CAROLINE KEPNES
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Katrin Reichardt
Zu diesem Buch
Der wahre Schrecken meines Lebens besteht nicht darin, dass ich einige furchtbare Menschen getötet habe. Er besteht darin, dass die Menschen, die ich geliebt habe, meine Liebe nicht erwiderten.
Nachdem seine Beziehung mit Beck ein ziemlich abruptes Ende nahm, ist der Buchhändler Joe Goldberg fest entschlossen, seine Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. An die Kollateralschäden, die seine Suche nach der wahren Liebe in den letzten Jahren gefordert hat (oder die Orte, an denen ihre Überreste vergraben liegen), möchte er von jetzt an lieber nicht mehr denken.
Eigentlich ist Los Angeles die letzte Stadt, in der Joe jemals hätte leben wollen, doch für einen Neuanfang scheint sie die perfekte Wahl. Es gelingt ihm problemlos, sich bei den »Möchtegerns« in Hollywood einzufügen und deren kalifornischen Lebensstil anzunehmen. Doch während die Menschen in L. A. auf nichts anderes als sich selbst fixiert sind, kann Joe nicht aufhören, über seine Schulter zu blicken. Das, was in der Vergangenheit geschehen ist, schwebt über allem, was er tut, und jedem Schritt, den er geht. Denn manche Leichen bleiben nicht für immer vergraben. Manche tauchen wieder auf, genau dann, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann.
Denn Joe hat eine neue Freundin. Sie ist DIE Frau für ihn, und er will ihr auf gar keinen Fall wehtun – er will für immer mit ihr zusammen sein. Aber wenn sie herausfindet, was er getan hat, hat er vielleicht keine andere Wahl …
Dieses Buch ist für dich, Mom.
Danke für das Leben.
Ich kaufe Veilchen für Amy. Keine Rosen. Rosen sind für Menschen, die etwas falsch gemacht haben. Ich habe diesmal alles richtig gemacht. Ich bin ein guter fester Freund. Ich treffe eine gute Wahl. Amy Adam lebt im Augenblick und nicht im Computer.
»Das Veilchen ist die Staatsblume von Rhode Island«, erkläre ich dem Typen, der meine Blumen einwickelt. Er ist unachtsam, berührt mit seinen schmutzigen Fingern die Blütenblätter, meine Blütenblätter. Scheiß New York.
»Tatsächlich?« Er schmunzelt. »Man lernt doch jeden Tag was dazu.«
Ich zahle bar und trage meine Veilchen nach draußen auf die East Seventh Street. Für einen Mai ist es heiß, und ich kann die Blumen riechen. Rhode Island. Ich war schon mal in Rhode Island. Ich war vergangenen Winter in Little Compton. Ich hatte Liebeskummer, war krank vor Sorge, dass meiner Freundin – Ruhe in Frieden, Guinevere Beck – von ihrer labilen Freundin Gefahr drohen könnte – Ruhe in Frieden, Peach Salinger.
Jemand hupt mich an, und ich entschuldige mich. Ich merke, wenn ich etwas falsch gemacht habe, und wenn ich auf den Fußgängerübergang laufe, obwohl die Ampel bereits blinkt, ist das mein Fehler.
Genauso, wie das im vergangenen Winter mein Fehler war. Ich habe diesen Fehler heute schon ein Dutzend Mal in meinem Kopf durchgespielt. Wie ich mich im Obergeschoss des Anwesens der Familie Salinger in einem Schrank versteckt habe. Ich musste pinkeln, konnte aber nicht gehen. Also habe ich in einen Becher gepisst – einen Becher aus Keramik – und habe den Becher auf dem Holzboden des Schranks abgestellt. Dann habe ich die erste Chance zur Flucht genutzt, die sich ergab, und es lässt sich nicht drum herumreden: Ich habe den Becher vergessen.
Seit jenem Tag bin ich ein anderer Mensch. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und die Vergangenheit nicht verändern, aber man kann in die Zukunft blicken und ein Mensch werden, der sich erinnert. Inzwischen achte ich penibel auf Details. Beispielsweise erinnere ich mich noch mit absoluter Präzision an den Augenblick, als Amy Kendall Adam zu Mooney Rare and Used zurückgekehrt ist – und damit in mein Leben. Ich sehe sie lächeln, ihr ungebändigtes Haar (blond) und ihren Lebenslauf (Lügen). Das war vor fünf Monaten, und sie behauptete, sie sei auf der Suche nach einem Job, doch wir wussten alle, dass sie lediglich auf der Suche nach mir war. Ich stellte sie ein, und an ihrem ersten Arbeitstag stand sie pünktlich im Laden, mit einem Spiralblock und einer Liste seltener Bücher, die sie sich ansehen wollte. Sie hatte ein Glasgefäß voller Superbeeren dabei, und sie behauptete, dass die einem dabei helfen würden, ewig zu leben. Ich entgegnete, dass niemand ewig lebt, und sie lachte. Sie hatte ein schönes, angenehmes Lachen. Und Latexhandschuhe.
Ich nahm einen in die Hand. »Wozu sind die?«
»Ich möchte den Büchern nicht schaden«, erklärte sie.
»Ich hätte aber schon gern, dass du vorn im Laden stehst«, entgegnete ich. »Dieser Job beinhaltet hauptsächlich solche grundlegenden Aufgaben wie Regale Auffüllen und Kassieren.«
»Okay«, sagte sie. »Aber wusstest du, dass es Ausgaben von Alice im Wunderland gibt, die mehr als eine Million Dollar wert sind?«
Ich lachte. »Ich raube dir ja nur ungern deine Illusionen, aber wir haben hier unten keine Alice-Ausgaben.«
»Unten?«, fragte sie. »Bewahrt ihr da die besonderen Bücher auf?«
Ich wollte ihr am liebsten die Hand aufs Kreuz legen und sie zum Käfig hinunterführen, wo die besonderen Bücher konserviert, verpackt und aufbewahrt werden. Ich wollte sie ausziehen und uns im Käfig einschließen und sie mir nehmen. Aber ich bin geduldig geblieben. Ich habe ihr ein Formular gegeben, in das sie ihre Steuerinformationen eintragen sollte, und dazu einen Stift.
»Weißt du, ich könnte dir bei den Flohmarkt-Touren helfen«, sagte sie. »Man kann nie wissen, was man dort alles entdeckt.«
Ich lächelte. »Aber nur, wenn du mir versprichst, es nicht Flohmarkt-Touren zu nennen.«
Amy lächelte. Offensichtlich hatte sie vor, ihren Job mit vollem Einsatz anzugehen. Sie hat verlangt, dass wir in die nördlichen Stadtbezirke fuhren, um die privaten Flohmärkte in großen Anwesen zu durchstöbern, und dass wir bei Bibliotheksauflösungen auf der Matte standen und Kisten mit Müll durchwühlten, die am Straßenrand herumlagen. Sie wollte mit mir zusammenarbeiten, und genau auf diese Art lernt man jemanden sehr schnell sehr gut kennen. Man steigt gemeinsam in modrige, verlassene Räume hinab, und dann rennt man gemeinsam wieder nach draußen, um gierig nach frischer Luft zu japsen, und man lacht und ist sich einig, dass es nun das einzig Richtige wäre, etwas trinken zu gehen. Wir wurden ein Team.
Eine alte Frau mit einem Rollator sieht mich an. Ich lächle. Sie deutet auf die Veilchen. »Sie sind ein guter Junge.«
Das bin ich. Ich danke ihr und gehe weiter.
Amy und ich wurden vor einigen Monaten ein Paar, gerade in dem Augenblick, als wir auf der Upper East Side im Wohnzimmer eines toten Mannes standen. Sie zupfte am Revers des Navy Blazers, den sie für mich – für fünf Mäuse – bei einem Ramschverkauf erstanden hatte. Sie bat mich flehentlich, siebenhundert Dollar für eine signierte, knittrige Ausgabe der Easter Parade auszugeben.
»Amy«, flüsterte ich, »Yates ist derzeit nicht gefragt, und meiner Einschätzung nach wird sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern.«
»Aber ich liebe ihn«, bettelte sie. »Dieses Buch bedeutet mir alles.«
So sind die Frauen. Immer so emotional. Auf dieser Basis soll man zwar keine Geschäfte machen, aber man kann Amy mit ihren großen, blauen Augen und ihrem langen, blonden Haar, das einem Guns-N’-Roses-Song entsprungen zu sein scheint, auch unmöglich irgendwas abschlagen.
»Was kann ich tun, um deine Meinung zu ändern?«, beschwatzte sie mich.
Eine Stunde später war ich der stolze Besitzer einer Ausgabe der Easter Parade, und Amy lutschte in einer Starbucks-Toilette in der Innenstadt meinen Schwanz. Das war weitaus romantischer, als es klingt, denn wir mochten uns. Das war kein Blowjob. Das, meine Freunde, war Fellatio. Sie stand vor mir, und ich zog ihr die Boyfriend-Jeans herunter und stutzte. Ich wusste, dass sie sich nicht gern rasierte. Ihre Beine waren oft stoppelig, und sie legte großen Wert auf Wassersparmaßnahmen. Doch mit einem Busch hatte ich trotzdem nicht gerechnet. »Willkommen im Dschungel.«
Genau deshalb lächle ich nun im Gehen, und genau so wird man glücklich. Amy und ich, wir sind heißer als Bob Dylan und Suze Rotolo auf dem Cover von The Freewheelin’, und wir sind gerissener als Tom Cruise und Penélope Cruz in Vanilla Sky. Bei uns stapeln sich unzählige Ausgaben von Portnoys Beschwerden. Es ist eines unserer Lieblingsbücher, und wir lesen es immer wieder gemeinsam. Sie hat die Passagen, die ihr am besten gefallen, mit einem Edding unterstrichen, und ich habe sie gebeten, doch lieber einen dezenteren Stift zu verwenden.
»Ich bin aber nicht dezent«, sagte sie. »Ich hasse dezent.«
Amy ist ein Edding. Sie ist leidenschaftlich. Sie ist verrückt nach Portnoys Beschwerden, und ich besäße am liebsten alle dunkelgelben Exemplare, die jemals gedruckt wurden, und würde sie im Keller aufbewahren, damit nur Amy und ich sie berühren können. Eigentlich sollte ich zwar von einem einzigen Titel nicht übermäßig viele Exemplare ankaufen, aber ich liebe es nun mal, Amy vor unserer gelben Mauer aus Büchern zu vögeln. Philip Roth hätte sicher nichts dagegen einzuwenden. Sie lachte, als ich ihr genau das erzählte und vorschlug, wir sollten ihm einen Brief schreiben. Sie hat Fantasie, außerdem ein Herz.
Mein Telefon klingelt. Gleason Brothers, die Elektriker, rufen wegen des Luftbefeuchters an, aber das kann warten. Ich habe eine E-Mail von BuzzFeed bekommen, in der es um eine Liste cooler Indie-Buchhandlungen geht, aber auch das kann warten. Alles kann warten, wenn man eine Liebe in seinem Leben hat. Wenn man einfach die Straße langgehen und sich dabei das Mädchen, das man liebt, nackt auf einem Berg gelber Beschwerden vorstellen kann.
Ich erreiche Mooney Books, und das Glöckchen klingelt, als ich die Ladentür öffne. Amy verschränkt die Arme und funkelt mich wütend an. Vielleicht ist sie auf Blumen allergisch. Vielleicht sind Veilchen blöd.
»Was ist los?«, frage ich und hoffe, dass es nicht so weit ist, der Anfang vom Ende, der Zeitpunkt, wenn sich das neue Mädchen in eine Fotze verwandelt, wenn der Neuwagengeruch verfliegt.
»Blumen?«, fragt sie. »Weißt du, was ich viel lieber hätte als Blumen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Schlüssel«, sagt sie. »Ein Mann war gerade hier, und ich hätte ihm den Yates verkaufen können, aber ich konnte ihm das Buch nicht zeigen, weil ich keine Schlüssel habe.«
Ich werfe die Blumen auf die Ladentheke. »Immer mit der Ruhe. Hast du dir seine Nummer geben lassen?«
»Joe«, sagt sie und klopft ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, »ich liebe diesen Laden. Und ich weiß, dass es dumm von mir ist, dir zu verraten, wie gern ich hier arbeite. Aber bitte. Ich möchte die Schlüssel.«
Ich sage nichts. Ich muss mir alles genau einprägen, es sicher in mir verwahren, das leise Säuseln der Musik – »Sweet Virginia« von den Rolling Stones, eins meiner Lieblingsstücke – und den Winkel, in dem das Licht gerade einfällt. Ich schließe die Tür nicht ab. Ich drehe das GEÖFFNET-Schild nicht um. Ich gehe um die Theke herum und nehme sie in die Arme und kippe sie nach hinten und küsse sie, und sie küsst mich zurück.
Ich habe noch nie zuvor jemandem einen Schlüssel gegeben. Aber das ist nun mal das, was jetzt geschehen soll. In deinem Leben soll Raum für Neues sein. In deinem Bett soll noch genug Platz für jemand anderes sein, und wenn dieser Jemand dann zu dir kommt, ist es deine Aufgabe, diese Person einzulassen. Ich packe die Zukunft beim Schopf. Ich zahle mehr für ein paar alberne, rosafarbene, blumige Designschlüssel. Und als ich diese rosafarbenen, metallischen Dinger in Amys Hand lege, küsst sie sie.
»Ich weiß, wie viel das bedeutet«, sagt sie. »Danke, Joe. Ich werde sie mit meinem Leben beschützen.«
An diesem Abend kommt sie vorbei, und wir schauen uns einen ihrer dämlichen Filme an – Cocktail, aber niemand ist perfekt. Wir haben Sex und bestellen uns eine Pizza, und meine Klimaanlage geht kaputt.
»Sollen wir einen Elektriker rufen?«, fragt sie.
»Vergiss es«, sage ich. »Der Memorial Day steht vor der Tür.«
Ich lächle und lege mich auf sie, und ihre unrasierten Beine schaben über meine, aber inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Es gefällt mir. Sie leckt sich die Lippen. »Was führst du im Schilde, Joe?«
»Du gehst jetzt nach Hause und packst eine Tasche«, sage ich. »Und ich miete uns eine kleine, rote Corvette, und dann verschwinden wir von hier.«
»Du spinnst«, sagt sie. »Wo fahren wir denn mit dieser kleinen, roten Corvette hin?«
Ich beiße ihr in den Hals. »Du wirst schon sehen.«
»Entführst du mich etwa?«, fragt sie.
Und wenn es das ist, was sie will, dann lautet die Antwort Ja. »Du hast zwei Stunden. Los, geh packen.«
Sie hat sich rasiert. Na also. Und auch ich habe meinen Teil beigetragen. Ich habe tatsächlich ein rotes Cabrio gemietet. Wir gehören jetzt zu diesen Arschlöchern und fahren durch den waldigen Teil von Rhode Island. Wir sind euer schlimmster Albtraum. Wir sind glücklich. Wir brauchen euch nicht, keinen von euch. Wir scheren uns einen Dreck um euch und um das, was ihr über uns denkt, was ihr uns angetan habt. Ich bin der Fahrer, Amy ist die Traumfrau, und dies ist unser erster gemeinsamer Urlaub. Endlich. Ich habe die Liebe gefunden.
Das Verdeck ist heruntergeklappt, und wir singen bei »Goodbye Yellow Brick Road« laut mit. Ich habe dieses Lied ausgesucht, weil ich mir alles zurückholen will, all die wunderschönen Dinge in dieser Welt, die von Guinevere Beck, meiner auf so tragische Weise erkrankten Freundin, besudelt wurden. (Ich verstehe jetzt, dass sie an einer Borderline-Störung litt. Dagegen kann man nichts machen.) Beck und ihre furchtbaren Freunde haben mir so vieles verdorben. Ich konnte in New York nirgendwo mehr hingehen, ohne an Beck denken zu müssen. Ich befürchtete schon, ich wäre nie wieder in der Lage, Elton John zu hören, weil seine Musik gerade lief, als ich Peach ermordete.
Amy tippt mir auf die Schulter und deutet auf einen Falken am Himmel. Ich lächle. Sie ist keins von diesen Arschlöchern, die jetzt die Musik leiser drehen, über den Vogel debattieren und etwas in sein Erscheinen hineininterpretieren würden. Mein Gott, sie ist so gut. Aber egal, wie gut es wird, so bleibt doch trotzdem immer eins, nämlich die Wahrheit:
Ich habe vergessen, den Becher mitzunehmen.
Dieser beschissene Becher lässt mir keine Ruhe. Ich weiß, dass alles Konsequenzen nach sich zieht. Ich bin nichts Besonderes. Am Leben zu sein bedeutet eben, irgendwo einen Becher Urin herumstehen zu haben. Aber ich kann mir nicht verzeihen, dass ich es vermasselt habe, so wie ein Mädchen, das nach einem One-Night-Stand seine Strickjacke »vergisst«. Dieser Becher bedeutet einen Schnitzer. Eine Schwäche. Einen Beweis dafür, dass ich nicht perfekt bin, obwohl ich doch sonst so auf Präzision und Gründlichkeit bedacht bin. Ich habe mir noch keinen Plan zurechtgelegt, wie ich ihn mir zurückholen kann, doch Amy weckt in mir den Wunsch, es bereits getan zu haben. Ich wünsche mir eine saubere, Sagrotan-frische Welt für uns.
Nun bietet sie mir ihre zerkratzte Sonnenbrille an. »Du fährst«, sagt sie. »Da brauchst du sie dringender als ich.«
Sie ist die Anti-Beck. Sie nimmt mich wichtig. »Danke, Ame.«
Sie küsst mich auf die Wange, das Leben ist ein Fiebertraum, und ich frage mich, ob ich wohl im Koma liege, ob das alles nur eine Halluzination ist. Die Liebe bringt einem das Hirn durcheinander, und es gibt gar keinen Hass in meinem Herzen. Amy nimmt ihn von mir, meine Heilerin, meine Wundspray-Schönheit. Früher hatte ich einen Hang zur Intensität. Man hätte es auch Besessenheit nennen können. Beck war ein derartiges Wrack, dass ich mich, um mich angemessen um sie kümmern zu können, gezwungen sah, ihr in ihre Wohnung zu folgen und mich in ihr E-Mail-Postfach einzuhacken und mir Gedanken über ihre Aktivitäten auf Facebook und Twitter zu machen und über die Textmitteilungen, die sie nonstop verschickte. Und dann all diese Widersprüchlichkeiten, die Lügen. Dass ich sie mir ausgesucht habe, war keine gute Entscheidung, und dafür musste ich die Konsequenzen tragen. Aber ich habe meine Lektion gelernt. Mit Amy funktioniert es, weil ich sie nicht online ausspionieren kann. Man stelle sich nur vor: Sie lebt vollständig abgekoppelt. Kein Facebook, kein Twitter, kein Instagram, nicht mal eine E-Mail-Adresse. Sie benutzt Wegwerf-Handys, sodass ich alle paar Wochen eine neue Telefonnummer in mein Handy eintragen muss. Sie ist ultimativ analog und passt damit perfekt zu mir.
Als sie mir zum ersten Mal davon erzählte, reagierte ich verblüfft und auch ein wenig voreingenommen. Wer zum Teufel lebt denn bitte schön offline? War sie etwa eine überhebliche Irre? Oder log sie? »Was ist mit Gehaltsschecks?«, fragte ich. »Du musst doch ein Bankkonto haben.«
»Ich habe eine Freundin in Queens«, erklärte sie. »Ich überschreibe ihr meine Schecks und bekomme dafür Bargeld von ihr. Viele von uns nutzen ihre Dienste. Sie ist die Beste.«
»›Uns‹?«
»Leute, die offline leben«, erklärte sie. »Ich bin nicht die Einzige.«
Fotzen wollen Schneeflocken sein. Sie wollen von dir hören, dass ihnen niemand auf der ganzen Welt gleicht. All die kleinen, ruhmessüchtigen Monster auf Instagram – seht mich doch nur an, ich schmiere Marmelade auf meinen Toast! Und ich habe jemanden gefunden, der anders ist. Amy versucht nicht, sich von der Masse abzuheben. Ich sitze nicht alleine rum und scrolle mich durch ihre Statusmeldungen und irgendwelche irreführenden, gestellt fröhlichen Fotos. Wenn ich mit ihr zusammen bin, dann bin ich mit ihr zusammen, und wenn sie mich alleine lässt, dann geht sie genau dahin, wohin sie gesagt hat, dass sie geht.
(Selbstverständlich bin ich ihr gefolgt und habe hin und wieder auch einen Blick in ihr Telefon geworfen. Ich muss sichergehen können, dass sie nicht lügt.)
»Ich glaube, ich rieche Salz in der Luft«, sagt Amy.
»Noch nicht«, entgegne ich. »Dauert noch ein bisschen.«
Sie nickt. Sie diskutiert nicht über banale Nichtigkeiten. Sie ist keine zornige Beck. Dieses kranke Mädchen hat die Menschen, die ihr am nächsten standen, belogen – mich, Peach und diese anderen bescheuerten angehenden Schriftsteller in ihrer Uni. Sie hat mir erzählt, ihr Vater sei tot. (War er nicht.) Sie hat mir erzählt, sie würde Magnolia hassen, und das nur, weil ihre Freundin Peach den Film hasste. (Sie hat gelogen. Ich habe ihre E-Mails gelesen.)
Amy ist ein nettes Mädchen, und nette Mädchen belügen vielleicht aus Höflichkeit Fremde, aber nicht die Menschen, die sie lieben. Selbst jetzt trägt sie ein fadenscheiniges Trägerhemd mit dem Emblem der University of Rhode Island. Sie hat die URI niemals besucht. Sie war auf gar keiner Universität. Aber sie trägt immer Collegeklamotten. Sie hat mir extra für diesen Trip ein Shirt von der Brown gekauft. »Wir können den Leuten weismachen, dass ich Studentin bin und du mein Professor.« Sie kicherte. »Mein verheirateter Professor.«
Sie findet diese Oberteile in Secondhandläden in der ganzen Stadt. Auf ihrer Brust proklamiert es ständig Go Tigers! Arizona State! PITT. Ich belausche gern unauffällig beim Ordnen der Bücherstapel, wie Kunden sie im Laden darauf ansprechen – Warst du in Princeton? Hast du die UMass besucht? Gehst du auf die NYU? Und sie antwortet immer mit Ja. Sie ist nett zu den Frauen und wiegt die Männer in dem Glauben, sie hätten eine Chance bei ihr. (Haben sie nicht.) Sie unterhält sich gern. Sie hört gern Geschichten, meine kleine Anthropologin, meine Zuhörerin.
Wir erreichen gleich die Straße, die nach Little Compton führt, und gerade, als ich denke, dass das Leben nicht besser sein könnte, sehe ich blinkende Lichter. Ein Cop nähert sich uns. Schnell. Er hat das Blaulicht eingeschaltet, seine Polizeisirene heult und die Musik ist nicht mehr zu hören. Ich bremse und versuche, meine zitternden Beine stillzuhalten.
»Was soll das denn?«, sagt Amy. »Du bist doch gar nicht zu schnell gefahren.«
»Nein, ich glaube nicht«, sage ich und blicke angestrengt in den Rückspiegel, während der Cop aus seinem Wagen aussteigt.
Amy dreht sich nach mir um. »Was hast du denn getan?«
Was ich getan habe? Ich habe meine Exfreundin Guinevere Beck ermordet. Ich habe ihre Leiche nördlich von New York verscharrt und die Tat ihrem Psychotherapeuten Dr. Nicky Angevine angehängt. Davor habe ich ihre Freundin Peach Salinger erwürgt. Ich habe sie weniger als fünf Meilen entfernt von hier umgebracht, an einem Strand in der Nähe des Hauses ihrer Familie, und habe es wie Selbstmord aussehen lassen. Außerdem habe ich einen drogensüchtigen Idioten namens Benji Keyes beseitigt. Seine eingeäscherte Leiche befindet sich in einem Lagerhaus, doch seine Familie glaubt, er sei während einer Drogen- und Sauftour gestorben. Oh, ach so. Außerdem gibt es da noch Candace, das erste Mädchen, in das ich mich jemals verliebt habe. Ich habe sie ins Meer geworfen. Niemand weiß, dass ich diese Dinge getan habe, weshalb sich daraus eine Art Wenn-ein-Baum-im-Wald-umfällt-Situation ergibt.
»Ich habe keine Ahnung«, antworte ich, und das ist ein gottverdammter Albtraum.
Amy wühlt im Handschuhfach nach der Zulassungsbescheinigung des Mietwagens, findet sie und knallt die Klappe wieder zu. Officer Thomas Jenks nimmt seine Sonnenbrille nicht ab. Er hat runde Schultern, seine Uniform ist ihm ein wenig zu groß. »Führerschein und Zulassungspapiere«, sagt er. Sein Blick bohrt sich in meine Brust, heftet sich auf das Wort BROWN. »Sind Sie auf dem Rückweg zur Uni?«
»Wir wollen nur nach Little Compton«, sage ich und füge rasch hinzu: »Irgendwann im Lauf des Tages. Wir haben es nicht eilig.«
Er geht nicht auf meine unterschwellige Anspielung ein. Ich war verdammt noch mal nicht zu schnell unterwegs und bin kein Arschloch von der Brown, und genau aus diesem Grund trage ich keine Collegeshirts. Er begutachtet meinen New Yorker Führerschein. Ein Jahrhundert verstreicht, dann noch eines.
Amy hüstelt. »Officer, was haben wir uns zuschulden kommen lassen?«
Officer Jenks sieht sie an, dann mich. »Sie haben beim Abbiegen nicht geblinkt.«
Willst du mich verscheißern, Arschloch? »Ah«, sage ich. »Tut mir leid.«
Jenks erklärt, dass er »ein paar Minuten« brauchen wird und stapft zurück zu seinem Fahrzeug, beginnt dann plötzlich zu laufen. Doch er sollte nicht laufen. Außerdem sollte er nicht »ein paar Minuten« brauchen. Als er die Seitentür des Streifenwangens öffnet und einsteigt, muss ich an die Straftaten denken, die ich begangen habe, meine geheimen Machenschaften, und mir schnürt sich die Kehle zu.
»Joe, entspann dich«, sagt Amy und legt die Hand auf mein Bein. »Ist doch nur eine geringfügige Verkehrswidrigkeit.«
Aber Amy weiß nicht, dass ich vier Menschen ermordet habe. Ich schwitze, und von Situationen wie diesen habe ich schon gehört. Jemand wird wegen einer unbedeutenden Ordnungswidrigkeit angehalten und dann, durch die sadistische Magie von Computer und System, wird er für eine ganze Reihe anderer Vergehen hochgenommen. Ich würde mich am liebsten erschießen.
Amy schaltet das Radio wieder ein. Fünf Songs laufen durch, zwanzig Minuten vergehen und Officer Jenks sitzt noch immer in seinem Gefährt, mit meinen persönlichen Informationen. Wenn er mir nur einen Strafzettel wegen eines nicht gesetzten Blinkers ausstellen will, wenn tatsächlich nicht mehr vorliegt, warum telefoniert er dann? Warum tippt er permanent auf seinem Computer rum? Endet meine Freiheit zu Beginn der Sommerferien, während mein iPhone Sonne anzeigt und der Himmel über uns voller Regenwolken hängt? Ich kenne nämlich einen Cop in diesem Staat. Sein Name lautet Officer Nico, und er glaubt, ich heiße Spencer. Was, wenn er mein Bild im Computer sehen würde? Was, wenn er mich wiedererkennen und Jenks anrufen und zu ihm sagen würde Ich kenne diesen Kerl. Und was, wenn –
»Joe«, sagt Amy, und ich habe fast vergessen, dass sie auch noch da ist. »Du siehst aus, als hättest du eine Panikattacke. So schlimm ist es doch gar nicht. Du bekommst noch nicht mal einen Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung.«
»Ich weiß«, antworte ich. »Ich kann Cops eben nicht ausstehen.«
Sie streichelt mein Bein. »Ich weiß.«
Sie greift in die Kühltasche und holt einen Pfirsich heraus. Einen Pfirsich. Selbstverständlich macht mich diese Reminiszenz an die Vergangenheit fast wahnsinnig. Sie isst einen Pfirsich, und ich mache mich wegen Peach Salinger und dem Becher mit meiner Pisse verrückt.
Dieser Becher.
Ich versuche daran zu glauben, dass er nicht mehr da ist. Ich stelle mir vor, wie ein Zimmermädchen ihn auswäscht, angewidert, ihn sauber schrubbt, ihn in Bleiche einweicht. Ich stelle mir einen Golden Retriever vor – Menschen mit Sommerhäusern mögen große Hunde. Er schnüffelt herum, legt die Tatze auf den Becher und kippt ihn um, und sein Herrchen ruft, da rennt er los, und mein Urin sickert zwischen die Dielen, und ich bin sicher. Ich stelle mir vor, wie eines der Salinger-Kinder Verstecken spielt. Der Becher fällt um. Ich bin sicher. Ich sehe eine Salinger-Cousine, zickig, wie sie Textmitteilungen tippt und dabei achtlos ihre Schuhe in den Schrank pfeffert und einen Tobsuchtsanfall bekommt, als sich der Inhalt des vollen Bechers auf ihre Manolos, ihre Tori-Birch-Sandalen ergießt. Sie wirft die Schuhe in den Müll. Ich bin sicher.
Ich höre die Tür knallen. Jenks ist zu Fuß zu uns unterwegs. Vielleicht bittet er mich gleich, aus dem Auto auszusteigen. Vielleicht belügt er mich. Vielleicht trickst er mich aus. Vielleicht bittet er Amy auszusteigen. Er trägt Aftershave, der arme Kerl, und reicht mir meinen Führerschein und die Zulassung des Mietwagens.
»Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung«, sagt er. »Wissen Sie, wir haben zwar diese Computer, aber die meiste Zeit funktionieren sie nicht.«
»Die Technik«, seufze ich. Frei. Frei! »Sie wird uns eines Tages noch zum Verhängnis werden, nicht wahr?«
»Umso wichtiger ist es mir, dass Sie den Blinker betätigen«, witzelt er.
Ich lächle. »Tut mir wirklich leid, Officer.«
Jenks erkundigt sich, ob wir direkt in der Stadt leben, und ich erzähle ihm, dass Brooklyn ruhiger ist, und alles wird gut. Ich habe Riesenglück gehabt. Ich rieche Jenks’ hoffnungsfrohes Bodyspray. Ich sehe sein kleines ungelebtes Leben, man kann das in seinen Augen erkennen, all die Träume, denen er bisher nicht nachgejagt ist, all die Träume, denen er auch nicht nachjagen wird, und zwar nicht, weil er ein Schlappschwanz wäre, sondern weil er die Details seiner Träume nicht erkennen kann, jene Details, die einen dazu animieren, die Koffer zu packen und sich zu bewegen. Polizist wurde er wegen der Unkompliziertheit, die die Uniform mit sich bringt. Man muss nicht mehr jeden Tag überlegen, was man anziehen soll.
»Viel Spaß noch«, sagt er. »Und fahren Sie bitte vorsichtig.«
Ich lenke den Wagen wieder auf die Straße und bin erleichtert, dass mein Tag und mein Leben an dieser Stelle noch nicht zu Ende ist. Ich lege eine Hand aufs Lenkrad und schiebe die andere in Amys abgeschnittene Jeans. Ich sehe unseren Abzweig vor uns auftauchen, den, der uns nach Little Compton führt. Ich will nicht, dass die Polizei in meiner Zukunft eine Rolle spielt, und ich finde mich damit ab, dass ich Mist gebaut habe, dass ich etwas nicht ordentlich zu Ende gebracht habe. Das werde ich nie wieder tun.
Diesmal benutze ich beim Abbiegen meinen beschissenen Blinker.
Wir legen bei Del’s Lemonade eine Pause ein, setzen uns an einen Picknicktisch und prosten uns mit Zitronenslushies zu. Amy zuckt mit den Schultern. »Ganz gut«, sagt sie. »Aber, mal ehrlich, so gut nun auch wieder nicht, oder?«
Ich liebe ihre nonkonformistische Art. »Die Leute glauben immer, im Urlaub sei alles besser.«
»Wir leben in einer Yelp-Nation«, sagt sie. »Unglückliche Menschen erfreuen sich daran, dies hier als Ein-Sterne-Slushie zu bezeichnen, und unsichere Menschen wollen, dass alle neidisch auf sie sind, weil sie den ›besten Slushie aller Zeiten‹ getrunken haben.«
Manchmal wünschte ich, sie hätte Beck noch kennenlernen können. »Wow«, sage ich. »Du hast gerade haargenau meine Ex beschrieben.«
Sie macht ein schmatzendes Geräusch mit den Lippen. »Welche?«
Wir sind im Urlaub, und so lasse ich locker. Ich erzähle ihr ein wenig von Beck, obwohl man mit seiner neuen Freundin eigentlich nicht über die alte sprechen sollte.
»Sie war also so eine Elite-Uni-Tussi?«, fragt sie. »War sie versnobt?«
»Manchmal schon«, sage ich. »Aber meistens war sie traurig.«
»Weißt du, die meisten Leute, die diese Unis besuchen, sind Psychos, weil sie schon die ganze Kindheit damit verbringen zu versuchen, in diese Unis reinzukommen. Sie sind nicht fähig, im Augenblick zu leben.«
Ich werde sie vögeln, hier und jetzt, auf diesem Tisch. »Du hast ja so recht«, sage ich. »Warst du schon mal mit so jemandem zusammen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Du kannst gern aus dem Nähkästchen plaudern, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich auch von mir erzählen werde.«
Sie ist die letzte Frau auf diesem Planeten, die weiß, wie wichtig es ist, ein wenig mysteriös zu wirken. Sie wirft ihren Slushie in einen Abfalleimer, und wir strecken uns auf der Tischplatte aus und beobachten die Äste über uns, die im Wind schwanken.
»Schieß los«, sagt sie. »Erzähl es mir.«
Ich beginne am Anfang, im Laden, Beck ohne BH – Amy meint, sie wäre nur auf Aufmerksamkeit aus gewesen – und Beck, die Paula Fox kauft – Amy meint, sie hätte mich damit beeindrucken wollen – und genau deswegen ist Amy so wunderschön und außergewöhnlich. Sie unterbricht mich nicht, um ihre eigene Geschichte zu erzählen, oder verfällt gar in eifersüchtiges Gezeter. Sie hört mir zu und ist wie ein Schwamm. Über Becks Bösartigkeit zu sprechen ist wie eine Erlösung für mich, und aus diesem Grund sollte man manchmal in ein Auto steigen und einfach losfahren. Ich bezweifle, dass wir dieses Gespräch auch in New York hätten führen können. Ich fühle mich so wach, wenn ich mit Amy zusammen bin, und sie versteht, was ich zu verdeutlichen versuche, als ich erzähle, wie Beck aus Bemelmans Bar twitterte, dass sie solipsistisch im Wörterbuch nachschlagen musste. Als ich ihr berichte, dass Beck Little Compton immer nur als LC bezeichnete, tritt sie in die Luft. Sie versteht es. Alles. Ich werde gekannt. Sie wendet den Kopf.
»Wart ihr beiden zusammen hier?«, fragte sie, und ihre Stimme klingt höher als gewöhnlich, misstrauisch.
»Nein«, antworte ich, und im Grunde lüge ich nicht einmal. Ich bin Beck hierher gefolgt. Das ist was anderes.
Ich erzähle ihr, wie Beck mich mit ihrem Seelenklempner betrogen hat.
»Furchtbar«, findet Amy. »Wie hast du es herausgefunden?«
Ich habe sie eingesperrt und bin in ihre Wohnung eingebrochen und habe die Beweise auf ihrem MacBook Air entdeckt. »Ich hatte einfach so ein Gefühl«, lüge ich, weil das auch in gewissem Sinne der Wahrheit entspricht. »Also habe ich sie danach gefragt, und sie hat es mir gestanden. Und das war’s. Wir haben uns getrennt.«
Sie streichelt mein Bein. Ich bitte sie, Nicholas Angevine zu googeln. Sie tut es und überfliegt die Überschriften und sieht mich entsetzt an. »Er hat sie getötet?«
»Jap«, sage ich. Und es ist schon beeindruckend. Ich habe ihm den Mord so gründlich angehängt, dass ich im Wikipedia-Eintrag über dieses Verbrechen nicht einmal existiere. »Er hat sie umgebracht und sie im Hinterland in der Nähe des Zweitwohnsitzes seiner Familie vergraben.«
Sie erschauert. »Vermisst du sie?«
»Nein«, sage ich. »Selbstverständlich bedaure ich sie. Aber weißt du, zwischen uns lief es nicht so besonders gut. Und als ich dich dann kennengelernt hab, also, ich weiß, das klingt schräg, aber ab da hat sie mir dann wirklich nicht mehr gefehlt.«
Sie schubst mein Knie mit ihrem an. »Das ist süß.« Sie verspricht mir, mich nie mit einem Seelenklempner zu hintergehen. Sie hat genug von Ärzten und Psychiatern, von »Menschen, die vom Leid anderer leben.«
Herrgott, ich liebe ihr rosafarbenes, weiches, misstrauisches Gehirn. Ich küsse sie.
»Ich bin gleich wieder da«, sagt sie, lässt ihre Tasche bei mir liegen und überquert den Parkplatz auf dem Weg zu den Toiletten. Sie läuft nur für mich und dreht sich um und zwinkert mir zu, genau so, wie sie es auch im Laden macht. Nachdem sie in der Toilette verschwunden ist, hole ich ihr Telefon aus der Tasche.
Ich fürchte mich niemals davor, was ich finden könnte, wenn ich ihr Telefon durchsuche. Aber ich will eben alles wissen. Das ist wie bei dem Kerl in diesem alten Julia-Roberts-Film, dem es einfach gefällt, ihr dabei zuzusehen, wie sie Hüte anprobiert und zu »Brown Eyed Girl« herumtanzt. Nichts von dem, was ich in Becks Telefon gefunden habe, hat mich jemals zum Lächeln gebracht, doch wenn ich in Amys Telefon herumstöbere, bestätigen meine Entdeckungen stets meine Gefühle für sie. Der oberste Eintrag in ihrem Google-Suchverlauf lautet Henderson ist scheiße. Sie liest Kurzzusammenfassungen der Episoden seiner Talkshow F@#k Narcissism, die wir mehrmals die Woche zusammen ansehen, um darüber zu lästern, und in der er immer auf der Couch Platz nimmt und seine Gäste am Tisch sitzen müssen. Der Aufhänger der Show ist, dass er auf der Couch sitzt, weil er eben ein Narzisst ist, der eigentlich nur über sich selbst reden will. Doch logischerweise driftet jedes Interview früher oder später zu dem beknackten Film ab, für den der jeweilige Gaststar gerade die Werbetrommel rührt. Sie sagt, dass Hendersons Erfolg ein Beweis dafür ist, dass unsere Zivilisation auf eine kannibalistische Apokalypse zusteuert.
»Was machst du da?«
Ich erschrecke und lasse Amys Telefon beinahe fallen. Ich sehe schuldbewusst auf, während sich ihr Schatten über mich legt. Sie steht vor mir, mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen. Verdammt. Ich schlucke. Ich bin ertappt worden.
»Amy«, sage ich und umklammere ihr Handy. »Ich weiß, wonach es aussieht, aber so ist es nicht.«
Sie streckt die Hand aus. »Gib mir mein Telefon.«
»Amy«, sage ich flehentlich. »Tut mir leid.«
Sie wendet den Blick ab. Ich gebe ihr das Telefon und möchte, dass sie sich zu mir setzt, aber sie verschränkt wieder die Arme. Ihre Augen schimmern feucht. »Und ich habe buchstäblich eben gerade noch gedacht, dass ich glücklich mit dir bin.«
»Tut mir leid«, sage ich noch mal.
»Warum schnüffelst du?«, fragt sie erbost. »Warum ruinierst du alles?«
»So ist es nicht«, widerspreche ich und strecke die Hand aus.
»Nein«, sagt sie und winkt ab. »Ich verstehe schon. Du vertraust mir nicht. Und warum solltest du das auch tun? Schließlich war ich diejenige, die an dem Tag, an dem ich dich kennengelernt habe, eine geklaute Kreditkarte dabeihatte. Selbstverständlich traust du mir nicht.«
»Aber ich vertraue dir doch«, sage ich und – wie merkwürdig die Wahrheit klingt! »Ich schaue in dein Telefon, weil ich total verrückt nach dir bin, und wenn du zur Toilette gehst, dann vermisse ich dich.« Ich gehe vor ihr auf die Knie und winsle um Gnade. »Amy, ich schwör es dir. Ich war noch nie so vernarrt in jemanden, und ich weiß, dass es verrückt klingt. Aber ich liebe dich. Selbst, wenn du auf der Toilette bist, sehne ich mich nach dir, nach mehr.«
Anfangs reagiert sie nicht. Verzieht keine Miene. Und dann seufzt sie und zaust mir durchs Haar. »Steh auf.«
Wir lassen uns wieder auf der Bank nieder, während in unserer Nähe eine laute, sandige Familie aus einem Minivan aussteigt. Noch vor fünf Minuten hätten wir über sie gewitzelt. Aber nun sind wir ernst. Ich nicke in deren Richtung.
»Du und ich, wir sind nicht so aufgewachsen, und deshalb sind wir ein bisschen schräg geworden«, sage ich. »Menschen wie uns fällt es schwer, anderen zu vertrauen, aber ich traue dir.«
Sie verfolgt, wie die Mutter die Kinder mit Sonnencreme einschmiert. »Okay«, sagt sie. »Das stimmt so weit. Das mit der beschissenen Kindheit und dem mangelnden Vertrauen, das daraus resultiert.«
Ich halte ihre Hand, während wir zusehen, wie der Vater versucht, vernünftig mit seinem unvernünftigen vierjährigen Sohn zu reden, und ihm erklärt, dass er keinen Slushie mehr haben darf, weil er sonst im Bauch keinen Platz mehr für die Würstchen hat, die sie gleich noch grillen wollen. Das Kind kreischt. Er will kein Würstchen – er will einen Slushie. Die Mutter kommt dazu und kniet sich hin und nimmt das Kind in den Arm und sagt bitte sag Mami, was du möchtest. Das Kind brüllt Slushie, und der Vater sagt, die Mutter würde das Kind verwöhnen, und die Mutter erwidert, dass es wichtig sei, mit Kindern zu kommunizieren und ihre Wünsche zu respektieren. Es ist wie fernsehen, und als sie wieder im Minivan verschwinden, ist die Show vorbei.
Amy legt den Kopf an meine Schulter. »Ich mag dich.«
»Du bist nicht sauer auf mich?«
»Nein«, sagt sie. »Ich bin genauso. Manchmal kann ich kaum fassen, wie sehr wir uns ähneln.«
Ich erstarre. »Du hast in mein Handy geschaut?« CandaceBenjiPeachBeckBecherMitUrin.
Sie lacht. »Nein«, sagt sie. »Aber wenn du irgendwann dein Telefon rumliegen lassen würdest, würde ich es hundertprozentig tun. Auch ich bin nicht besonders gut darin, anderen zu vertrauen.«
Ich nicke. »Hör mal, ich will nicht so sein. Aber wir können es sicher schaffen, uns zu bessern.«
Sie drückt meine Hand. »Ich versaue es vielleicht.«
Mit jemandem zusammen zu sein, ist das tollste Gefühl, das es gibt, viel besser als Sex, viel besser als ein rotes Cabrio oder das erste Ich liebe dich.
»Ja?«, frage ich.
»Ja«, sagt sie, und Imitation ist ein Zeichen für Liebe.
Das hier, dieser Trip, war eine gute Idee. Wir besorgen uns noch ein paar Slushies für die Fahrt und steigen wieder in die »Vette«. Eine atomare Kernschmelze hat stattgefunden, wir sind die letzten beiden Menschen auf der Erde, und genau deshalb sollte man keinen Selbstmord begehen, weil man vielleicht eines Tages mit jemandem im Schatten sitzen kann, der erfrischend anders ist! Sie muss so sehr über mich lachen, dass ihr etwas von dem Slushie aus den Mundwinkeln spritzt. Und dann fahren wir los, und ich suche uns ein verschwiegenes Plätzchen und lecke sie, und als ich fertig bin, tropft sie mir aus den Mundwinkeln. Euer Urlaub ist nicht der beste Urlaub aller Zeiten. Sondern meiner ist es. Ich hab es mir verdient. Sie hat mich dabei erwischt, wie ich in ihrem Telefon rumgeschnüffelt habe, und sie hat trotzdem die Beine für mich breitgemacht.
Als wir beim Hotel ankommen, keucht sie auf. »Wow.«
Und als wir das Zimmer betreten und auf die Terrasse hinausgehen, keuche ich nicht. Ich wusste, dass wir nahe dran sein würden, aber ich hätte nicht gedacht, dass wir es so deutlich sehen können – das Haus der Familie Salinger, funkelnd, im Widerschein eines Feuerwerks, voller Menschen. Menschen, die meinen Becher gesehen haben oder auch nicht. Amy nickt in Richtung des Hauses. »Kennst du die Leute, die da wohnen?«
»Eine von ihnen«, erkläre ich ihr. »Das sind die Salingers.«
Ich berichte Amy von Peachs krankhafter Freundschaft mit Beck und ihrem unvermeidlich daraus resultierenden Selbstmord. Amy schlingt die Arme um mich, und wäre das hier ein Cartoon, dann könnte ich meinen Gummiarm über den ganzen Strand hinweg ausstrecken, bis ins Haus hinein, die wacklige Treppe hinauf ins Schlafzimmer, und mir dort meinen Becher mit Urin zurückholen. Und dann wäre ich wunschlos glücklich.