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ISBN Print 978-3-609-10016-6
ISBN E-Book 978-3-609-10019-7
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Ernst Hallier ∙ Stephan Letzel ∙ Dennis Nowak
Medizinische und berufliche Rehabilitation
Orientierungshilfe für Betrieb, Praxis und Klinik
Reihe: Schwerpunktthema Jahrestagung DGAUM
© 2013 ecomed MEDIZIN, eine Marke der Verlagsgruppe Hüthig Jehle Rehm GmbH
Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg
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Geleitwort der Bundesministerin für Arbeit und Soziales
Unsere Arbeitswelt verändert sich: Durch den Demografischen Wandel rücken weniger Menschen in den Arbeitsmarkt nach, die Belegschaften in den Unternehmen und Betrieben werden älter. Uns droht ein Fachkräftemangel in vielen Branchen und Regionen, wenn wir nicht gegensteuern.
Mit der verlängerten Lebensarbeitszeit haben wir erste Weichen gestellt, um den Fachkräftemangel abzuwenden. Jetzt geht es darum, diesen Rahmen mit Leben zu füllen: Mit der Demografiestrategie möchte die Bundesregierung unsere Gesellschaft so verändern, dass jeder Einzelne die Chance erhält, seine Fähigkeiten zu entwickeln und diese in der Arbeitswelt einzubringen – unabhängig von seinem Alter oder seiner Lebenssituation.
Ein wichtiger Schlüssel dafür ist die Gesundheit am Arbeitsplatz. Alle Menschen sollen ihren Beruf möglichst lange, gesund und mit Freude ausüben können. Das ist mehr als eine ökonomische Frage: Arbeit forder uns heraus, sie stiftet Sinn und gibt dem Tag eine Struktur. Sie schafft Selbstvertrauen und trägt zur Lebenszufriedenheit bei.
Um die Gesundheit in der Arbeitswelt zu verbessern, müssen wir uns folgende Fragen stellen:
Um darauf die richtigen Antworten zu finden, brauchen wir Experten, die die Wirklichkeit in den Betrieben kennen, die sich untereinander austauschen und vernetzen.
Mir ist wichtig, dass wir vor allem bei der Prävention noch besser werden – wenn es darum geht, gesundheitliche Risiken in der Arbeitswelt zu erkennen und zu beseitigen, bevor eine Krankheit entsteht. Das gilt für körperliche Belastungen ebenso wie für psychischen Druck, der immer häufiger zu Erkrankungen führt: 2010 haben psychische Störungen rund 53 Millionen Krankheitstage in Deutschland verursacht. Das ist ein Anstieg um 80 Prozent gegenüber 1997.
Wir dürfen das nicht hinnehmen und müssen auch jenen zur Seite stehen, die bereits erkrankt sind. Wer Schaden genommen hat – ob körperlich oder seelisch – braucht, wo immer möglich, eine professionelle medizinische und berufliche Rehabilitation mit dem Ziel, den Sprung zurück ins Erwerbsleben zu schaffen.
Dies gilt in besonderem Maße für Menschen mit Behinderungen: Viele von ihnen wollen arbeiten und sie können es – wenn wir sie unterstützen und ihnen etwas zutrauen. Mit dem Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hat die Bundesregierung viele Maßnahmen auf den Weg gebracht, um die Rehabilitation und damit die Arbeitsmarktchancen für Menschen mit Behinderungen zu verbessern.
Die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) ist und bleibt für all das ein unverzichtbarer Ratgeber. Sie unterstützt den fachlichen Austausch zwischen Betriebsärzten, Rehabilitationsträgern, Hochschulen und den staatlichen Gremien der Arbeitsmedizin. Als Schirmherrin der 52. Jahrestagung der DGAUM freue ich mich sehr, dass die wertvollen Konferenzbeiträge zum Thema „Medizinische und berufliche Rehabilitation“ in diesem Buch zusammengetragen sind.
Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre und neue Impulse.
Im März 2013
Dr. Ursula von der Leyen
Bundesministerin
Mitglied des Deutschen Bundestages
Vorwort der Herausgeber
Jährlich erleiden viele Menschen eine schwere Krankheit oder einen Unfall und können infolgedessen nicht am Arbeitsleben teilnehmen. Oft bleiben körperliche oder seelische Schäden zurück, die zu Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führen. Gerade in Anbetracht der in Deutschland bevorstehenden demografischen Veränderungen ist der teilweise oder völlige Verzicht auf die Arbeitskraft dieser Menschen eine erhebliche Belastung für die Volkswirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme. Gravierender noch sind das Leid der Betroffenen und die Belastung ihrer Familien sowie der teilweise Verzicht auf Arbeitseinkommen und die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz. Berufliche Minderleistungen sind auch oft mit einer Stigmatisierung durch Kollegen und Vorgesetzte verbunden.
Aus diesen Gründen hat in den letzten Jahren die Rehabilitation Priorität vor einer ausschließlich finanziellen Kompensation erhalten, nach dem Prinzip „Reha vor Rente“. Ziel ist die Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die Betroffenen mit möglichst wenigen Einschränkungen in das Arbeitsleben zu reintegrieren, auch unter dem Aspekt, dass eine befriedigende Arbeitstätigkeit für das Wohlbefinden, die gesundheitliche Prognose und das Selbstwertgefühl der Betroffenen förderlicher ist als eine Untätigkeit.
Rehabilitation lässt sich auf zwei sich ergänzenden Wegen erzielen: durch Verbesserung der Ressourcen der Betroffenen (Medizinische Rehabilitation) und durch Anpassung der Arbeitsbedingungen an den leistungsgewandelten Menschen (Berufliche Rehabilitation). Arbeitsmedizinerinnen und Arbeitsmediziner haben dabei aufgrund sowohl ihrer Expertise zu den medizinischen Vorgängen als auch ihrer Kenntnis der Arbeitsplätze und -bedingungen eine wichtige Brückenfunktion, die in der Rehabilitation bislang viel zu wenig genutzt wird.
Vor diesem Hintergrund hat die Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) in ihrem Jubiläumsjahr 2012 die Medizinische und Berufliche Rehabilitation zum Hauptthema ihrer Jahrestagung in Göttingen erklärt. Dieses Buch vertieft die dort gewonnenen wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisse und bietet für die betriebliche und die klinische Praxis viele wertvolle Anregungen, nützliche Kontakte und Informationen.
Unser Dank gilt allen Autorinnen und Autoren und allen, die uns bei der Planung und Zusammenstellung des Buches mit Rat und Tat unterstützt haben. Ein besonderer Dank ergeht an Frau M. Czech und den ecomed-Verlag für seine Realisierung.
Als Herausgeber wünschen wir Ihnen viel Freude beim Lesen!
Im März 2013
Ernst Hallier, Stephan Letzel, Dennis Nowak
1.4 Strukturelle und ökonomische Aspekte der Rehabilitation
E. Hallier
Zusammenfassung
Die im Grundgesetz verankerte Gleichstellung aller Menschen und deren Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben fordern besondere Anstrengungen zur Wiedereingliederung von Personen mit krankheits- oder unfallbedingten Einschränkungen. Das Prinzip „Reha vor Rente“ verdeutlicht, dass diese Aufgabe weit über eine bloße finanzielle Kompensation hinausgeht. Im Sozialgesetzbuch ist die Rehabilitation primär im neunten Buch (SGB IX) geregelt, die einzelnen Leistungen betreffen allerdings nicht nur den Kreis der Schwerbehinderten und sind in den Rechtsvorschriften diverser Institutionen der gesetzlichen Sozialversicherung ausgeführt. Die daraus resultierende Zergliederung des Systems und die Vielzahl der Akteure einschließlich der medizinischen Einrichtungen und der Betriebe bewirken eine Komplexität, die nicht nur für die Betroffenen, sondern oftmals auch für Experten schwer zu überschauen ist. Besonders problematisch sind die divergierenden ökonomischen Interessen der Beteiligten, die bei der Interaktion und Koordinierung der Rehabilitationsmaßnahmen bedacht werden sollten.
Struktur und rechtlicher Rahmen
Neben der ambulanten und der stationären Versorgung ist die Rehabilitation der dritte Bereich der gesundheitlichen Versorgung (BMG 2012). Der Begriff „Rehabilitation“ bedeutet wörtlich übersetzt „Wiederbefähigung“. Die Rehabilitation geht somit über eine „Restitution“, also eine Wiederherstellung geschädigter Strukturen, hinaus und ist auf die Funktion, also die Nutzung der körperlichen und geistigen Strukturen, ausgerichtet. Das Bundesministerium für Gesundheit stellt daher zur Rehabilitation Folgendes fest: „Ihr Ziel ist es, die Patientin oder den Patienten bei der Wiedererlangung oder dem Erhalt körperlicher, beruflicher oder sozialer Fähigkeiten zu unterstützen“ (BMG 2012). Dies deckt sich mit dem in der Rehabilitation etablierten, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) weltweit verbreiteten, System der „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF), welches die Funktion und die Teilhabe in den Mittelpunkt der Bemühungen stellt (vgl. Kap. 2.2 „Das biopsychozoziale Modell der ICF“).
Im Jahr 2009 ist in der Bundesrepublik Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft getreten. Im Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der Konvention wird der Integration in die Arbeitswelt eine besondere Bedeutung zugemessen: „Arbeit zu haben, bedeutet persönliche Unabhängigkeit und Selbstbestätigung. Sie ist fundamental für die Selbstverwirklichung der meisten Menschen in unserer Arbeitsgesellschaft“ (BMAS 2011).
Die Grundlage für das Rehabilitationsrecht bildet das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX). Behinderten und von Behinderung bedrohten Menschen soll die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglicht und Benachteiligungen vermieden oder ihnen entgegengewirkt werden. Nach dem SGB IX werden folgende Leistungen erbracht (BMAS 2011):
Zwar stehen die medizinische und die berufliche Rehabilitation im Fokus dieser Monografie, die soziale Unterstützung des Patienten in der Familie, im Freundeskreis und in der Nachbarschaft ist für den längerfristigen Erfolg der Rehabilitation jedoch essentiell und soll daher nicht außer Acht bleiben.
Die konkreten Maßnahmen und Instrumente zur Umsetzung der Rehabilitation sind allerdings nur zum geringen Teil im SGB IX niedergelegt. Die wesentlichen Details sind in den übrigen Büchern des Sozialgesetzbuchs geregelt, insbesondere SGB II, III, V, VI, VII, VIII, XII. Das System ist somit sehr stark gegliedert, mit unterschiedlichen Leistungsträgern für die verschiedenen sozialen Gruppen (gewerblich Beschäftigte, Rentner, Jugendliche, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Beamte und sonstige Versorgungsempfänger), zum Teil auch für verschiedene Aufgabenfelder (medizinische, berufliche Rehabilitation) oder Schädigungsursachen (Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten). Infolgedessen werden die einzelnen Leistungen von verschiedenen Institutionen (Trägern) erbracht und verwaltet. Die Abbildung 1 zeigt die Verteilung der Ausgaben verschiedener Leistungsträger im Jahr 2010.
Die Diversität der Leistungsträger und Empfängergruppen führt zwar zu einem breiten Spektrum an Instrumenten der Rehabilitation, welches im Idealfall für jeden betroffenen Menschen mit Funktionsbeeinträchtigungen eine maßgeschneiderte Lösung bereithält, in der Praxis hat sich das System aber oftmals als unübersichtlich und unkoordiniert erwiesen. Im neunten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ sind zwar übergeordnete Grundsätze und Regelungen formuliert. § 10 „Koordinierung der Leistungen“, § 11 „Zusammenwirken der Leistungen“ und § 12 „Zusammenarbeit der Rehabilitationsträger“ enthalten Bestimmungen für die Interaktion der Leistungsträger. Dennoch gibt es nach wie vor Defizite in der bedarfsgerechten Umsetzung. Hierzu bemerkt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales: „Trotz der gesetzlichen Regelungen führt das gegliederte Sozialleistungssystem im Bereich der praktischen Umsetzung des Rehabilitations- und Teilhaberechts aber immer noch zu Schnittstellenproblemen, d. h. Verzögerungen beim Zugang zu Leistungen und auch zu Einschränkungen in der Leistungsqualität für Menschen mit Behinderungen“ (BMAS 2011). Eine wertvolle Initiative ist die Zusammenarbeit diverser Reha-Träger und weiterer Akteure in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR), jedoch bestehen „vor Ort“ noch erhebliche Defizite in der Individualisierung und Verzahnung der medizinischen (klinischen) und der beruflichen (arbeitsplatzbezogenen) Rehabilitation.
Die Rehabilitation erkrankter oder verletzter Menschen erschöpft sich nicht, wie dies früher vornehmlich der Fall war, in medizinischen Heilmaßnahmen. In Bezug auf die Teilhabe am Arbeitsleben sind organisatorische und technische Maßnahmen in den Betrieben Bestandteile des Konzepts. Der Gesetzgeber hat hierzu im § 84 SGB IX den Begriff „Betriebliches Eingliederungsmanagement“ eingeführt. Dieser deckt sich im Wesentlichen mit dem international gebräuchlichen Begriff des „disability management“. Hintergrund ist die Tatsache, dass die Chancen des Individuums auf Teilhabe am Arbeitsleben durch zwei Komponenten bestimmt werden, nämlich die persönliche Leistungsfähigkeit einerseits und die äußeren Bedingungen und Anforderungen, unter denen die Arbeit verrichtet werden muss, andererseits. Demzufolge kann Einfluss genommen werden durch Verringerung oder Beseitigung der Leistungseinschränkungen (medizinische Rehabilitation) und/oder durch Kompensation der Leistungsdefizite (Alles et al. 2004).
Der im Sozialgesetzbuch verankerte rechtliche Rahmen für die Struktur und Organisation der Rehabilitation ist Ausdruck einer gesellschaftlichen bzw. politischen Zielsetzung. Diese beruht zunächst auf dem ethischen Grundprinzip „Wie kann das grundrechtlich und gesetzlich verbriefte Recht behinderter Menschen zur Teilhabe am Arbeitsleben mittels Rehabilitation bedarfsgerecht eingelöst werden?“. Dieses normative Ziel steht jedoch nicht unbedingt im Einklang mit der ökonomischen Realität. Hierzu verwiesen Riedel et al. auf die „Herausforderung, in einem zunehmend fiskalisch-betriebswirtschaftlich dominierten Fördersystem die Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkte mit dem normativ-rechtlichen Anspruch aller Betroffenen auszubalancieren“ (Riedel et al. 1999).
Ökonomische Aspekte
Ausgangspunkt der ökonomischen Betrachtung sind die mit Krankheit und Invalidität verbundenen Folgekosten. Zunächst sind dies die „direkten“ Kosten der klinisch-medizinischen Akutbehandlung und die Kosten der von den Trägern der Sozialversicherung bezahlten Rehabilitationsleistungen. Letztere verteilen sich auf einen Strauß von Einzelmaßnahmen, die in Tabelle 1 aufgelistet sind.
Tab. 1: Ausgaben der Kostenträger im Jahr 2010 für Rehabilitationsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch. Die Tabelle wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Verfügung gestellt.
Ausgaben für Rehabilitation und Teilhabe (in Mio. €)1) |
2010 |
Veränd. in % zum Vorjahr |
Krankenversicherung (GKV) |
2.657 |
2,7 % |
– Anschlussrehabilitation gesamt – Stationäre Rehabilitation gesamt – Rehabilitation für Mütter und Väter – Ambulante Rehabilitation gesamt – Beiträge zur UV für Rehabilitanden – Rehasport/Funktionstraining – Sonstige ergänzende Leistungen – Leistungen in sozialpädagogische Zentren – Leistungen zur Früherkennung und Frühförderung |
1.680 318 26 107 60 134 88 166 78 |
0,0 % –1,5 % –16,1 % –1,8 % 13,2 % 31,4 % 12,8 % 1,2 % 62,5 % |
Rentenversicherung (GRV) |
5.561 |
2,3 % |
– Medizinische Reha-Leistungen – Leistungen zur Teilhabe am ... – Sonstige Leistungen – Sozialversicherungsbeiträge |
3.513 1.262 502 284 |
2,5 % 5,7 % –1,0 % –7,8 % |
Alterssicherung der Landwirte |
17,1 |
1,8 % |
Unfallversicherung (GUV)2) |
3.677 |
6,5 % |
– Ambulante Heilbehandlung und Zahnersatz – Stationäre Behandlung und häusliche Krankenpflege – Verletztengeld und besondere Unterstützung – Sonstige Heilbehandlungskosten – Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben |
1.233 1.029 584 651 180 |
6,6 % 8,4 % 4,8 % 4,7 % 7,1 % |
Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften |
311 |
1,0 % |
Bundesagentur für Arbeit |
2.415 |
1,0 % |
– Pflichtleistungen der LTA – Ermessensleistungen der LTA |
2.349 66 |
0,7 % 10,0 % |
Integrationsämter |
370 |
10,8 % |
– Begleitende Hilfe im Arbeitsleben3) – Arbeitsmarktprogramme – Sonstige Leistungen |
295 16 59 |
12,6 % 45,5 % –3,3 % |
Sozialhilfe (GSH) – Eingliederungshilfe |
13.842 |
4,2 % |
– Leistungen zur medizinischen Rehabilitation – Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – Leistungen in anerkannten WfbM – Weitere Leistungen zur Teilhabe darunter: – Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nach § 55 SGB IX – weitere Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 SGB XII – sonstige Leistungen der Eingliederungshilfe |
56 205 3.691 9.891 8.405 1.010 476 |
–3,4 % 41,4 % 6,0 % 3,0 % 3,1 % 4,3 % –0,2 % |
Ausgaben insgesamt |
28.850 |
3,7 % |
1) Abweichungen ergeben sich durch das Runden der Zahlen 2) In der DGUV kann eine Aufspaltung der Ausgaben zur Heilbehandlung und zur medizinischen Rehabilitation nicht vorgenommen werden 3) Bei den darin enthaltenen Leistungen an freie Träger der Integrationsfachdienste fehlen im Jahr 2009 die Angaben aus dem Saarland |
Diese Aufwendungen für die medizinische und berufliche Rehabilitation werden gemeinhin als Investition verstanden, mit denen die „indirekten“ volkswirtschaftlichen Kosten für
minimiert werden sollen. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Arbeitsunfähigkeit sind in Tabelle 2 anhand der amtlichen Statistik der Bundesregierung dargestellt.
Tab. 2: Produktionsausfallkosten und Ausfall an Bruttowertschöpfung nach Diagnosegruppen 2010. Aus dem Unfallverhütungsbericht Arbeit „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2010“ (BAuA 2012).
ICD 10 |
Diagnosegruppe |
Arbeitsunfähigkeitstage |
Produktionsausfallkosten |
Ausfall an Bruttowertschöpfung |
|||
Mio. |
% |
Mrd. € |
vom Brutto-nationaleinkommen in % |
Mrd. € |
vom Bruttonationaleinkommen in % |
||
V |
Psychische und Verhaltensstörungen |
53,5 |
13,1 |
5,1 |
0,2 |
9,0 |
0,4 |
IX |
Krankheiten des Kreislaufsystems |
24,0 |
5,9 |
2,3 |
0,1 |
4,0 |
0,2 |
X |
Krankheiten des Atmungssystems |
54,0 |
13,2 |
5,2 |
0,2 |
9,0 |
0,4 |
XI |
Krankheiten des Verdauungssystems |
22,6 |
5,5 |
2,2 |
0,1 |
3,8 |
0,2 |
XIII |
Krankheiten des Muskel- Skelett-Systems und des Bindegewebes |
95,4 |
23,3 |
9,1 |
0,4 |
16,0 |
0,7 |
XIX |
Verletzungen, Vergiftungen |
49,1 |
12,0 |
4,7 |
0,2 |
8,2 |
0,3 |
alle anderen |
Übrige Krankheiten |
110,3 |
27,0 |
10,6 |
0,4 |
18,4 |
0,8 |
I – XXI |
Alle Diagnosegruppen |
408,9 |
100,0 |
39,2 |
1,6 |
68,4 |
2,8 |
In der Tabelle 3 sind die Rentenzugänge in 2010 wegen verminderter Erwerbsfähigkeit dargestellt, wobei eine monetäre Bezifferung der Kosten nicht vorliegt. Interessant ist der Vergleich der prozentualen Anteile der verschiedenen Diagnosegruppen in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeit einerseits und die Frühberentung andererseits. Während bei der Arbeitsunfähigkeit die Muskel- und Skeletterkrankungen und die Unfälle im Vordergrund stehen, also Diagnosen die in starkem Maße auch Personen im jüngeren Erwerbsalter betreffen, ist bei der Erwerbsunfähigkeit erwartungsgemäß eine größere Bedeutung der Neubildungen (Tumoren) und Kreislauf-(Herz-)Krankheiten zu beobachten. Auffällig ist allerdings die überragende Bedeutung psychischer Störungen für die vorzeitige Erwerbsunfähigkeit.
Tab. 3: Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach den vier häufigsten Diagnosegruppen 2010. Aus dem Unfallverhütungsbericht Arbeit „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2010“ (BAuA 2012).
Diagnosegruppen |
Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit 2010 |
|
absolut |
% |
|
Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes Männer Frauen |
26.494 14.204 12.290 |
14,7 15,0 14,3 |
Psychische und Verhaltensstörungen Männer Frauen |
70.946 31.698 39.248 |
39,3 33,4 45,6 |
Krankheiten des Kreislaufsystems Männer Frauen |
18.068 13.023 5.045 |
10,0 13,7 5,9 |
Neubildungen Männer Frauen |
24.036 12.349 11.687 |
13,3 13,0 13,6 |
Übrige Diagnosen Männer Frauen |
41.208 23.489 17.719 |
22,8 24,8 20,6 |
Gesamt Männer Frauen |
180.752 94.763 85.989 |
100,0 100.0 100,0 |
Streng genommen ist es aus volkswirtschaftlicher Sicht unerheblich, wer welchen Anteil der direkten Kosten (Behandlung, Rehabilitationsleistungen, Lohnersatzleistungen) oder der indirekten Kosten (Beitragsausfall, Belastung der Angehörigen usw.) verbucht. Entscheidend ist der Produktionsausfall, also die Minderung des Bruttosozialprodukts. Insofern ist die Gesellschaft insgesamt (vertreten durch die Politik) der Hauptinteressent einer gelungenen medizinischen und beruflichen Rehabilitation.
Bei den einzelnen Akteuren im komplexen System der Rehabilitation ist allerdings der gesamtwirtschaftliche Ressourcenverbrauch nicht von primärem Interesse, sondern vielmehr partikuläre betriebswirtschaftliche Aspekte. Nichtmonetäre „ethische“ Aspekte sind (überspitzt betrachtet) allenfalls für die betroffene erkrankte bzw. verunfallte Person selbst von Bedeutung, etwa im Sinne der in der sozialmedizinischen Evaluation beliebten „Qualitätsadjustierten Lebensjahre (QALY)“. Allenfalls spielen die nichtmonetären Aspekte für die näheren Angehörigen oder bei den medizinischen Behandelnden (einschließlich Nichtärzten) im Zusammenhang mit dem ärztlichen Ethos eine Rolle, wobei letztere aktuell einem zunehmenden wirtschaftlichen Leistungsdruck ausgesetzt sind.
Um die Funktionsweise der medizinischen und beruflichen Rehabilitation zu begreifen und Verbesserungen erfolgreich umzusetzen, ist es erforderlich, die unterschiedlichen Einzelperspektiven der Akteure und somit deren Motivation zu begreifen. Eine sehr umfassende Darstellung dieser Sichtweisen wurde vor einigen Jahren von der „AG Reha-Ökonomie im Förderschwerpunkt Rehabilitationswissenschaften“ veröffentlicht (Hessel et al. 1999), auf welcher die folgende Zusammenfassung basiert:
Die Perspektive der Sozialleistungsträger wird wesentlich durch ihren gesetzlichen Auftrag bestimmt. Im Gegensatz zur gesellschaftlichen Perspektive ist aus Sicht eines Sozialleistungsträgers im Allgemeinen nicht der tatsächliche (volkswirtschaftliche) Ressourcenverbrauch von Bedeutung. Im Hinblick auf den gesetzlichen Auftrag geht beispielsweise bei einem Rentenversicherungsträger lediglich ein Teil des tatsächlichen Ressourcenverbrauchs in das Kalkül ein, nämlich der mit Berufs- und Erwerbsunfähigkeit verbundene Ressourcenausfall, hingegen nicht die direkten medizinischen Kosten. Kosten, die bei anderen Sozialleistungsträgern entstehen (oder eingespart werden) sind bei der isolierten Perspektive eines spezifischen Sozialleistungsträgers unerheblich. Aus einer engeren haushaltspolitischen Betrachtung geht es einem Sozialleistungsträger nicht um die volkswirtschaftliche Bewertung des Ressourcenausfalls, sondern um seine Ausgaben- und Einnahmesituation.
Insoweit Teile der Ressourcenverbräuche über Zuzahlungen von Patienten getragen werden, sind sie aus einer reinen Sozialleistungsträger-Perspektive unerheblich. Auch nicht-medizinische Kosten werden hier vielfach unerheblich sein, da sie von anderen Akteuren (Angehörige, Patienten) getragen werden. Der Haushalt des Renten- oder Krankenversicherungsträgers wird auch nicht durch die Produktionsausfälle „an sich“ belastet, sondern durch die hieraus resultierenden Zahlungen an Sozialleistungen sowie die aus Arbeitsunfähigkeit und Zeiten des Rentenbezugs resultierenden Minderungen von Beitragseinnahmen.
Aus Sicht der Arbeitgeber sind nur solche Ressourcenverbräuche relevant, die von ihnen zu tragen sind. Medizinische Kosten fallen daher nicht an; die zusätzliche Belastung durch die Beteiligung an den Beiträgen zur Sozialversicherung ist eher marginal. Von erheblicher Bedeutung sind demgegenüber Kosten der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall sowie bei Teilnahme an Maßnahmen der Vorsorge oder Rehabilitation. Zudem entstehen Friktionskosten durch den Ausfall der Arbeitskräfte. Die aus gesellschaftlicher Sicht relevanten Ausfälle an Sozialprodukt sind hingegen aus der Arbeitgeber-Perspektive unerheblich.
Unternehmerische Bemühungen um die Gesundheit der Arbeitnehmer können einen Wettbewerbsparameter in der Konkurrenz um besonders qualifizierte Arbeitnehmer darstellen. Dieses Motiv hängt jedoch in starkem Maß vom aktuellen Arbeitsmarkt ab (Verfügbarkeit von Ersatz) und ist auf leistungsstarke Arbeitskräfte fokussiert. Insoweit sind die Arbeitgeber gegenüber Effekten jenseits der Kosten von Entgeltfortzahlung und jenseits der Friktionskosten indifferent.
Die Leistungserbringer (z. B. Rehabilitationskliniken) zielen insbesondere auf die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Der Träger der Einrichtung wird sein Agieren auf den Modus der Patientenrekrutierung ausrichten, d. h. von der Frage abhängig machen, ob er eher den Patienten oder eher den die Belegung vornehmenden Kostenträger als „Kunden“ ansieht. Für die Patientenzufriedenheit sind u. a. Aspekte wie die Qualität der „Hotelleistungen“ und das Freizeitangebot während der Rehabilitationsmaßnahme von Bedeutung.
Für Patienten sind nicht die medizinischen Kosten oder die volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle, sondern (nur) diejenigen Kosten relevant, die sie selber zu tragen haben, also Zuzahlungen oder Kosten für Maßnahmen außerhalb der Leistungspflicht der Kostenträger (z. B. bestimmte alternative Heilmethoden). Wichtig sind nicht-medizinische Kosten sowie Einkommensausfälle infolge von Krankheit und/oder Teilnahme an Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen.
Für die Angehörigen fallen ggf. nicht-medizinische Kosten (z. B. Kinderbetreuung, Haushaltshilfe) an, zudem kann die eigene Lebensqualität im Zuge der Krankheit und Intervention tangiert sein.
Der gesellschaftliche Nutzen einer erfolgreichen medizinischen und beruflichen Rehabilitation ist unbestritten. In einigen Studien ist belegt worden, dass eine Investition in Prävention und Rehabilitation das Mehrfache an volkswirtschaftlichem Gewinn („return of investment“) hervorbringt. Im konkreten Einzelfall wird es jedoch nicht ausreichen, sich auf eine altruistische Motivation bzw. den „guten Willen“ der beteiligten Akteure zu verlassen. Vielmehr müssen deren spezifischen ökonomischen und nichtökonomischen Interessen in Einklang gebracht werden. Das komplexe bundesdeutsche System bietet zwar eine Vielzahl an Handlungs-Instrumenten, stellt aber gerade dadurch besonders hohe Anforderungen an die organisatorischen Fähigkeiten der Beteiligten „vor Ort“.
Literatur
Alles T, Czarny M, Dalitz S et al. (2004). Prävention und Rehabilitation zur Verhinderung von Erwerbsminderung. http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/fb-f321-praevention-rehabilitation-verhinderung-erwerbsminderung-prve-sgb-ix.pdf?__blob=publicationFile (Stand 01/2013)
BAuA Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2012). Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2010. Unfallverhütungsbericht Arbeit. http://www.baua.de/de/Publikationen/Fachbeitraege/Suga-2010.html (Stand 01/2013)
BMAS Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011). Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a740-nationaleraktionsplan-barrierefrei.pdf?__blob=publicationFiley (Stand 01/2013)
BMG Bundesministerium für Gesundheit (2012). Rehabilitation. http://www.bmg.bund.de/krankenversicherung/leistungen/rehabilitation.html (Stand 01/2013)
Hessel F, Kohlmann T, Krauth C, Nowy R, Seitz R, Siebert U, Wasem J (1999). Gesundheitsökonomische Evaluation in der Rehabilitation. Teil I: Prinzipien und Empfehlungen für die Leistungserfassung. http://www.mig.tu-berlin.de/fileadmin/a38331600/2008.teaching.ss/mig4/lit/Leistungserfassung.pdf (Stand 01/2013)
Riedel HP, Ellger-Rüttgardt S, Karbe H et al. (2009). Die Zukunft der beruflichen Rehabilitation Erwachsener gestalten: Acht Handlungsfelder als Ausgangspunkt für einen akteursübergreifenden Innovationsprozess. Rehabilitation 48: 375–382