Die Erinnerungen
des Meistertänzers Juan Martínez,
der dabei war
Herausgegeben, aus dem Spanischen und
mit einem Nachwort von Frank Henseleit
Im geisterhaften Schatten des Moulin de la Galette, eingehüllt in die Permanganat- und Terpentingerüche der Malerquartiere, wo die Rue Lepic einem steinigen Kreuzweg glich und vorbei an staubigen Gemüsegärten steil anstieg; eingenistet in dieser mondbeschienenen Landschaft, irgendwo zwischen den baufälligen Häuschen um den berühmten Place du Tertre, der heute das Herz des Montmartre ist, hat sich mein Freund Martínez zur Ruhe gesetzt.
Martínez ist Berufstänzer, ein Flame aus Burgos. Er ist 43 Jahre alt, hat eine unverhohlen jüdische Nase, die großen schwarzen Augen eines Kartäusers aus Jerez, eine leicht fliehende Stirn, die seine flämische Herkunft verrät, peinlichst genau gestriegeltes, wie Klavierlack glänzendes Haar, ungewöhnlich querstehende Schädelknochen, weil sie fraglos von unterschiedlichster Herkunft sind – arischer, semitischer, mongolischer – und eine straffe Haut, glatt wie Corduanleder.
Vor zwanzig Jahren, als Martínez an den Montmartre kam, war er ein auffällig hübscher Junge mit seidenem Halstuch, Melone und Karottenhose. Zuvor hatte er, ganz Tänzer, Sohn eines Tänzers, Kreuzung eines Madrider Straßenköters mit allem, im Sonntagswichs eines andalusischen Strandräubers, durchaus fein herausgeputzt, in einer Mischung aus vom Sockel hauender Strotzigkeit und hochkomplexer Unmoral die Schönheit eines Dorfes, Sole, wie eine Unze Gold geraubt, und war mit ihr nach Paris durchgebrannt.
Er lehrte sie den liturgischen Flamenco tanzen, so, wie er aus dem Salón Burrero und dem Café Silverio überliefert wurde, mit dem Schleppenrock und den weiten, geschichteten Unter röcken, den enaguas almidonadas. Besser tanzte sie eindeutig den Trepidante aus einem keltiberischen Dorf, dessen Schlussspurt ihre ebenmäßigen Wangen erröten und ihre Brüste – wie ein Taubenkropf zwischen den Fingern – aufblähen ließ, die sie sehr hoch in ein Korsett aus echten Barten schnürte.
Unter dem pompösen Namenszug »Los Martínez« verdienten sie sich durch die Cabarets des Montmartre tanzend ihren Lebensunterhalt. Im Pigalle, im Moulin Rouge und einer Reihe Varietés, die damals unter dem Eiffelturm aus dem Boden sprossen, feierten sie große Erfolge. Er bekam die Züge eines jungen Mannes, der gewieft durch die Syrten des Montmartre der Cabarets eines Jahres wie 1914 zu navigieren wusste, zwischen den Makrelen, so hießen die Zuhälter am Montmartre, den schrägen Vögeln, den Scharlatanen, den Mädchenhändlern des Chemin de Buenos Aires, den Päderasten und Schmugglern, die den Schnee ranschafften, den Polypen, die sie alle erpressten, den ehrenwerten und bescheidenen Dieben. In diesem Mikrokosmos der Pariser Unterwelt findet jeder Spanier leicht den zuverlässigen Schutz illustrer wie wohlverdienter Landesgenossen.
Sole war einfach gestrickt, sehr vergnügt und herzensgut. Ohne lange zu überlegen, war sie mit diesem sympathischen Jüngling durchgebrannt und hatte für alle Zeiten das heimische Schürzlein abgelegt. Mit einer grobgliedrigen Goldkette an der Weste und immer ein paar Louisdors in der Tasche, selbst geschmückt wie ein Esel, wollte er sie auf den neuesten Stand der Mode bringen und schleppte sie in die Läden der Rue de la Paix, wo man den Frauen lange Roben aus aufreizendem Tüll schneiderte, mit äußerst ausladenden Silhouetten und raffinierten Dekolletés und Säumen aus Fell oder Federn. Es war die Epoche der monumentalen Hüte. Sole, die arme, wusste nicht, wie sich derartige Hüte überhaupt aufsetzen. Die Kämmerin eilte herbei und rückte ihn stilvoll zurecht, aber kaum ein paar Schritte auf dem Gehsteig ausgeführt, bewirkte eine brüske Kopfbewegung oder ein Stolperer beim Einsteigen in den fiacre – noch gab es Fiaker in Paris –, dass sich der Hut verschob, und so fuhr Sole, ihr lammfrommstes Gesicht dabei aufgesetzt, diese verunglückte Halbinsel auf ihrem Kopf spazieren, dass sich ganz Paris nach ihr umschaute.
Sie lernten Tango Argentino zu tanzen, und da sie sich begehrten, erkannte man die perfekte Verzahnung dieses Tanzpaares. Auf einem in diesen Tagen in Paris stattfindenden internationalen Wettkampf wurden sie zu den besten Tangotänzern der Welt erkoren. Man überreichte ihnen eine Gedenkmedaille, die Sole heute noch wie ihren Augapfel hütet.
Obwohl sie sich dem europäischen Tanzstil anpassten und sofort für die Institución Libre de Enseñanza hätten arbeiten können, basierte der kontinuierliche Siegeszug allein auf seinem liturgischen und authentischen Flamenco, und Sole, die weder lesen noch schreiben konnte, hätte ohne jede Scham weiter bei den Prunys Austern essen und sich würdig mit betagten royalistischen Damen, berühmten russischen Herzoginnen und edlen Kokotten austauschen können. Eines Tages wartete ihnen ein Impresario aus Konstantinopel auf. Er wollte Martínez unter Vertrag nehmen, damit er in der Türkei Flamenco tanze, als Solist, auf dem Tisch. Ohne Frau und ohne Laster. Die Türken seien ein tugendhaftes Volk. Er offerierte eine exorbitante Summe. Juan und Sole ließen sich von diesem Konstantinopel berichten, fragten, bis wohin die Türkei reiche, prüften den Wert der Piaster und schifften sich in Marseille in Richtung Orient ein. Es war der 26. Juni 1914.
Vierzig Tage bevor der Große Krieg entflammte.
Erzählt von Martínez selbst:
Wir stolperten direkt in ein Cabaret beim Cassim hinein, eine Art Bois de Boulogne auf Türkisch mit Theatern, Cabarets, Vergnügungsparks und dancings. Ganz Istanbul traf dort aufeinander: reiche Türken, die ihre Sandalen abstreiften, sich in den Schneidersitz begaben, ihre Wasserpfeife anzündeten und viele leere Stunden unbeweglich und mit glasigen Augen verbrachten; skandalträchtige Griechen, Geldverprasser und Flamen, die aus purer Freude am Flamenco ihr geleertes Glas in der Hand zerdrückten oder den Rand abbissen, auch wenn die Glassplitter ihre Lippen bluten ließen; bedeutende und wohlhabende Juden spanischer Herkunft, die, wenn ihre Gebetsstunde gekommen war, das Gelage kurz unterbrachen, ein Brevier zückten und geziemend inmitten aller zu beten begannen; französische Industrielle und Attachés, die durch ihren Missmut und ihre Knauserigkeit auffielen, im Kern aber ganz feine Kerle waren; aalglatte und durchtriebene Italiener, besoffene Russen …
Ich hatte bei den Muselmanen einen überwältigenden Erfolg mit dem Garrotín, mit der Farruca und mit einem Tanz, der sich an mora, morita, mora anlehnte.
Feines Land, die Türkei, feine Leute, die Türken! Die Ausländer scherten sich nicht viel um sie. Sie störten sie nur, waren lästig. Alles war aufgeteilt: eine Seite die Türken, andere Seite die Ausländer. Wir kamen natürlich gut mit ihnen aus. Schauen Sie! Ich komme aus Burgos. Abgesehen davon fühlte ich mich in Istanbul wie zu Hause. Ich achtete ihre Sitten, respektierte ihre Allüren, und sie bewunderten meinen Tanz, applaudierten mir, luden mich in ihr Haus und mochten mich. Ich verstand mich mit den Türken, wie kein Franzose oder Deutscher sich je mit ihnen verstehen konnte. Ich meine, das hat bestimmt mit unserem, dem spanischen Charakter zu tun. Der Türke ist zuvorkommend und angenehm. Solange man ihn nicht herausfordert. Streng religiös. Man betritt das Geschäft eines Türken während er betet, dahingekniet auf seinem Teppich, und hat keine Chance, bedient oder eines Blickes gewürdigt zu werden. Damals schwelten in Konstantinopel große Dispute. Sie schieden sich in »Alttürken« und »Jungtürken«, aber diese Dispute waren rein politische Fragen, und ich habe mich nie in Politik einmischen wollen.
(Den letzten Satz sprach Martínez mit einer verächtlichen Handbewegung.)
Das Leben war günstig: zwei Hühner fünf Piaster; das Hundert Eier vier Piaster. Massenweise Gold, massenweise Champagner. Alles aufgeteilt. Pera und Galata gehörten den Ausländern. Istanbul allein den Türken und spanischen Juden, den Sepharden. Sie lebten dort in großer Zahl. Sie sprachen ein recht seltsames Spanisch. Auf Istanbuls Bazaren besaßen sie enorme Reichtümer in Pelzen und Juwelen. Sie waren auch sehr angesehen. Die Franzosen spielten trotzdem die wichtigste Rolle. Im europäischen Viertel hingen an allen Etablissements Schilder auf Französisch. In Pera lebten mehr als zehntausend Griechen, sämtlich Besitzer von Restaurants und dergleichen. Dort verbrachten die Ausländer ihre freie Zeit. Die prächtigen Cabarets und die luxuriösen Damen fand man dort. Der Türke ist großzügig, und die schönen Frauen ließen sie verschwenderisch prassen. Ana Mac Kanzie war so eine, man nannte sie La reina del champagne, weil sie keinen Tag verstreichen ließ, ohne wenigstens zwanzig Flaschen Champagner zu entkorken, die ihre Bewunderer bezahlen durften. Sie war Tänzerin und hatte bereits mehrere hohe türkische Beamte ruiniert. Sie hatte einen amerikanischen Pass und war derart einflussreich, dass sie jeden aus einer Laune heraus aus der Türkei ausweisen lassen konnte. Sie war die Mieze des obersten Polizeichefs, eines Barbaren armenischer Herkunft, er erlitt einen Totalschaden. Ihretwegen wurde er degradiert, man versetzte ihn auf einen Strafposten. Als ich ihn kennenlernte, irrte er durch die Cabarets und besoff sich wegen Ana. Später habe ich erfahren, dass sie ihn, als Mustafa Kemal antrat, einen Kopf kürzer gemacht haben.
Der Türke – fährt Martínez mit seiner Schilderung fort – scherte sich weder viel noch wenig um die Frauen. Er nahm sie sich, wenn er sie brauchte, so als greife er zur Wasserpfeife, und er entließ sie, wenn er ihrer überdrüssig war. Wohlgemerkt: er entließ sie als aufmerksamer, galanter Beschützer. Haben Sie mit einer türkischen Frau schon einmal Artigkeiten ausgetauscht – nun, ich habe das Süßholzraspeln noch nicht verlernt –, aber aufpassen, obwohl sie kein Sterbenswörtchen versteht, stehen Sie mit einem Bein im Gefängnis. Die Frauen gehen in Schwarz auf die Straße. In den Straßenbahnen gab es für sie reservierte Bereiche. Gingen sie zu Fuß, lief der Mann zwei, drei Meter hinter ihnen, so als liefe er allein. Den Schleier trugen sie offen, und wenn sie einem Ausländer über den Weg liefen, ließen sie ihn vor das Gesicht fallen. Die jungen warteten kürzer oder länger damit, je nach Liebreiz. Die Alten und Hässlichen gingen immer verschleiert. Ihnen war es untersagt, sich europäisch zu kleiden. Lediglich einige Damen aus der Aristokratie wagten dies, allerdings gingen sie so nicht auf die Straße. Keine, ob arm oder reich, ließ sich an den Fenstern blicken oder trat auch nur vor die Tür. Die Alten rauchten wie Schlote. Ich betrat regelmäßig viele Häuser von reichen Türken, denn ich unterrichtete ihre Frauen und Töchter in Flamenco. Die Stunden gab ich stets in Anwesenheit zweier furchterregender Eunuchen, die mit gekreuzten Armen alles beobachteten und mit einem breiten Grinsen meine Sorge vertrieben, ich möge bloß keine Hand auf die Schülerinnen legen, während ich ihnen den Jaleíllo der Hüften beibrachte, der im Flamenco die Freude ausdrückt. Ich hatte brisante Momente dabei durchzustehen, denn die Schülerinnen wechselten irrtümlich in die Kreisbewegung des sogenannten molinete oriental, die, wie jedermann weiß, nichts mit Flamenco zu tun hat, aber sie hat ihren Reiz. Die Türken haben zweierlei Arten Tanz: den schicklichen und den pikanten. Den schicklichen führt man in den großen Sälen als Spektakel auf; den pikanten tanzt man nur verborgen, in den kleinen Cabarets und in den Privathäusern. Die Türkin tanzt eine Art Rumba mit bebenden Schultern und dem Spiel der Hüften. In den Cabarets nähert sie sich langsam dem Tisch, an dem ihr Freund sitzt, und in einer gewissen gesteigerten Anspannung wirft sie ihren Oberkörper nach hinten, bis ihr Freund eine Silbermünze hervorholt und sie ihr ins Bustier steckt. Sie nimmt alsdann die Münze und wirft sie den Musikern zu. In Konstantinopel war es Brauch, den Musikern Geld zuzuwerfen. Gewisse »Trottel« warfen ihnen sogar Gläser und Flaschen zu. Sie fanden es belustigend, die Instrumente der Musiker zu zerschlagen und sie ihnen hernach teuer zu erstatten. Wenn sich eine türkische Tänzerin Schritt für Schritt dem Tisch eines ausgeguckten Prachtkerls näherte, erhob sich der Glückliche, ergriff ein Tüchlein bei der Spitze, trat hinzu, und tanzte vor ihr im gleichen Rhythmus. Der Mann tanzte nach und nach auf sie zu, und sie wich kokett tanzend zurück. Ein amüsantes Pantomimenspiel. Die türkischen Tänzerinnen waren bauchfrei, damit man, wie es heißt, die Makellosigkeit ihrer Bewegungen erkannte.
Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen war von reichlich Heuchelei geprägt, mehr will ich nicht sagen. Wenn du dich mit ihnen verständigen wolltest, musstest du mit aller Vorsicht zu Werke gehen. Die galanten Damen machten ihre Eroberungen am Nachmittag, in den öffentlichen Parks. Die Dame und der Herr verständigten sich dank eines ausgeklügelten Sprachsystems der Sonnenschirme, der Spazierstöcke und der Tücher wortlos über die Distanz.
Wenige Tage nach unserer Ankunft gab es die Kriegserklärungen. Ich schenkte dem keine Beachtung, bis unsere Theaterdirektoren, Franzosen, uns mitteilten, dass sie uns nicht auszahlen könnten, dass sie schließen und abhauen würden. Wir machten uns auf den Weg zum spanischen Konsul. Wie allen Konsuln der Welt erging es auch unserem, er konnte nichts machen. Ich ging runter zum Hafen. Lediglich drei Kähne standen für Tausende Franzosen bereit, die innerhalb von drei Stunden eingeschifft werden sollten. Für Frauen gab es keine Plätze. Nach vielem Hin und Her besorgte mir die diplomatische Vertretung von Frankreich eine Überfahrt, aber ich lehnte ab, da mir die Säcke keine zweite für Sole geben wollten. Überfüllt liefen die Schiffe aus. Bis in die Masten waren die Leute geklettert. Viele Franzosen, vornehmlich Frauen, blieben ohne Passage. Als sie mit ansehen mussten, wie sich die Schiffe entfernten, schrien die Frauen gellend vor Schmerz, zerkratzten sich die Gesichter und warfen sich vor Verzweiflung auf den Boden. Der Krieg überrannte uns abermals, und wir machten uns heftige Vorwürfe. Wir begriffen gleich, dass wir die Situation mit mehr Anstand zu meistern hatten. Ich stand am Rand der Mole und sah zu, wie das letzte französische Schiff verschwand. Am Heck, direkt unterhalb der Tricolore stand ein französischer Geistlicher, in Sutane und Priesterhut, und als das Schiff die Leinen loslegte, zog er ein Flügelhorn hervor und blies mit geblähten Pausbacken die Marseillaise. Mit hochrotem Gesicht und herzergriffen blies er sie, bis wir ihn nicht mehr sahen oder hörten.
Zu Beginn des Krieges spürte man nicht viel davon, aber nach und nach wandelte sich alles. Die Gesichter der Leute wurden schmaler, verzerrter. Breite, offene, lachende Gesichter sollten wir nicht vor Ablauf vieler Jahre wiedersehen. Und die Wahrheit ist, so fröhliche Gesichter wie vor dem Krieg hat man auf den Straßen Europas nie wieder gesehen.
Die Cabarets schlossen nicht. Im Gegenteil, es schien, als hätten die Leute noch mehr Lust am Betrinken und Geldrauswerfen. Sole und ich versanken in einem erbärmlichen Cabaret, dem Kataclun, wo ein raufsüchtiges und prassendes Klientel auflief: Matrosen. Der Besitzer war ein Halunke, ein Grieche, der seinen eigenen Vater beschiss. Fünf Monate blieben wir dort, und wegen der ständigen Skandale, Anfeindungen und dem viehischen Betragen dieser widerlichen Kerle hing unser Leben täglich am seidenen Faden. Damals lernte ich die miese Kehrseite Konstantinopels von Grund auf kennen, diese aufgeblasenen Türken mit dem notorisch abgeschnittenen Ohr, jene besonders schönen Tänzerinnen, fett und verroht, dieses griechische Gesindel, das aus jedem Loch dieser Welt gekrochen kam, Armenier, Bulgaren, Hirnlose, denen Gott nicht mehr als drei Worte gegeben hat, Diebe durch die Bank, Zänker vor dem Herrn, die, wie es schien, alle wie die Motten von Konstantinopel angezogen wurden. Aber schon damals kamen die ersten Deutschen, und sie machten sich daran, diesen Drecksstall Unerwünschter auszumisten.
Es gab in Konstantinopel furchterregende Bezirke. Die »Hühnerställe« von Galata waren ein Klumpen aus ebenerdigen, aufgepappten Lehmhütten, in denen verstoßene Frauen hausten. Diese ärmlichen Behausungen bestanden aus einem Raum mit so niedrigem Dach, dass man sich in ihnen nur liegend aufhalten konnte, und dort, wo sonst eine Tür gewesen wäre, hing ein Kettenvorhang herab, durch den hindurch man genau ein Elendsbett erkennen konnte und darauf liegend, vollständig nackt, eine Frau. Die Passanten lugten durch die metallischen Vorhänge, die einzig verhinderten, dass man diesen Ausgestoßenen etwas an den Kopf warf. Ein Betrag um eine Pesete gestattete eine Flasche Bier und alles Weitere. Die Frauen aus den »Hühnerställen« von Galata waren in der Regel keine Türkinnen. Viele Griechinnen, ja sogar Spanierinnen, die, was weiß ich wie, dort hingelangt sind. Ihre Kundschaft waren Seeleute, Soldaten, Boxer, Ringer im griechisch-römischen Stil, Lastenträger aus dem Hafen. Die Muselmanen gingen fast nie zu den »Hühnerställen« von Galata. Wer aber in die Vergnügungshäuser reinwollte, musste einen Fes tragen und irgendjemand musste dein Gesicht kennen. Bevor sie die Tür öffneten, musste man mit der Chefin debattieren, als handle es sich um den Eintritt in ein Ordenshaus. Viele Höflichkeiten und Nettigkeiten wurden ausgetauscht. Der ganze Laden war zugehängt mit Jalousien und Vorhängen. Hübsch und bizarr zugleich. Bedaure, dass ich nicht alles erzählen kann, aber Sole würde es mir nicht verzeihen.
Nach fünf Monaten Schreckenszeit mit der ekstatischen Kundschaft des Kataclun schafften wir den Absprung in den Zirkus Pera, wo wir eine Vorstellung zu Ehren der zwei Frauen des Sultans gaben, der neuen und der scheidenden. Den Frauen des Sultans gefiel unsere Darbietung, sie beschenkten uns mit fünfundzwanzig türkischen Libras und einer Blume.
Zum Schluss tanzten wir im Parisiana, einem Cabaret, das ein bisschen mehr hermachte, in das bessere Leute gingen. Die Deutschen, die dabei waren, Konstantinopel zu übernehmen, frequentierten es. Dort lernte ich zahlreiche deutsche Offiziere kennen.
Und dort machte ich die Bekanntschaft des Baron Stettin. Des Baron Stettin, der beinahe meinen Ruin bedeutete.
Seit dem Tag, an dem die Deutschen kamen, war Konstantinopel nicht mehr, was es war.
Und das Brot war ausgegangen.
Sie räumten mit den Halunken auf, knebelten die Türken, aber es fand sich kein Krumen Weißbrot – in der ganzen Türkei. Das behielten sie für sich. Die Deutschen brachten alles, was sie für den Fortgang des Krieges benötigten, nach Deutschland. In den Läden wurden die Lebensmittel langsam knapp; dennoch bewundernswert, ihr Ordnungssinn blieb ungebremst. Mit Gründlichkeit, Starrsinn, Fleiß übernahmen die deutschen Offiziere erfolgreich die türkische Verwaltung, einen einzigen feigen Waschlappen. Ich erinnere mich noch an einen türkischen Hauptmann mit beeindruckendem Schnäuzer, Leiter der dortigen Polizeistation, der immer umringt von sechs oder sieben hübschen Jungs durch die Cabarets zog, mit denen er sich betrank. Dies unterbanden die Deutschen um jeden Preis. Nicht, dass die Deutschen nicht auch ins Cabaret gingen, sich nicht auch betranken, sie hatten nur andere Manieren. Mit reichlich Tam-Tam, Steifheit, Schicklichkeit küssten sie die Hände der Künstlerinnen, überschütteten sie mit Blumensträußen. Mir warf einer eine Münze aus Gold zu, als mein Tango endete.
Die deutsche Polizei drückte die türkische an den Rand und machte dem das Leben schwer, der seine Sachen nicht in Ordnung hatte. Von den Artisten warfen sie die Paare raus, die keine Heiratspapiere vorweisen konnten, und viele Getränke durften nicht mehr ausgeschenkt werden – wenn es sich dabei nicht um Deutsche handelte, klar –, und weil sie Angst vor Spionen hatten, hielten sie jeden an. Die armen Franzosen zum Beispiel, die in Konstantinopel geblieben waren, belegten sie mit einer Ausgangssperre nach sieben Uhr, unter Androhung der Erschießung. Einzig an einem Abend, dem Heiligabend, lockerten sie die Sperre, sodass sie ihn feiern konnten. Trotzdem sympathisierten viele mit den Alliierten, und irgendwann planten sie eine Demonstration, sie versuchten es. Die türkische Polizei schnitt ihnen den Weg mit fetten Salven, direkt in sie hinein, ab. Am nächsten Tag sah ich mit eigenen Augen mitten im Cassim ein halbes Dutzend dieser Leute am Galgen hängen. Die Einzigen, die sich hartnäckig gegen die Deutschen halten konnten, waren die Matrosen der nordamerikanischen Großyacht Scorpion, die im Hafen vor Anker lag. Die Yankees hatten ständig Reibereien mit den deutschen Patrouillen. Die anderen, ob Türken oder Ausländer, wagten nicht einmal zu flüstern. Die Drangsalierungen nahmen von Tag zu Tag zu. Und heftiger war nur noch die allgemeine Knappheit an allem.
Ich stellte mich gut mit ihnen, versuchte es. Man ist Cabaret-Künstler und zu allererst müssen wir uns mit denen arrangieren, die das Kommando haben und die dich am Leben lassen. Ich kam schließlich sehr gut mit den Deutschen aus. Eines Tages wurde ich dem Grafen Spee vorgestellt, der hier das Sagen hatte, eine Art Vizekönig. Damals gab ich dem österreichischen Konsul und der Baronin von Gooten Tanzstunden, einer deutschen Gran’dame mit reichlichem Einfluss, promoviert, die sich in der Türkei aufhielt, um Krankenschwestern anzuwerben. Ich machte auch Bekanntschaft mit Hans Radsmusen, einem berühmten deutschen Flieger. Und mit Baron Stettin.
Der Baron Stettin klemmte sein Monokel besonders fest, stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und sagte mir eiskalt:
»Du bist ein Spion.«
Mir schoss das Blut aus den Adern. Ich wusste nur zu gut, wie der Baron Spione zu handhaben pflegte. Mit seiner manierlichen und eiskalten Stimme hatte er mehr ins Jenseits befördern lassen, als er Haare auf dem Kopf hatte. Der Baron war ein Hauptmann des deutschen Militärs, zudem Oberst der Kavallerie des Sultans und, wie es hieß, einer der Chefs der Gegenspionage. Mir war durchaus aufgefallen, wie er jedes Mal, wenn er ins Cabaret kam, und das tat er regelmäßig, nach mir rief, wie er zu plaudern begann und mich dabei übermäßig charmant abfüllte. In jener Nacht, wir beendeten gerade unser Programm auf der Bühne, ließ er mich wissen, dass ich ein Glas Champagner mit ihm trinken möge. Und während Sole sich umzog, ging ich in seine Loge. Er empfing mich mit einem Lächeln, bot mir einen Platz an und füllte mein Glas. Kaum hatte ich es geleert, eröffnete er mir Folgendes:
»Du bist ein Spion.«
Ich überlegte, ob ich mich nicht sofort entschuldigen, ihm haarklein mein Leben schildern, ihm beweisen sollte, dass er sich irrte; aber der Baron beäugte mich durch sein Monokel mit seinem eisigsten Blick, derart ausdruckslos, dass mir der Atem stockte. Ohne seinen Blick von meinen Augen zu wenden, schenkte er mir übertrieben knauserig nach, mit einer Handbewegung forderte er mich zum Trinken auf.
Als ich die ekelige Pfütze heruntergeschluckt hatte und gerade innerlich zerbrach, betrat Sole die Loge, der Baron erhob sich förmlich, küsste ihr die Hand und begann, ihr mit dem verfänglichsten Humor der Welt auf Französisch zu schmeicheln. Ich war außer mir. Denn die hocherfreute Sole lachte über die Scherze des Barons, schwatzte und beklagte die Übergriffe der Deutschen. »Wenn sie weiter so quasselt und säuft – dachte ich – erschießen sie uns.« Ich machte ihr unmissverständliche Zeichen, den Mund zu halten, aber Sole, die schon drei oder vier Gläser Champagner intus hatte, beachtete mich nicht, und als ihr mein Kontra doch auffiel, begann sie sich über meine Säuerlichkeit lustig zu machen in der Annahme, ich sei eifersüchtig wegen der Galanterien des Barons. Ich sah rot und hatte Lust, Sole den Hals umzudrehen, damit sie still sei. Das Techtelmechtel schien aber kein Ende zu nehmen. Bei den zwei, drei Gelegenheiten, die ich ihn bat, mich zurückziehen zu dürfen, forderte er mich auf, sitzenzubleiben und noch einen zu trinken. Sole hatte weiterhin ihren Spaß an den Tändeleien des Barons und ließ ihn gewähren, und der Typ, er hatte auch schon schwer einen im Kahn, amüsierte sich aufs Feinste. Es gab einen Moment, da er über die Stränge schlug und noch abwägend, ob ich es sein lassen sollte, postierte ich mich trotz der in den Knochen steckenden Angst vor ihm:
»Herr Baron …«
Er schaute mich von der Seite an. Ich musste ebenfalls ein Gesicht aufgesetzt haben, das ihm ein Schluss mit lustig bedeutete, jedenfalls versuchte er, seine stramme Haltung und seine eisige Aura zurückzugewinnen. Doch er hatte zu viel geladen, und sofort kehrte er auf seine Schleimspur zurück. Sole hatte inzwischen begriffen, dass dies der falsche Ort dafür war und ließ ihre Scherze. Der Baron wollte die Sache wieder in Schwung bringen, und da er feststellte, dass dafür das Ambiente fehlte, setzte er eine Flasche oben drauf. Er forderte uns auf, mit ihm zu trinken; aber ich halte mir zugute, mich sowieso nie bis zur Besinnungslosigkeit besoffen zu haben, und Sole passte auf, dass sie sich nicht weiter mit Champagner abfüllte. Eine halbe Stunde später war der Baron voll wie eine Haubitze.
Einmal noch musste ich verärgert dazwischengehen, aber er, mehr schlecht als recht auf die Beine gekommen, drohte in meine Richtung:
»Du erinnerst dich, was ich dir gesagt habe.«
Es gab keinen anderen Ausweg, als ihm die Puste ausgehen zu lassen. Sei es, weil er wirklich überzeugt war, dass ich ein Spion war, sei es, weil er einfach drohte, um mich zu erschrecken, fest stand, dass seine bloße Bezichtigung genügt hätte, mir den Garaus zu machen. Als sie das Cabaret schlossen und wir – endlich – gehen durften, bestand er darauf, uns zu begleiten. Es gab nichts, was ihm dies hätte austreiben können. Während er zur Garderobe ging, informierte ich Sole in Kurzfassung:
»Gib acht, er glaubt, wir seien Spione, er kann unser Verderben sein.«
Sole war ebenfalls ein wenig beschwipst.
»Wer? Dieser Transack? Dieses stinkende Fass Fischöl weiß, dass wir zu den Guten gehören, dass wir rein gar nichts mit Spionage am Hut haben. Er wollte dir etwas Angst einjagen, damit du ihn nicht störst. Begreifst du? Alberner Kerl, du! Der will, dass ich ihm die Krallen zeige! … Nun hat er mir das nicht direkt gesagt, aber ja!«
Mir sind alle Sicherungen durchgebrannt. Den ganzen Abend hatte ich was geahnt; doch die Wahrheit ist, er hatte mir derart viel Angst eingejagt mit der Spionage, dass ich weder ein noch aus wusste. Klar dachte Sole an nichts anderes, sie hatte keine Vorstellung von der Macht dieses Mannes und mit welch leichtem Federstrich er einen bei Verdacht auf Spionage, ob zu Recht oder zu Unrecht, auszulöschen vermochte, wenn ihm nur der Sinn danach stand.
Wir traten auf die Straße. Es wurde bald hell. Der Baron stolperte ein paar Schritte neben uns her und scheuerte an der Fassade entlang, mit entglittenem Gesicht schlug er nach mir:
»Du bist ein Spion, ein Spionenschwein. Dich mache ich einen Kopf kürzer.«
Ich duckte mich, so gut ich konnte, und herrschte Sole an, sie solle einen Zahn zulegen, ob wir ihn nicht abhängen könnten; aber mit zwei Sätzen war er wieder an uns dran, hakte sich unter und ließ sich hin und her wankend von uns beiden mitschleppen.
Fast zuhause angekommen, fiel ihm ein:
»Ich komme mit euch rauf.«
»Nein, Baron; Sie gehen schnurstracks schlafen, dringend.«
»Ich habe gesagt, dass ich mit raufkomme.«
»Nein; das ist nicht möglich.«
»Für mich ist nichts unmöglich, weißt du?«
Und er stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf mich. Mir wurde schwarz vor Augen. Als er glaubte, mich niedergerungen zu haben, drehte er sich zu Sole, schnappte sie sich, legte ihr einen Arm um die Hüften und wollte mit ihr weitergehen.
Ich sprang katzengleich hinter ihn und versetzte ihm mit aller Kraft einen Stoß und schleuderte ihn gegen die Wand. Die Straße war menschenleer. In ganz Konstantinopel vernahm man kein Knistern. Der Baron war von stattlicher Statur und kräftig, aber er war besoffen wie ein Kutscher, ich hingegen war behände wie ein Äffchen. Als ich ihn schnaubend und gekrümmt an der Wand stehen sah, wie er versuchte, breitbeinig Halt zu finden, und etwas in seinem Mantel suchte, dachte ich: »Der Typ wird dich wie einen Hund totschlagen. Du musst alles auf eine Karte setzen«.
Ich griff nach dem Messer und verharrte vor ihm. Eine Klinge aus Toledo-Stahl mit einem Knauf aus Ziegenhorn, die ich in Burgos ein paar Schäfern abgekauft hatte und immer bei mir trug. Als der Baron mit seinen Katzenaugen die Klinge in meiner Hand aufblitzen sah, war er einen Moment lang verblüfft.
»Messer!«, hörte ich ihn überrascht brabbeln. Augenscheinlich hatte er damit nicht gerechnet.
Aber bevor ich schalten konnte, sah ich zwischen seinen Lippen die Reflexion eines silbernen Gegenstands und eine Sekunde später gellte ein helles Trillern, das mich zusammenzucken ließ. Er hatte mit der Trillerpfeife, die jeder Offizier bei sich trug, der durch Konstantinopel lief, Alarm geschlagen. Mir gefror das Blut in den Adern. In wenigen Sekunden würde die erste deutsche Patrouille eintreffen, sie würden mich mit der Waffe in der Hand ergreifen und gnade Gott, was dieser besoffene Sack gegen mich aussagen würde … Wie gelähmt und ratlos, was jetzt zu tun sei, hörten wir ganz aus der Nähe ein anderes Trillern, das auf den Alarm des Barons antwortete. Der blies wie tobsüchtig in seine Trillerpfeife, und ich, wahnsinnig vor Angst, zog Sole am Handgelenk fort. Wie bei einer Jagd, das Messer gezückt, rannten wir die Straße hinunter, eilten in unsere vier Wände. Als wir an unserer Kreuzung ankamen, durchkämmten schon drei oder vier dieser Trupps die Nacht von allen Richtungen her. Während wir mit zittrigen Händen das Haupttor aufsperrten, begannen uns die Hunde, die in alle Ewigkeit verdammten Köter Konstantinopels, zu verraten und sich zuzubellen, was los war. Wir konnten uns gerade noch in den Eingang stellen und die Tür von innen zudrücken. Schlotternd vor Angst, drückten wir sie immer noch zu, als wir das dumpfe Trommeln der Stiefel einer deutschen Patrouille auf den Pflastersteinen hörten, die dem Baron zu Hilfe eilte.
Der Schreck saß tief! Tagelang wagten wir nicht einmal, uns zu bewegen; jeden Augenblick erwarteten wir das Eintreffen der deutschen Patrouille, die käme, uns in Arrest zu nehmen. Jeder wusste, dass den Baron Stettin nach seinen Gelagen ein wenig die Reue überkam und er wegen des Vorgefallenen entschied, uns nicht zu verfolgen. Wenige Nächte später sah ich ihn wieder. Er grüßte uns übertrieben freundlich. Als sei nichts geschehen. Ein andermal zog er mich beiseite und warnte mich:
»Gib acht, Spanier; ich bleibe dabei, dass du ein Spion der Franzosen bist, ich habe mir vorgenommen, dich zur Strecke zu bringen.«
Ständig suchte er mich auf; er nutzte jede Gelegenheit, die sich ihm bot, mir seine Ansichten mitzuteilen; er zwang mich, mit ihm zu trinken; er schickte mir seine Schnüffler hinterher. Ich wurde zu seiner Obsession. Das Leben wurde schließlich unerträglich, und wir überlegten, aus der Türkei zu verschwinden, damit dieser Alptraum endete. Aber wohin hätten wir gehen sollen? Nach Frankreich konnte man nicht mehr zurückkehren; nach Spanien? Bloß im Traum. Dann fiel uns ein, nach Rumänien zu gehen, wo kein Krieg war. Es musste uns gelingen, aus der Türkei rauszukommen, was schwer umzusetzen war, waren wir doch für die deutsche Gegenspionage verdächtige Subjekte. Hinzu kam, dass wir durch ganz Bulgarien hindurch mussten, das sich auch im Krieg befand.
In Konstantinopel konnten wir indes nicht bleiben. Man spürte den Krieg jeden Tag intensiver. Die Schiffe kamen beladen mit Toten und Verletzten aus Gallipoli, Deutsche wie Türken, Franzosen, Engländer. Wer verletzt war, starb spätestens auf dem Transport, und die Schiffe spuckten bei ihrer Ankunft ganze Laderäume von Verendeten auf die Mole, die an der Endstation bei Galata in die Waggons umverladen wurden. Oft stapelten sich die Kadaver dort tagelang, ohne beerdigt zu werden.
Konstantinopel glich damals der Stadt der Toten. Wir liefen zwischen ihnen her, als sei es das Normalste der Welt. Im Zentrum gab es überall Friedhöfe. Im Cassim-Park lag einer, der an Größe alles überstieg. In Tatavola lagen sie verstreut zwischen den Häusern. Die fanatischen Türken liefen herbei, um an ihrer Seite zu beten, während die Leute ihren Geschäften nachgingen. Weit verbreitet waren niedrige Bauten, kleine Kapellchen, durch deren Fenster ein Raum zu erkennen war, den eine schlichte Öllampe erleuchtete, die neben einem Sarg flackerte, auf dem immer wieder mal ein Militärmantel und ein Helm lagen. Der karge, stille Schmuck solcherlei Krypten, wenn man von dem Gebimmel der Straßenbahnen, den Rufen der Straßenhändler und dem Gelächter der Kinder absah, die in den Straßen spielten.
Nirgendwo anders habe ich einen Ort gesehen, an dem die Toten derart »lebendig« gehalten an den Lebenden klebten und die Lebenden so sehr an die Nähe der Toten gewöhnt waren. Schließlich wird man eine Art Freund von ihnen. Ich erinnere mich an eines dieser Kapellchen mit dem Sarg auf dem Erdboden, mit dem Mantel und dem Helm, das mich jedes Mal, wenn ich zum Cabaret ging oder zurückkam, ergriff. Was mich besonders beeindruckte, vornehmlich nachts, war, wenn in der Dunkelheit der Straßen dieses traurige Lichtlein in der Krypta brannte; aber schließlich gewöhnte ich mich an die Nachbarschaft dieses Toten, der mir tagein, tagaus über den Weg lief, und schließlich wurden wir gute Freunde. An so manchen späten Abenden, wenn ich gut gelaunt auf dem Weg nach Hause war, schaute ich durch das erleuchtete Fensterchen und es überkam mich die Lust ihm zu sagen:
»Hola, Freund! Mann, da hast du was verpasst, heute nicht ins Parisiana zu kommen!«
Die Leute plagte eine permanente Angst. Die Dünnhäutigkeit der Türken begreift man am ehesten mit der Schilderung der Ereignisse, die ein Alarm bei einer Nachtvorstellung in einem Kino auslöste, der Dutzende Verletzte verursachte, allein weil auf der Leinwand eine Horde deutscher Soldaten auftauchte, die mit Pickelhauben und aufgepflanzten Bajonetten eine Attacke simulierten und auf das Publikum zustürmten, bis ihre reißerischen Gesichter die ganze Leinwand einnahmen, was Angst und Schrecken unter den Zuschauern auslöste. Die Deutschen, die ihre Alliierten mit dem Krieg vertraut machen wollten, setzten diese Propagandafilme ihrer Militärführung auf die Spielpläne und führten sie jeweils am Freitag den türkischen Soldaten vor. Doch resultierte daraus das Gegenteil.
Im Hafen war die Angst nicht zu steigern, die Vorsichtsmaßnahmen waren enorm. Die Meerenge strotzte vor Artillerie, entlang des Bosporus stand aus Furcht vor den Alliierten ein Spalier aus Maschinengewehren und Kanonen. Eines Tages vollbrachte ein französisches U-Boot eine wahre Heldentat und versetzte die Bevölkerung Konstantinopels in Angst und Schrecken. Es gelang ihm, unentdeckt durch die Minen hindurch bis an die erste Brücke vorzudringen. Hier konnten sie nicht weiter, weil das Stahlnetz, das die Durchfahrt versperrte, sie daran hinderte. Die französische Besatzung ging daraufhin an Land. Es war mitten in der Nacht. Sie besaßen die Kühnheit, den Besitzer eines Ladens aus dem Bett zu klingeln, damit sie ihre Einkäufe tätigen konnten, und kehrten still an Bord zurück. Aber bevor sie wieder abtauchten, feuerten sie noch ein Geschoss ab, das die Fassade eines Hotels niederriss. Diese Visitenkarte versetzte die Türken in Panik. Ein anderes, englisches U-Boot gelangte bis an die zweite Brücke und konnte ohne Schaden entkommen. Ein drittes, ebenfalls britisches U-Boot kreuzte in diesen Gewässern und wurde von den Deutschen entdeckt. Um die Geheimnisse der U-Boote verstehen zu können, zwangen Vertreter der deutschen Regierung die eingekerkerte englische Besatzung, ihr Boot auslaufen zu lassen.
Vor den Augen vieler Neugieriger tauchte das U-Boot im Hafen ab und mit ihm die englische Besatzung und die deutschen Ingenieure, die die Steuerung erlernen wollten. Aber es tauchte nie wieder auf. Man fand heraus, dass die Engländer die heldenhafte Entscheidung, es absaufen zu lassen, wahrmachten und es vorzogen, am Grunde der Hafeneinfahrt zusammen mit den deutschen Kommandeuren umzukommen, damit diese nicht in den Besitz der Geheimnisse der britischen U-Boot-Technik kamen.
Kurz darauf liefen die berüchtigten wie sagenumwobenen Schiffe Goeben und Breslau Konstantinopel als Nothafen an. Ich machte die Bekanntschaft mit einigen ihrer Offiziere, die mehr als einmal ins Cabaret kamen, um mich tanzen zu sehen. Sie waren Jünglinge im Studentenalter. Ihr ungeheurer Ruhm hallte durch ganz Konstantinopel. Die Goeben-Leute und Breslauer tauchten auf und zogen ab, wie es ihnen gefiel, was die alliierten Kollegen gewaltig foppte.
Die Sache wurde immer unschöner, und wir begannen, unterstützt vom spanischen Konsulat, mit den Vorbereitungen, über die Grenze Bulgariens auszureisen – wenn man uns ließ. Ich bemerkte, wie der Kreis, den die deutschen Spione um mich herum zogen, immer enger wurde. Ich konnte mich nicht frei bewegen. Überall tauchten die Agenten des verhassten Barons Stettin auf.
Ich wagte nicht, mit jemandem zu sprechen. Ich bemerkte, dass selbst meine Kollegen aufmerksam zuhörten, was ich sagte, oder herausfinden wollten, was ich vorhatte, um es gleich der deutschen Kommandantur zu berichten. Das war kein Leben für Sole und mich. Eines späten Abends, die Vorstellung im Cabaret war gerade beendet, saßen wir wirklich wie eingeklemmt in unserem Hotelzimmer. Sole überkam in dieser Nacht eine tiefe Traurigkeit. Sie weinte. Sie wollte um jeden Preis, dass wir von dort fortgingen. Ich wusste nur zu genau, warum sie weinte. Ich wusste, warum sie litt, welche Qual sie plagte, wenn wir abends in die Cabarets gingen, tanzend und Champagner trinkend. Ich tröstete sie, versuchte es, indem ich mit leiser Stimme von »ihr« erzählte; von unserem Glück zu dritt, in unserem Häuschen in Spanien; wie wir es wiederfinden würden, wenn wir heimkehrten … Plötzlich öffnete sich knarrend die Tür zu unserem Zimmer und es tauchte aus dem Dunkel des Flurs im Türrahmen die verhasste Statur des Baron Stettin auf, Monokel im Gesicht, die Hand in der Hosentasche, in der zweifelsfrei eine Waffe steckte. Als er die weinende Sole sah und mich zu ihren Füßen, schien er etwas irritiert, obwohl sein Gesicht keine Regung verriet. Er stotterte irgendwas, das wie eine Erklärung klingen sollte:
»Tu nicht so erschrocken, Spanier. Du weißt, dass ich dich aus nächster Nähe beobachte. Ich hörte dich wimmern und dachte, du seiest dabei zu …«
Er warf einen flüchtigen Blick ins Zimmer, schlug die Tür zu und verschwand. Möglicherweise war ich an diesem Abend auch leicht verwirrt.
Dieser unangekündigte Besuch versetzte uns in grenzenlose Panik. Wir entschieden, Konstantinopel am nächsten Tag zu verlassen, komme, was da wolle. Und es gelang uns.
Wir gelangten ohne große Probleme aus Konstantinopel raus. Da es aber verboten war, Geld in Form von Goldmünzen bei sich zu haben (nicht mehr als fünf türkische Libra pro Person), und ich durch meine Engagements in den Cabarets an die fünfzig Libras in Gold ansparen konnte, musste ich mir was einfallen lassen, wenn ich sie über die Grenze schmuggeln wollte.
Ich versteckte sie in den Absätzen, hinter der Kofferschließe und im Schminkkasten.
Sie filzten uns, bevor sie uns in den Bahnhof hineinließen; sie filzten uns erneut auf dem Bahnsteig; das dritte Filzen begann, nachdem der Zug angefahren war und wir im Gang standen, und das letzte, als wir Rustschuk an der bulgarischen Grenze erreichten. Sie stellten uns komplett auf den Kopf.
Das Paket Tabak, das ich bei mir hatte, zerpflückten sie Blatt für Blatt. Das Messer mit dem Ziegenfuß bereitete mir weitere Scherereien. Sie entdeckten es, und da es absolut untersagt war, Waffen bei sich zu tragen, wollten sie mich aus dem Waggon holen und festsetzen lassen. Die Sache wurde mit etwas Geld geregelt. So, wie sich die Dinge fast immer regeln lassen.
Wir fuhren bereits durch bulgarisches Territorium; aber wir hatten noch keine fünfzig Kilometer zurückgelegt, als der Zug an einer Art Laderampe anhielt, zu der eine Baracke gehörte, die vollgestopft war mit Soldaten. Der Zustand dieser bulgarischen Soldaten war grauenhaft. Sie waren wie Vieh bepackt mit vierzig Kilo Gepäck oder mehr auf den Schultern und schienen derart ermattet, dass sie sich, eingewickelt in ihre Decken, zum Schlafen auf die verschneite Rampe warfen. Welch niederschmetterndes Bild diese bedauernswerten bulgarischen Soldaten bei uns hinterließen! Sie liefen schwerfällig von einem Ende der Rampe zum anderen, angetrieben von den Offizieren wie leidende Viecher, so als würden sie in diesen verdreckten Waggons, buchstäblichen Viehwaggons, zur Schlachtbank gefahren. Sie passten nicht alle hinein, und deshalb fielen sie in unsere Wagen ein. Sie stürmten überfallartig in unsere Abteile und jagten uns, wortlos grunzend und uns verwünschend, mit Tritten und Gewehrkolben auf die Gänge hinaus. Schlotternd standen wir die ganze Reise über auf dem Gang, während die wirklich bedauernswerten Soldaten ineinander verknäult in den Abteilen tief schliefen. Sie waren zerrissene Gestalten, schlammverdreckt, mit tief eingefallenen Wangen und fiebrigen Augen.
Einige unter ihnen, die noch Kraft hatten, durchbrachen plötzlich die Stille und schmetterten im Chor die Marseillaise. Ich war perplex.
»Wie können Sie es wagen, die Marseillaise zu singen?«, fragte ich sie.
»Wir singen, worauf wir Lust haben«, gab mir einer zur Antwort. »Niemand kann uns irgendwas verbieten, ob du willst oder nicht. Morgen werden sie uns schlachten. Wer kann uns noch verbieten zu singen, was wir wollen? Die Franzosen sind unsere Feinde; und wenn ich schreie ›Vive la France‹, was dann?«
Der Zug fuhr recht nah hinter der Front entlang, und immer wenn er anhielt, galt es, frische Truppen nachzuführen oder die Rückkehrer aus den Schützengräben aufzunehmen. In diesem Durcheinander näherten wir uns Sofia im Schneckentempo. Die Abteilfenster waren verrammelt oder schwarz getüncht. In jedem Abteil stand eine Wache mit aufgepflanztem Bajonett. Das setzte sich bis in die Toiletten fort, und nicht einmal dort ließen sie einen unbeobachtet. Wir trafen in Sofi a ein; doch in der Hauptstadt Bulgariens stand alles so hoffnungslos, dass wir entschieden, am nächsten Morgen Richtung rumänischer Grenze weiterzufahren. Wir fanden kein Hotel für die Nacht. Es gelang mir, eine Handvoll bulgarische Levas gegen etwas Schwarzbrot und ein Stück Dörrfleisch einzutauschen. Nach Anbruch der Dunkelheit erreichten wir die rumänische Grenze. Unsere Reisepässe wurden überprüft, weshalb wir einen weiteren Tag festsaßen.
Bei klirrender Kälte gingen wir in die Stadt, um Unterkunft und ein Abendessen zu suchen. Orientierungslos, ohne irgendetwas zu finden oder jemanden zu verstehen, irrten wir umher, bis ein junger, freundlicher Kerl auf mich zukam und in feinstem Spanisch unter dem Vorwand, um Feuer zu bitten, eine Unterhaltung lostrat. Ich heftete mich an ihn, wie einer, der nach dem rettenden Ast greift. Er bot mir seine Freundschaft an und erklärte sich bereit, uns zu begleiten. Er besorgte uns eine Unterkunft, aber als wir ihn, nachdem wir das Zimmer bezogen hatten, verabschieden wollten, begann er uns mit sonderbaren Fragen zu löchern und lästig zu werden. Es dauerte nicht lange, bis er mir preisgab, dass er Deutscher sei, und im selben Augenblick erriet ich, was er wirklich suchte. Er war ein Agent des Barons Stettin, der uns bis an die rumänische Grenze verfolgt hatte und der uns, seine Beute, einen Steinwurf entfernt von Rumänien nicht entkommen lassen wollte. Er selbst bestätigte den Verdacht. Er schnüffelte, wie es ihm beliebte, steckte seine Nase in unsere Gepäckstücke und endlich, offenbar weil er entmutigt war oder einfach nur müde wurde, ließ er uns in Ruhe und ging schlafen. Im Morgengrauen überquerten wir die Donau bei Eiseskälte und betraten endlich rumänischen Boden. Nur hatte die Sache für mich einen letzten Haken.
Ich bin gebürtig aus Burgos, so steht es in meinem Pass, aber der rumänische Grenzer las heraus, dass ich Bulgare sei, und wollte mich nicht einreisen lassen.
»Du bist Bulgare; aus Burgas«, sagte er mir ins Gesicht und hielt mir den Pass vor die Augen.
In der Tat, in Bulgarien existiert eine Stadt, die Burgas heißt, und der Grenzer hatte im Leben weder von Spanien noch von Burgos reden hören, geschweige denn von der Figur des Fliegenfressers. Ich musste ihm alles haarklein erklären, damit er mich passieren ließ. Bis hin zur Legende vom Fliegenfresser von Burgos.
Über den Bahnsteig schlendernd, darauf wartend, dass der Zug nach Bukarest abfuhr, warf ich einen Blick in die Kantine. Weißbrot! Gerettet! Niemand versteht, was ein Weißbrot bedeutet, gut durchgebacken, goldfarben, mit seinen luftigen Krümeln und seiner knisternden Kruste, bis er nicht über mehrere Monate, wie wir es in der Türkei erlitten haben, dieses Schwarzbrot herunterwürgen musste, das die Deutschen backen, weiß Gott mit was alles im Teig! Ich warf mich wie eine Furie auf diese Laibe Weißbrot. Bereits an die Fabelpreise für gutes Brot in kriegsnahen Gebieten gewohnt, schlug ich jeden Skrupel in den Wind, zog eine Goldmünze hervor, legte sie auf die Theke und begann Laib um Laib zum Waggon zu schaffen, und sie Sole durch das Fenster zu reichen. Die Leute lachten über mich. Diese Unglücklichen! Sie hatten nur noch keine Bevölkerung erlebt, die kein Brot hat. Sie würden es in Kürze kennenlernen. In Bukarest kehrten wir im Hotel Central ein, direkt gegenüber dem Postamt. Ich ging in ein Cabaret, das sich Alhambra nannte, und stellte mich vor. Nach fünf Tagen debütierten wir. Es gefiel uns und wir waren vom Glück begünstigt. Es gab Brot und Frieden! Wie oft habe ich später Menschen sich gegenseitig umbringen sehen, die nach diesen beiden Dingen schrien: Brot und Frieden!
Kurz darauf wurden wir vom Casino de Paris unter Vertrag genommen, und nach einiger Zeit dort hatten wir ein kurzes Engagement in Braila, wo wir zwei Wochen im Paradies auftraten. Am Abend unseres letzten Auftritts zog ich mir eine Verletzung zu. Beim Tanzen verdrehte ich mir das Bein, und ich musste für lange Zeit aussetzen. Dies war das Zeichen, dass unsere Glückssträhne endete. Sole musste ohne Partner tanzen. Ich spielte zur Begleitung mit den Trommelstöcken. Damit traten wir in anderen, unbedeutenderen Cabarets auf: dem Tango und dem Salata.
Im Großen und Ganzen war ich zufrieden, denn nach allem, was wir in der Türkei erlitten hatten, schien uns Bukarest wie das reinste Gloria. Eines Abends, es lief im Tango beschaulich wie immer, befahl der Besitzer dem Orchester plötzlich: »Aufhören!« Er stellte sich vor das Publikum und schrie wie wahnsinnig vor Begeisterung:
»Der Krieg! Der Krieg! Rumänien hat Deutschland soeben den Krieg erklärt!«
Das Publikum erhob sich von den Plätzen und johlte begeistert:
»Der Krieg! Der Krieg! Es lebe der Krieg!«
Ich saß mit meinem verknacksten Fuß in einer Ecke, traurig und allein, und schaute ihnen sprachlos zu. Mir schien, als seien sie vom einen auf den anderen Moment alle verrückt geworden. Dass die ganze Welt verrückt geworden war. Der Krieg! Wussten diese Trottel, was das ist, der Krieg?!
Der Besitzer des Cabarets brachte Champagner an die Tische. Welcher Beifall! Welche Freude! Alle waren betrunken, vom Jubel wie vom Wein.
Traurig verließ ich das Cabaret. Bei Sole untergehakt, humpelnd, dachte ich bei mir, ich sei vielleicht der letzte vernünftige Mensch.
»Wir müssen fortgehen«, sagte ich zu Sole. »Der Krieg verfolgt uns. Ich möchte das nicht noch einmal durchmachen. Sonst erleben wir hier das Ende der Geschichte.«
»Und wohin gehen wir?«, fragte sie mich.