Diktatur funktioniert nur so lange wie die Bevölkerung es zulässt.
Anonym
Holger Thomas Lang
Der letzte Tag
Teil 2 Die Spur des Blutes
JÖRG TALER
Menschenansammlungen von mehr als acht Personen bedürfen einer Genehmigung, welche jederzeit ohne Angabe von Gründen zurückgenommen werden kann.
Gez.
D. Hohlfelder
Präsident des Weltrepublikenverbundes
* * *
Einen Tag vorher, Freitag:
"Sie werden sehen, Frau Krämer, es wird Ihnen bei uns gefallen. Ich zeige Ihnen die Einrichtung."
Die Heimleiterin, die sich als Veronika Krapp vorgestellt hatte, führte die künftige Insassin (wir sagen "Bewohner") durch das Haus. Schön eingerichtete Zimmer. Telefon, kleine Küche, Wohnraum, Schlafzimmer.
"Das sind richtige kleine Wohnungen, nicht wahr?"
"Ich bin beeindruckt", sagte die ältere Dame ergriffen.
"Dann kommen Sie mit in mein Büro, dort können wir alles Weitere unterzeichnen. Übergabevollmachten und die ganzen anderen Unterlagen."
"Kann ich wenigstens meinen Wagen behalten?"
Die Heimleiterin zwinkerte ihr zu.
"Aber selbstverständlich können Sie das. Nur die Finanzen gehen an den Staat. Er übernimmt ja sämtliche Kosten für Sie hier."
Frieda Krämer unterzeichnete alle Dokumente, ohne sie zu lesen. Ihr Vertrauen in den Staat und den Präsidenten war groß. Vielleicht sogar zu groß.
"Sie sind dann bitte morgen gegen Mittag hier. Sie werden sich bei uns sehr wohlfühlen, das versichere ich Ihnen", verabschiedete sich die Heimleiterin herzlich.
Am Samstag parkt also die neue Heimbewohnerin ihren Wagen vor dem Heim. Es ist fünf Minuten nach zwölf Uhr.
Sie steigt aus, wuchtet ihr Gepäck aus dem Kofferraum des kleinen VW und öffnet die Eingangstür ihres neuen Zuhauses.
Am Empfang fragt sie nach der Heimleitung.
"Wer sind Sie?", fragt der Mann hinter dem Tresen mürrisch.
"Ich bin Frieda Krämer. Ich soll hier eine kleine Wohnung beziehen."
Der Mann lacht.
"Ach so ist das." Er greift kurz zum Telefon, knurrt etwas von Neuzugang und wendet sich wieder an die neue Bewohnerin.
"Man wird Sie gleich abholen und zu Ihrer Wohnung begleiten."
Wenige Minuten später erscheinen zwei stämmige junge Männer.
Mit dem Fahrstuhl fahren sie in den Keller.
Durch einen kalten, zugigen Gang gelangen sie an eine Tür. Dahinter, noch ein Gang. Einfach verputzte Wände.
"Ist dort die Aufnahme?"
Schweigen.
Ein Kontakt wird ausgelöst. Ein Stück Wand gleitet zur Seite, und die Bewohnerin blickt in eine Nische. Die Männer packen sie und schieben sie in die Nische. Das Gepäck wird ihr entrissen.
"Hilfe!", schreit Frieda. Doch niemand wird sie hören.
Die Wand gleitet hinter ihr zu.
Niemand wird sie je lebend wiedersehen.
* * *
Das gleißende Licht wird schwächer. Ich merke, dass ich normal atme.
"Wo bin ich?", frage ich schwach. Ich bin verwirrt.
"In Sicherheit, Gerd", antwortet ein Mann in weißem Kittel.
"Ich bin nicht tot?"
"Nein. Wir brauchen Dich noch." Das verstehe ich absolut nicht. Diese Aussage verwirrt mich wirklich.
Der Arzt hält mir einen Spiegel vors Gesicht: "Betrachte Dein Gesicht. Präge es Dir ein."
Ich weiß nicht, wovon er spricht.
"Du bist Gerhard Halder", spricht er weiter. "Wenn Du diesen Satz hörst, wirst Du Dich an dieses Gespräch erinnern und alles wissen."
Er zieht den Spiegel zurück.
"Was meinen Sie?", frage ich ängstlich. Ich verstehe immer weniger.
"Hab keine Angst. Es wird Dir nichts passieren. Du wirst schlafen. Es wird alles gut sein."
Mit diesen Worten tritt er an einen Instrumententisch und greift nach einer bereits fertigen Spritze.
Ich zucke zurück, als die Nadel sich meinem Arm nähert. Eine ungute Vorahnung kommt in mir auf. Sie wandelt sich in Panik.
"Ich will nicht wieder zurück in den Sarg!", schreie ich.
"Nun", erwidert er mit einem bösen Lächeln, "das möchtest Du nicht? Halt den Arm still, sonst kommst Du in den Sarg. Und dort wirst Du bleiben. Vielleicht mauern wir ihn ein oder wir stecken Dich lebendig in die Brennkammer. Wer weiß das schon? Also sei vernünftig."
Ich halte still. Die Angst lähmt mich.
Alles verschwimmt um mich. Dann verliere ich das Bewusstsein.
* * *
Ich werde nie vor diesem Mann zittern, denn ich weiß sehr viel über ihn, das das Volk nie wissen darf. Mehr als er selbst ahnt. Wenn er wüsste, was ich so alles an Informationen besitze, dann würde er noch mehr von dem tun, was ich möchte.
"Also Doktor Thiel, was war da gestern?", fragt der Präsident. Er sieht blass aus, wie immer, wenn wir uns begegnen. Das nimmt viel der Strenge. Auch deshalb nehme ich ihn nicht ernst.
"Hab's Ihnen ja gesagt. Ihre Sparmaßnahmen. Einerseits wollen Sie die Überbevölkerung in den Griff bekommen, andererseits wollen Sie eine perfekte Überwachung aus-"
"Ich habe nach dem Triebwerk gefragt", blafft er mich an. Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen.
"... dem All. Zwei Stationen wollen Sie. Eine davon ist fertig. Und wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, Herr PRÄSIDENT, dann werde ich dem Volk die Dokumente zukommen lassen, die ich in meinem Tresor habe. Selbst wenn Sie den finden, werden Sie nicht geschützt sein. Es gibt massenhaft Kopien, Daniel Hohlfelder. Möchten Sie das?"
Er zuckt zurück. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber es weicht noch mehr Farbe aus seinem Gesicht. Dass ein Mensch so blass werden kann, hätte ich nie gedacht.
"Na, sehen Sie." Ich gebe mich betont fröhlich. "Wo war ich? Äh, ach ja, Raumstationen. Aber unser schnellstes Schiff, die Space-Explorer, ist beschädigt. Und wieso? Weil wir keine guten Ersatzteile erhalten. Dann passiert es, dass Besatzungen sterben, dass Triebwerke den Geist aufgeben."
"Was benötigen Sie?"
Ich nenne diesem Wurm eine Firma, die die guten Ersatzteile produziert. Die Explorer muss bald wieder einsatzfähig sein, sonst sind wir von den Männern da oben abgeschnitten. Und sie von uns. Das würde sämtliche Pläne zerstören.
"Sie kriegen Ihre Teile. Und entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe." Es ist wunderbar, den Präsidenten so kleinlaut zu sehen. Es gibt mir jedes Mal ein Gefühl der Macht und Überlegenheit. Ich genieße es, aber heute will ich es mal nicht übertreiben. Das wäre womöglich noch kontraproduktiv. So belasse ich es dabei und ärgere ihn nicht weiter. Aber eine kleine Mahnung kann ich nicht unterdrücken.
"Weiterhin auf gute Zusammenarbeit, Präsident. Und falls Sie auf den Gedanken kommen, mich unschädlich machen zu wollen, vergessen Sie's gleich wieder. Ich besitze Ihre Listen und Tagebücher." Letzteres sage ich etwas lauter.
"Bitte, seien Sie still!", sagt er tonlos. Er zittert beinahe vor Angst. Wunderbar. So gefällt er mir und könnte mir fast sympathisch sein.
"Und übrigens, am Sonntag wird bei Minister Gröll ein kleines Treffen mit ein paar Freunden sein. Die Genehmigung wird dann vorliegen und auch nicht zurückgezogen, ist das klar?"
Er wird noch blasser, nickt aber, wendet sich ab und verlässt die Landeplattform. Ich weiß, dass ich die guten Teile bekommen werde. Dafür habe ich mich schließlich entsprechend eingesetzt und gekämpft. Wobei ich nicht so viel machen musste dafür. Das Wissen hat ja bereits gereicht, dass ich alles erreichen kann, was ich möchte. Ich werde Gröll informieren müssen, denn es wirkt, als ob Hohlfelder irgendetwas ahnt.
* * *
Der Verbindungszug zwischen der Hauptstadt und der zweitgrößten Stadt ist gerammelt voll an diesem Samstag. ‚Mir bleibt auch nichts erspart', denke ich.
Ich finde, welch Wunder, noch ein komplett freies Abteil.
Wieder habe ich Frau und Kinder nach dem Frühstück allein lassen müssen. Der Chef war eindeutig. Ich sollte mir hier ein Abteil suchen, man würde mich finden.
Die Abteiltür wird aufgerissen und ein Mann mit Maske betritt das Abteil.
"Guten Morgen, Gröll", sagt er freundlich und setzt sich.
"Morgen, Exzellenz." Ich kenne den Mann nur unter diesem Namen.
"Was Neues in der Sache Hohlfelder?", fragt er mich.
"Ich habe ihn gestern getroffen. Ich glaube, man kommt mir auf die Spur. Er hat mich sehr deutlich auf die Folgen hingewiesen, wenn ich sein Spiel nicht mitspiele."
"Das regeln wir. Noch etwas?"
"Wir haben einen neuen Mann in der Organisation. Er heißt Roland Schader. Identitätskonvertierung, aber dazu kann ich nicht viel sagen, bisher."
"Gute Arbeit, Gröll. Der Zug hält gleich. Steigen Sie aus. Ein Taxi, die Nummer 488, bringt Sie zurück in die Hauptstadt. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Von meinem Stellvertreter erwarte ich erstklassige Arbeit. Aber das wissen Sie ja. Bisher gab es nichts zu beanstanden. Ich aktiviere jetzt wieder die Abhörvorrichtung dieses Abteils."
‚Wer ist dieser Mann?', denke ich.
Bevor ich mich verabschieden kann, verlässt er das Abteil.
* * *
Ich weiß immer noch nicht, was ich von dem gerade Erlebten halten soll.
War das echt? War das die Realität?
Das kann ja fast nicht sein. Ich wäre demnach über 400 Jahre alt. Das kann nur ein Traum gewesen sein. Aber das am Ende? Die Frage nach dem Triebwerk? Ich muss schnellstmöglich mit dem Schiffsführer sprechen.
* * *
"Herr Schader." Jemand rüttelt mich. "Wachen Sie auf, Herr Schader. Es geht Ihnen gut. Sie sind im Krankenhaus."
"Schader? Ich erinnere mich nicht."
"Das kommt wieder." Ich sehe einen Mann in weißem Kittel an meinem Bett stehen. "Keine Aufregung. Sie sind zusammengebrochen und waren bewusstlos. Wir haben Ihren Kreislauf stabilisiert." Er deutet auf die Einstichstelle in meinem Arm. "Sie haben sich eine Verletzung über dem linken Auge zugezogen. Das wird ein wenig jucken in nächster Zeit, aber es gibt sich."
"Muss ich hierbleiben?", frage ich. Langsam kehrt die Erinnerung zurück. Ich erinnere mich, dass ich auf der Straße gestürzt bin, aber ich weiß nicht warum. Auch mein Name fällt mir wieder ein. Roland Schader, Mitarbeiter in der Computerabteilung der Regierung.
"Wir machen noch einige Tests, Herr Schader. Aber ich denke, wir können Sie dann entlassen."
"Ich erinnere mich wieder an den Unfall", erkläre ich leise. "Ich bin 49, richtig? 49 Jahre alt."
"Das ist richtig, Herr Schader. Und nun legen Sie sich bitte auf den Rücken. Ich untersuche Sie rasch, bevor ich Ihre Entlassungspapiere fertigmache."
Ich lege mich zurück und lasse die Untersuchung über mich ergehen.
* * *
Zurück in meinem Büro sehe ich wieder aus dem Fenster. Dann ziehe ich ein kleines Gerät aus der Tasche und tippe eine kurze Nachricht, die verschlüsselt übertragen werden wird.
Ich sende sie ab und verstaue das kleine Gerät wieder in der Tasche. Mein Auge juckt wieder. Dieser verdammte Unfall, damals. Hoffentlich hört das bald mal auf. Die Ärzte haben ja gesagt, dass es nicht ewig dauern wird, aber langsam glaube ich, dass das für immer bleibt. Es wird noch nicht einmal seltener. Sonst würde ich das ja glauben, aber so fällt mir das doch ziemlich schwer. Allerdings habe ich auch keinen Gegenbeweis. Vielleicht sollte ich es glauben und darauf vertrauen, dass es irgendwann aufhört. Das Jucken ist wirklich unangenehm. Aber immerhin sind es keine Schmerzen.
Den ganzen Tag grüble ich schon über einen Namen: Special Agent James Taylor. Wo habe ich diesen Namen und die Bezeichnung schon gehört? Noch dazu, da ja im Weltrepublikenverbund kein Englisch oder gar diese Bezeichnungen erlaubt sind. Wenn es wenigstens eine deutsche Bezeichnung wäre. Aber nein, es muss Englisch sein.
Ein kurzes, aber heftiges Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken. Bis ich gedanklich ganz angekommen bin, wird die Türe auch schon aufgeschoben.
"Ah, wieder da, Taler?", fragt einer unserer Wachleute, den ich privat kenne.
"Ja, sicher. Komm rein und mach die Tür zu."
Nachdem sich der Mann gesetzt hat, legt er einige Unterlagen auf den Tisch.
"Eine Mitarbeiterin Deines Stabes möchte heiraten und bittet darum, zu Ihrem Partner ziehen zu dürfen."
Ich werfe einen Blick auf die Dokumente. Die Folterung an Schulz fällt mir wieder ein und der Tag ist verdorben.