Abs. |
Absatz |
AEUV |
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
ANF |
Arbeitnehmerfreizügigkeit |
aF |
alte Fassung |
Art. |
Artikel |
BAföG |
Bundesausbildungsförderungsgesetz |
BerGer |
Berufungsgericht |
Bf. |
Beschwerdeführer/Beschwerdeführerin |
BGB |
Bürgerliches Gesetzbuch |
BGH |
Bundesgerichtshof |
BVerfG |
Bundesverfassungsgericht |
bzw. . |
beziehungsweis |
bspw. |
beispielsweise |
ders. |
derselbe |
d.h. |
das heißt |
EAGV |
Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft |
ECOFIN |
Fachministerrat der Finanzminister |
EEA |
Einheitliche Europäische Akte |
EGKS |
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl |
EGMR |
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte |
EGV |
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft |
EMRK |
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten |
EP |
Europäisches Parlament |
EPZ |
Europäische Politische Zusammenarbeit |
EU |
Europäische Union |
EuGH |
Der Gerichtshof der Europäischen Union |
EUV |
Vertrag über die Europäische Union |
EWG |
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft |
f. |
folgende |
ff. |
fortfolgende |
FIFA |
Fédération Internationale de Football Association |
GA |
Generalanwalt/Generalanwältin |
GASP |
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik |
gem. |
gemäß |
GG |
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland |
GrCh |
Charta der Grundrechte der Europäischen Union |
Hg. |
Herausgeber |
LG |
Landgericht |
lit. |
litera (Buchstabe) |
maW |
mit anderen Worten |
MiFID |
Markets in Financial Instruments Directive |
OGAW |
Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren |
OLG |
Oberlandesgericht |
PJZS |
Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen |
Rs. |
Rechtssache |
S. |
Satz |
str. |
streitig |
u.a. |
unter anderem |
UAbs. |
Unterabsatz |
URBSFA |
Union royale belge des sociétés de football association ASBL |
UN |
Vereinte Nationen |
VG |
Verwaltungsgericht |
VO |
Verordnung |
VVE |
Vertrag über eine Verfassung für Europa |
Literatur: Schmale, Geschichte Europas, 2001; Micklitz, Yearbook of European Law 2010, 3ff.
1
Die Wiege der EU steht in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs. Nachdem Europa durch den durch die Nationalsozialisten betriebenen exzessiven Nationalismus in Schutt und Asche lag, wuchs das Bedürfnis nach einem gleichberechtigten Zusammenschluss der Staaten. Dieser sollte auf Dauer Frieden dadurch gewährleisten, dass er den als zerstörerisch empfundenen Nationalismus zugunsten einer immer enger werdenden Union überwindet. Winston Churchill rief daher in seiner Zürcher Rede im September 1946 zu einem Zusammenschluss „Vereinigter Staaten von Europa“ nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika auf.
2
Die Vergangenheit hatte gelehrt, dass ein internationaler Friedensvertrag kein effektives Mittel zur nachhaltigen Friedenssicherung war. Die Schaffung einer supra- statt internationalen Rechtsordnung, die die Ermöglichung und Vertiefung des Handels innerhalb seiner Mitglieder zum Ziel hatte, erschien ein tragfähigeres Konzept zu sein. Auf ein schlagkräftiges Argument gebracht gründete sich die EU auf dem Grundsatz: Wer miteinander handelt, bekriegt sich nicht!
3
Da eine solche supranationale Ordnung nicht primär von einer national geprägten Politik verwirklicht werden kann, kommt dem Recht als Instrument eine besondere Funktion zu. Kernidee des EU-Rechts ist daher, wie man heute noch an Art. 3 Abs. 1 EUV sieht, die Sicherung und Wahrung des Friedens durch ökonomische Integration. Zu diesem Zweck gründet sich die EU auf der Idee des Funktionalismus, der eine Entpolitisierung des europäischen Einigungsprozesses zugunsten eines technokratischen Rechts zum Ziel hat. Das EU-Recht wird als Instrument benutzt, welches zur Schaffung des Binnenmarkts dort eingesetzt wird, wo die Politik keine effektive Wirkung entfalten kann.
Hinweis: Dieser funktionale, marktbezogene Charakter des EU-Rechts sowie der supranationale Charakter der EU eröffnet erst das Verständnis für die Anwendung des Europarechts.
4
Die Aufgabe der EU hat sich im Laufe der Zeit gewandelt, wobei nach wie vor Streit darüber besteht, welche Aufgaben der EU mittlerweile zukommen. Neben den Funktionalismus treten dabei vor allem realistische, rationalistische, föderalistische, intergouvernementale, sowie Mehrebenen- und Netzwerk-Theorien.
Literatur: Schmale, Geschichte Europas, 2001; Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1997.
5
Die Gründungsgemeinschaft ist die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), sog. Montanunion. Ihr Ziel war es, die Rüstungsindustrien Kohle und Stahl Deutschlands und Frankreichs unter eine gemeinsame Aufsicht zu stellen, an der sich andere Staaten Europas beteiligen konnten. Auf diese Weise sollte die Gefahr für die französischen Sicherheitsinteressen eines wieder erstarkenden Deutschlands gebannt und Deutschland der Schritt zurück in die internationale Gemeinschaft erleichtert werden.
6
Am 18.4.1951 wurde in Paris zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und den Beneluxstaaten der Vertrag zur Gründung der EGKS unterzeichnet, der am 23.7.1952 in Kraft trat und eine Laufzeit von 50 Jahren vorsah. Ab dem 23.7.2002 war hinsichtlich der Bereiche Kohle und Stahl der Anwendungsbereich des EGV aF eröffnet.
7
Die auf Erweiterung der Gemeinschaft zielenden Vorschläge zur Errichtung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft und einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft von 1954 scheiterten an der französischen Nationalversammlung. Die wirtschaftliche Erweiterung wurde hingegen am 25.3.1957 durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) realisiert. Leitziel der EWG war die stufenweise Schaffung eines Gemeinsamen Marktes. Dies umfasst einen gemeinsamen Zolltarif gegenüber Drittstaaten und den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Arbeitskraft zwischen den Mitgliedstaaten. Mitgliedstaaten der EWG waren Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten. Am gleichen Tag wurde zwischen denselben Partnern in Rom der Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft (EAGV) geschlossen, der die friedliche Nutzung der Kernenergie zum Gegenstand hat. Beide Verträge werden „Römische Verträge“ genannt. Sie sind am 1.1.1958 in Kraft getreten und im Gegensatz zum EGKS nicht zeitlich befristet.
8
Als Zusatz zu den Römischen Verträgen wurde das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften geschlossen, nach dem sich die EGKS, EWG und EAG eine parlamentarische Versammlung, einen Gerichtshof und einen Wirtschafts- und Sozialausschuss teilen. Mit dem Fusionsvertrag, der am 1.7.1967 in Kraft trat, wurden zusätzlich eine Kommission und ein Rat geschaffen. Trotz dieser gemeinsamen Organe blieb die Eigenständigkeit der drei Gemeinschaften erhalten.
9
Die Gemeinschaften vergrößerten sich durch Beitritte Dänemarks, Großbritanniens, Irlands (1973), Griechenlands (1981), Portugals und Spaniens (1986) auf zwölf Mitglieder (sog. Süderweiterung). Grönland trat 1985 nach einem Referendum aus den Gemeinschaften aus.
10
Die am 1.7.1987 in Kraft getretene Einheitliche Europäische Akte (EEA) hatte zum Ziel, die Verwirklichung des Binnenmarktes abzuschließen Art. 13 EEA (heute Art. 28 Abs. 2 AEUV) definiert den Binnenmarkt als „ein(en) Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital ( …) gewährleistet ist“. Maßnahmen zur Verwirklichung des Binnenmarktes mussten im Rat nicht mehr einstimmig, sondern nur mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Die Gesetzgebungskompetenz des Europäischen Parlaments (EP) wurde durch die Einführung des Verfahrens der Zusammenarbeit gestärkt. Die informelle Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Außenpolitik wurde vertraglich verankert. Die Kompetenzen der Gemeinschaften wurden in den Bereichen Sozialpolitik, Forschung und technologische Entwicklung, Umweltpolitik und gemeinsame Außenpolitik erweitert.
11
Der am 1.11.1993 in Kraft getretene Vertrag über die Europäische Union (EUV), sog. Vertrag von Maastricht gründete die EU. Die EU war die Dachorganisation über den drei Europäischen Gemeinschaften und zwei weiteren Politikbereichen: der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Die EU hatte keine eigene Rechtspersönlichkeit. Die EWG wurde in Europäische Gemeinschaft (EG) umbenannt, da die Gemeinschaft neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch andere Politikbereiche regelte. Ferner wurde die schrittweise Einführung einer Wirtschafts- und Währungsunion beschlossen, die Unionsbürgerschaft eingeführt und die Stellung des EPs durch das Verfahren der Mitentscheidung gestärkt.
12
1995 vergrößerte sich die EU durch den Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens auf 15 Mitglieder. Am 1.1.1999 wurde die Währungsunion durch die Einführung des Euros teilweise verwirklicht.
13
Durch den am 1.5.1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam wurde das EP an weiteren Bereichen der Gesetzgebung beteiligt. Ferner wurde die Ernennung des Kommissionspräsidenten von der Zustimmung des EPs abhängig gemacht. Maßnahmen wie die Festlegung der maximalen Sitze des EPs sollten die EU auf folgende Erweiterungen vorbereiten.
14
Mit der ersten Osterweiterung am 1.5.2004 durch die Beitritte Estlands, Lettlands, Litauen, Maltas, Polens, der Slowakei, Sloweniens, Tschechiens, Ungarns und Zyperns wuchs die EU von 15 auf 25 Mitgliedstaaten. Der am 1.2.2003 in Kraft getretenen Vertrag von Nizza etablierte das Verfahren der qualifizierten Mehrheit als Regelverfahren. Die zweite Osterweiterung erfolgte am 1.1.2007 durch die Beitritte Bulgariens und Rumäniens, wodurch die EU auf die derzeitige Größe von 27 Mitgliedstaaten anwuchs.
15
Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) wurde 2004 unterzeichnet und sollte das bestehende Vertragswerk reformieren. Er hatte im Wesentlichen zwei Ziele: 1. sollte er die EU hinsichtlich der Beschlussfassungen modernisieren und 2. sollte die EU mehr nationalstaatlichen Charakter – bspw. durch eine Flagge und Hymne – bekommen. Der VVE wurde jedoch von Frankreich und den Niederlanden aufgrund negativer Referenden nicht ratifiziert. In Folge wurde er niemals rechtskräftig.
16
Nach dem Scheitern des VVE trat der Vertrag von Lissabon am 1.12.2009 in Kraft. Der Vertrag von Lissabon nimmt zahlreiche Reformvorschläge des VVE auf, verzichtet jedoch weitgehend auf nationalstaatliche Elemente. Der EU, die Rechtsnachfolgerin der EG ist, wird Rechtspersönlichkeit verliehen. Die vormals rein intergouvernementale PJZS wurde in die EU eingegliedert. Die GASP bleibt intergouvernemental und eigenständig. Die Position des Europäischen Parlaments wurde durch die Einführung des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“ (ehemals Mitentscheidungsverfahren) als Regelverfahren gestärkt. Die GrCh (s.u.) wird über einen Verweis in Art. 6 EUV für verbindlich erklärt. Der ehemalige EGV wurde leicht modifiziert und in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt.
17
Die GrCh wurde vom ersten europäischen Konvent unter Vorsitz von Roman Herzog ausgearbeitet und am 7.12.2000 in Nizza feierlich proklamiert. Sie enthält einen geschriebenen Katalog der EU- Grundrechte, die auf Unionsebene verankert sind. Obgleich die Charta zunächst formell nicht rechtswirksam war, wurde sie in der Praxis von der europäischen Gerichtsbarkeit angewendet.1 Formelle Verbindlichkeit erlangte sie erst mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1.12.2009. Die Charta ist seitdem für die Organe der Union sowie für die Mitgliedstaaten bindend, wenn diese sich im Anwendungsbereich des Unionsrechts befinden oder dieses durchführen.2
1Siehe nur EuGH C-540/03, Slg. 2006, I-5709 – Parlament/Rat; EuG T-112/98, Slg. 2001, II-729, Rn. 15, 76 – Mannesmannröhren-Werke/Kommission; EuG T-54/99,Slg.2002,II-313,Rn.48,57 – max.mobil/Kommission; EuG T-177/01, Slg.2002,II-3425,Rn.42,47– Jégo-Quéré/Kommission.
2Eine Sonderregelung besteht für Großbritannien und Polen. Die Charta entfaltet in diesen beiden Mitgliedstaaten nur bedingt Wirkung, siehe hierzu Protokoll Nr. 7 über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich. Im Ergebnis ändert sich durch das Protokoll jedoch nur wenig bis nichts, krit. hierzu siehe Lindner, EuR 2008, 786.
Literatur: Terhechte, EuR 2008, 143.
1
Die EU besteht im Kern aus den gem. Art. 1 Abs. 2 S. 2 EUV gleichwertigen Verträgen AEUV und EUV, welche gem. Art. 6 Abs. 1 AEUV von der GrCh ummantelt werden. Es ist zu beachten, dass die Integrationsdichte der in den Verträgen geregelten Politikfelder variiert. Daneben besteht Euratom als eigenständige Gemeinschaft, die allerdings gem. Art. 106a EAGV in vielerlei Hinsicht mit der EU verbunden ist. Zur Darstellung dieser Strukur wurde bislang von mehreren Seiten ein Satellitenmodell vorgeschlagen, bei dem die Euratom als Satellit den Planeten AEUV/EUV und GrCh umkreist. Dieses Modell ist nicht vorzugswürdig, da es nicht der Verknüpfung von AEUV/EUV und Euratom Rechnung trägt. Die derzeitige Struktur der Union lässt sich nicht in einem anschaulichen Modell darstellen.
Literatur: Zu den Zielen: Basedow, in: FS Everling, 1995, S. 49; Carstens, ZaöRV 18 (1957/58), 459; Zum Binnenmarktziel: Grabitz, in: FS Steindorff, 1990, S. 1229; Grabitz/von Bogdandy, JuS 1990, 170; Hatje, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 801; Mortelmans, CMLRev. 35 (1998), 101; Reich, EuZW 1991, 203; Zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts: Weber, BayVBl. 2008, 485.
2
Die EU umspannt die Politikbereiche der Ziele der Errichtung eines Binnenmarkts, das Anbieten eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie den Schutz und Förderung ihrer Werte und Interessen sowie den Schutz ihrer Bürger in den Außenbeziehungen. Jegliches EU-Recht ist im Hinblick auf die Erreichung dieser Ziele auszulegen.
Hinweis: In der Pflichtfachprüfung sind in allen Bundesländern nur Regelungen zum Binnenmarkt relevant. Dies entbehrt jedoch nicht die grundlegende Kenntnis der beiden anderen Politikbereiche, um sie vom Binnenmarktziel abgrenzen zu können.
3
Vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte ist das Kernkonzept der EU die Verwirkung eines einheitlichen Binnenmarkts, wie er in Art. 3 Abs. 3 EUV zum Ausdruck kommt. Wie insbesondere durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV deutlich wird, hat sich dieses Binnenmarktkonzept im Zuge der historischen Entwicklung vom Ziel des bloßen Abbaus von Handelshemmnissen zu einem umfangreichen politischen Programm entwickelt. Die Anknüpfung des S. 2 an S. 1 macht jedoch deutlich, dass diese Ausweitungen stets einen Bezug zum Binnenmarkt aufweisen müssen; ein allein stehendes, vom Binnenmarkt losgelöstes „soziales“ EU-Recht gibt es demnach nicht. Der Kern dieser Entwicklung lässt sich mit der in Art. 3 Abs. 3 S. 2 zu findenden Formulierung zusammenfassen, dass die Union auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ abzielt. Zum Binnenmarktkonzept gehört auch das in Art. 3 Abs. 4 EUV genannte Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion.
4
Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Art. 3 Abs. 2 EUV umschreibt den gemeinsamen Bereich, der vor dem Lissabon-Vertrag als PJZS bekannt war. Maßgebliches Charakteristikum ist die Loslösung vom in der Binnenmarktpolitik herrschenden Prinzip wirtschaftlicher Integration und Freizügigkeit bei gleichzeitiger Positionierung als zentrales Integrationsziel.
5
Die Regelungen der Außenbeziehungen in Art. 3 Abs. 5 EUV formen das „auswärtige Pendent“ zu Art. 2 EUV und Teilen des Art. 3 EUV.3 Sie sollen den Schutz der EU Bürger auch außerhalb der EU sicherstellen, sowie die Werte und Interessen der EU fördern. Die Regelungen der Außenbeziehungen folgen in erster Linie den Regeln des internationalen Rechts durch den Abschluss von Verträgen mit Drittstaaten.
Literatur: Pache/Rösch, EuZW 2008, 519; dies., EuR 2009, 796.
6
Die EU ist unterschiedlich intensiv mit anderen Organisationen verbunden. Die wichtigste ist hierbei der Europarat, der mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg unter anderem über die EMRK wacht. Auch wenn die EMRK bei der Auslegung der Europäischen Grundrechte eine Rolle spielt, sind beide Organisationen institutionell eigenständig. Weitere Organisationen, die nicht zur EU gehören, jedoch vertraglich eng mit ihr verbunden sind, sind das Europäische Hochschulinstitut in Florenz und das Europakolleg in Brügge. Darüber hinaus besitzt die EU einen Beobachterstatus mit eigenem Rederecht in der UN-Vollversammlung.
Hinweis: Der Europarat darf keinesfalls mit dem Rat der EU oder dem Europäischen Rat verwechselt werden. Letztere sind als Organe der EU integrale Bestandteile der Union, während ersterer eine davon unabhängige internationale Organisation ist.
3Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 3 EUV, Rn. 61.
Literatur: Giegerich, JuS 1997, 39, 335, 426, 522, 619, 714; Schöbener, JA 2011, 885.
1
Die Funktionalität des Unionsrechts führt dazu, dass Handlungen auch gegen die Interessen der Mitgliedstaaten durchgesetzt werden können. Daher kommt es wiederholt zu Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten und der EU. Ein Rückgriff auf das Verhältnis der Mitgliedstaaten zur EU ermöglicht meist erst das Verständnis für die Handlungsspielräume, die den Mitgliedstaaten und der EU in bestimmten Bereichen gegeben sind. Substantiell ist das Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten jedoch unklar. Ein genaues Hinsehen offenbart eine Vielzahl von Konzepten, die dieses Verhältnis beschreiben. Aufgrund der Zielsetzung dieses Buches soll hier jedoch nur die Sicht dargestellt werden, die vom BVerfG geteilt wird und damit auch in der Staatsprüfung vorausgesetzt werden kann.
2
Die Existenz und Fortentwicklung der EU begründet sich auf dem Vertragsschluss ihrer Mitgliedstaaten. Darum bilden die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“. Dadurch wird deutlich, dass die Mitgliedstaaten auf die EU nur im Rahmen des Vertragsschlusses und der Vertragsänderung uneingeschränkte Einflussmöglichkeiten haben. Sind die Arbeiten an den Verträgen beendet, übernehmen, zumindest im Prinzip, die Organe der EU deren Durchsetzung. Gegenbegriff zu den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ ist daher auch die Europäische Kommission als „Hüterin der Verträge“, da sie über deren Einhaltung wacht.
3
An die Einordnung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. knüpfen zwei wesentliche Rechtsfolgen an: Erstens ist die Änderung der die EU so konstituierenden Verträge nicht ohne die Mitwirkung der jeweiligen Mitgliedstaaten möglich. Zweitens kann ein Mitgliedstaat seine Rolle als „Herr der Verträge“ aufgeben und gem. Art. 50 EUV aus der EU austreten. Den einzigen Fall, der zumindest einem Austritt nahe kommt, hat es bislang mit Grönland gegeben, wobei es damals allerdings noch keine Austrittsklausel in den Verträgen gab.
Literatur: Terhechte, EuR 2008, 143; Tomuschat, HFR 1997, Beitrag 8; Zuleeg, NJW 2000, 2846.
4
Früher bestand Streit darüber, ob die EU, damals noch EWG oder EG, wie jede andere völkerrechtliche Organisation als intergouvernementaler Zusammenschluss souveräner Staaten zu behandeln sei, sog. Völkerrechtstheorie, oder als Bundesstaat oder bundesstaatsähnliche Organisation, sog. Bundesstaatstheorie. Das BVerfG hat die EU mittlerweile als
„eine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art.“4
bezeichnet. Im Maastricht-Urteil führte „das BVerfG sodann die Bezeichnung der EU als supranationalen „Staatenverbund“ ein.
„Der EU-Vertrag begründet einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas (Art. 1 EUV), keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat“.5
5
Im Lissabon-Urteil hat der BVerfG den Begriff des „Verbundes“ wie folgt konkretisiert:
Definition Staatenverbund: „Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“6
6
Durch den Hinweis auf die Möglichkeit der Ausübung öffentlicher Gewalt stellt das BVerfG fest, dass die EU mehr ist als ein einfacher durch völkerrechtliche Verträge zusammengehaltener intergouvernementaler Staatenbund. Die EU kann durch Verordnungen, Beschlüsse und unter bestimmten Voraussetzungen auch Richtlinien verbindlich Recht setzen, welches ohne Umsetzungsakt der Mitgliedstaaten unmittelbar Wirksamkeit erlangt. Die EU besitzt, obwohl sie auf völkervertragsrechtlicher Grundlage entstanden ist, eine autonome Rechtsordnung. Vor allem durch diese Supranationalität unterscheidet sie sich von anderen internationalen Organisationen wie beispielsweise den Vereinten Nationen, die nur eine besonders institutionalisierte Form des Intergouvernementalismus darstellen.
7
Der Hinweis auf die Verfügungsgewalt der Mitgliedstaaten und die „staatsangehörigen Bürger“ soll andererseits zum Ausdruck bringen, dass die EU in der Tradition der Rechtsprechung des BVerfG auch nicht als eigener föderaler Bundesstaat gesehen werden kann.7 Wann ein Gebilde nach internationalem Recht ein „Staat“ ist, bestimmt sich nach allgemeiner Meinung nach der auf Georg Jellinek zurückgehenden
3-Elemente-Lehre:8 Demnach benötigt ein Gebilde, um völkerrechtlich als Staat klassifiziert zu werden
8
Das BVerfG hat deutlich gemacht, dass es nach seiner Auffassung bereits am ersten Kriterium fehlt. Die Verwendung des Begriffs „die staatsangehörigen Bürger“ ist dahingehend zu verstehen, dass die EU gerade nicht über ein eigenes Staatsvolk verfügt, sondern nur aus Angehörigen anderer Staaten besteht. Dem ließe sich jedoch entgegenhalten, dass gem. Art. 9 S. 2, 3 EUV, Art. 20 Abs. 1 S. 3 AEUV alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten eine Unionsbürgerschaft besitzen, die neben die mitgliedstaatliche Staatsangehörigkeit tritt. Mit ähnlicher Argumentation kann sich auch der Frage nach dem Staatsgebiet genähert werden. Einerseits, so könnte man argumentieren, hat die EU kein eigenes Staatsgebiet, da sie aus den Staatsgebieten einzelner souveräner Mitgliedstaaten besteht. Andererseits ist das Territorium der EU, auf dem sie auch eigene öffentliche Gewalt ausüben kann, durchaus abgrenzbar. Während die Erfüllung der ersten beiden Kriterien damit zumindest unklar ist, scheitert es letztlich jedoch am Kriterium der Staatsgewalt. Die EU hat aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1, 2 EUV) keine Kompetenz- Kompetenz, also nicht die Möglichkeit, sich eigene Kompetenzen zu erschaffen. Sie ist hierfür nach wie vor auf die Zuweisung der Kompetenzen durch die Mitgliedstaaten angewiesen.
9
Da die EU auf völkerrechtlicher Grundlage gebildet ist, gehen ihre Handlungsmöglichkeiten nur so weit wie sie ihr von den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ übertragen worden ist. Die Bundesrepublik Deutschland hatte ursprünglich die Übertragung ihrer Hoheitsrechte an die EU auf Art. 24 GG gestützt. Heute sind die Voraussetzungen und Grenzen der Übertragung von Hoheitsgewalt an die EU im spezielleren Art. 23 GG geregelt. Art. 23 GG ist ein Produkt der Rechtsprechung des BVerfG, das in mehreren Urteilen die Voraussetzungen und Grenzen der europäischen Integration aus deutscher Sicht ausgelotet hat und noch immer auslotet. Daher ist Art. 23 GG nur im Lichte dieser Urteile des BVerfG zu lesen.
10
Gem. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ist zur Übertragung von Hoheitsrechten an die EU stets ein Gesetz vonnöten, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Das BVerfG bezeichnet dieses Gesetz als Zustimmungsgesetz. Wird durch die Übertragung von Hoheitsbefugnissen an die EU das Grundgesetz geändert, ist hierfür gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 2 GG die Zustimmung der Stimmen von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates vonnöten. Näheres ist in den folgenden Absätzen sowie im „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union“ sowie im „Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union“ geregelt. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass eine bloße Beteiligung des Bundestags und der Länder nicht für ein wirksames Zustandekommen eines solchen Zulassungsgesetzes ausreicht. Gem. Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG müssen sie „mitwirken“. Das heißt, dass sie im Rahmen ihrer Integrationsverantwortung9 nicht nur formell am Verfahren zu beteiligen sind, sondern gerade auch in die inhaltliche Ausgestaltung der europäischen Außenpolitik einbezogen werden müssen.10 Die beiden vorgenannten Gesetze regeln die diesbezüglichen Einzelheiten.
11
Materiell darf dieser Gesetzesbeschluss insbesondere gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nicht gegen die Grundsätze der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen. Damit darf das Zustimmungsgesetz insbesondere nicht der Gliederung des Bundes in Länder, der grundsätzlichen Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und den in Art. 1 und 20 GG enthaltenen Grundsätzen zuwider laufen. Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil diese durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogene Grenze höchst problematisch näher konkretisiert: Dem deutschen Gesetzgeber vorbehalten sind demnach sozialpolitisch wichtigte Entscheidungen, die die Existenzsicherung des Einzelnen betreffen,11 sowie der Bereich der Möglichkeit, sich im eigenen Kulturraum verwirklichen zu können.12 Dies umfasst das Schul- und Bildungssystem, Familienrecht, Sprache, Teilbereiche der Medienordnung sowie den Status von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.13
12
Die absolute Schranke findet die Integration jedoch unabhängig von den Bedingungen des Art. 23 GG, wenn das „Grundgefüge der Verfassung“ verletzt ist.14 In diesem Zusammenhang wurde vor allem immer wieder eine Verletzung des durch Art. 79 Abs. 2 und 3, 20 Abs. 1 und 2 sowie 38 GG gewährleisteten demokratischen Prinzips im Hinblick auf das „Demokratiedefizit“ der EU gerügt. Nach Ansicht des BVerfG ist dies jedoch erst dann verletzt, wenn dem Gesetzgeber durch die Übertragung keine „Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben“.15
13
Im Zuge des Lissabon-Vertrags wurde zusätzlich für den Bundestag und den Bundesrat eine Klagemöglichkeit in Art. 23 Abs. 1a GG vor dem EuGH geschaffen, wenn er sich in bestimmten Rechten verletzt sieht.
14
Die Reichweite des Art. 23 GG und damit die Reichweite der staatlichen Hoheitsgewalt der BRD ist bestimmt von der Geltung und der Reichweite des Zustimmungsgesetzes. Die Judikatur und Art. 23 GG selbst wurden in dieser Hinsicht maßgeblich beeinflusst von der von Paul Kirchhof begründeten „Brückentheorie“. Demnach „fließt Europarecht ( …) nur über die Brücke des nationalen Zustimmungsgesetzes nach Deutschland“.16 Das Zustimmungsgesetz ist das Bindeglied zwischen dem Europarecht und dem nationalen Recht; ist diese Brücke zerstört, so hat auch das Europarecht in der Bundesrepublik Deutschland keine Geltung mehr. Rechtlich gesprochen ist die Geltung des Europarechts bedingt durch die Geltung des Zustimmungsgesetzes, das seinerseits wiederum von der deutschen Rechtsordnung abhängt. Diese Sicht ist zwar unter maßgeblicher Beeinflussung durch Paul Kirchhof in seinen Zeiten als Richter am BVerfG zur Leitlinie der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung geworden, jedoch in der deutschen Literatur und im Rest Europas heftig kritisiert worden. „Hat ( …) einmal die Bundesrepublik Deutschland einer Übertragung von Hoheitsgewalt ( …) zugestimmt, so kann sie diese Bindung nicht mehr einseitig von sich abschütteln.“17 Da die Übertragung von Hoheitsgewalt unbedingt erfolge, sei auch die Bundesrepublik Deutschland an die völkerrechtlichen Grundsätze des pacta sunt servanda gebunden. „Der einmal beschlossene Übertragungsakt bindet solange, wie nicht das Gemeinschaftsrecht, das wiederum in dieser Existenzfrage weitgehend vom allgemeinen Völkerrecht abhängig ist, eine Aufkündigung der ursprünglichen Willenseinigung gestattet.“18 Letztlich werden die unterschiedlichen Argumente in dem Streit zwischen dem EuGH und dem BVerfG um die Herkunft der unmittelbaren Geltung des Europarechts sichtbar. Es geht um die grundsätzliche Frage, ob das Europarecht, wenn es einmal geschaffen wurde, vom „nationalen Recht her“ oder vom „Völker- bzw. Europarecht her“ gilt.
a) Reichweite des Zustimmungsgesetzes vor dessen Inkrafttreten
15
Dessen unbesehen kann das Zustimmungsgesetz nur dann Wirkung entfalten, wenn es unterschrieben und verkündet ist. Um die fatalen Auswirkungen zu umgehen, die von einer Unwirksamkeit des Zustimmungsgesetzes abhängen, ist es deshalb gängige Praxis, dass, wenn ein Zustimmungsgesetz beschlossen worden ist und eine Klage vor dem BVerfG anhängig ist, der Bundespräsident die Unterschrift unter das Gesetz verweigert und zunächst den Beschluss des BVerfG abwartet. Dadurch werden ein verfassungsmäßig ungültiges Transformationsgesetz und etwaige Begleitgesetze erst gar nicht erlassen, sondern schon vor ihrem Wirksamwerden nachgebessert. So geschehen beispielsweise im Fall der Begleitgesetzgebung zum Zustimmungsgesetz zum Lissabon-Vertrag, die vor der Unterschrift des Bundespräsidenten nach der „Lissabon“-Entscheidung nachgebessert wurde.
b) Reichweite des Zustimmungsgesetzes nach dessen Inkrafttreten
16
Fraglich ist jedoch, ob das Zustimmungsgesetz auch nach seinem Inkrafttreten, also nach bereits erfolgter Übertragung von Hoheitsrechten noch eine Wirkung entfalten kann. Damit wäre also vor allem zunächst das europäische Primärrecht, das durch das Zustimmungsgesetz geschaffen würde, anhand der Vorgaben des Art. 23 GG zu überprüfen. Geht man von der Brückentheorie aus, so ist diese Frage zu bejahen, da die EU ihre Rechte ja nur soweit erhalten hat, wie sie das Zustimmungsgesetz vorsieht. Solange und soweit das Zustimmungsgesetz gegen Verfassungsrecht verstößt, solange und soweit ist auch die Brücke zerbrochen beziehungsweise niemals erbaut worden. Dem wird jedoch vor allem von Seiten des EuGH entgegen gehalten, dass das Europarecht, sobald Hoheitsrechte wirksam übertragen wurden, eine autonome Rechtsordnung bildet, die sich nicht an der Gültigkeit nach nationalem Recht messen lassen kann. Ansonsten seien die Grundsätze der Effektivität des Gemeinschaftsrechts und der Nichtdiskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verletzt. Allerdings kann es wohl heute als ganz allgemeine Ansicht in Deutschland gesehen werden, dass das Primärrecht sich auch anhand der Minimalanforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG messen lassen muss.
c) Überprüfungskompetenz auch für Sekundärrechtsakte?
17
1920