Hermann A. Schlögl

NOFRETETE

Die Wahrheit über die
schöne Königin

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

Zum Buch

Die am 6. Dezember 1912 gefundene Büste der Nofretete gehört zu den berühmtesten Skulpturen der Welt. Wer aber war die geheimnisvolle schöne Königin? Woher kam sie, und warum verschwand sie plötzlich aus den Quellen? Auf der Grundlage altägyptischer Texte und archäologischer Funde zeigt Hermann A. Schlögl, dass Nofretetes Rolle an der Seite Echnatons bisher unterschätzt wurde. Sie war nicht nur seine Große Königliche Gemahlin, sondern faktisch eine gleichrangige Mitregentin, die in der religiösen Revolution als Mittlerin und Schutzgöttin eine Schlüsselrolle spielte. Vor allem kann Hermann A. Schlögl auf der Grundlage einer neuen DNS-Analyse der königlichen Mumien, die eigens für dieses Buch durchgeführt wurde, endgültig die familiäre Abkunft und die verwandtschaftlichen Beziehungen von Nofretete belegen und damit bisherige Analysen, die in den Medien für Aufsehen sorgten, aber auf falschen Zuweisungen beruhten, in das Reich der Legende verweisen.

Über den Autor

Hermann Alexander Schlögl ist Professor em. für Ägyptologie an der Universität Fribourg und gehört zu den führenden Kennern der Amarna-Zeit. In der Reihe C.H.Beck Wissen erschienen von ihm außerdem «Das Alte Ägypten» (3. Auflage 2008) sowie «Echnaton» (2008).

 

 

 

Inhalt

Einführung: Nofretete wird entdeckt

Jeder Fortschritt ist ein Wagnis

Die Schöne aus dem Wüstensand

1. Abstammungslinien

Der unaufhaltsame Aufstieg einer Familie

Zwei Schwestern

2. Von Amenophis zu Echnaton

Götter und Kulte

Vom Prinzen im Schatten zum Pharao

Die Geburt eines Gottes

Die große Wende

Atons heilige Stadt

Bruch mit der Vergangenheit

3. Die Große Königsgemahlin

Die süße Stimme der Nofretete

Die Herrschaft des Lichts

Macht über die Geschwindigkeit

Das prächtige Gemälde der königlichen Familie

Achetaton: Hauptstadt in glanzvoller Zeit

Unglück breitet sich aus

Die letzten Jahre Echnatons

4. Letzte Rätsel

Genealogie und Genetik

Das Grab des mysteriösen Königs

Dank

Anhang

Zeittafel

DNS-Analyse des Königshauses von Amarna

Stammbaum des Königshauses von Amarna

Literaturhinweise

Bildnachweis

Register

Dem Menschen ist ein Mensch
noch immer lieber, als ein Engel.
Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise

Einführung: Nofretete wird entdeckt

Jeder Fortschritt ist ein Wagnis

Nofretete, Ikone eines zeitlos schönen Frauenbildes, Große Königsgemahlin des rätselhaften Pharaos Amenophis IV.-Echnaton: Sie vermittelt den Zauber von Anmut und Noblesse, sie besitzt die Ausstrahlung einer überragenden Persönlichkeit. Ihr Leben und ihr Wirken sind geheimnisumwittert, ein wundersamer Stoff für Träume! «Wir können in der Finsternis durch Forderungen und Einbildungskraft uns die hellsten Bilder hervorrufen. Im Traum erscheinen uns die Gegenstände wie am vollen Tage», schreibt Johann Wolfgang von Goethe im Entwurf einer Farbenlehre.

Oft wurde die von Echnaton und Nofretete geprägte Epoche des solaren Monotheismus als Höhepunkt der ägyptischen Religion überhaupt aufgefasst, so besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber auch in unserer Zeit. Der Grund dafür liegt vielleicht darin, dass die sogenannte Amarna-Zeit unseren modernen Ansichten und Empfindungen am nächsten kommt. Man muss den Vorhang der Geschichte, der uns diese Epoche verbirgt, etwas anheben, um einen Blick auf die Menschen jener Jahrzehnte werfen zu können.

Seit Beginn der wissenschaftlichen Ägyptologie bilden archäologische und textliche Quellen die Grundlagen für jede Interpretation, ihnen muss der Forscher noch heute verpflichtet sein. Erst im 20. Jahrhundert kamen naturwissenschaftliche Betrachtungsweisen hinzu, und zwar zunächst auf der Basis biologischer Daten, die durch Röntgen-Untersuchungen und vergleichende biometrische Messungen von Mumien erhoben wurden.

In jüngster Zeit erlebte die ägyptologische Forschung einen ungeahnten Fortschritt mit Hilfe humangenetischer Untersuchungen, die überraschende Ergebnisse brachten und Anlass zu neuen Schlussfolgerungen geben. Schon in den Jahren 2007 bis 2009 gelangte ein internationales Team zu grundlegenden Erkenntnissen, die aufgrund der rasanten technischen Entwicklung immer wieder verfeinert und verbessert werden können. Manche Zusammenhänge, die früher nur vermutet werden konnten, haben sich geklärt, größere Irrtümer sind zu kleineren geworden. Aber der historischen Wahrheit nahe zu kommen, wird auch weiterhin ein Problem bleiben.

Ungeachtet der Tatsache, dass Echnaton und Nofretete eine in ihrer historischen Wirkung schwer zu trennende Einheit bilden, soll der Fokus dieses Buches auf die Königin gerichtet sein, war sie doch keine Legende, sondern eine in der ägyptischen Welt herausragende weibliche Gestalt. Sie wurde zur Göttin erhoben, fuhr aber fort, ein Mensch zu sein, zu leiden, Wünsche zu haben, und bedurfte auch des Mitgefühls. Die übersetzten Texte, die hier vorgestellt und zur Interpretation benutzt werden, sind vorwiegend auf die Königin ausgerichtet. Auch wenn sie für unser Verständnis häufig standardisiert klingen, haben sie doch eine Aussagekraft.

Da die Hieroglyphenschrift ohne Vokale auskommt, ist die Wiedergabe von ägyptischen Eigennamen immer problematisch. Doch aus dem Vergleich mit schriftlicher diplomatischer Hinterlassenschaft jener Zeit wissen wir heute genau, wie die Namen «Nofretete» und «Echnaton» ausgesprochen wurden, nämlich «Nafteta» und «Achanjati». Streng genommen müsste deshalb der Titel des Buches «Nafteta» heißen. Aber wer verbindet schon den Personennamen «Nafteta» mit der ägyptischen Königin «Nofretete» (oder «Nefertiti»), wie sie unter falscher Lautbildung weltbekannt ist? Aus diesem Grund erhält die übliche Benennung hier den Vorzug.

Zusätzlich zu den zahlreichen schriftlichen Zeugnissen werden vor allem archäologische Dokumente ausgewertet, die trotz mancher Zerstörungsversuche in der Restaurationszeit noch zahlreich vorhanden sind. Dazu kommen die kürzlich durchgeführten genetischen Untersuchungen der königlichen Mumien der späten 18. Dynastie, die neue Erkenntnisse geliefert haben.

Die Schöne aus dem Wüstensand

Die Ruinen von Tell el-Amarna, dem Ort, an dem sich einst die alte Residenzstadt Achetaton (= Horizont des Aton) des Königs Amenophis IV.-Echnaton und seiner Gemahlin Nofretete befand, liegen auf der Ostseite des Nils in einer halbkreisförmigen Ebene, die vom östlichen Gebirge umrahmt wird. Im Jahre 1907 ging die Grabungskonzession für die antike Stadt von den Engländern auf die Deutsche Orientgesellschaft über.

Allerdings konnten die Grabungen unter Leitung des deutschen Architekten und Ägyptologen Ludwig Borchardt (1863–1938) und seines Kollegen Hermann Ranke (1878–1953) erst vier Jahre später beginnen, da für das aufwendige Vorhaben zunächst Geldgeber gesucht werden mussten. Ein solcher Mäzen fand sich schließlich in der Person des Berliner preußisch-jüdischen Baumwollfabrikanten James Simon (1851–1932), der schon die Grabungen von Abusir unterstützt hatte und jetzt diese Kampagnen in vollem Umfang auf eigene Rechnung finanzierte. Zwar wurde die archäologische Expedition offiziell durch die Deutsche Orientgesellschaft, tatsächlich jedoch in seinem Namen ausgeführt.

Simons Liebe zu den antiken Kulturen und zur bildenden Kunst war schon während seiner Schulzeit im Berliner Elitegymnasium «Graues Kloster» entbrannt, einer Lehranstalt, die auch Bismarck besucht hatte. Da Simons Eltern ihn aber dringend als Nachfolger der Familie in der im Jahr 1852 gegründeten Textilfirma «Gebrüder Simon» brauchten, rieten sie ihm von einer wissenschaftlichen Laufbahn ab, und er folgte schließlich ihren Wünschen. In Deutschland und England erlernte er den Kaufmannsberuf von Grund auf und wirkte dann ab 1890 in Berlin als Unternehmer und zweiter Gesellschafter neben seinem Onkel. Dabei führte er das Geschäft derart erfolgreich – es erlangte überregionale, ja europäische Bedeutung –, dass er im Jahre 1911 an sechster Stelle der Berliner Jahreseinkommensliste geführt wurde. Doch seine gemeinnützige Anteilnahme und sein soziales Gewissen stellte er immer an vorderste Stelle und machte sie zum Schwerpunkt einer persönlichen Verpflichtung und Verantwortung. Seine frühe Leidenschaft für die schönen Künste hatte er indes nie verloren. Im Jahr 1901 sagte James Simon: «Schließlich ist unsere Absicht doch, das Interesse an alter Kunst und alter Wissenschaft in immer weitere Kreise zu tragen.» Und nach diesem Grundsatz handelte er. Mit der Unterstützung von Grabungen und einer emsigen Tätigkeit als Sammler hochkarätiger Stücke setzte er seine Worte in die Tat um.

Dies erklärt auch seine Bereitschaft, die Grabungen in Tell el-Amarna ohne Unterstützung weiterer Mäzene zu finanzieren. Bereits vor dem Beginn der Arbeiten wurde in Verhandlungen eine spätere Zweiteilung der Funde festgelegt, wobei eine Hälfte dem Berliner Geldgeber, die andere Hälfte aber dem ägyptischen Staat, also letztlich dem Ägyptischen Museum in Kairo, gehören sollte.

Daraufhin begann schließlich im Jahre 1911 die Grabungskampagne in Tell el-Amarna. Die ersten beiden Abschnitte verliefen ohne spektakuläre Höhepunkte, doch das sollte sich im Dezember 1912 gründlich ändern. Während der archäologischen Arbeit in der antiken Südstadt von Achetaton, welche einst vorwiegend von den Reichen jener Zeit bewohnt worden war, stießen Borchardt und seine Mitarbeiter auf ein weitläufiges Gehöft, das durch Mauern in mehrere einzelne Höfe unterteilt war. Heute wissen wir, dass dieses Gehöft (Haus P 47, 1–3) aus drei Wohnhäusern bestand, die dem «Vorsteher der Bildhauer», Thutmosis, gehört hatten und auf einem Grundstück von 45 Metern Breite und 54 Metern Länge erbaut worden waren. Im prächtigen Haupthaus mit einer Wohnfläche von 300 Quadratmetern wohnte der Bildhauer selbst, in einem weiteren Bau (150 m2) sein Oberaufseher, während die Gesellen und Lehrlinge im bescheidenen dritten Trakt (83 m2) lebten. So bietet die Anlage auf engstem Raum auch einen eindrucksvollen Spiegel der damaligen sozialen Verhältnisse. Außerhalb der Wohngebäude auf dem von kleineren Mauern unterteilten Gelände befanden sich schließlich die überdachten Werkstätten, die Getreidespeicher, zwei Brunnen sowie einige Bäume. Etwa 34 bis 50 Menschen arbeiteten für den Bildhauer.

Dies alles war den Ausgräbern unbekannt, als am 6. Dezember 1912 in einer Kammer neben dem Empfangsraum des Haupthauses die berühmte Büste der Nofretete, der «bunten Königin», wie sie von den Ausgräbern bezeichnet wurde, zusammen mit Gipsabgüssen, Modellen und Bildwerken gefunden wurde. Ludwig Borchardt schrieb über diese Sternstunde der Archäologie in sein Grabungstagebuch:

Als ich am 6. Dezember 1912 bald nach der Mittagspause durch einen Zettel des gerade Aufsicht führenden Prof. Ranke eiligst nach Haus P 47,2 gerufen worden war, fand ich schon in dem Raum 19, dicht hinter der Tür bereits die soeben zum Vorschein gekommenen Bruchstücke einer lebensgroßen Büste Amenophis’ IV. vor. Gleich darauf, in nächster Nähe, etwas weiter in den Raum hinein gefundene, äußerst zierliche und leicht verletzbare Stücke ließen es angezeigt erscheinen, sogleich einen der umsichtigsten Arbeiter, unseren ersten Vorarbeiter Mohammed Ahmed es-Senussi, hier allein arbeiten zu lassen und aus nächster Nähe anzuweisen, gleichzeitig aber einen der jüngeren Herren mit der schriftlichen Aufnahme des Fortgangs der Arbeit zu beauftragen. Indem wir uns durch den nur 1,10 m hochliegenden Schutt allmählich gegen die Ostwand von Raum 19 vorarbeiteten, kamen weitere Stücke von hohem Kunstwert hinzu, die hier nicht einzeln erwähnt zu werden brauchen. Dann wurde wenig vor der Ostwand – 0,20 m davon, 0,35 m von der Nordwand – etwa in Kniehöhe vor uns zunächst nur ein fleischfarbener Nacken mit aufgemalten roten Bändern bloß. «Lebensgroße Büste der Königin» wurde angesagt und niedergeschrieben, die Hacke beiseite gelegt und mit den Händen behutsam weitergearbeitet. Die nächsten Minuten bestätigten das Angesagte, über dem Nacken kam der untere Teil der Büste, unter ihm die Hinterseite der Königinnenperücke zum Vorschein. Bis das neue Stück ganz vom Schutte befreit war, dauerte es allerdings noch einige Zeit, da zunächst ein nördlich dicht anliegender Porträtkopf des Königs vorsichtig geborgen werden musste. Dann wurde die bunte Büste erst herausgehoben, und wir hatten das lebensvollste ägyptische Kunstwerk in Händen. Es war fast vollstän dig, nur die Ohren waren bestoßen und im linken Auge fehlte die Einlage. Der Schutt, auch der schon hinausgeschaffte, wurde sogleich durchsucht, zum Teil gesiebt. Es fanden sich noch einige Bruchstücke der Ohren, die Augeneinlage nicht. Erst viel später sah ich, dass sie nie vorhanden gewesen ist.

1 Der ägyptische Vorarbeiter übergibt Hermann Ranke am 6. Dezember 1912 die soeben entdeckte Büste der Nofretete. In der Mitte Paul Hollander, ein weiteres Mitglied des Grabungsteams.

Und in das Grabungsprotokoll vom 6. Dezember trug Borchardt lakonisch ein: «Beschreiben nützt nichts, ansehen.»

Nach Beendigung der Ausgrabungen wurde am 20. Januar 1913 die zuvor vereinbarte Zweiteilung der archäologischen Funde vorgenommen. Diese Aufgabe übernahm, wie es im Lande bis zum Jahre 1914 üblich war, jeweils der Ausgräber, also in diesem Fall Ludwig Borchardt. In dem einen der beiden Teile, die er zusammenstellte, befand sich ein wunderbar erhaltener farbiger Klappaltar (H. 43 cm, B. 39 cm), der in einer familiären Genreszene Echnaton und Nofretete unter der Strahlensonne zeigt, dazu ihre Töchter Meritaton, Maketaton und Anchesenpaaton. Der andere Teil enthielt die Büste Nofretetes, der «bunten Königin». Der französische Ägyptologe Gaston Maspero (1846–1916), Direktor des von den Franzosen einst gegründeten Ägyptischen Museums, beauftragte daraufhin den Inspektor des ägyptischen Antikendienstes für Mittelägypten (Dienstsitz: Assiut), Gustave Lefebvre (1879–1957), die Fundauswahl vorzunehmen. Wie aus ihren Tagebüchern bekannt ist, rechneten die Ausgräber zu diesem Zeitpunkt nicht damit, dass die «bunte Königin» nach Berlin kommen könnte. Doch am 20. Januar 1913 entschied sich Lefebvre, der wusste, dass Maspero für das Museum in Kairo dringend einen Altar wünschte, für die Fundhälfte mit dem in der Tat herrlichen Klappaltar. Noch heute ist dieser im Ägyptischen Museum in Kairo zu bewundern. Die Büste der Nofretete aber ging mit anderen Funden nach Berlin. Vertragsgemäß wurde der Geldgeber der Ausgrabung, James Simon, zu ihrem rechtmäßigen Eigentümer.

2 Der Berliner Unternehmer James Simon (1851–1932) war einer der bedeutendsten Kunstmäzene seiner Zeit. Er finanzierte die Grabungen von Ludwig Borchardt und schenkte den Berliner Museen einen großen Teil seiner Bestände, darunter die Büste der Nofretete. Fotografie, um 1914

James Simon war ein Weltbürger, Mäzen und Wohltäter von bewundernswerter Großzügigkeit. Er hatte den Berliner Museen bereits zahlreiche und sehr bedeutende ägyptische und vorderasiatische Kunstwerke geschenkt, aber auch viele europäische Skulpturen, außerdem etwa 800 Gemälde, darunter solche von Francesco di Vannucio, Antoniazzo Romano, Andrea Mantegna, Giovanni Bellini, Agnolo Bronzino, Francesco Albani, Filippino Lippi, Gustave Courbet, schließlich eine Fülle wertvoller Handschriften, Medaillen, Zeichnungen und Kupferstiche. Seine Schenkungen hatten also einen fast unvorstellbaren Wert, ohne dass James Simon je eine Gegenleistung erwartet hätte. Der Kunstschriftsteller Max Osborn (1870–1946) schrieb im Jahre 1929 in Berlins Aufstieg zur Weltstadt über ihn:

James Simon scheint mir der gesteigerte Typus des «patriotischen Kaufmanns», wie ihn Gotzkowsky (Johann Ernst Gotzkowsky, 1710–1775) aus den Tagen Friedrichs des Großen darstellt. Er war der erste, dem Bode (Wilhelm von Bode, 1845–1929, Kunsthistoriker) nachrühmen durfte, dass er unter seiner Leitung systematisch zu sammeln begann, mit großem Verständnis und feinstem Gefühl für die alte Kunst und immer darauf bedacht, die Materie zu studieren, um die er sich mühte.

Schon die früheren Schenkungen von James Simon waren Meilensteine in der Kulturgeschichte Berlins gewesen und zeigten sein einmaliges Engagement für Preußen. Den Höhepunkt seiner Verbundenheit mit seiner Heimatstadt bildete aber sicher die Schenkung der Nofretete-Büste, die er zuerst als Leihgabe, dann ab 1920 zusammen mit allen anderen Amarna-Funden für immer dem Ägyptischen Museum Berlin überließ. Obgleich James Simon heute, vielleicht aufgrund seiner zurückhaltenden und bescheidenen Art, fast vergessen und nur wenigen Fachleuten bekannt ist, hat er den Museen in Berlin doch mehr Kostbarkeiten übergeben als einst Heinrich Schliemann (1822–1890), dessen Andenken in allgemeiner Erinnerung ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg fühlten sich die französischen Ägyptologen von Ludwig Borchardt betrogen und verlangten die Rückgabe der Büste an Kairo. Daraufhin kam es zu einer erregten diplomatischen Auseinandersetzung, aus deren Briefwechsel sich vor allem Einblicke in die tief verwurzelte deutschfranzösische Feindschaft dieser Zeit ergeben. Zu Beginn der dreißiger Jahre war Deutschland sogar bereit, einem Tausch gegen andere wertvolle ägyptische Kunstwerke, meist im Kairener Museum doppelt vorhandene Objekte, zuzustimmen. Der schöne Klappaltar allerdings sollte nicht in den Übergabevorgang eingeschlossen sein. Selbst der Stifter, James Simon, hatte schließlich keine Einwände dagegen, die Büste der Nofretete aus dem Berliner Museum nach Kairo zu geben. Der Termin einer Rückgabe (9. Oktober 1933) stand schon fest, die inzwischen errichtete nationalsozialistische Regierung jedoch verbot aus politischen Gründen diesen Tausch. Die völlig einwandfreie und legale Teilung vom 20. Januar 1913 wurde nicht mehr rückgängig gemacht.

3 Die Gesamtanlage des Gehöfts des Bildhauers Thutmosis. Der Stern markiert die Stelle im Wohnhaus, an der im Dezember 1912 die Büste der Nofretete gefunden wurde.

Die 48 Zentimeter große farbige Kalksteinbüste der Nofretete muss als eines der prominentesten Rundbilder im Kunstschaffen der Menschheit angesehen werden. Ihre Schönheit ist vollkommen und zeitlos und zieht die Menschen auch heute noch in ihren Bann. Schon bald nach der Auffindung stellte man fest, dass die Büste niemals zur Postierung im Tempel oder im Palast bestimmt gewesen war, sondern als Lehrstück diente: Der Bildhauer Thutmosis hatte sie als Muster für andere Porträts der Königin geschaffen. Zum Wesen eines Werkstattmusters gehörte es, dass es in der Regel nicht vollständig ausgeführt war. So war es dem Bildhauer möglich, durch nicht fertige Details oder durch noch erkennbare Vorzeichnungen den Herstellungsweg leichter verfolgen zu können. Bei dem Nofretete-Porträt ist deshalb nur das rechte Auge ausgeführt: Eine schwarze Wachsschicht wurde auf den aus Kalkstein herausgearbeiteten Untergrund aufgetragen und darüber eine Bergkristallschale als Augeneinlage befestigt. Am nicht fertiggestellten linken Auge konnte der Bildhauer, der die Büste als Vorlage benutzte, deutlich erkennen, wie weit er den Augenuntergrund aus dem Stein herausarbeiten musste. Die Faszination, die von diesem Werk ausgeht, liegt in der künstlerischen Beherrschung des Gesamtaufbaus und im fast perfekten Erhaltungszustand: Das sensible, kühl ebenmäßige Gesicht und die wuchtige blaue Krone auf dem Haupt stehen in einem Spannungsverhältnis zum schlanken Hals und zum schmalen Büstensockel. Die Hauptlinien der Skulptur vereinigen sich im Antlitz der Königin. In klassischer Weise demonstriert dieses Meisterwerk, dass es seine Gesetze selbst bestimmt und damit die Zeit beherrscht.

Als Rainer Maria Rilke Fotos der Nofretete-Büste zugeschickt bekam, schrieb er: «Diese herrliche Königin, die ich gestern erhielt, ein bezauberndes Beispiel der erblühten Schönheit jener rätselhaften kurzen Epoche! Es ist ein Bildnis der Königin Neferete, der Gemahlin des berühmten IVten Amenophis: von demselben Erblüht- ja fast Erfruchtet-Sein wie die köstlichen Büsten des Königs.»

Seit der Wiedereröffnung des Ägyptischen Museums im Neuen Museum Berlin am 16. Oktober 2009 hat die Büste ihren würdigen und beherrschenden Ausstellungsplatz in der Nordkuppel des neuen Hauses gefunden.

1. Abstammungslinien

Der unaufhaltsame Aufstieg einer Familie

Der Großvater Echnatons, der Pharao Thutmosis IV. (1397–1388 v. Chr.), nahm eine Nebenfrau mit dem Namen Mutemuia in seinen Harem auf, die offenbar nicht aus königlicher Familie stammte. So führte sie nie den sonst üblichen Titel einer «Königstochter». Sie schenkte ihrem Gemahl einen männlichen Erben, den Thronfolger und späteren Pharao Amenophis III. Nach dem frühen Tod von Thutmosis IV., der nur wenig über dreißig Jahre alt wurde, bestieg Amenophis III. im jugendlichen Alter von erst zwölf Jahren den Thron. Zunächst wirkte seine Mutter als Regentin und führte das Land während der ersten Regierungsjahre an seiner Stelle. Im Grab des Prinzenerziehers Hekareschu (T(heban)T(ombs) 226) ist sie dargestellt, wie sie hinter ihrem Sohn steht und ihm dabei die Hand auf die Schulter legt. Das Bild hat eine klare Aussage: Mutemuia ist die Regentin des Staates. Eine neben ihrer Gestalt beigefügte Inschrift lautet: «Königsmutter Mutemuia, sie lebe!», während die Beischrift für Amenophis III. in traditioneller Weise mit seinen beiden in einen Königsring eingeschriebenen Namen lautet: «Der vollkommene Gott, Herr der Riten Nebmaatre, Amen ophis, Herrscher von Theben, dem Leben wie Re gegeben werde.»