Dr. Norden Bestseller
– Box 11 –

E-Book 56-60

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-933-3

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Leseprobe:
E-Book 51-55

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist.

Es gibt noch Liebe, Natalie

Wieder einmal, wie schon oft, wurde Dr. Daniel Norden die Gewissensfrage gestellt, als er Arnold Westenried empfahl, sich doch einer Kur zu unterziehen.

»Dafür habe ich keine Zeit«, sagte der berühmte Wissenschaftler, Prof. Dr. Westenried. Sagen Sie mir lieber, wieviel Zeit ich noch habe, um alle wichtigen Angelegenheiten zu ordnen. Wir brauchen uns nichts vorzumachen, lieber Dr. Norden. Als Chemiker weiß ich recht gut, mit welchen Medikamenten ich gefüttert werde und immer kann ich noch klar denken. Aber wie lange noch?«

Arnold Westenried, ein hochgewachsener Mann, Anfang sechzig, sah nicht eigentlich krank aus. Er hatte in letzter Zeit einige Kilo abgenommen, und sein markantes Gesicht war hagerer geworden, aber er hielt sich aufrecht. Er hatte eine ungeheure Selbstbeherrschung, und selbst seine engsten Mitarbeiter, schon gar nicht seine Tochter Natalie, hatten die geringste Ahnung, daß er eine tödliche Krankheit in sich trug.

Sein ungeheurer Lebenswille half ihm über schlimme Stadien dieser Krankheit hinweg, denn seine größte Sorge galt nicht sich selbst, sondern seiner Tochter und seiner Fabrik. Er wünschte, daß Natalie ihr Studium abschloß und auf eigenen Füßen stehen konnte, ja, daß sie dem Werk als Chemikerin auch nützen konnte. Insgeheim wünschte er ihr einen Partner, der ihr dabei helfen würde.

Sich selbst machte er schon lange nichts mehr vor, aber er resignierte nicht. Dr. Norden wußte, daß dieser Mann sich nicht täuschen ließ.

»Es ist schwer zu sagen«, erklärte er. »Kein Arzt könnte das.«

Arnold Westenried lächelte flüchtig, und Dr. Norden fand es bewundernswert, daß er in dieser Situation noch ein Lächeln zustande brachte.

»Mit mir bin ich im reinen«, sagte Arnold Westenried. »Mit drei Monaten möchte ich schon noch rechnen.«

»Auch länger«, sagte Dr. Norden.

»Hoffentlich steht mir nicht ein elendes, langsames Sterben bevor, das Natalie mitleiden müßte. Sie werden sich doch um sie kümmern, wenn es soweit ist? Ich bitte Sie, lieber Norden, ihr dann zu sagen, daß ich es schon lange wußte. Mir liegt es nicht, sentimentale Briefe zu schreiben. Für mich wäre es eine Beruhigung, wenn ein Mann ihr zur Seite stehen würde, auf den Verlaß ist. Ja, ich hoffe, daß dieser Jonson der Richtige ist.«

»Heißt er nicht Gordon?« fragte Dr. Norden irritiert, da er Tim Gordon kannte und wußte, daß er mit Natalie befreundet war.

»Gordon ist ein Träumer«, sagte Arnold Westenried. »Dr. Jonson, den ich kürzlich eingestellt habe, ist ein zielstrebiger, energischer Mann, dem ich zutraue, ein großes Unternehmen zu leiten. Gegen Tim Gordon habe ich sonst nichts. Er ist ein begabter Chemiker, aber er verplempert viel Zeit mit seiner angeblichen Erfindung, von der ich mir keinerlei Erfolg verspreche. Aber ich halte Sie mit meinen Privatangelegenheiten auf.«

»Keineswegs«, erwiderte Daniel Norden.

»Danke für Ihr Verständnis. Sie sind doch der einzige, mit dem ich vorbehaltlos sprechen kann. Noch trage ich ja alle Verantwortung, und ich bin froh, daß mir das noch möglich ist. Ich kenne Jonson noch nicht gut genug. Er ist nicht leicht durchschaubar und vielleicht ein wenig zu ehrgeizig. Aber er scheint Natalie zu gefallen.« Wieder lächelte er flüchtig. »Wenn ich bedenke, daß meine Tochter nur mir zuliebe Chemie studiert hat und viel lieber Ärztin geworden wäre, muß ich sagen, daß ich sehr stolz bin, welch ein verblüffendes Wissen sie bereits besitzt. Freilich wünsche ich mir, daß sie auch als Frau glücklich wird. Tim Gordon ist zu verschlossen.«

»Aber im Werk ist er doch sehr beliebt«, wagte Dr. Norden einen Einwurf.

»Zugegeben. Er setzt sich mit den Arbeitern an einen Tisch. Dagegen wäre auch nichts einzuwenden, aber wenn man einmal die Fäden in der Hand halten will, muß man sich Respekt verschaffen.«

Dr. Norden wußte, daß Arnold Westenried sich solchen Respekt verschafft hatte. Er wußte auch, daß er kein unsozialer Arbeitgeber und nicht nur auf seinen Profit bedacht war. Er war ein Realist, Tim Gordon war ein Idealist.

Noch lange, nachdem Arnold Westenried ihn verlassen hatte, machte sich Dr. Norden Gedanken darüber, ob dieser Jonson auch Natalie so beeindruckt hatte, daß Tim Gordon ins Hintertreffen geriet, denn ihm war es auch bekannt, daß Tim Natalie über alles liebte.

Das hatte er erfahren, als Tim sich bei einem Experiment verletzt hatte. Seine größte Sorge war gewesen, daß er blind werden und Natalie sich dann von ihm abwenden würde. Glücklicherweise hatte er nur eine Netzhautentzündung davongetragen und schon nach wenigen Tagen wieder sehen können.

Nun gab es da also einen anderen Mann, und wenn Natalie sich tatsächlich ernsthaft für diesen interessierte, mochte dies Tim Gordon wohl erschüttern.

*

Anfangs hatte Tim sich keine Gedanken gemacht, als Dr. Wolf Jonson als Chemiker in den Westenried-Werken eingestellt wurde. Er war in einer anderen Abteilung als er selbst beschäftigt. An seinem Wissen schien nichts auszusetzen zu sein und seine Mitarbeiter bezeichneten ihn als Streber.

Äußerlich war er ein sehr interessanter Mann, für seine noch jungen Jahre schon eine Persönlichkeit. Tim Gordon konnte man nicht als solche bezeichnen. Er war eher ein jungenhafter Typ, gut mittelgroß, schlank, ein bißchen schlacksig und nicht auf ein forsches Auftreten bedacht. Mit seinen rotbraunen Haaren, den großen grauen und hellwachen Augen, der etwas kurzen Nase, war er gewiß nicht besonders attraktiv zu nennen, aber wenn sein schmallippiger Mund lachte und er seine wunderschönen, ebenmäßigen Zähne zeigte, konnte er doch so manches Mädchenherz begeistern.

Er hatte Natalie auf der Universität kennengelernt, als er schon im sechsten Semester war und sie gerade hineinschnüffelte, wie er es nannte. Sie hatte Anfangsschwierigkeiten, weil sie sich insgeheim doch gewünscht hatte, lieber Medizin zu studieren. Aber Tim hatte es verstanden, sie für die Chemie zu begeistern. Ja, eigentlich war er es, dem Arnold Westenried dies zu verdanken hatte, aber Tim wäre es peinlich gewesen, dies anerkannt zu wissen.

Sein Vater hatte es zum Amtmann gebracht. Er lebte bei seinen Eltern in einem hübschen Haus, in geordneten Verhältnissen, in gutem Einvernehmen mit Vater und Mutter. Geschenkt war ihm nichts worden, denn seine Eltern hatte es verblüfft, daß er Chemie studieren wollte, anstatt auch Beamter zu werden. Sie hatten ihm nichts in den Weg gelegt, denn ihr Sohn war ein glänzender Schüler gewesen. Mit den Fremdsprachen hatte es anfangs ein bißchen gehapert, aber als Tim begriffen hatte, daß er auch die zu einer guten Abiturnote brauchte, hatte er sich auf den Hosenboden gesetzt.

Er war gefördert worden, weil alle seine Lehrer ihm ein glänzendes Zeugnis ausstellten. Seine Kameradschaftlichkeit und seine Hilfsbereitschaft hatten ihn auch bei den Mitschülern und später auf der Universität beliebt gemacht.

Daß Arnold Westenried ihn als Träumer bezeichnete, stimmte nicht ganz. Er mochte so erscheinen, weil er mit seinen Gedanken immer bei der Arbeit war, die er gerade ausführen wollte. Da konnte es schon sein, daß er sich ganz zurückzog.

Als er dann aber eines Tages bemerkte, daß Dr. Jonson und Natalie schon recht vertraut miteinander waren, gab es ihm doch einen gewaltigen Stich.

Er hätte nicht gewagt, Natalie zu sagen, daß er sie liebte. Sie waren zwar gute Freunde, aber für ihn war sie doch die Tochter seines Chefs. Und er hatte die gutbezahlte Stellung durch ihre Fürsprache bekommen, was ihm nie so recht behagt hatte. Doch besessen von seinem Beruf, hatte er die Chance dann wahrgenommen, denn wo sonst wurden ihm Möglichkeiten zu seiner Weiterentwicklung in diesem Maße geboten.

Dr. Wolf Jonson war ein ganz anderer Typ. Er beeindruckte schon durch seine äußere Erscheinung. Er war groß, breitschultrig, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, sehr reserviert, auch Frauen gegenüber. Er hatte anscheinend nur Interesse für seinen Beruf, und das hatte sogar Arnold Westenried imponiert, der doch in jungen Jahren auch andere Interessen gehabt hatte, als nur die Chemie.

Allerdings war er in diesen Beruf hineingeboren, wie es sich erwiesen hatte. Dr. Jonson war in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen wie Tim Gordon. Allerdings wußte das niemand. Wolf Jonson sprach nie über sich.

Natalie Westenried lernte ihn erst kennen, als er schon sechs Wochen in der Fabrik ihres Vaters tätig war. Sie hatte einen längeren Urlaub bei ihrer Tante Nanni verbracht, nachdem sie ihr Examen gemacht hatte.

Tante Nanni fand es schrecklich, daß ihre reizende Nichte Chemikerin geworden war. Eigentlich war sie eine Großtante, und die Witwe vom Gründer der Westenried-Werke, die zu ihrem großen Schmerz ihren einzigen Sohn schon im Kindesalter verloren hatte. Deshalb war dann Arnold der Erbe geworden.

Sie liebte Natalie, und deshalb fügte sie sich in das Unvermeidliche, und Natalie liebte ihre Tante, die anspruchslos für sich selbst auf dem Lande lebte, umgeben von Tieren, in dem alten Gutshaus, das sie von ihren Eltern ererbt hatte. Tante Nanni wollte von der Chemie und allem Fortschritt nichts wissen. Sie züchtete ihr Gemüse selbst und hatte einen herrlichen Blumengarten.

Mit ihrem Mann hatte sie, trotz des großen Altersunterschiedes, in einer glücklichen Ehe gelebt, obgleich sie nicht viel Verständnis für seinen Beruf aufbrachte, und er ihr vergeblich klarzumachen suchte, daß die Chemie auch nützlich für die Natur sein konnte, und daß sie schließlich auch dazu beitrug, daß Menschenleben verlängert werden konnten. Sie hatte diesbezüglich ihre eigenen Ansichten und hielt damit nicht hinter dem Berg. Sie sah sich bestätigt, als ihr Mann dann plötzlich an einem Herzinfarkt starb. Ihm hatte kein Arzt helfen können und keine Arzneimittel. Sie konnte die Ärzte fortan nicht mehr leiden, bis ihr dann Dr. Friedrich Norden, den sie zufällig kennenlernte, half, sie von ihrem Heuschnupfen, der Migräne und dem seelischen Kummer zu befreien, den der Tod ihres Mannes nach sich gezogen hatte.

Tante Nanni hatte Dr. Friedrich Norden, Daniels Vater, überaus geschätzt, und sie hatte auch ihn tief betrauert, als er starb. Inzwischen hatte sie sich aber doch dazu durchgerungen, das zu glauben, was Dr. Friedrich Norden ihr so oft gesagt hatte: Nämlich, daß jeder Mensch dann diese Welt verlassen mußte, wann es ihm vorbestimmt sei. Sie hatte sich nur noch mehr in ihre ländliche Einsamkeit zurückgezogen.

Arnold Westenried hatte von seinem Onkel, dessen Mitarbeiter er schon lange war, die Fabrik geerbt, von der Tante Nanni nichts wissen wollte. Sie jedoch hatte sich Natalies innige Liebe erobert, denn deren Mutter hatte Mann und Kind verlassen, als Natalie gerade erst zehn Jahre alt war, um einem anderen Mann zu folgen, dem Arbeit nicht Lebensinhalt, sondern nur notwendiges Übel erschien, und der so viel Geld besaß, daß er andere für sich arbeiten lassen konnte, ohne etwas einzubüßen.

Tante Nanni hatte Georgina zum Teufel gewünscht, als diese einen bestürzten Mann und ein völlig verstörtes Kind auf Nimmerwiedersehen verließ. Die Scheidung hatte dennoch Aufsehen erregt. Nanni hatte Natalie zu sich genommen, und sich dann sogar dazu aufgerafft, wieder in die Stadt zu ziehen, bis Natalie das Gymnasium absolviert hatte.

Während dieser Zeit hatte sie nach anfänglichem Zögern, Dr. Daniel Norden zum Hausarzt erwählt. Zögernd deshalb, weil er ihr ein bißchen zu gut aussah und ein bißchen zu sehr von den Frauen umschwärmt wurde. Dann aber hatte sie in ihm den Sohn seines Vaters kennengelernt, einen Sohn, auf den Dr. Friedrich Norden stolz sein konnte denn Daniel hatte mit seinem Schwiegervater Dr. Johannes Cornelius den langgehegten Wunschtraum seines Vaters Wirklichkeit werden lassen und das Sanatorium »Insel der Hoffnung« aufgebaut.

Dort weilte Tante Nanni jedes Jahr sechs Wochen und schöpfte neue Kräfte, um für ihre geliebte kleine Natalie dazusein, denn sie war die einzige, die zumindest ahnte, daß es auch mir Arnold Westenrieds Gesundheit nicht gut bestellt war.

Die »kleine« Natalie war inzwischen allerdings zu einer sehr attraktiven und sehr klugen jungen Dame herangewachsen und auch Tante Nanni sorgte sich, daß sie an den falschen Mann geraten könnte. Sie jedoch hielt Tim Gordon für den richtigen! Das aber behielt sie

hübsch für sich, denn ihrer Ansicht nach brauchte Natalie nicht so bald zu heiraten. Und noch wußte sie gar nichts über Dr. Wolf Jonson, denn jetzt weilte sie wieder auf der »Insel der Hoffnung« und ließ sich als sehr beliebter Stammgast pflegen und verwöhnen. Krank war sie ja nie mehr gewesen, seit Dr. Friedrich Norden sie kuriert hatte, aber sie wollte lieber vorbeugen, als ahne sie, daß Natalie sie eines Tages wohl am nötigsten brauchen würde.

Vor allem aber war sie sehr gern auf der Insel, die für sie, neben ihrem eigenen Besitz, das schönste Stückchen Erde unter Gottes weitem Himmel war, und Dr. Cornelius mit seiner Frau Anne konnten sich ihrer Sympathie erfreuen. Das bedeutete sehr viel, denn mehr als ein halbes Dutzend Menschen wurden solcher nicht teilhaftig.

Auf der Insel der Hoffnung hatte sie dann allerdings erfahren, daß Arnold krank war, und das war so gekommen: Dr. Daniel Norden, seine Frau Fee und die Kinder Danny, Felix und Anneka verbrachten ein Wochenende bei den Eltern. Es war selbstverständlich, daß Tante Nanni da nicht abseits stehen mußte. Rein narrisch war sie mit den entzückenden Kindern. Wenn Danny und Felix mit Dr. Cornelius Adoptivsohn Mario herumtollten, schob sie das Baby Annekatrin, das kurz Anneka genannt wurde, weil Danny das so eingeführt hatte, im Park spazieren und so hatten Fee und Daniel ungestörte Stunden mit Dr. Cornelius und seiner zweiten Frau Anne, die für Fee Norden Freundin und Mutter zugleich geworden war.

Am Abend, als die Kinder schliefen, konnte Tante Nanni dann als gerngesehener Gast mit am Familientisch sitzen und das genoß sie auch.

Daniel begleitete sie gegen zehn Uhr zu ihrem Appartement. Auf der Insel der Hoffnung gab es kein riesiges Haus, sondern viele kleine, die ganz individuell eingerichtet waren. Es hatte freilich beträchtliche Kosten verursacht, Dr. Friedrich Nordens Pläne zu verwirklichen, denn er war von dem Standpunkt ausgegangen, daß sich die Patienten nur dann richtig erholen könnten, wenn sie sich nicht als eine Nummer fühlen mußten.

Der Erfolg gab ihm recht, und Tante Nanni, als eine seiner treuesten Anhängerinnen, nützte jede Gelegenheit, um seinem Sohn dies zu sagen.

Dr. Daniel Norden unterhielt sich gern mit ihr. Sie war keine alte Dame, obgleich sie nun mittlerweile auch auf die Siebzig zuging. Sie war ein schlankes Persönchen mit silberweißem Haar, violetten Augen, noch glatter Haut, der man ansah, daß sie sich viel in frischer Luft bewegte.

Daniel hatte ihr den Arm geboten, als sie nach draußen gingen. Die anderen blickten ihnen lächelnd nach.

»Sie hat ihre Zuneigung für Friedrich auf Daniel übertragen«, sagte Dr. Cornelius. »Es freut mich.«

»Auf die nächste Generation auch schon», warf Anne ein. »Sie ist ganz weg mit den Kindern.«

»Sie ist so lieb«, sagte Fee. »Es ist ein Jammer, daß solche Frauen keine eigenen Kinder haben.«

»Es ist Schicksal, Fee«, entgegnete Dr. Cornelius.

»Ein ungerechtes Schicksal, Paps«, meinte Fee.

»Sie hat wenigstens Natalie«, erwiderte Anne.

Über Natalie hatte Tante Nanni auch zuerst gesprochen, als sie langsam mit Daniel durch den Park ging. Er hatte es auch nicht eilig. Er hatte Nanni gern, und nicht nur deshalb, weil sie immer noch so liebevoll über seinen Vater sprach.

Dann aber wurde ihm das Thema doch unbehaglich, als Nanni es ziemlich abrupt wechselte.

»Was fehlt eigentlich Arnold?« fragte Nanni sehr direkt.

Die Frage kam zu plötzlich. Er wollte sich eine möglichst diplomatische Antwort zurechtlegen, aber Nanni hatte ein feines Gespür.

»Sie brauchen nicht lange herumzureden, lieber Dr. Norden. Ich habe Augen im Kopf, und ich sehe ihn nicht täglich. Als er Natalie abholte, sah er sehr elend aus.«

»Er arbeitet zuviel«, sagte Daniel.

»Papperlapapp, mir brauchen Sie nichts vorzumachen. Die Arbeit hat ihm nie was ausgemacht. Da war er genau wie mein guter Wilhelm. Und über Georginas abscheuliches Verhalten ist er längst hinweg. Sie ist übrigens vor drei Monaten gestorben. Es wurde mir mitgeteilt. Sie war schon zum dritten Mal verheiratet und auch da wieder geschieden. Sie hat ihren Nachlaß Natalie vermacht, aber das habe ich noch für mich behalten. Finden Sie das unrecht?«

»Ich nicht, aber wie ist das von Rechts wegen?«

»Mein Anwalt sagt, daß es in diesem Fall in Ordnung ist, denn sie hat mich zur Vermögensverwalterin eingesetzt. Ich war natürlich sehr erstaunt. Sie hat allerhand auf die Seite gebracht, sich immer reiche Männer geangelt und die tüchtig blechen lassen. Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Das nehmen Sie mir doch nicht übel?«

»Aber nein, wir kennen uns ja schon lange genug.« Er lächelte aus seiner beträchtlichen Höhe auf sie herab.

»Ich trauere ihr nicht nach«, sagte Nanni. »Ich kann es ihr nicht verzeihen, daß sie ihr Kind verlassen hat, aber etwas versöhnt es mich doch, daß sie Natalie nicht vergessen hat. Und warum soll das Kind nicht wenigstens das Geld bekommen, das Georgina gescheffelt hat.«

»Das Kind ist vierundzwanzig Jahre, Frau Westenried«, sagte Daniel.

»Meinetwegen. Für mich ist sie das Kind und bleibt es. Und Georginas Geld soll sie erst bekommen, wenn Arnold nicht mehr lebt. Georgina hat wohl, und das mit Recht, gemeint, daß er dieses Erbe ablehnen wird.«

»Rechtlich gesehen kann er das nicht, da Natalie mündig ist«, sagte Dr. Norden.

»Weiß ich, weiß ich alles«, sagte Tante Nanni. »Aber er hätte Natalie beschwatzt, das Erbe abzulehnen, oder es für irgend so eine Organisation zu spenden. Ich kenne Arnold. Es sind immer die Falschen, für die er mal was spendet, bloß weil er das dann auch wieder von der Steuer absetzen kann.«

Dr. Norden mußte lächeln, aber er widersprach Nanni nicht. Und dann fuhrt sie fort: »Er ist in letzter Zeit sowieso so eigenartig. Dauernd rennt er auf den Friedhof und sogar in die Kirche, und kürzlich war er sogar an Wilhelms Grab und mich hat er am Friedhofseingang überhaupt nicht gesehen.«

»Haben Sie ihn denn nicht angesprochen, Frau Westenried?«

»Sagen Sie doch einfach auch Nanni, Daniel«, sagte sie. »Ich mag Sie alles so gern. Ich mag auch Arnold, aber da, an dem Tag war ich so erschrocken, daß ich kein Wort herausgebracht habe. Wie sein eigener Geist sah er aus, so, wie mein guter Will, als er seine letzten Atemzüge tat. Mir kann es keiner ausreden, daß er krank ist, auch Sie nicht, Daniel. Ihr Vater war mein guter Freund. Er hat immer zu mir gesagt: Nanni, irgendwann ist jedes Lebens zu Ende. Und wenn es soweit ist, spürt man es selbst und das drückt sich im Wesen aus. Aber die anderen spüren es nur, wenn der Tod ihnen schon einen oder ein paar Menschen weggeholt hat.« Sie machte eine kleine Pause. »Ihr Vater war ein kluger Mann, Daniel. Klüger als mein Will. Der kannte seine Chemie, und Ihr Vater kannte die Menschen. Ja, mit dem lieben Friedrich Norden hätte ich mein Leben schon gern beschlossen, aber den hat der Herrgott auch so geliebt, daß er ihn zu früh geholt hat. Und nun wird er da droben mit meinem Will sitzen und vielleicht schimpfen, was seine Alte für Unsinn redet.«

»Er wird bestimmt nicht schimpfen, Nanni«, sagte Daniel. »Er wird nur stolz auf Sie sein.«

Sie blieb stehen und blickte zu ihm empor. »Sie lächeln gar nicht über mich und meine Gedanken, Daniel«, staunte sie.

»Wie könnte ich das? Ich halte auch manchmal Zwiesprache mit meinem Vater, wenn ich unsicher bin oder wissen will, ob er zufrieden mit mir ist.«

»Bekommen Sie Antwort?« fragte Nanni.

»Nicht direkt. Aber ich werde ruhiger, wenn ich an ihn denke und mich frage, wie er dies oder jenes gemacht hätte.«

»Und ich rede halt mit meinem Will, und ich träume von ihm. Und neulich Nacht hab’ ich geträumt, daß er gesagt hat, daß nun Arnold bald auch bei ihm sein wird. Und ich sollte an meine Gesundheit denken und auf Natalie aufpassen. Und als ich Arnold auf dem Friedhof gesehen habe, dachte ich mir, daß ihm Will vielleicht auch im Traum erschienen ist. Also, was fehlt Arnold?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ach so, wegen der Schweigepflicht«, sagte Nanni. »Aber daß Sie das gesagt haben, sagt mir schon genug. Will hat recht, Natalie wird mich brauchen.«

»Natalie hat Sie doch immer gebraucht, Nanni«, sagte Daniel.

»Aber sie hatte immer ihren Vater, und sie liebt ihren Vater. Er wird am zwanzigsten September sterben wie mein Will. Sie können an mich denken, Dr. Norden. Daniel wollte ich sagen. Manchmal bin ich halt ein bißchen wunderlich, aber das machen die Träume. Sonst ist bei mir alles in Ordnung.«

»Das weiß ich«, sagte Daniel, der doch ziemlich bestürzt war von ihrem Reden. »Ja, Nanni, er ist krank, aber bei seiner Energie kann er noch lange leben.«

»Bis zum zwanzigsten September«, sagte sie leise. »Noch knappe fünf Monate. Danke Daniel, nun weiß ich, wie ich mich verhalten muß. Und Sie werden am zwanzigsten September an mich denken?«

Ein wenig unheimlich war sie Daniel an diesem Abend doch gewesen, aber mit Fee hatte er darüber nicht gesprochen.

Erst, als sie wieder daheim waren, hatte er seine Frau gefragt, was sie von Träumen halte.

Fee hatte ihn irritiert angesehen. »Das weißt du doch, Daniel. Ich habe manchmal wilde Träume«, hatte sie erwidert.

»Aber doch nur wirre«, meinte er. »Glaubst du, daß man ganz klare Träume haben kann?«

»Warum denn nicht? Manche Leute träumen Zahlen und spielen dann in der Lotterie, und es soll schon manchmal passiert sein, daß sie dann auch große Gewinne erzielt haben.«

»Das hältst du nicht für Gerüchte?«

»Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß so viele Leute riesiges Glück haben, wenn es ihnen nicht irgendwie bestimmt oder von übersinnlichen Kräften eingegeben wäre.«

»Und was würdest du sagen, wenn ein Mensch träumt, daß ein ihm nahestehender andrer Mensch an einem bestimmten Tag sterben wird?«

»Dann würde ich alles versuchen, um es zu verhindern, wenn ich dieser Mensch wäre.«

»Und wenn es nicht zu verhindern ist, mein Liebes?«

Erschrocken blickte ihn Fee an. »Du hast doch nicht etwas sowas geträumt, Daniel?« fragte sie. »Du hattest schon mal einen seltsamen Traum. Damals mit Lenni. Sie hast du gerettet.«

»Ich träume schon lange nicht mehr so deutlich«, erwiderte er. »Ich wollte dir auch keinen Schrecken einjagen.«

»Wer hat was geträumt?« fragte Fee.

»Nanni Westenried hat geträumt, daß Arnold am zwanzigsten September, dem Todestag ihres Mannes, stirbt. Und so abwegig ist dieser Zeitpunkt nicht, Fee.«

»Du hast ihr doch nicht gesagt, daß er schon eine ganze Zeit ein Todeskandidat ist?« fragte Fee bestürzt.

»Gott bewahre, aber sie scheint es zu ahnen, und sie hat eine enge Verbindung zum Jenseits. Sie spricht mit ihrem Mann.«

»Warum auch nicht«, meinte Fee sinnend. »Sie war eng mit ihm verbunden und liebt ihn noch immer. Für sie ist er lebendig.«

So hatten sie über Nanni gesprochen, und dann kam der Sommer. Ein Sommer, der Hoffnung keimen ließ, daß Arnold Westenried, alle Prognosen zum Trotz, doch noch ein längeres Leben zu erwarten hatte.

Daniel Norden hätte sich seine Diagnose gerne widerlegen lassen, aber er wußte, daß diese Besserung trügerisch war, wohl eine Euphorie, weil Natalie sich ernsthaft in Dr. Wolf Jonson verliebt zu haben schien.

Arnold Westenried mobilisierte alle Kräfte, um Wolf Jonson in alle wichtigen Obliegenheiten einzuweihen, was allerdings von so manchem mit Mißtrauen, zumindest aber mit Bedenken beobachtet wurde.

Von den langjährigen Mitarbeitern wurde Dr. Jonson als eiskalter Karrieremacher eingeschätzt. Selbstverständlich blieb es auch nicht unbemerkt, daß er Natalie den Hof machte.

Sie gehörte gewiß nicht zu den Mädchen, die sich Hals über Kopf verliebten, aber von Dr. Jonson war sie sehr beeindruckt gewesen, als ihr Vater sie mit ihm bekannt gemacht hatte. Er gab sich auch ihr gegenüber anfangs sehr zurückhaltend, und das imponierte ihr noch mehr. Daß sein Können von ihrem Vater hoch eingeschätzt wurde, betrachtete sie als Rechtfertigung für ihre eigenen Gefühle.

Dr. Jonson war sehr überrascht gewesen, als er Natalie kennenlernte, denn er hatte einen Blaustrumpf erwartet. Er hatte nie viel Zeit an Frauen verschwendet. Seine Karriere war ihm tatsächlich wichtiger. An eine feste Bindung hatte er schon gar nicht gedacht, doch nun sah er plötzlich die glänzende Möglichkeit, alles zu erreichen, was er sich erträumt hatte. Eine Fabrik, die bestens fundiert war und einen internationalen Ruf hatte, ein bildhübsches Mädchen, die zudem auch Chemikerin war, und hinter der ein beträchtliches Vermögen stand. Eine solche Chance konnte er sich nicht entgehen lassen.

Von solchen nüchternen Überlegungen hatte Arnold Westenried freilich keine Ahnung, und erst recht nicht Natalie, die von Wolf Jonson fasziniert war.

Tim Gordon war so mit seiner Erfindung beschäftigt, er vernahm von dem Getuschel, das nun entstand, nichts. Aber Carla Remmling, die Laborantin, die es schon lange auf Tim abgesehen hatte, sah nun auch ihre Chance gekommen, denn sie wußte sehr gut, daß Tim nicht nur freundschaftliche Gefühle für Natalie hegte. Sie wußte auch, daß er so besessen an der Erfindung arbeitete, um Arnold Westenried zu überzeugen. Er versprach sich viel davon, daß er dann nicht mit leeren Händen vor ihm stehen würde, und etwas zu bieten hatte, wenn er um Natalies Hand anhielt. Ja, Tim hing auch solchen Träumen nach, aber zuerst mußte er mit dieser Arbeit fertig werden, von deren Erfolg er felsenfest überzeugt war.

»Sie müssen sich jetzt aber beeilen, Tim«, sagte Carla Remmling mit hintergründiger Absicht. »Sie haben scharfe Konkurrenz.«

»Wieso?« fragte Tim, der mal wieder mit seinen Gedanken bei der Erfindung war.

»Man munkelt, daß schon bald eine Verlobung ins Haus steht«, sagte Carla. »Dr. Jonson zögert nicht so lange wie Sie.«

»Jonson? Wieso Jonson, und was für eine Verlobung?« fragte Tim verwirrt.

»Dr. Jonson und Natalie Westenried«, sagte Carla spöttisch.

Tim wurde kreidebleich. »Das ist nicht wahr. Natalie läßt sich nicht mit so einem…«, er unterbrach sich, weil Carla ihn bestürzt anschaute.

»Aber er ist Favorit beim Chef«, sagte sie, als Tim so plötzlich schwieg. »Jeder merkt das, aber Sie vergraben sich im Labor.«

»Westenried ist ein viel zu guter Menschenkenner, als sich von Jonson bluffen zu lassen«, sagte Tim heiser.

»Sind Sie nicht voreingenommen?« fragte Carla. »Er hat Format. Er ist eine Persönlichkeit.«

»Was ich nicht bin«, murmelte Tim. »Ich bin nicht voreingenommen. Er ist ein Besserwisser, ein Angeber.«

»Sagen Sie das nicht zu laut, sonst sitzen Sie auf der Straße«, meinte Carla.

»Dann gehe ich mit meiner Erfindung zu einem anderen Konzern«, erklärte er grimmig, und in diesem Augenblick trat Dr. Jonson ein.

»Worum geht die Debatte?« fragte er herablassend.

»Das geht Sie gar nichts an«, konterte Tim.

Es ging Jonson tatsächlich nichts an, denn Tim hatte seine eigenes Labor und Jonson hatte ihm keine Vorschriften zu machen. Diesbezüglich hatte Arnold Westenried noch keine anderen Verfügungen getroffen. Aber gerade deshalb, und vor allem, weil es Dr. Jonson nun doch zu Ohren gekommen war, daß Natalie und Tim Gordon befreundet waren, war Jonson neugierig geworden.

Geflissentlich ging er über Tims Bemerkung hinweg, aber Carla erntete einen wohlwollenden Blick. Dr. Jonson hatte eine eigene Methode, sich Informationen zu verschaffen, die er auch von Arnold Westenried nicht bekam.

Er verschwand wieder, und Tim starrte ihm wütend nach. »Ein sehr attraktiver Mann«, sagte Carla, »und wenn Sie es auch nicht wahrhaben wollen, Tim, der Chef hält große Stücke auf ihn.«

Tim war bis ins Innerste erschüttert. Sein Gesicht verschloß sich. Ohne Carla noch eines Blickes zu würdigen, vergrub er sich in seine Berechnungen.

*

Währenddessen verschaffte sich Dr. Wolf Jonson auf seine Weise Luft, denn Tim Gordons abweisendes Benehmen hatte auch ihn mit Zorn erfüllt.

Er ging zu Natalie, die auch in ihrem eigenen Labor arbeitete, allerdings auf einem ganz anderen Gebiet als Tim.

»Darf ich Sie etwas fragen, Natalie?« fragte er vorsichtig. Sie sprachen sich auch schon mit den Vornamen an, waren aber noch immer beim Sie.

»Aber gern«, erwiderte Natalie freundlich.

»Was ist dieser Gordon eigentlich für ein Mann?«

Natalie errötete flüchtig, denn plötzlich wurde es ihr bewußt, daß sie Tim schon lange nicht mehr gesprochen hatte.

»Ein sehr guter Mann. Ein begabter Chemiker. Wir kennen uns schon seit der Universitätszeit.«

»Man sagt, daß sie mit ihm befreundet sind.«

»Ja, das sind wir. Es ist allgemein bekannt.«

»Er hat diese Stellung durch Ihre Fürsprache bekommen?«

»Nein, durch seine ausgezeichneten Kenntnisse.«

»Sehr viel scheint er aber nicht zu leisten«, sagte Dr. Jonson spöttisch.

»O doch, er arbeitet an einer Erfindung.«

»Ich dachte, er poussiert nur mit der Laborantin«, sagte Dr. Jonson anzüglich. »Sie scheinen recht intim zu sein.«

Natalie behagte diese Bemerkung nicht, aber Dr. Jonson lenkte schnell ab. »Nun, es ist nicht meine Angelegenheit. Der Chef wird schon wissen, was ihm Gordon wert ist.«

Natalie dachte daran, daß ihr Vater nicht an Tims Erfolg glaubte. Er sei ein brauchbarer Mann, wenn er sich nicht in Hirngespinste versteigen würde, hatte er neulich gesagt. Natalie hingegen glaubte an Tims Erfindergeist. Schließlich hatte er schon einige Verbesserungen gebracht, die der Firma viel Geld einbrachten. Doch das wollte sie jetzt nicht zu Jonson sagen. Sie fand sich plötzlich zwischen zwei Männern stehend, und das verwirrte sie.

Dr. Jonson wandte sich nun auch wieder seiner Arbeit zu. Er hatte sich seine eigene Methode zurechtgelegt. Keinesfalls sollte es so aussehen, als laufe er Natalie nach. Er fühlte sich ihrer nämlich schon ziemlich sicher, und als Arnold Westenried ihn dann für den nächsten Abend zum Essen einlud, triumphierte er innerlich.

Er trat an diesem Tag nicht mehr mit Natalie zusammen, da sie früher heimgefahren war, denn Tante Nanni war von der Insel der Hoffnung zurückgekehrt und wollte ein paar Tage bei ihnen bleiben.

Es war ein herzliches Wiedersehen zwischen den beiden. »Wie geht es Arnold?« erkundigte sich Nanni beiläufig.

»Sehr gut«, erwiderte Natalie zu ihrer Überraschung, und sie fragte sich, ob das Mädchen ihren Vater überhaupt richtig anschaute. Aber schon fuhr Natalie fort: »Eine Zeitlang habe ich mir richtig Sorgen um ihn gemacht, aber jetzt ist Papa wieder okay.«

Als er dann kam, war auch Nanni erstaunt, denn tatsächlich sah er recht gut aus. Die leichte Sonnenbräune mochte aber täuschen. Auch sie begrüßten sich herzlich.

»Ich habe für morgen abend Dr. Jonson eingeladen, damit Nanni ihn kennenlernt«, erklärte Arnold.

»Wer ist Jonson, und warum sollte ich ihn kennenlernen?« fragte Nanni nachdenklich, da sie bemerkte, daß auch Natalie überrascht war.

»Ein neuer Mitarbeiter«, erklärte Arnold. »Ein fähiger Mann. Ich setze große Hoffnungen auf ihn.«

Das kam Nanni merkwürdig an, und sie nahm sich vor, sehr wachsam zu sein. Sie konnte sich schon manches erlauben, denn immerhin war sie Teilhaberin der Fabrik. Schließlich war es ganz was Neues, daß jemand ins Haus geladen wurde, der erst ein paar Wochen im Unternehmen tätig war. Arnold war da nämlich immer sehr vorsichtig gewesen.

Er zog sich dann ziemlich früh zurück, was Nanni nachdenklich stimmte, oder besser gesagt, es bestätigte ihre Sorge, daß es doch nicht so gut um ihn bestellt war, wie er sich den Anschein gab.

Ihr aber gab das Alleinsein mit Natalie Gelegenheit, ihrer Großnichte auf den Zahn zu fühlen.

»Erzähl mir was von diesem Jonson«, sagte sie beiläufig. »Der gute Arnold scheint ja recht begeistert zu sein. Das ist man von ihm nicht gewöhnt.«

»Er ist wirklich ein fähiger Mann, Tante Nanni. Eine Führungspersönlichkeit und ein sehr gut aussehender Mann«, fügte sie verlegen hinzu.

»Wie alt?« fragte Nanni.

»Dreiunddreißig.«

Nanni betrachtete Natalie schweigend. »Feuer gefangen?« fragte sie geradezu.

»Er ist mir sympathisch«, erwiderte Natalie ausweichend.

»Und Tim?«

Natalie senkte den Blick. »Er ist mit seiner Erfindung beschäftigt.«

»Worum geht es da eigentlich? Ich verstehe ja nichts davon, aber von Tim halte ich sehr viel«, erklärte Nanni aggressiv.

»Um einen schlagfesten Lack, soviel ich weiß. Tim redet nicht viel, und Papa glaubt nicht an den Erfolg«, sagte Natalie nun auch leicht gereizt.

»Und was leistet dieser Jonson?« fragte Nanni. Was hat er vorzuweisen?«

»Er ist prädestiniert für eine leitende Position, was man von Tim ja nicht sagen kann. Er ist sehr kollegial, Jonson dagegen distanziert. Er hat mehr Papas Stil.«

»Mein guter Will hatte den Stil zwar nicht«, sagte Nanni, »aber er kam auch sehr gut zurecht mit seinen Angestellten. Ihm behagte es sogar, wenn er mal mit den Arbeitern ein Bierchen trinken konnte. Ich will weiß Gott keine Kritik an Arnold üben. Er hat viel geleistet, aber wenn so ein junger Bursche grad erst hineinschnauft, braucht er nicht gleich so entgegenkommend zu sein.«

»Du hast Tim immer besonders gut leiden können, weil er auf Onkel Will herauskommt«, sagte Natalie leise. »Ich verstehe das, Tante Nanni. Aber Tim hat keinen Ehrgeiz. Er ist direkt fanatisch, wenn es um seine Erfindungen geht. Da ist alles andere Luft für ihn.«

»Er ist ein enorm begabter junger Mann. Ein Genie«, sagte Nanni. »Mir würde es jedenfalls leid tun, wenn eine sehr schöne Freundschaft wegen eines gutaussehenden Blenders in Trümmer ginge.«

»Du kennst doch Jonson gar nicht. Daß er gut aussieht, besagt nicht, daß er ein Blender ist.«

»Aber Tim kann mit seiner Erfindung losziehen, und überall würde man ihn mit Kußhand nehmen«, polterte Nanni los.

»Das würde er niemals tun, niemals«, sagte Natalie mit bebender Stimme.

Nanni beruhigte sich. Sie setzte sich gemächlich in ihren Stammsessel und sprach mehr zu sich selbst: »Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Bess’res findet. Doch Mädchen, mach die Augen auf, denn Heirat ist kein Pferdekauf. ’s gibt viele, die nur Reichtum wittern, und hinterher kommt’s große Zittern«, dichtete sie selbst hinzu.

»Ich weiß nicht, was du meinst, Tante Nanni«, sagte Natalie bestürzt.

»Ich habe nur so vor mich hin geredet. Aber als Teilhaberin möchte ich mich doch in diesem besonderen Fall über den Dr. Jonson genau informieren.«

»Und daß Tim Reichtum wittern könnte, kommt dir wohl nicht in den Sinn?« fragte Natalie ironisch.

»Tim nicht«, erwiderte Nanni. »Tim bestimmt nicht.«

Sie hatte Natalie verunsichert, und das hatte sie beabsichtigt.

Es konnte ja durchaus sein, daß dieser Jonson in Ordnung war, aber irgendwie paßte er Tante Nanni von vornherein nicht in den Kram. Sie machte sich sehr viele Gedanken. Arnold war ein kranker Mann, das stand für sie fest. Sie hatte sich wochenlang mit Dr. Cornelius und seiner Frau Anne über alle möglichen Krankheiten und deren Symptome unterhalten, ohne verlauten zu lassen, um was und wen es dabei für sie ging. Sie hatte sehr viel erfahren und sie wußte auch, daß ein kranker Mensch manche Entscheidungen traf, die er in gesundem Zustand niemals getroffen hätte.

Sie, die eigentlich jede Krankheit von sich weisen wollte, hatte sich auch heimlich medizinische Zeitungen »gemopst«, wie sie es nannte. Freilich hatte sie die immer am nächsten Tag ebenso heimlich an ihren Platz zurückgelegt, überzeugt, daß es gar nicht bemerkt wurde. Aber Anne Cornelius hatte es doch bemerkt, und sich ihre Gedanken gemacht, ohne ein Wort darüber verlauten zu lassen, nicht einmal zu ihrem Mann.

Nanni beschloß, länger hierzubleiben, als sie beabsichtigt hatte. Und einen Grund dafür hatte sie sich auch schon ausgedacht. Aber damit wollte sie erst herausrücken, wenn sie diesen Jonson kennengelernt hatte.

Als sie am nächsten Morgen jedoch erklärte, daß sie Dr. Norden aufsuchen wolle, horchte Natalie, sogleich besorgt, auf.

»Fehlt dir etwas, Tante Nanni?« fragte sie.

»Ist dir diesmal die Kur nicht bekommen?« fragte auch Arnold sogleich besorgt.

»Man ist nicht mehr die Jüngste und bekommt seine Wehwehchen«, erwiderte sie. »Dr. Cornelius hat mir geraten, mich von Dr. Norden weiterbehandeln zu lassen.« Sie gab ihrer Stimme einen leicht wehleidigen Klang. Eigentlich lag es ihr nicht, sich zu verstellen, aber manchmal erschien es ihr doch angebracht. Ihren guten Will hatte sie ja auch oft nur mit List und Tücke zu etwas bewegt, was ihr rein gefühlsmäßig mehr behagte, als er plante.

Jetzt hatte sie jedenfalls erreicht, daß man sehr besorgt um sie war, und das paßte genau in ihren Plan.

»Wenn du dich nicht wohl fühlst, Nanni, sage es bitte, dann lade ich Dr. Jonson wieder aus«, erklärte Arnold.

»Aber nein, das kommt nicht in Frage. Nehmt es doch nicht so tragisch. Dich frage ich ja auch nicht, lieber Arnold, warum du dich gestern abend so früh zurückgezogen hast. Es geht halt rauf und runter, wenn man älter wird.«

Sie schämte sich dieser Bemerkung, da sie um ihn ja wirklich besorgt war, aber sie entschuldigte sich selbst damit, daß ja der Zweck die Mittel heiligte. Und diese Taktik schien richtig zu sein.

*

Dr. Norden war sehr überrascht, als Nanni bei ihm in der Praxis erschien. Selbstverständlich nahm er sich Zeit für sie, denn sie war gern bereit, geduldig zu warten, bis er den letzten Patienten abgefertigt hatte. Sie konnte sich zwischendurch mit Lonni unterhalten und fing das so raffiniert an, daß Loni gar nicht merkte, welche Fallen ihr gestellt wurden.

Jedenfalls wußte Nanni dann doch ziemlich genau Bescheid über den Zustand ihres angeheirateten Neffen.

Nanni war tief erschüttert, aber sie zeigte es nicht. Doch Dr. Norden spürte dann schon, daß sie deprimiert war. Auch er fragte sie, ob ihr die Kur diesmal nicht bekommen sei.

»Es war schön wie immer«, erwiderte sie leise, »aber hier tut sich so manches, was mir nicht gefällt. Ich habe beschlossen, noch länger hierzubleiben, doch dazu brauche ich Sie, lieber Daniel.«

»Mich?« fragte er verwundert.

»Ja, nur Sie können mir helfen. Ich brauche ärztliche Betreuung, und meine Lieben wissen, daß ich nur Dr. Cornelius und Sie akzeptiere. Ich kann aber nicht verlangen, daß Sie zu mir auf’s Land kommen. Andererseits wissen Arnold und Natalie genau, daß ich es nicht lange in der Stadt aushalte, wenn nicht ein triftiger Grund dazu vorhanden wäre. Ich kann Natalie nicht sagen, daß ich mich um Arnold sorge. Der Schein ist doch trügerisch. Das müssen Sie zugeben, Daniel!«

»Er ist in guter Form«, erwiderte Daniel Norden ausweichend.

»Der Schein ist trügerisch«, beharrte Nanni, »und das wissen Sie genau. Er ist psychisch völlig verändert. Mir kann keiner was vormachen. Wir werden uns darüber zu gegebener Zeit noch unterhalten. Ich brauche jedenfalls Spritzen.«

»Und welche?« fragte Daniel zugleich erstaunt und belustigt.

»Denken Sie sich was aus. Ich brauche sie zweimal in der Woche und über mindestens sechs Wochen hinweg. Ihr Vater hätte mir geholfen, Daniel«, fügte sie hinzu.

»Ich sage ja nicht, daß ich Ihnen seelische Unterstützung verweigere, aber ich wüßte wirklich nicht, welche Spritzen ich Ihnen geben sollte, Nanni«, sagte Daniel.

»Sie brauchen mir gar keine zu geben, und wenn sich Arnold oder Natalie nach meinem Befinden erkundigen, können Sie sich doch ganz schlicht auf die Schweigepflicht berufen. Es tut niemandem weh.«

»Aber man wird sich Sorgen um Sie machen, Nanni.«