Molch ist gesund

Es war ein goldener Oktobernachmittag. Die Reihenhaussiedlung am nördlichen Rand der Großstadt döste vor sich hin wie ein satter, fauler Hund. Jacob Barton schlurfte mit Stoffturnschuhen über den Gehweg. Sie waren eine halbe Nummer zu groß. Aber sie kamen aus London. Jacob sah auf den rechten Schnürsenkel, der sich gelöst hatte. Er dachte an die Spaghetti, die er sich gleich zu Hause warm machen würde. Vielleicht würde er noch ein Ei dazugeben. Ein Ei hat Eiweiß. Eiweiß macht Muskeln. Und davon hatte Jacob seiner Meinung nach zu wenig.

Jacob schob seine Umhängetasche nach hinten und zog mit der anderen Hand seine Jeans hoch. Sie war eine ganze Nummer zu groß. Jacob bog auf die Hauptstraße. Bis zur U-Bahn-Station Nordheide waren es nur noch wenige Schritte. Kurz vor der Rolltreppe blieb Jacob stehen. Er riss die Umhängetasche auf und kramte mit beiden Händen darin. Er kramte in der linken Ecke. Sein Kopf sank zwei Zentimeter nach unten. Er kramte in der rechten Ecke. Sein Kopf sank vier Zentimeter nach unten. Er kramte in der Mitte. Seine rotblonden Haare berührten den Taschenrand. Gleich wäre Jacobs Kopf in der Tasche abgetaucht.

Hätte nicht …

AAAAAHHHH!

FUUUUMPFS!

SCHLOTZ ZOPPOOO!

… plötzlich jemand geschrien.

Jacobs Kopf schoss nach oben. Er sah zum unteren Ende der Rolltreppe. Er riss die Augen auf. Sein Unterkiefer klappte nach unten.

Am unteren Ende der Rolltreppe lag ein Knäuel. Es bewegte sich. Und stieß Schreie aus. Jacob vermutete, dass es ein Menschenknäuel war. Aber ganz sicher war er sich nicht. Das Geschrei war tierisch, die Bewegungen glichen denen eines Flummiballs.

„Festhalten!“, rief eine hohe Stimme.

„Boi noap“, stöhnte eine raue Mädchenstimme.

„Das schaffst du“, sagte ein Junge.

Jacob kniff die Augen zusammen. Er sah in die dunkle Tiefe des U-Bahn-Eingangs. Waren sie das wieder? Die verrückten Hennen?

Beinahe wäre Jacob auf der Rolltreppe nach unten gefahren, um den Verknäulten zu helfen (wenn ihnen überhaupt noch zu helfen war), hätte nicht …

AAAAAHHHH !!!

… schon wieder jemand geschrien.

Ganz spitz. Ganz laut. Ganz nah bei seinem Ohr. Jacob zuckte zusammen. Er schrie kurz auf. Nur zur Sicherheit. Direkt vor ihm stand sie. Eine der verrückten Hennen. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht. Oder hatte er sie auf der Rolltreppe nur übersehen? Jacob blinzelte.

Die verrückte Henne blinzelte aus zwei lindgrünen Augen zurück.

„Hoi! Äh … ich meine, hallo! Schön, dich mal wieder zu sehen. Wir sind ja schon eine ganze Weile nicht mehr aneinander vorbeigerollt, stimmt’s?“ Die verrückte Henne blinzelte dreimal schnell hintereinander, wickelte eine Haarsträhne um den Finger und lächelte. „Und dann jetzt gleich so ein toller Zusammenstoß, was?“

Jacob zog eine Augebraue hoch. Das war alles.

„Das ist … das ist … ganz toll, nicht wahr? Ein ganz toller Zusammenstoß, genau, das ist es. Boibine! Ich meine, super.“ Das Mädchen lächelte. Dann sah es zu Boden.

Jacob nickte langsam. Er sah die verrückte Henne genauer an. Um ihre Augen hatten sich kleine rote Kringel gebildet. Sie erinnerten ihn an Saturnringe. Vielleicht, weil ihm das Mädchen insgesamt etwas außerirdisch vorkam. Bis auf die roten Ringe war ihre Haut blass. Sehr blass. Auf ihrer Stirn konnte man ein feines blaues Äderchen erkennen. Sie hatte lange braune Wimpern und feine, verwegen geschwungene Augenbrauen. Ihre lindgrünen Augen schimmerten wie zwei Blätter in einem glasklaren Bach an einem Frühlingstag.

Die rotbraunen Haare quollen unter einem Hut aus lauter Stoffblumen hervor. Der Hut erinnerte Jacob an Uroma Agnes. Es gab ein Foto von ihr im Strandbad. Uroma Agnes trug eine Badekappe. Aus lauter Plastikblumen. Sie ähnelte dem Blumenhut sehr. Todschick und der letzte Schrei.

Gewesen.

Vermutlich so um 1948.

Jacob hatte die verrückte Henne schon mindestens zweimal an der U-Bahn-Station Nordheide gesehen. Mindestens zweimal war sie dabei die Rolltreppe rücklings auf dem Handlauf wie ein Rodeoreiter nach unten gefahren. Sehr extravagant.

„Ich bin übrigens Silvania. Jetzt, wo uns das Schicksal hat zusammenstoßen lassen, können wir uns doch gleich mal kennenlernen, oder nicht?“ Silvania hielt Jacob ihre Hand entgegen.

Jacob zögerte einen Moment. Er blickte auf den großen, runden Ring am Mittelfinger des Mädchens. Er sah aus wie ein Auge. Die Pupille bewegte sich. Jacob hob schnell den Blick und sah lieber in Silvanias lindgrüne Augen. Er schüttelte ihre Hand. Sie fühlte sich zart und kühl an. Und ganz weich. „Jacob.“

Silvania grinste.

Jacob grinste.

Silvania wickelte eine rotbraune Haarsträhne um den Zeigefinger und schielte abwechselnd zu Jacob und in den blauen Herbsthimmel. Himmel. Jacob. Himmel.

Jacob steckte die Hände in die Hosentaschen und sah auf seine Schnürsenkel. Er dachte nicht mehr an Spaghetti.

„Wohnst du auch hier in der Gegend?“, fragte Silvania.

Jacob schüttelte den Kopf. „Gebe hier nur Nachhilfe.“

„Nachhilfe. Toll!“ Silvania grinste. „In welchen Fächern?“

Jacob kratzte sich hinter dem Ohr. Nachhilfe war toll? Na ja. „Meistens Englisch. Manchmal auch Mathe.“

Die lindgrünen Augen funkelten. „Englisch! Ich lie…“ Silvania hüstelte. „Ich meine, ich bin grottenschlecht in Englisch. Wirklich, vollkommen hoffnungsloser Fall. Kann mir keine Vokabeln merken. Genau genommen kann ich kein einziges Wort.“

Jacob runzelte die Stirn. „Das glaube ich nicht. Garantiert weißt du, was zum Beispiel Milch auf Englisch heißt.“

Die verrückte Henne dachte lange nach. Sie streckte die Zunge vor Anstrengung heraus. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Das blaue Äderchen auf ihrer Stirn krümmte sich. Dann lächelte sie auf einmal. „Ich hab’s!“, sagte sie und wippte auf den Zehenspitzen. „Molch!“ Sie sah Jacob triumphierend an.

Jacob riss entsetzt die Augen auf. „Du bist ja echt grottenschlecht!“

„Sag ich doch.“ Die verrückte Henne grinste.

„Du brauchst Nachhilfe.“

Silvania nickte heftig. „Intensivnachhilfe.“

Da hatte die verrückte Henne recht, dachte Jacob. Er sah sie einen Moment mitleidig an. „Ich sag’s dir gleich: Eine Stunde bei mir kostet fünf Euro fünfundfünfzig.“

Silvania zog die Augenbrauen hoch. Sie zählte etwas an den Fingern ab. Sie runzelte die Stirn. Dann lächelte sie wieder. „Geht klar. Meine Oma sagt immer: Bei Bildung und bei Schuhen darf man nicht auf den Preis, sondern nur auf Qualität achten. Oder meinte sie Bikinis und Schuhe? Na, egal, auf jeden Fall kann Oma Zezci perfekt Englisch.“

Jacob nickte mit offenem Mund. Schuhe, Bikinis, Bildung. Alles klar.

„Geht es bei dir gleich morgen?“, fragte Silvania.

„Morgen finde ich gut. Wir sollten schnellstens anfangen. 15 Uhr?“

Während die verrückte Henne ihm die Adresse aufschrieb, sah er zur Rolltreppe. Das Menschenknäuel hatte sich gelöst. Zwei Mädchen und ein Junge kamen die Rolltreppe heraufgefahren. Der Junge hatte halblange dunkle Haare. Er starrte ernst und eisern in die Luft wie ein Soldat bei einer Parade. Auf der Stufe hinter ihm stand ein schlankes blondes Mädchen. Zwischen dem blonden Mädchen und dem Jungen klemmte die zweite verrückte Henne. Jacob erkannte ihre schwarze Stachelhaarfrisur sofort.

„Dann sehen wir uns also morgen.“ Silvania atmete lautstark aus, als sie Jacob den Zettel mit der Adresse gab. „Unsere erste Nachhilfestunde.“

Jacob steckte den Zettel in die Hosentasche. Er zog seine Hose mit einer Hand hoch, sah die verrückte Nachhilfehenne an und lächelte kurz zum Abschied. Dann ging er zur Rolltreppe. Molch, dachte er und schüttelte kaum merklich den Kopf. Das würde nicht leicht werden. Ganz und gar nicht. Er stieg auf die Rolltreppe und fuhr in die Tiefe. Einen Moment dachte er daran, sich wie ein Rodeoreiter auf den Handlauf zu schwingen. Aber nur einen Moment.

Sterne im Wasserfall

Schlotz zoppo!“ Daka stolperte von der Rolltreppe. Sie klammerte sich im Fall an Ludo. Ludo fiel auf Silvania, die mit roten Ringen um die Augen wie im Traumzustand am Ende der Rolltreppe stand. Helene hüpfte als Letzte von der Rolltreppe. Sie griff nach Daka und wollte sie zurückziehen. Vergebens. Helene verlor das Gleichgewicht. Die Freunde flogen wie Dominosteine – klack, klack, klack – aufeinander.

Silvania wurde aus ihrem Traumzustand geweckt. Sehr unsanft. „Ihr seid unmöglich!“

„Wer?“, fragte Ludo.

„Wir?“, fragte Daka.

„Unmöglich?“, fragte Helene.

Silvania seufzte. Sie sah ihre Zwillingsschwester und ihre Freunde an und musste grinsen. Natürlich hatte es mal wieder Rolltreppenrandale gegeben.

Seit die Zwillingsschwestern Silvania und Dakaria Tepes aus ihrem unterirdischen Heimatort in Transsilvanien in die Großstadt Bindburg gezogen waren, standen sie mit Rolltreppen auf Kriegsfuß. Beziehungsweise standen sie überhaupt nicht auf Rolltreppen, egal mit welchem Fuß. Am liebsten stiegen sie wie Reiter auf den schwarzen Handlauf und ritten die Rolltreppe nach oben. Oder nach unten, je nachdem. Am allerliebsten hätten sie sich einfach geflopst oder wären geflogen. Aber das war verboten. Ihre Mutter hatte sieben radikale Regeln für das Leben unter Menschen aufgestellt. Ihre Mutter war eine kluge Frau. Und Silvania und Daka hielten sich klugerweise an ihre Regeln.

Meistens.

Doch wann würden Dakaria und Silvania jemals lernen, alleine wie normale Menschen Rolltreppe zu fahren? Es musste ja nicht gleich freihändig sein. Es gab da ein entscheidendes Problem: Sie waren keine normalen Menschen. Sie waren Halbvampire. Darüber waren sie nicht immer froh. Manchmal wünschte sich Silvania, ein waschechter Mensch zu sein. Daka wünschte sich öfters, ein Vollblut-Vampir zu sein.

Silvania rückte den Blumenhut gerade, der beim Zusammenstoßen mit Ludo, Daka und Helene zur Seite gerutscht war. Nur gut, dass sie sich rechtzeitig zum oberen Ende der Rolltreppe geflopst hatte und somit der Rolltreppenrandale entgangen war. Das war gegen die sieben radikalen Regeln (Silvania wusste das und hatte drei Sekunden lang ein schlechtes Gewissen), aber als Silvania ihre Rolltreppenbekannschaft am oberen Ende hatte stehen sehen, konnte sie nicht anders. Es machte wie von selbst flops! Kein Wunder, es ging schließlich um Leben und Tod. Na ja, nicht ganz. Aber immerhin um Liebe. Oder? „Beinahe hättet ihr mich vor Jacob blamiert.“

„Wie das denn?“, wollte Ludo wissen.

„Nur beinahe?“, fragte Daka.

„Welcher Jacob?“, fragte Helene.

Silvania zupfte an ihrem knallroten Oberteil. Die Ringe um ihre Augen passten farblich hervorragend dazu. „Jacob ist mein Nachhilfelehrer.“

„Dein WAS?“ Daka blieb der Mund offen stehen.

Helene machte eine apfelgroße Blase mit ihrem Kaugummi und ließ sie platzen. „Nicht schlecht!“

Ludo sagte nichts. Er sah Silvania mit seinen ockerfarbenen Augen an, als wolle er ihr Innerstes durchleuchten.

„Seit wann brauchst du denn Nachhilfe?“, fragte Daka.

„Seit …“, Silvania sah auf die Uhr, „… fünf Minuten und dreiunddreißig Sekunden.“

Daka überlegte einen Moment. „Gibt der Typ etwa Nachhilfe im Fliegen?“ In Bistrien gab es nur ein Schulfach, in dem ihre Schwester richtig schlecht gewesen war: Fliegen. Fliegen war Dakas Lieblingsfach. Gleich nach Tierkunde.

„Gumox! In Englisch“, antwortete Silvania.

„Hä? Du redest doch Englisch wie die Queen.“ Daka sah ihre Schwester ratlos an.

Silvania zuckte mit den Schultern. „Dann ist es eben keine Nachhilfe, sondern Vorhilfe. Von zu viel Lernen ist noch keiner verblödet. Wie sagt Onkel Vlad immer: Lenoi mutza flatliac!“

„Lila Mütze?“ Helene klopfte mit dem Zeigefinger auf ihr Hörgerät. Es steckte in ihrem Ohr und war ganz klein. Unter den langen blonden Haaren sah man es kaum. Das fand Helene gut so. Das Hörgerät war ihr Geheimnis. Bis auf Daka, Silvania und Ludo wusste niemand in der Klasse etwas davon. Auch nicht von ihrem Hobby: Friedhofsbesuche. Am liebsten in der Abenddämmerung. Schon allein bei dem Gedanken bekam Helene vor Vorfreude eine Gänsehaut. Sie fuhr sich über den Arm. Sie hatte ihn mit lauter kleinen Monstern bemalt. Das war ihr anderes Hobby.

„Flat- was?“, fragte Ludo.

„Das heißt so viel wie: Den Faulen beißt die Fledermaus“, übersetzte Daka aus dem Vampwanischen – eine der ältesten und schwierigsten Sprachen der Welt. Und, wie die Vampire fanden, eine der schönsten.

Helene und Ludo nickten verständig.

„Genau. Und deshalb kommt Jacob morgen zu mir“, fuhr Silvania fort.

„Du meinst zu uns?“, fragte Daka.

„Habt ihr seine Augen gesehen?“ Silvania sah verträumt in den Himmel.

Daka verschränkte die Arme. „Nö.“

„Sie funkeln wie Sterne in einem Wasserfall.“ Silvania seufzte.

„Sterne im Wasserfall? Wie sollen die denn da reinkommen?“ Daka runzelte die Stirn.

„Wir haben uns berührt.“ Silvania sah auf ihre rechte Handfläche. Sie roch daran.

Daka beugte sich vor, roch an der Hand ihrer Schwester und rümpfte die Nase. „Würde sagen, Pausenbrot.“ Sie fügte fachmännisch hinzu: „Salami.“

„Seine Hand war ganz weich. Aber nicht schwabbelig. Einfach genau richtig. Versteht ihr?“, sagte Silvania.

Ludo kratzte sich an der Nase und sah zu Boden.

Helene nickte langsam.

Daka sah sich ratlos um. „Genau richtig wozu? Zur Englisch-Nachhilfe?“ Sie hielt sich die Hände vors Gesicht und betrachtete die Innen- und Außenflächen. Hatte sie auch Nachhilfe-Hände?

Helene flüsterte Silvania zu: „Ich verstehe dich.“

Silvania lächelte Helene zu. Davon hatte sie immer geträumt: eine richtige Freundin zu haben. Eine Freundin, mit der man über die wesentlichen Dinge im Leben sprechen konnte: Liebe. Liebe. Liebe. Ach ja, und …

Liebe.

Mit ihrer Schwester konnte Silvania auch über alles reden. Fast alles. Nur in Sachen Liebe war Daka als Gesprächspartner so hilfreich wie eine Litfaßsäule. Sie war einfach noch nicht so weit. Sie war sieben Minuten jünger als Silvania. Bei solchen Dingen zählte jede Sekunde.

Helene hakte sich bei Silvania ein. „Weißt du schon, was du morgen anziehst?“

Silvania zuckte zusammen. „Fumpfs! Ich habe gar nichts anzuziehen!“

„Dein Kleiderschrank explodiert bald wegen Überfüllung“, erinnerte sie Daka.

„Trotzdem habe ich nichts anzuziehen“, beharrte Silvania.

„Hä?“ Daka kratzte sich in ihrer Stachelhaarfrisur.

„Ich meine, nichts Besonderes.“

„Braucht man für Englisch-Nachhilfe besondere Klamotten? Schutzkleidung oder so was?“

Helene und Silvania verdrehten die Augen.

Ludo räusperte sich.

„Ach, alles klar!“, rief Daka und schlug sich kurz an die Stirn. „Du brauchst ein wasserdichtes Oberteil und eine Gesichtsmaske, damit du beim Üben vom th nicht den Nachhilfelehrerspeichel abbekommst.“

„Igitt!“, rief Silvania.

„Voll eklig“, fand Helene.

Ludo schüttelte sich.

Daka verschränkte die Arme. Natürlich war das mit dem wasserdichten Oberteil und der Gesichtsmaske nur Gumox gewesen. Aber trotzdem hatte sie das Gefühl, etwas zu verpassen. Etwas ganz Entscheidendes, was die anderen nicht verpasst hatten. Daka hasste es, etwas zu verpassen. Bis auf die Straßenbahn zur Schule. „Irgendwas stimmt doch nicht mit dieser Nachhilfe.“ Daka sah Helene, Ludo und Silvania der Reihe nach an.

Helene kicherte leise.

Ludo hatte eine interessante Wolke am Himmel entdeckt.

Silvania fuhr sich sanft mit der rechten Handfläche über die Wange. Sie starrte mit einem Lächeln auf dem leicht geöffneten Mund vor sich hin.

Daka musterte ihre Schwester. Silvania sah nie ganz normal aus. Aber jetzt sah sie besonders merkwürdig aus. Etwas … verwirrt. Vielleicht hatte Silvania nicht genügend Heimaterde im Anhänger ihrer Kette und stand kurz vor einem Schwächeanfall. Wie damals im Sportunterricht, als sie singend und torkelnd vom Schwebebalken gefallen war. Hätte Daka ihre Schwester nicht gerettet, wäre sie womöglich in ein lebensgefährliches Koma gefallen. Die Klassenkameraden und Frau Renneberg waren schwer beeindruckt von der ersten Heimaterde-Hilfe.

Auch jetzt schien Silvania vollkommen weggetreten zu sein. Daka überlegte, ob sie schon mal einen Krümel Heimaterde zwischen den Zehen hervorpulen sollte. Sollte ihre Schwester umkippen, konnte sie ihr den Krümel ratzfatz in die Nase stopfen. Zack! Koma verhindert. Schwester gerettet. Alles gut.

Doch bis auf den verklärten Blick, das Lächeln und die roten Ringe um die Augen machte ihre Schwester einen standfesten Eindruck. Sie torkelte nicht. Sie sang auch keine transsilvanischen Heimatlieder. Sie summte noch nicht einmal leise. Plötzlich erinnerte sich Daka, woher sie diesen Gesichtsausdruck bei ihrer Schwester kannte. Den legte Silvania immer dann auf, wenn ihr Gesicht zwischen zwei Buchdeckeln eines fetten Liebesromans steckte.

Daka ahnte Schlimmes. Sie stöhnte. „Hat das etwa was mit Knutschen, Händchenhalten und anderen ekligen Sachen zu tun?“

Helene und Ludo nickten.

Silvanias rote Ringe um die Augen flimmerten wie Hula-Hoop-Reifen.

„Und dafür lässt du dir freiwillig Nachhilfe geben?“ Daka sah ihre Schwester fassungslos an.

„Ich zahle sogar fünf Euro fünfundfünfzig dafür“, sagte Silvania.

Daka schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Es klatschte. „Schnappobyx memu!“

Das war auch Vampwanisch und hieß so viel wie ‚Prost Mahlzeit!‘.

„Weißt du, was man für fünf Euro fünfundfünfzig alles kaufen könnte? Dafür bekommst du sieben Banane-Schokoriegel oder elf Eiskugeln oder 800 Gramm Hack oder viermal Pomm…“

„Daka?“ Helene legte die Hand auf Dakas Schulter.

„Was?“

„Silvania kauft sich eben lieber Nachhilfestunden statt 800 Gramm Hack.“

Ludo zuckte mit den Schultern. „Reine Geschmackssache.“

„Geschmackssache?“ Daka schüttelte den Kopf. Sie folgte Silvania, Ludo und Helene in den Lindenweg. Dass Hackfleisch etwas mit Geschmack zu tun hatte, war Daka klar. Aber was an Englisch-Nachhilfe lecker sein sollte, ein Rätsel. Okay, vielleicht war es gesünder. Aber trotzdem! „Fünf Euro fünfundfünfzig“, murmelte Daka vor sich hin, während sie den Lindenweg entlangging.

Ganz am Ende des Lindenwegs, im Reihenhaus Nummer 23, wohnten die Tepes. Mihai und Elvira Tepes waren mit ihren Töchtern Daka und Silvania vor ein paar Wochen nach Bindburg gezogen. Bindburg war Elviras Heimatstadt. Nachdem sie über dreizehn Jahre mit ihrem Vampir-Ehemann und ihren Halbvampir-Töchtern in Bistrien mitten in Transsilvanien gelebt hatte, war es an der Zeit, in die Heimat zurückzukehren, fand Elvira Tepes. Mihai Tepes war zwar schon 2676 Jahre alt, trotzdem war er ein moderner Ehemann. Seine Frau hatte die gleichen Rechte wie er. Er verstand, dass sie Heimweh hatte. Er verstand, dass es nur gerecht war, jetzt in Deutschland zu leben. In seinem Kopf verstand er das alles. Aber in seinem Herzen loderte Heimweh. Er sehnte sich nach den transsilvanischen Wäldern, den nächtlichen Ausflügen mit seinem Bruder Vlad und den köstlichen blutig-spritzigen Häppchen vom Schlachter Sangrasa ums Eck.

Auch Daka erinnerte sich ab und zu an Schlachter Sangrasa. Wenn sie an die blutigen Auslagen dachte, fing sie zu sabbern an. So wie jetzt auf dem Heimweg. Daka schluckte den Speichel herunter und dachte lieber an ihr Vorhaben. Das war zwar keine blutige, aber eine heikle Angelegenheit.

Die Zwillinge hatten beschlossen, dass ihre Eltern heute ihren neuen Freund Ludo kennenlernen sollten. Mihai und Elvira Tepes wussten noch nichts von diesem Beschluss. Ein spontanes Aufeinandertreffen war sicher am besten. So hatte es bei Helene schließlich auch funktioniert. Helene war Mihai und Elvira Tepes bei ihrem ersten nächtlichen Ausflug mit den Zwillingen direkt in die Arme geflogen. Mit einem Nudelsieb auf dem Kopf. Auf einer Klobrille sitzend. Ein stürmisches Kennenlernen.

Helenes Papa, den Zahnarzt Dr. Peter Steinbrück, kannten Mihai und Elvira Tepes auch schon. Er war Elviras Vermieter. Elvira Tepes hatte unter seiner Zahnarztpraxis in der Innenstadt einen kleinen Laden angemietet. Der Laden hieß „Die Klobrille“. Er lief wie geschmiert. Frau Tepes verkaufte nach Kundenwünschen gestaltete Klobrillen. Eine echte Marktlücke. Lückenlos stapelten sich derweil die Klobrillen im zweiten Kinderzimmer der Tepes. Frau Tepes hatte die Klobrillen in Transsilvanien günstig mit Massenrabatt erstanden. Daher mussten sich Daka und Silvania ein Zimmer teilen.

Nur für ein, zwei Monate.

Oder drei.

Oder dreihundertfünfundfünfzig.

„Fünf Euro fünfundfünfzig“, murmelte Daka noch immer, als sie bereits auf der Hälfte des Lindenwegs waren.

Helene lief im Trippelschritt rückwärts vor Ludo her. „Siehst du irgendetwas voraus?“

Ludo Schwarzer war nicht ganz normal. Er konnte in die Zukunft sehen. Manchmal. Leider war das Bild oft verschwommen. Schlechter Empfang. Ludos Opa meinte, Ludo hätte eine große Gabe. Ludos Vater meinte, er würde zu viel fernsehen.

„Wegen der Klassenarbeit beim Graup?“, fragte Ludo.

„Nein. Wegen Jacob und Silvania“, antwortete Helene.

„Ach so.“ Ludo blieb stehen, schloss die Augen und presste die schmalen Lippen aufeinander.

Alle anderen waren ebenfalls stehen geblieben. Sie betrachteten Ludo aufmerksam. Er atmete heftig. Dann machte er seltsame Geräusche. Er quietschte, er grunzte. Auf einmal zischte er wie ein Fahrradreifen, aus dem die Luft entweicht. Helene, Daka und Silvania wichen unwillkürlich zurück.

Plötzlich riss Ludo die Augen auf. Seine Wangen leuchteten rot. Er blinzelte ein paarmal, rollte den Kopf und schüttelte die Arme aus.

„UND?“, fragten die Mädchen wie aus einem Mund.

Ludo zuckte mit den Schultern. „Viel habe ich nicht gesehen. Auf jeden Fall kommt Jacob zur Nachhilfe. Und Silvania hat auf jeden Fall etwas an.“

„Gut zu wissen“, fand Daka.

Silvania sah Ludo mit weit aufgerissenen Augen fragend an.

„Na ja, weil du doch meintest, du hättest nichts zum Anziehen“, erklärte Ludo.

Die vier Freunde waren am Reihenhaus Nummer 23 angekommen. Während Silvania noch Ludos Vorhersage verdaute, fragte sich Daka, wie ihre Eltern auf ihren weitsichtigen Überraschungsgast reagieren würden. Doch noch nicht einmal Ludo sah voraus, dass er nicht die einzige Überraschung im Hause der Tepes sein sollte.

Toilettenrauschen

Dirk van Kombast stand mit seinen himmelblauen Püschelhausschuhen auf dem Klodeckel. In der linken Hand hielt er eine Gebrauchsanweisung. In der rechten Hand ein Abhörgerät. Es sah aus wie eine kleine Satellitenschüssel, aus deren Mitte ein Richtmikrofon herausragte. Dirk van Kombast studierte die Gebrauchsanweisung. Er sah das Abhörgerät an. Er runzelte die Stirn.