit ihnen zu unterhalten“, erklärte Cole. „Manche reden gerne, andere nicht. Das ist ihr gutes Recht.“

„Ich verstehe.“ Slidell blätterte zur nächsten leeren Seite um. „Haben Sie einen Kreditkartenbeleg?“

Piper sah in dem Buch nach und schüttelte den Kopf. „Sie hat bar bezahlt.“

„Bar? Fanden Sie das nicht ein bisschen verdächtig?“

„Viele Taucher zahlen lieber bar“, sagte Cole. „Sie verwenden nicht gerne Kreditkarten. Dadurch sichern sie sich ein gewisses Maß an Anonymität.“

Slidells Lippen bildeten eine dünne Linie. „Man kann nicht so leicht gefunden werden.“

„Es passt zu einem solchen Lebensstil“, sagte Kayden.

„Und was für ein Lebensstil ist das?“ Slidell durchbohrte Jake mit seinem Blick. „Der eines Herumtreibers?“

Landon räusperte sich. „Man sollte doch meinen, dass einer ihrer Freunde sie als vermisst melden würde.“ Seine Brust zog sich zusammen. „Was, wenn sie nicht die Einzige war? Vielleicht sollten wir einen Suchtrupp losschicken.“

Slidell runzelte die Stirn. „Nach wem sollen unsere Leute denn suchen? Wir wissen ja nicht einmal mit Sicherheit, dass jemand bei ihr war.“

„Sie haben doch selbst gesagt, dass es unwahrscheinlich ist, dass die zwanzig Flaschen für eine Person waren“, gab Landon zu bedenken, während er versuchte, respektvoll zu klingen. Es war eine schwierige Situation, wenn man zwar Respekt vor dem Amt, aber nicht vor dem Inhaber des Amtes hatte.

Slidell wandte sich an Piper. „Sie haben also sonst niemanden gesehen?“

„Nein.“

„Wie hat sie die ganzen Flaschen transportiert?“

„Ich habe ihr geholfen, sie in ihren Pick-up zu laden“, sagte Jake.

„Das Nummernschild haben Sie sich bestimmt nicht gemerkt, oder?“

„Es war nicht aus Alaska.“

„Woher dann?“

„Washington.“

Slidell kniff die Augen zusammen. „Interessant, dass Sie sich daran erinnern.“

„Ich bin ein aufmerksamer Mensch.“

„Klar.“ Slidell trommelte mit dem Stift auf den Notizblock. „Dann wissen wir wenigstens, woher sie stammte.“

„Nicht unbedingt.“ Jake lehnte sich an den Tresen. „Es könnte ein Mietwagen gewesen sein.“

„Warum überlassen Sie die Polizeiarbeit nicht den Profis?“, spottete Slidell.

„Jake hat recht“, sagte Kayden und alle sahen sie schockiert an. „Was ist?“, blaffte sie. „Ich sage ja nur, dass es ein Leihwagen gewesen sein könnte.“

Slidell lächelte ihr zu. „Ich werde das überprüfen.“ Er klappte seinen Block zu. „Ich denke, das ist alles.“ Er warf Jake einen düsteren Blick zu. „Im Moment.“

Als Jake sich Kayden näherte, fragte Landon sich, was für eine Debatte sich nun entfalten würde.

Jake lächelte entwaffnend. „Danke.“

Kayden blickte auf und wirkte überrascht. „Wofür?“

Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Dafür, dass du mich in der Sache mit dem Nummernschild unterstützt hast.“

Kayden lehnte sich an den Tresen und verschränkte die Arme. „Ich habe nur etwas Offensichtliches festgestellt.“

Sofort nahm Jakes Gesicht wieder den verschlossenen Ausdruck an, der charakteristisch für ihn war.

Cole beugte sich zu Landon hinüber und flüsterte: „Ich liebe meine Schwester, aber ich wünschte, sie wäre nicht immer so unnachgiebig.“

Landon nickte. Kayden und Piper waren völlige Gegensätze.

„Vergiss, dass ich was gesagt habe“, sagte Jake.

Kayden kehrte ihm den Rücken zu. „Schon vergessen.“

* * *

Nachdem sie ihr Familienessen nachgeholt hatten, folgte Cole dem vertrauten Knarren der Verandaschaukel nach draußen. Kayden saß in der Schaukel und blickte zu den Sternen auf, so wie ihre Mutter es jeden Abend getan hatte – bis zu ihrem allerletzten Abend. Als der Körper ihrer Mutter vor Schmerzen so gekrümmt gewesen war, dass sie nicht mehr hatte gehen können, hatte Cole sie in ihre Lieblingspatchworkdecke eingewickelt und hinausgetragen. Und wenn sie dann zu Gottes Werk hinaufgeschaut hatte – dem glänzenden Sternenzelt über ihnen –, waren ihre Züge friedvoll gewesen. Friedvoll trotz der Schmerzen.

Er fragte sich, ob Kayden auch diesen Frieden suchte, wenn sie sich jeden Abend in die Schaukel setzte – und dort weitermachte, wo ihre Mutter aufgehört hatte.

Seit ihrer Kindheit war das rhythmische Knarren der Schaukel das Wiegenlied für sie alle gewesen, die Musik, zu der sie einschliefen. Selbst jetzt beruhigte es Coles Seele.

Er trat einen Schritt zurück, weil er Kayden ihr abendliches Ritual noch ein wenig länger genießen lassen wollte, aber eine altersschwache Diele stöhnte unter seiner Bewegung auf.

Kayden fuhr herum.

„Tut mir leid.“ Cole zuckte mit den Schultern.

„Ist schon gut.“ Sie zog die Knie an die Brust.

Er setzte sich neben sie.

„Schöner Abend.“ Der Mond war so voll und hell, dass er nur wenige Handbreit entfernt zu sein schien.

„Ja, aber das ist bestimmt nicht der Grund, warum du rausgekommen bist.“

Sie kannte ihn zu gut. Cole holte tief Luft und wappnete sich für einen Kampf. Der süße Duft von Flieder füllte seine Lunge und er genoss den Sommergeruch einen Moment lang, bevor er antwortete. „Ich wollte mit dir über Jake reden.“

Ihre Schultern versteiften sich. „Was ist mit ihm?“

„Du warst ziemlich schnell bereit, ihn zu verurteilen.“

Sie spitzte die Lippen, bevor sie sprach. „Wir wissen nichts über ihn.“

„Ich weiß, dass er nicht unsere Ausrüstung manipuliert, wenn es das ist, was du glaubst.“

„Sheriff Slidell scheint sich für ihn zu interessieren.“

„Slidell mag keine Konkurrenz.“

Ihre Augen verengten sich. „Was meinst du damit?“

„Jeder in der Stadt weiß, dass Slidell ein Auge auf dich geworfen hat, und offenbar hält er Jake für einen Konkurrenten.“

„Dann ist er verrückt. Ich empfinde für Jake nichts als Gleichgültigkeit.“

„Das ist offensichtlich. Aber warum musst du so hart mit ihm ins Gericht gehen?“

„Du meinst, ich sollte so sein wie du und einen wildfremden Menschen einfach so in unsere Familie aufnehmen?“

„Er ist kein Wildfremder. Ich habe seit fast einem Jahr täglich mit ihm zu tun.“

„Er ist mit nichts als einer Reisetasche in Yancey aufgetaucht. Er hat keine Familie, von der wir wissen, keine Vergangenheit. Er ist ein Herumtreiber.“

„Und das ist so schlimm?“

„Nach allem, was wir wissen, könnte er ein Serienmörder sein.“

Cole lachte leise. „Du hast zu viele Krimis gelesen.“

„Ich meine es ernst.“

Er legte den Kopf schief und sein Blick suchte den ihren. Wie immer waren ihre Augen voller Feuer. „Gibt es jemals etwas, das du anders meinst?“

Piper trat auf die Veranda heraus, eine Schüssel in der Hand. „Anders als was?“

„Nichts“, sagte Kayden. Dann kniff sie die Augen zusammen. „Was isst du da?“

„Ein Eis mit heißer Karamellsoße und Gummibärchen.“

„Mann, das ist total schlecht für dich.“

Piper nahm einen großen Löffel voll und ließ ihn vor Kaydens Nase tanzen. „Hast du Angst, du könntest süß werden?“

Ein Lächeln stahl sich in Kaydens Gesicht. „Du bist unmöglich!“

„Wer ist unmöglich?“, fragte Gage, während er sich zu ihnen auf die Veranda gesellte.

„Piper“, sagte Kayden seufzend.

„Kayden sitzt mal wieder auf ihrem hohen Gesundheitsross.“ Piper aß noch einen Bissen.

Gage tat überrascht. „Wirklich? Das ist ja mal was ganz Neues.“

Kayden erhob sich. „Ich gehe joggen, bevor es zu spät wird.“

„Ich komme mit“, bot Gage an.

„Gut. Ich ziehe mich um.“ Sie verschwand im Haus.

„So.“ Gage hockte sich auf die Verandatreppe. „Ich habe vergessen dir zu erzählen, dass ich heute Bailey Craig gesehen habe.“

Coles Herz flatterte. „Wie geht es ihr?“

„Ich hatte keine Chance, es herauszufinden. Sie ist aus dem Lebensmittelladen geflohen und zum Handelskontor zurückgelaufen, bevor ich die Straße überqueren konnte. Gus sagte, die Beerdigung sei morgen Vormittag.“

„Ja.“

Gage zog fragend eine Augenbraue hoch. „Gehst du hin?“

„Ja, ich gehe hin.“ Cole hatte die ganze Zeit über vorgehabt, Agnes die letzte Ehre zu erweisen, aber Gott hatte ihm noch einen Grund aufs Herz gelegt. Morgen würde einer der schwersten Tage in Baileys Leben werden – wenn sie ihre Tante zur letzten Ruhe bettete, während die ganze Stadt sie dabei beobachtete.

Er würde hingehen und freundlich zu ihr sein, auch wenn er bezweifelte, dass sie ihn als Freund betrachten würde.

Und er würde dafür sorgen, dass Tom und Thoreau sich anständig benahmen, falls sie auftauchten. Er traute ihnen einen anzüglichen Spruch oder sogar eine Anmache zu, selbst bei einer Beerdigung.

„Ich gehe auch.“ Pipers Hand legte sich auf seine Schulter. „Ich will mich von Lady Grey verabschieden.“

Cole bedeckte ihre Hand mit seiner. „Das ist nett. Ich bin mir sicher, Bailey kann ein bisschen Unterstützung brauchen.“

Gage lehnte sich an das Geländer. „Ich bezweifle, dass sie in Yancey viel davon finden wird.“

Cole schluckte. „Auch wenn ich es nicht gerne sage, aber ich glaube, da hast du recht.“

„Dann sollten wir es als unsere Aufgabe betrachten, ihre Freunde zu sein“, sagte Piper, wie immer optimistisch.

Cole rieb sich den Nacken. Das hatte er einmal versucht und es hatte ihn beinahe umgebracht.

„Wessen Freunde?“, fragte Kayden, die in diesem Moment in ihren Joggingsachen aus dem Haus kam.

„Bailey Craigs“, sagte Piper. „Sie ist wegen Agnes’ Beerdigung zurückgekommen.“

Kayden stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Wadenmuskulatur zu dehnen. „Bailey Craig … die hatte ich ganz vergessen.“

Cole seufzte. Er nicht.

8

Bailey zerrte den grauen Rock herunter und zog wieder die schwarze Hose an. Die Temperatur war über Nacht um beinahe fünfzehn Grad gefallen und sie lief mit der zur Hose gehörenden Jacke in der Hand zu dem pinkfarbenen Läufer vor dem Standspiegel.

Sie schob die Arme in den taillierten Blazer und betrachtete ihr Spiegelbild, wobei sie sich fragte, ob der elegante schwarze Hosenanzug und ein Paar vernünftige halbhohe Pumps jeden in Yancey davon überzeugen würden, dass sie nicht mehr das wilde und leichtsinnige Mädchen war, das gleich nach seinem Schulabschluss die Stadt verlassen hatte.

Sie fuhr sich über die Bananenfrisur, zu der sie ihre Haare hochgesteckt hatte, und schob zur Sicherheit noch eine Haarnadel hinein.

Seufzend ließ sie die Schultern hängen. Wem machte sie eigentlich etwas vor? Die ordentliche Frisur und ihre Kleidung würden niemals reichen, um ihren befleckten Namen reinzuwaschen. In den Augen der Leute würde sie immer die Stadtschlampe sein.

Als sie das Kontor verlassen hatte, um eine Flasche Orangensaft zu kaufen, war sie direkt ihrer Vergangenheit in die Arme gelaufen. Tom Murphy hatte nicht gezögert, sie auf einen Drink zu sich einzuladen, und der lüsterne Blick in seinen Augen hatte deutlich gemacht, was er erwartete.

Bailey hatte auf der Stelle abgelehnt, unter den neugierigen Blicken und geflüsterten Bemerkungen der anderen Kunden.

Das Herz hatte ihr bis zum Hals geschlagen und sie war zurück ins Handelskontor geflüchtet, das sie seither nicht mehr verlassen hatte.

Jetzt starrte sie ihr Spiegelbild an. Unter ihren geschwollenen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab und sie tupfte etwas Abdeckstift auf. Es würde nichts nützen, wenn irgendjemand sah, wie sehr sie litt. Es hatte noch nie etwas genützt.

Bailey holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.

Noch ein paar Tage, eine Woche höchstens, und sie könnte wieder in ihrem eigenen bequemen Bett schlafen, anstatt sich die ganze Nacht auf dem Sofa hin und her zu wälzen. Sie konnte sich einfach nicht überwinden, in ihrem alten Zimmer zu schlafen oder in dem von Agnes, obwohl ihre Oberschenkel von den Federn der Couch schon voller blauer Flecke waren.

In Oregon würde sie wieder von Universitätskollegen und Nachbarn umgeben sein, die wussten, dass sie ein bodenständiges Mädchen war, ihren Glauben ernst nahm, ordentlich und anständig lebte, kurzum: eine vorbildliche Bürgerin mit hohen moralischen Maßstäben war.

Ihre Unterlippe bebte.

All das spielte heute keine Rolle.

Ihre Knie gaben unter ihr nach, als sie die Spieluhr vom Frisiertisch nahm, und sie sank auf die Bettkante.

Heute ging es um Agnes.

Baileys Tränen tropften auf die Rosen, die den emaillierten Deckel schmückten.

Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper und wiegte sich hin und her, während Schluchzer ihre Brust erschütterten.

Oh, Agnes. Ich vermisse dich so sehr.

* * *

Eine kühle Sommerbrise fuhr durch den Löwenzahn, der zwischen den Grabsteinen hinter der Kirche wuchs.

Pastor John sprach von Gottes Geschenk der Erlösung durch Jesus Christus und von seiner Gnade. Davon, dass Agnes jetzt bei den Engeln war und in den Armen Christi.

Bailey saß stocksteif da und fragte sich, was geschehen würde, wenn sie in den Himmel kam. Christus hatte ihr vergeben. Aber würde er sie in den Arm nehmen?

Durch den Wind vermischte sich die Seeluft mit dem süßen Duft der Tulpen, die den Sarg zierten.

Bailey zog an den Ärmeln ihres Blazers und rieb über den Stoff, bis die Reibung Wärme erzeugte – hauptsächlich, um sich abzulenken und die Tränen zurückzuhalten.

Das Hochwasser schwappte an den Strand und ließ weiße Schaumbläschen auf dem Sand zurück. Die Gischt spritzte auf die Seegrasbüschel.

Agnes hatte das Meer geliebt. Schon immer. Es schien beinahe passend, dass ihr Leben dort geendet hatte.

Der Schrei einer Möwe übertönte das Geräusch der sich brechenden Wellen und Bailey verfolgte ihren Flug, bis sie am Horizont verschwand, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Pastor widmete.

John war ziemlich gealtert. Seine Haare und sein Schnurrbart waren jetzt silbergrau und seine dunklen Augen trüber, als sie sie in Erinnerung hatte.

Ihre Blicke begegneten sich und sie spürte eine Demut, die neu war, oder war es Mitleid?

Wahrscheinlich war alles besser als die strengen, missbilligenden Blicke, mit denen er sie früher immer bedacht hatte. Vielleicht war er im Alter sanfter geworden.

Er senkte die Stimme und Bailey konzentrierte sich noch mehr auf das, was er sagte.

„Agnes hat sich in ihrem Testament gewünscht, dass wir diese Trauerfeier mit ihrem Lieblingslied beenden.“

Bailey hatte Mühe, aufrecht stehen zu bleiben, aber sie zwang ihre zitternden Knie, nicht unter ihr nachzugeben, und befahl den Tränen, nicht zu fließen. Niemand in Yancey würde sie weinen sehen. Niemals. Egal, wie sehr sie litt. Das hatte sie sich vor langer Zeit geschworen und diesen Schwur würde sie jetzt nicht brechen.

Pastor John räusperte sich. „‚Amazing Grace …‘“

Eine Vielzahl Stimmen setzte mit ein. „‚how sweet the sound …‘“

Sing einfach. Sing und atme. Du wirst nicht weinen. Nicht vor diesen Leuten. Ihre Hände zitterten und ihr Körper bebte, während der Text des Liedes ihren Mund verließ. „‚That saved a wretch like me.‘“ Die Worte trafen sie wie ein Schock, so wie immer. „‚I once was lost, but now am found …‘“

Danke, Jesus, dass du mich gefunden hast. Mich gerettet hast. Ich weiß, dass Agnes jetzt bei dir ist, und das bringt mir Frieden trotz des Kummers. „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“

Nach dem Lied beendete der Pastor die Trauerfeier mit einem Gebet und verabschiedete die Versammelten.

Bailey hielt den Blick gesenkt, während die anderen an ihr vorbeigingen. So viele Schuhpaare gingen vorüber. Es gab so viele Menschen, die Agnes geliebt hatten.

In ein paar Minuten würden sie alle fort sein und dann könnte sie richtig Abschied nehmen, ohne dass jemand zusah. Sie würde ihrer Tante sagen, wie sehr sie sie geliebt hatte und wie sehr sie es vermissen würde, ihre raue Stimme durchs Telefon zu hören, die sie ermutigte, anstachelte … und auch rügte, wenn sie einen ordentlichen Tritt in den Hintern brauchte.

„Bailey.“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

Sie zuckte zusammen und das Herz blieb ihr beinahe stehen.

Es war nicht der Pastor, aber sie kannte die Stimme. Sie verfolgte sie oft genug in ihren Träumen.

Das Herz wurde ihr schwer, als sie in die vertrauten Augen hinaufblickte – dieselben seegrünen Augen, die sie zuerst mit Freude und dann mit Scham erfüllt hatten.

Es war unsinnig gewesen zu glauben, sie könnte ihm in einer Stadt von der Größe Yanceys aus dem Weg gehen. Er war so sehr Teil dieses Ortes, wie die Gezeiten Teil des Meeres waren. Jede Erinnerung an Yancey hing mit ihm zusammen. Ihre schönsten und ihre schlimmsten Erinnerungen.

„Tut mir leid.“ Cole lächelte schwach. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

Sie blinzelte. Zu mehr war sie nicht in der Lage.

Er streckte die Hand aus. „Cole … McKenna.“

Bailey betete, dass sich der Gefühlsaufruhr in ihrem Inneren nicht auf ihrem Gesicht widerspiegelte. „Ich erinnere mich.“ Ihre Stimme klang schwach, erbärmlich.

Er hielt ihr die Hand noch eine Weile hin und schob sie dann in seine Hosentasche. „Ich wollte dir nur sagen, wie leid es mir um Agnes tut.“

Sie nickte, weil die Worte in ihrer Kehle zu fest saßen, als dass sie hätte sprechen können.

Der Junge, den sie einmal geliebt hatte, war zu einem Mann herangewachsen – einem großen, muskulösen, beinah schmerzlich attraktiven Mann.

„Wirst du lange in der Stadt bleiben?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. Bitte, geh. Ich bin nicht stark genug dafür. Nicht jetzt.

Der frische, rustikale Duft seines Rasierwassers wurde von der Brise herübergeweht, dicht gefolgt von dem Duft von … Heckenkirsche?

Eine zierliche dunkelhaarige Frau trat neben Cole und hakte sich bei ihm unter.

Perfekt. Jetzt lerne ich seine Frau kennen.

Die Frau lächelte freundlich und Bailey kämpfte gegen das Bedürfnis an, sich in Luft aufzulösen. Natürlich war sie hübsch und reizend und vollkommen. Sie gehörte zu Cole. Und er hatte das Beste verdient.

„Ich bin mir nicht sicher, ob du dich an meine kleine Schwester Piper erinnerst.“ Cole drückte die Schulter der Frau.

Bailey verzog keine Miene und hoffte, dass in ihren Zügen nichts von der merkwürdigen Erleichterung zu sehen war, die sich in ihr ausbreitete.

Piper legte eine Hand auf Baileys Arm. „Herzliches Beileid. Unsere Gemeindepicknicks werden ohne Miss Agnes’ Sauerteigkuchen einfach nicht dieselben sein.“ In ihren Augen standen Tränen. „Yancey wird ohne sie nicht dasselbe sein.“

„Danke“, brachte Bailey heraus. Wenn sie nicht bald gingen, würden die beiden miterleben, wie sie in Tränen ausbrach, und das durfte nicht geschehen. Nicht hier. Nicht in seiner Gegenwart. „Ich sollte …“ Sie zeigte auf den Sarg.

„Natürlich.“ Piper trat einen Schritt zurück. „Tut mir leid, dass wir dich aufgehalten haben.“

„Danke, dass ihr gekommen seid.“ Bailey drehte sich um und ging auf den Sarg zu, während sie versuchte gleichmäßig zu atmen.

Cole hielt sie am Arm zurück und sie erschauerte.

Er ließ ihren Arm los. „Tut mir leid.“ Sein Blick suchte den ihren. „Ich wollte nur sagen, wenn du etwas brauchst, während du in Yancey bist, egal was, ruf mich an. Ich stehe im Telefonbuch.“

„Das gilt für uns alle“, sagte Piper. „Kayden und ich stehen auch drin.“

Bailey schluckte. Es fiel ihr schwer, Coles sanftem Blick standzuhalten, und tat weh. Er war zu freundlich. „Danke. Ich sollte jetzt wirklich …“ Ohne den Satz zu beenden, ging sie zu Agnes’ Sarg und blieb dort reglos stehen, bis sie hörte, wie sich die Schritte der beiden entfernten. Erst dann ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

9

Piper drückte Coles Arm. „Sie wirkte so traurig.“

„Das ist sie sicher auch, Kleines.“

Er warf einen Blick über seine Schulter und sah zu Bailey zurück, die mit dem Rücken zu ihm neben dem Sarg stand. Jetzt ließ sie die Schultern hängen.

Während der Trauerfeier war sie ganz steif gewesen – ihr Gesicht ausdruckslos, ihr Kiefer angespannt.

Es tat ihm weh, sie so zu sehen. Wegen alledem, was sie durchgemacht hatte und durchmachte.

Sie hatte immer gute Miene zum bösen Spiel gemacht und so getan, als würden ihr der furchtbare Spitzname und der Tratsch nichts ausmachen. Vielleicht war es ihr ja wirklich egal gewesen, aber das bezweifelte er.

Es musste etwas mit ihr gemacht haben, dass sie von den Jungen ausgenutzt und von den Mädchen verachtet worden war. Sie hatte nie wahre Freunde gehabt, keine echte Zuneigung gekannt außer der von Agnes. Vielleicht hätte er freundlicher sein sollen. Sich mehr Mühe geben. Nachsichtiger sein und Vergebung üben sollen. Aber auch er war verletzt gewesen. Er hatte sie geliebt und sie war ohne jegliche Reue auf seinem Herzen herumgetrampelt.

Aber …

Cole seufzte.

Wenn er ein wahrer Freund gewesen wäre, hätte er versucht, sie von der schiefen Bahn abzubringen, auf die sie geraten war, anstatt tatenlos danebenzustehen und sich ihre Selbstzerstörung mit anzusehen.

War es zu spät für eine Wiedergutmachung? Zu spät, um unter besseren Bedingungen auseinanderzugehen?

Bailey drehte sich um. Als ihre tränennassen Augen in seine blickten, stockte Cole der Atem.

Sie wischte sich übers Gesicht, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.

Mit einer Sache hatten Tom und Thoreau recht. Bailey war immer noch hinreißend, wenn auch auf eine weichere, natürlichere Art. Von dem schweren schwarzen Kajal und dem tiefroten Lippenstift war nichts mehr zu sehen. Stattdessen lag ein sanftes Rosa auf ihren Wangen und ihren Lippen. Sie war jetzt unendlich viel schöner.

„Cole“, brüllte Slidell von der anderen Straßenseite herüber.

Er hob grüßend die Hand, um zu zeigen, dass er ihn gehört hatte, dann wandte er sich Piper zu, die an seiner Seite geblieben war. „Ich sehe besser nach, was er will.“

Piper nickte. „Ist gut, wir sehen uns später.“

Cole drückte ihr einen Kuss auf die Haare. „Danke, dass du heute mitgekommen bist.“

„Ist doch selbstverständlich.“ Sie winkte Slidell kurz zu und ging dann zu ihrem Jeep.

Seufzend überquerte Cole die Straße, wobei er der Flut von Touristen ausweichen musste, die den Hügel hinaufstrebten. Wie eine Herde, die sich an ihren Schäfer hängt, drängten sie sich zusammen und bemühten sich, dicht bei ihrem Reiseführer zu bleiben. Die Panik auf ihren Gesichtern zeugte von Angst – Angst, irgendein historisches Detail, eine interessante Anekdote oder einen Einkaufstipp zu verpassen. Wenn sie nicht langsamer gingen, würden sie die Schönheit, die Tariuk zu bieten hatte, überhaupt nicht wahrnehmen – die zerklüfteten Berggipfel, die noch vom Schnee überzogen waren, die frische Seeluft, die bunten Läden und die Menschen, die in Yancey zu Hause waren.

„Ich hasse die Touristensaison.“ Slidell warf genervt ein zusammengeknülltes Stück Kaugummipapier in den Mülleimer.

„Ich dachte, Sie wären für den Plan des Bürgermeisters, einen Anleger am Westufer zu bauen, der groß genug für Kreuzfahrtschiffe ist, damit die Touristen nicht mit Beibooten hergebracht werden müssen.“

Slidell schob sich den frisch ausgepackten Streifen Kaugummi in den Mund. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Was für Yanceys Wirtschaft gut ist, ist gut für Yancey, also bin ich dafür. Das heißt aber nicht, dass es mir gefällt, wenn vier Monate im Jahr eine Horde Fremder nach der anderen durch meine Straßen trampelt.“

„Ganz der Politiker.“

„He, ich bin auf diese Position gewählt worden. Ich muss tun, was das Volk will.“

Cole fragte sich immer noch, wie seine Mitbürger Slidell hatten wählen können, aber es war nun einmal eine Tatsache, dass sie ihn noch ein Jahr lang am Hals hatten. Nicht, dass Slidell ein schlechter Kerl gewesen wäre; ihm war nur sein Ansehen wichtiger als die Gerechtigkeit.

„Booth hat angerufen.“

„Und?“ Cole schob die Hände in die Hosentaschen.

„Er hat die Autopsie des Mädchens durchgeführt und etwas gefunden, von dem er meint, dass Sie es sehen sollten.“

Coles Herz schlug schneller. Hatte es ein Problem mit der Ausrüstung gegeben? Er betete, dass dem nicht so war.

Slidell machte eine Kopfbewegung. „Sollen wir?“

Cole nickte und folgte Slidell die drei Häuserblocks weiter geradeaus und dann zwei Blocks nach rechts zum Leichenschauhaus.

Vor dem zweigeschossigen Backsteingebäude, das auf der Nordseite an die Polizeiwache grenzte, warteten Landon und ein sehr ungeduldig aussehender Bürgermeister Cox auf sie.

Cox hob ein zerknülltes Stück Papier in die Höhe. „Was hat das zu bedeuten?“

„Könnten Sie mir vielleicht erklären, wovon Sie reden, Neil?“, fragte Slidell.

Cox zog das Papier auseinander und strich den Handzettel so gut es ging glatt. „Wie konnten Sie das Gesicht dieses Mädchens überall in der Stadt plakatieren?“

„Das war gar nicht schwer“, erwiderte Landon. „Deputy Earl Hansen hat den Zettel auf der Wache gedruckt und dann bin ich mit dem Karton und einem Tacker losgezogen. Das hat keine Stunde gedauert.“

Cox trommelte mit dem Fuß ungeduldig auf den Boden, in einem schnellen, koffeinbetriebenen Takt. „Weniger als eine Stunde, um unsere Existenzgrundlage zu verschrecken.“

„Wie bitte?“ Landons Augen wurden ganz schmal. „Wollen Sie etwa sagen, dass wir die Untersuchungen des Todes einer Frau behindern sollen, damit wir die Touristen nicht beunruhigen?“

„Nicht behindern – nur …“

Landons Miene verfinsterte sich. „Nur …?“

Cox’ aufgeregter Blick wanderte zu Slidell. „Was wollen Sie denn mit diesen Zetteln erreichen?“

„Wir versuchen, die Identität dieser Frau festzustellen.“

„Gibt es keine subtilere Methode, das zu tun? Eine Befragung unserer Einwohner, anstatt unsere Touristen zu erschrecken?“

„Wir befragen natürlich auch die Bevölkerung“, sagte Landon. „Bis jetzt kann sich allerdings niemand daran erinnern, sie gesehen zu haben – abgesehen von Piper und Jake.“

„Gut. Setzen Sie Ihre Ermittlungen fort, aber versuchen Sie bitte, etwas diskreter zu sein.“

Landons Hals lief rot an. „Eine Frau ist tot.“

„Das verstehe ich, aber auch wenn das natürlich bedauerlich ist, brauchen wir deshalb noch lange nicht die Touristen zu verscheuchen.“

Cole ärgerte sich, dass der Bürgermeister keinerlei Mitgefühl mit dem Opfer an den Tag legte. „Ein Mensch stirbt und Sie machen sich Sorgen um unser Image?“

„Ich mache mir Sorgen um die Bewohner dieser Insel. Eine Menge Menschen hier verdanken ihre Existenz den Touristen.“

„So wie Last Frontier Adventures“, sagte Cole. „Aber es gibt Dinge, die wichtiger sind.“ Zum Beispiel Gerechtigkeit.

„Ich bitte ja nur um etwas Rücksichtnahme auf unsere Ladenbesitzer.“

„Wir werden das berücksichtigen, Bürgermeister“, sagte Slidell in versöhnlichem Tonfall.

Cole sah Landon an. Sie wussten beide, was das bedeutete. Slidell würde einknicken und tun, was Cox wollte. Das tat er immer. Aber es bedeutete nicht, dass besorgte Bürger nicht einen Zettel in ihrem Schaufenster aufhängen konnten.

„Wenn wir hier fertig sind …“ Slidell warf einen Blick auf seine Uhr. „Wir haben einen Termin mit Booth und sind spät dran.“

Cox rückte seine Krawatte zurecht. „Natürlich.“

„Sie können gerne mitkommen. Vielleicht empfinden Sie ja etwas Mitgefühl, wenn Sie die Frau sehen“, sagte Landon.

„Ich glaube nicht, dass das nötig ist.“ Cox trat einen Schritt zurück. „Ich überlasse Sie Ihrer Arbeit, meine Herren, und mache mich wieder an meine.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon.

Landon schüttelte den Kopf. „Der Mann hat echt Nerven.“

Cole folgte Landon und Slidell ins Leichenschauhaus, wo es glatte zwanzig Grad kälter war als draußen.

Nancy Bowen saß am Empfang. Sie hatte sich den Telefonhörer zwischen ihr Ohr und die rechte Schulter geklemmt, sodass sie die Hände frei hatte, um ihren Nagellack aufzufrischen. Er war tiefrot.

Als sie Landon erblickte, errötete sie. „Ich muss dich zurückrufen“, murmelte sie ins Telefon, bevor sie den Hörer auflegte. „Wie kann ich euch Jungs helfen?“

„Booth hat angerufen“, sagte Slidell ohne Umschweife.

„Sie können gleich durchgehen.“

Nancy erhob sich, als Landon an ihr vorbeiging. „Schön, dich zu sehen, Landon.“

„Ganz meinerseits.“

Ihr Lächeln wurde breiter.

Sobald sie außer Hörweite waren, flüsterte Cole zu Landon hinüber: „Miss Kupplerin wird sich freuen.“

Landon presste die Lippen aufeinander. „Wage es ja nicht, sie auch noch zu ermutigen. Ich könnte Piper so schon umbringen.“

„Meine Herren“, sagte Booth, als sie den fensterlosen Raum betraten.

An den weiß gefliesten Wänden klebte der Geruch von Fleisch und Tod. Coles Blick fiel auf einen befleckten Laborkittel, der an einem Haken neben der großen Edelstahlspüle hing.

„Gut, dass Sie mitgekommen sind, Cole.“ Booth zog sich ein frisches Paar Handschuhe an. „Ich möchte, dass Sie sich etwas anschauen.“ Er trat zu der Leiche auf dem Tisch und hob das Laken an.

Liz Johnson lag mit geschlossenen Augen da. Ihr Brustkorb war zugenäht. Unter dem Licht der Leuchtstoffröhren sah ihre Haut grau aus und Cole fiel auf, dass sie mit schwarzen Flecken übersät war.

Vor Kurzem hatte sie noch gelebt – lachend, lächelnd, ohne zu ahnen, dass sie schon bald auf einem kalten Edelstahltisch liegen und von Fremden als Beweisstück betrachtet werden würde. Ein Schauer kroch über Coles Rücken.

Booth hob die eine Hand der Frau hoch und stellte die Lampe so ein, dass sie den Arm beleuchtete. „Ich wollte Ihre Meinung zu dem hören, was ich unter mehreren Fingernägeln gefunden habe.“

Cole kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die rotbraune Substanz unter den Nägeln der Frau. „Sieht aus wie Kalzit.“

„Mhm.“ Booth nickte.

„Was genau ist Kalzit?“, fragte Sheriff Slidell. Seine Stimme klang verärgert. Booth überließ Cole die Erklärung.

„Es ist ein Mineral, das man in Höhlen findet. Es wächst dort in flachen Schichten an den Wänden und auf dem Boden. Man nennt diese Schichten auch Höhlenablagerungen.“

Slidell zog seine Hose hoch. „Stimmt das?“

Booth nickte. „Owen Matthews ist von Kodiak hergekommen.“ Sein Blick wanderte zu Cole. „Gute Empfehlung übrigens.“

„Freut mich.“ Cole schluckte und traute sich beinahe nicht zu fragen. „Hat er etwas gefunden?“

„Ja. Er hat an den Druckluftflaschen neuere Abschürfungen entdeckt, die darauf hindeuten, dass der Träger sich durch die engen Gänge von Unterwasserhöhlen gezwängt hat.“ Er trat zu den Flaschen, die auf einem Tisch in der Nähe lagen, und zeigte auf die Stelle.

„Sonst irgendwelche Probleme mit der Ausrüstung?“

Cole ballte die Hände zu Fäusten, während die Angst an ihm nagte.

Auf Booths zerklüftetes Gesicht trat ein schiefes Lächeln. „Matthew kam zu dem Ergebnis, dass mit der Ausrüstung alles in Ordnung war.“

Eine riesige Welle der Erleichterung durchströmte Cole. „Sind Sie sich sicher?“

„Absolut. Matthews sagte, die Ausrüstung sei in einem ausgezeichneten Zustand gewesen, abgesehen von den Schäden, von denen er vermutet, dass sie entstanden sind, als das Opfer sich durch einen engen Gang gezwängt hat.“

„Das Opfer?“, warf Landon ein.

Booth nickte und ging zu der Leiche zurück.

„Sind Sie sich sicher?“

„Ziemlich. Sie ist erstickt.“

Slidell runzelte die Stirn. „Gab es ein Problem mit der Sauerstoffversorgung?“

„Nein. Sie ist erstickt, weil ihre Luftröhre zerdrückt wurde. Ich habe Quetschungen an ihrem Hals gefunden, die darauf hindeuten, dass jemand sie von hinten gepackt hat. Und sie hatte Abwehrspuren an Händen und Unterarmen.“

„Sie hat sich gegen den Angreifer gewehrt“, sagte Landon.

Booth nickte grimmig. „Sie ist nicht schnell gestorben. Die Quetschungen an ihren Schultern lassen vermuten, dass sie hinuntergedrückt wurde.“

„Also hat jemand sie so von hinten gepackt“ – Landon nahm Cole als Demonstrationsobjekt und legte die Finger um dessen Hals – „und ihre Luftröhre zerdrückt, während sie sich wehrte. Dann“ – er verlagerte seine Hände auf Coles Schultern – hat er sie nach unten gedrückt, bis sie erstickte?“

„Ich fürchte, ja.“

Slidell schob das Kinn vor. „Also haben wir es mit Mord zu tun?“

Booth nickte. „Ja, Sir, das haben wir.“

10

Bailey hängte ihre Jacke über die Rückenlehne des Schreibtischstuhls im Handelskontor, während ihr das Herz noch immer bis zum Hals schlug.

Cole McKenna. Der eine Mensch, dem sie hatte aus dem Weg gehen und den sie doch zugleich so gern hatte sehen wollen.

Ihre Hände zitterten und sie beschäftigte sie damit, ihre Hochsteckfrisur zu lösen. Dann warf sie die Haarnadeln in das Durcheinander auf dem Schreibtisch und starrte darauf. Sie wollte auf keinen Fall die Augen schließen, weil sie Angst hatte, sie könnte dann Cole sehen, dessen durchdringender Blick sie bis ins Herz traf.

Auch wenn in seinem Blick keine Verurteilung gelegen hatte, nichts, was sie mit Scham erfüllen müsste, empfand sie doch unendlich viel Reue – und den unstillbaren inneren Schmerz, der von dem Gefühl herrührte, dass sie nicht dazugehörte, dass sie nicht gut genug war.

Butterscotch sprang auf ihren Schoß und sie schmiegte sich an ihn.

Zu viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verknüpft, zu viel Kummer – unverarbeitete, offene Wunden.

Es wurde Zeit, dass sie Cole und Yancey für immer hinter sich ließ … und aufhörte, sich zu fragen, was hätte sein können.

Bailey setzte den Kater auf seinen Lieblingsplatz – die rechte Ecke des Schaufensters –, damit er sich sonnen konnte, und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Sie hatte einen langen Arbeitstag vor sich, da sollte sie eine kleine Stärkung vorbereiten.

Mit einem Teller Haferkekse in der einen und einem dampfenden Becher Lavendeltee in der anderen Hand kehrte sie zum Schreibtisch zurück. Nachdem sie die Sachen abgestellt hatte, widmete sie sich optimistisch dem unglaublichen Durcheinander vor ihr. Je eher sie fertig war, desto eher konnte sie Yancey für immer den Rücken kehren.

Bailey begann mit dem nächstliegenden Ordner und machte sich an die mühselige Aufgabe, Agnes’ Akten durchzugehen.

Als sie den ersten Stapel zur Hälfte abgearbeitet hatte, klopfte es an der Tür.

Sie blickte auf und betete einerseits, dass es nicht Cole war, und hoffte doch andererseits, er wäre es.

Ein älterer Mann legte die Hände ans Fenster und spähte hinein. Als er sie sah, lächelte er.

Zweifellos ein Tourist. Heute waren Unmengen davon in der Stadt unterwegs.

Bailey erhob sich und schloss die Tür auf. „Es tut mir leid, aber wir …“

Der Mann war groß und sein Bauchumfang enorm. Er stützte sich auf einen knorrigen Gehstock und Bailey fiel auf, dass sein Atem keuchend und ungleichmäßig ging.

„Ist alles in Ordnung?“

Er nickte, brauchte aber einen Augenblick, um sich zu sammeln. „Das ist ein“ – er sog wieder keuchend die Luft ein – „langer Weg hier herauf.“ Sein schütteres braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen und sein Bart war völlig silbern. Er hustete und lächelte dann schwach. „Ich vergesse immer, dass ich nicht jünger werde.“

„Bitte, kommen Sie doch herein.“

Bailey half dem Mann ins Haus und auf einen Stuhl.

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und er zog ein Taschentuch hervor, um sich damit das Gesicht abzutupfen.

Der Mann trug ein weißes Hemd mit blauen Nadelstreifen, dessen Ärmel ein Paar goldener Manschettenknöpfe zierte, und einen blauen Pullunder.

Sein Blick wanderte durch den Laden.

Die Nachmittagssonne strömte zum Fenster herein und erhellte und wärmte den Raum. Bailey blickte zu der Uhr neben ihrem leeren Becher hinüber und sah, dass sie schon fast zwei Stunden gearbeitet hatte. Sie starrte auf den winzigen Fortschritt, den sie gemacht hatte, und stöhnte.

„Sieht aus, als hätten Sie sich ganz schön was vorgenommen.“

„Ich versuche, Ordnung in die Akten zu bringen.“