Geschichte, Formen, Folgen
Verlag C.H.Beck
Koloniale Herrschaft von Europäern – und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von Nordamerikanern und Japanern – über große Teile der Erde war ein herausragendes Merkmal der Weltgeschichte zwischen etwa 1500 und 1960. Angesichts der extrem unterschiedlichen Entwicklung der früheren Kolonialgebiete in Amerika, Asien und Afrika stellt sich heute die Frage nach einer differenzierten Bewertung der Wirkungen des Kolonialismus.
Diese grundlegend überarbeitete Neuauflage unterscheidet Formen und Epochen des Kolonialismus. An Beispielen aus allen Imperien der Neuzeit schildert das Buch Methoden der Eroberung, Herrschaftssicherung und wirtschaftlichen Ausbeutung, Formen des Widerstands, das Entstehen besonderer kolonialer Gesellschaften, Spielarten kultureller Kolonisierung sowie kolonialistisches Denken und Kolonialkultur in Kolonien und Metropolen. Es wird in der Reihe C.H.Beck Wissen ergänzt durch einen eigenen Band zur Dekolonisation.
Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (52010), Geschichte der Globalisierung (zusammen mit Niels P. Petersson, 52012) und Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert (22010).
Jan C. Jansen ist Akademischer Mitarbeiter an der Universität Konstanz.
I. «Kolonisation» und «Kolonien»
Formen der Expansion in der Geschichte
Kolonien: eine Klassifikation
II. «Kolonialismus» und «Kolonialreiche»
Kolonialismus: eine Definition
Kolonialreiche und «informal empire»
Imperialismus
III. Epochen des Kolonialismus
Probleme einer Geschichte des Kolonialismus
Koloniale Neubildungen: eine Periodisierung
IV. Eroberung, Widerstand und Kollaboration
Grenzergewalt und Militärinvasionen
Widerstände
Einheimische Kollaboration
V. Der koloniale Staat
Staatsformen und Herrschaftspraxis
Funktionen und Organe des kolonialen Staates
Der bürokratische Interventionsstaat
Territorialer Verwaltungsstaat und Nation
VI. Koloniale Wirtschaftsformen
Imperiale und koloniale Wirtschaftspolitik
Bäuerliche Landwirtschaft
Kapitalistische Produktion
VII. Koloniale Gesellschaften
Die Neue Welt
Ethnisch-kulturelle Abgrenzungen in der Alten Welt
Koloniale Städte und «plurale Gesellschaften»
VIII. Kolonialismus und einheimische Kultur
Religion
Erziehung
IX. Kolonialistisches Denken und Kolonialkultur
Grundelemente kolonialistischen Denkens
«Koloniales Wissen»
Symbolpolitik in Kolonien
Kolonialismus und metropolitane Kultur
Anmerkungen
Literaturempfehlungen
Sachregister
«Kolonialismus» erscheint heute so präsent wie lange nicht. In verschiedenen Ländern erhielten zuletzt besonders gewaltsame Ereignisse der jeweiligen kolonialen Vergangenheit hohe mediale Aufmerksamkeit.[1] Bedeutungselemente wie Fremdbestimmung, Rassismus, gewaltsame Usurpation und illegitime Aneignung prägen auch die metaphorische Verwendung von «Kolonialismus» in politischer Polemik. Dahinter verbirgt sich die negative Beurteilung all dessen, was mit «Kolonialismus» zusammenhängt. Was aber ist unter «Kolonialismus» in zunächst wertfreier Beschreibung zu verstehen? Welches sind die Merkmale von «Kolonialismus», die dieses Phänomen aus der Menge der in der Weltgeschichte bekannten Herrschaftsbeziehungen und Expansionsprozesse hervorheben? Anders gefragt: Wie kann ein hinreichend trennscharfer historischer Begriff von «Kolonialismus» aussehen? Wie situiert man den Begriff in Beziehung zu «Kolonisation» und «Kolonie», zu «Imperialismus» und «europäischer Expansion»? Wie lässt sich die Besonderheit neuzeitlicher Kolonisierung und Koloniebildung in einem ersten Zugriff konzeptionell erfassen?
Die Historiker sind von Einvernehmen über diese Fragen weit entfernt. Sie haben sich überhaupt wenig mit ihnen beschäftigt. Anders als zu «Imperialismus» gibt es zu zeitgenössischen und modernen Vorstellungen von «Kolonialismus» nur wenige begriffsgeschichtliche Untersuchungen; unter die 119 «Geschichtlichen Grundbegriffe» ist das Stichwort nicht aufgenommen worden.[2] Nichts Vergleichbares existiert zu den lehrbuchmäßig kanonisierten «Imperialismustheorien»; und ein besonders scharfsinniger begriffskritischer Versuch stammt nicht etwa von einem Erforscher der europäischen Übersee-Expansion, sondern von dem Althistoriker Sir Moses Finley.[3] Es ist gerade dieser Kenner der antiken Städtegründung und Reichsbildung, der für eine genaue begriffliche Bestimmung des spezifisch neuzeitlichen Kolonialismus plädiert und die Übertragung des Konzepts auf Altertum und Mittelalter für problematisch hält.[4]
Irgendwann zwischen etwa 1500 und 1920 geriet die Mehrzahl der Räume und Völker der Erde unter die zumindest nominelle Kontrolle von Europäern: ganz Amerika, ganz Afrika, nahezu das gesamte Ozeanien und – berücksichtigt man auch die russische Kolonisation Sibiriens – der größere Teil des asiatischen Kontinents. Die koloniale Wirklichkeit war bunt, vielgestaltig, widerspenstig gegenüber anmaßenden imperialen Strategien, geprägt von den lokalen Verhältnissen in Übersee, von den Absichten und Möglichkeiten der einzelnen Kolonialmächte, von großen Tendenzen im internationalen System. Kolonialismus muss von all diesen Aspekten her gesehen werden, gerade auch aus der Warte der Beteiligten und Betroffenen vor Ort. Doch selbst wenn man es sich einfach macht und der konventionellen Gleichsetzung von Kolonialismus und (europäischer) Kolonialpolitik folgt[5], verwirrt die Unübersichtlichkeit der kolonialen Arrangements. Nicht nur das umfassendste aller modernen Weltreiche, das britische Empire, war ein aus Improvisationen entstandener Flickenteppich von Ad-hoc-Anpassungen an besondere Umstände «on the spot». Selbst über das dem eigenen Anspruch nach cartesianisch durchrationalisierte französische Kolonialimperium hat ein Altmeister unter seinen Historikern sagen können: «In Wahrheit gab es ein koloniales System nur auf dem Papier.»[6] Kolonisation ist mithin ein Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit.
«Kolonisation» bezeichnet einen Prozess der Landnahme und Aneignung, «Kolonie» eine besondere Art von politisch-gesellschaftlichem Personenverband, «Kolonialismus» ein Herrschaftsverhältnis. Das Fundament aller drei Begriffe ist die Vorstellung von der Expansion einer Gesellschaft über ihren angestammten Lebensraum hinaus. Derlei Expansionsvorgänge sind ein Grundphänomen der Weltgeschichte. Sie treten in sechs Hauptformen auf:
(1) Totalmigration ganzer Völker und Gesellschaften: Völkerwanderungen. Größere menschliche Kollektive, die ihrer Natur nach sesshaft sind, also im Normalfall keine mobile Lebensweise als Jäger oder Hirtennomaden praktizieren, geben ihre ursprünglichen Siedlungsräume auf, ohne Muttergesellschaften zu hinterlassen. Die Expansion ist meist mit militärischer Eroberung und Unterwerfung von Völkern in den Zielregionen verbunden, zuweilen auch mit deren Verdrängung. Ihre Ursachen sind vielgestaltig: Übervölkerung, ökologische Engpässe, Druck expandierender Nachbarn, ethnische oder religiöse Verfolgung, Verlockung durch reiche Zivilisationszentren usw. Dieser Expansionstyp des Exodus, auf allen Kontinenten bekannt, führte in der noch nicht nationalstaatlich formierten Welt oft zu neuen Herrschaftsbildungen von schwankender Dauerhaftigkeit. Es handelt sich dabei per definitionem nicht um Kolonien, da kein steuerndes Expansionszentrum zurückbleibt. Totalmigrationen sind in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts selten; als ein Sonderfall können die Deportationen, also Zwangsumsiedlungen, ganzer Völker unter dem Stalinismus Anfang der 1940er Jahre gelten. Ein relativ spätes Beispiel für eine freiwillige Kollektivmigration ist der Auszug der Kap-Buren ins Innere Südafrikas auf dem Großen Trek (1834–1854) mit der folgenden Errichtung der burischen Gemeinwesen Oranje-Freistaat und Transvaal: freilich kein reiner Fall, da die Mehrheit der Buren am Kap zurückblieb, ohne aber gegenüber den Trekburen als steuerndes Zentrum zu fungieren.
(2) Massenhafte Individualmigration, die klassische «Auswanderung» im weitesten Sinne. Dabei verlassen Individuen, Familien und kleine Gruppen aus vorwiegend wirtschaftlichen Motiven ohne Rückkehrabsichten ihre Heimatgebiete. Anders als bei der Totalmigration bleiben die Herkunftsgesellschaften strukturell intakt. Die Individualmigration erfolgt meist als ein Expansionsvorgang zweiter Stufe innerhalb bereits etablierter politischer und weltwirtschaftlicher Strukturen. Die Emigranten schaffen keine neuen Kolonien, sondern werden in unterschiedlichen Weisen bestehenden multi-ethnischen Gesellschaften eingegliedert. Oft finden sie sich in «Kolonien» im übertragenen Sinne zusammen: in identitätssichernden soziokulturellen Enklaven, deren entwickeltste Form die amerikanische Chinatown ist. Der Grad von Freiwilligkeit oder Erzwingung solcher Migration ist eine Variable innerhalb dieses Typus. Deshalb ist ihm nicht nur die Auswanderung von Europäern im 19. und 20. Jahrhundert in die Neue Welt und in die übrigen Siedlungskolonien des britischen Empire zuzuordnen, sondern auch die durch den Sklavenhandel verursachte Zwangsmigration von Afrikanern nach Amerika sowie der «coolie trade» mit chinesischen Arbeitskräften im pazifischen Raum und die Ansiedlung von Indern in Ost- und Südafrika und der Karibik.
(3) Grenzkolonisation. Damit ist die in den meisten Zivilisationsräumen bekannte extensive Erschließung von Land für die menschliche Nutzung gemeint, das Hinausschieben einer Kultivierungsgrenze («frontier») in die «Wildnis» hinein zum Zwecke der Landwirtschaft oder der Gewinnung von Bodenschätzen. Solche Kolonisation ist naturgemäß mit Siedlung verbunden; es handelt sich, ökonomisch gesehen, um die Heranführung der mobilen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital an standortgebundene natürliche Ressourcen.[7] Selten ist mit dieser Art von Kolonisation die Gründung von Kolonien im Sinne separater politischer Einheiten verbunden, da sie in der Regel am Rande bestehender Siedlungsgebiete erfolgt. Ein Beispiel ist die allmähliche Ausbreitung der han-chinesischen Ackerbauzone auf Kosten der Hirtenökonomie Innerasiens, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte. Solche Kolonisation kann aber auch sekundär von überseeischen Neusiedlungskernen ausgehen. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Erschließung des nordamerikanischen Kontinents von seiner Ostküste her. Die industrielle Technik hat die Reichweite – und die naturzerstörende Wirkung – der Kolonisation enorm vermehrt. Besonders die Eisenbahn hat die Rolle des Staates in einem Prozess gestärkt, der historisch meist durch nichtstaatliche Gemeinschaften organisiert wird. Die umfassendste staatlich gelenkte Eisenbahnkolonisierung war die Erschließung des asiatischen Russland seit dem späten 19. Jahrhundert.[8]
(4) Überseeische Siedlungskolonisation. Sie ist eine Sonderform der Grenzkolonisation, die ihre erste Ausprägung in der Kolonisationsbewegung des griechischen Altertums (und zuvor schon der Phönizier) fand: die Anlage von «Pflanzstädten» jenseits des Meeres in Gegenden, wo meist nur relativ geringe militärische Machtentfaltung erforderlich war. Nicht nur unter antiken, sondern auch noch unter frühneuzeitlichen Bedingungen macht die Logistik den entscheidenden Unterschied zur eigentlichen kontinentalen Grenzkolonisation aus. Die Distanz führte dazu, dass hier aus der Kolonisation tatsächlich Kolonien im Sinne nicht nur von Grenzsiedlungen, sondern von distinkten Gemeinwesen hervorgingen. Der klassische Fall sind die Anfänge der britischen Besiedlung Nordamerikas. Die Gründergruppen von Siedlungskolonien – «plantations» im Sprachgebrauch der Epoche[9] – versuchten, wirtschaftlich sich weitgehend selbst versorgende Brückenköpfe zu bilden, die weder auf Nachschub aus dem Mutterland noch auf Handel mit der einheimischen Umwelt existentiell angewiesen waren. Das Land wurde als «herrenlos» betrachtet, die indigene Bevölkerung nicht, wie in Spanisch-Amerika, unterworfen und der Kolonie im Untertanenstatus eingegliedert, sondern trotz Gegenwehr gewaltsam zurückgedrängt. Die Lebensräume von Siedlern und Einheimischen waren territorial wie sozial getrennt. Die Europäer fanden in Nordamerika und später z.B. in Australien nicht – wie etwa die Römer in Ägypten, die Briten in Indien und z.T. auch die iberischen Mächte in Mittel- und Südamerika – leistungsfähige Ackerbausysteme vor, deren besteuerbare Überschüsse einen militärisch gestützten Herrschaftsapparat hätten tragen können. Es war also nicht möglich, einen bereits vorhandenen Tribut von den Kassen der alten Machthaber in die der neuen Herren umzuleiten. Zudem war die indianische Bevölkerung zur zwangsweisen Arbeitsleistung in einer Landwirtschaft europäischer Art wenig geeignet. Aus diesen Umständen entwickelte sich Typ I, der «neuenglische» Typ, von Siedlungskolonisation: Wachstum einer agrarischen Siedlerbevölkerung, die ihren Arbeitskräftebedarf aus der eigenen Familie und durch Rekrutierung von europäischen «Schuldknechten» («indentured servants») deckt und die ökonomisch für sie nutzlose, demographisch schwache einheimische Bevölkerung rücksichtslos vom Land verdrängt. Auf diese Weise waren um 1750 in Nordamerika – und in der gesamten nicht-europäischen Welt bis dahin nur dort – sozial und ethnisch in hohem Maße homogene europäisierte Gebiete entstanden: die Kerne einer neo-europäischen Nationalstaatsbildung. In Australien unter den besonderen Bedingungen einer anfänglichen Zwangsmigration von Sträflingen und später auch, gegen besonders heftigen Widerstand der einheimischen Maori, in Neuseeland folgten die Briten diesem Kolonisierungsmodell.
Ein zweiter Typ von überseeischer Siedlungskolonisation stellt sich dort ein, wo eine politisch dominante Siedlerminderheit – in der Regel mit Hilfe des kolonialen Staates – eine traditionell bereits ackerbautreibende einheimische Bevölkerungsmehrheit zwar vom besten Land vertreiben kann, aber auf ihre Arbeitsleistung angewiesen bleibt und in ständiger Konkurrenz mit ihr um knappen Boden steht. Anders als beim «neuenglischen» Typ sind die Siedler bei diesem zweiten Typ, den man nach seinen wichtigsten modernen Ausprägungen (Algerien, Rhodesien, Kenia, Südafrika) den «afrikanischen» nennen kann, von der indigenen Bevölkerung wirtschaftlich abhängig.[10] Dies erklärt auch die Instabilität dieses zweiten Typus. Nur die europäische Kolonisation Nordamerikas, Australiens und Neuseelands ist irreversibel geworden, während es in den afrikanischen Siedlungskolonien zu besonders heftigen Dekolonisationskämpfen kam.
Ein dritter Typ der Siedlungskolonisation regelt die Versorgung mit Arbeitskräften nach der Vertreibung oder Vernichtung der Urbevölkerung durch Zwangsimport von Sklaven und deren Beschäftigung in einer mittel- bis großbetrieblich organisierten Plantagenökonomie. Nach dem Raum seiner deutlichsten Ausprägung sprechen wir vom «karibischen» Typ; weniger dominant findet er sich auch in Britisch-Nordamerika. Eine wichtige Variable ist das demographische Verhältnis der Bevölkerungsgruppen. In der britischen Karibik machten um 1770 Schwarze etwa 90 % der Gesamtbevölkerung aus, in den nördlichen Kolonien der späteren USA zur gleichen Zeit nur 22 %, in den späteren «Südstaaten» nicht mehr als 40 %.[11]
(5) Reichsbildende Eroberungskriege: die klassische – «römische» – Form der Errichtung der Herrschaft eines Volkes über ein anderes. In diesem Falle bleibt ein imperiales Zentrum als letzte Quelle von Machtmitteln und Legitimität erhalten, auch wenn die militärische Expansion sich überwiegend aus Ressourcen speist, die im Verlaufe des Vordringens an Ort und Stelle mobilisiert werden. Nicht in allen Fällen bleibt jedoch ein zentralisiertes Einheitsreich bestehen: Die arabisch-muslimische Expansion des 8. Jahrhunderts führte rasch zu einem Polyzentrismus partikularer Gewalten; das mongolische Weltreich Dschingis Khans zerfiel nach zwei Generationen in mehrere Nachfolgebilde; und selbst das moderne britische Empire bestand auf seinem Höhepunkt aus drei nur lose verknüpften Sphären: den «white Dominions», den «abhängigen» Kolonien («dependencies») und dem «Kaiserreich» Indien, dessen Regierung eigene «subimperialistische» Interessen verfolgte. Militärische Reichsbildung erfolgte in der Regel nicht durch Landnahme in «leeren» Territorien, sondern durch Unterordnung bestehender staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen, die den Bedürfnissen der Eroberer angepasst, aber dabei nicht völlig zerstört wurden. Eine plötzliche und vollständige Vernichtung des früheren Herrschaftssystems, wie sie durch die spanische Invasion in Mexiko geschah, war eher die Ausnahme als die Regel. In der neuzeitlichen Expansionsgeschichte war die Eroberung oft ein langwieriger Prozess, der aus anfänglichen Kontakten hervorging, in welchen die Europäer gleichberechtigte oder gar unterlegene Partner waren. Militärische Eroberer verhielten sich parasitär zur dominierten Wirtschaft; die Hauptfunktion der obrigkeitlichen Organe war neben der Sicherung der Ordnung und der Erleichterung des Fremdhandels die Abschöpfung von Tribut. Die Neuorganisation der Steuererhebung gehörte daher meist zu den ersten Aktivitäten einer Kolonialmacht. Militärische Eroberung zog eher in Ausnahmefällen – Teilen des Römischen Reiches, Irland, Algerien – die Niederlassung von Siedlern nach sich und damit Landenteignungen großen Stils sowie die teilweise direkte Übernahme der landwirtschaftlichen Produktion durch Fremde. Das klassische und für die tropische Welt stilbildende neuzeitliche Produkt eines militärischen Imperialismus – Britisch-Indien – war niemals Siedlerterritorium. Insgesamt resultiert dieser Expansionstypus in Kolonialherrschaft ohne Kolonisation. Wir sprechen von Beherrschungskolonie. Dieser Begriff ist dem der «Herrschaftskolonie» vorzuziehen, denn Herrschaft wird in jedem Kolonietyp ausgeübt. Ein Sonderfall ist Spanisch-Amerika. Dort kam es zwar zu einer erheblichen Einwanderung aus Europa und, anders als in Kolonien vom indischen Typ, zur Herausbildung einer sich demographisch selbstreproduzierenden «kreolischen» Bevölkerungsschicht. Im Unterschied zu Nordamerika war in Südamerika Siedlungskolonisation aber nicht der Hauptzweck der Koloniebildung, die meisten Einwanderer siedelten sich in den Städten an und bildeten nie eine Bevölkerungsmehrheit: Um 1790, also gegen Ende der Kolonialzeit, machten Immigranten der ersten Generation und Kreolen spanischer Herkunft etwa ein Viertel der Bevölkerung Hispanoamerikas aus.[12]
Expansion durch Eroberungskriege führte zu unterschiedlichen Formen der Eingliederung unterworfener Gebiete in den jeweiligen Reichsverband. Im Einzelnen hing dies von den politischen Traditionen der erobernden Macht ab. Charakteristisch für vormoderne Imperien war der Anschluss der neugewonnenen Gebiete an die bestehende Territorialregierung des Reiches, also ein Provinzialprinzip. Die neuzeitlichen Reiche kennen zumeist separate Kolonialbehörden in der Metropole, die die Verwaltung an der Peripherie beaufsichtigen. Dies gilt übrigens nicht allein für die europäischen Imperien: Auch die mandschurisch-chinesische Qing-Dynastie (1644–1911) ließ die in Innerasien (Mongolei, Tibet, Turkestan/Xinjiang) neu angeschlossenen Gebiete durch eine spezielles «Barbarenamt» (Lifanyuan) regieren. Der amerikanische Diplomat und Politikwissenschaftler Paul Reinsch hat in solchen Sonderbehörden das entscheidende politisch-formale Definitionsmerkmal für eine «Kolonie» gesehen: Eine solche sei «eine auswärtige Besitzung eines Nationalstaates, die unter einem System verwaltet wird, das von der Regierung des nationalen Territoriums getrennt, aber ihr unterstellt ist».[13]
(6) Stützpunktvernetzung. Diese Form der maritimen Expansion besteht in der planmäßigen Anlage von militärisch geschützten Handelsfaktoreien, von denen weder binnenländische Kolonisationsbestrebungen noch nennenswerte Impulse zu großräumiger militärischer Landnahme ausgehen (die Ausdehnung der britischen Macht in Indien von Kalkutta, Bombay und Madras aus ist zumindest vor 1820 untypisch). Der Zweck ist die Sicherung einer Handelshegemonie, so zuerst beim locker geknüpften Seereich der Republik Genua im Mittelmeer, dann bei den planmäßiger angelegten und straffer organisierten Kaufmannsimperien der Portugiesen (Mozambique, Goa, Malakka, Macau) und der Niederländer (Batavia, Ceylon, Nagasaki). Als im 18. Jahrhundert das Zeitalter der Weltpolitik begann, gewannen miteinander vernetzte Stützpunkte bei der führenden Seemacht der Zeit, Großbritannien, über den Schutz von Handelsinteressen hinaus ein globalstrategisches Eigengewicht. Flottenstützpunkte (Bermuda, Malta, Zypern, Alexandria/Suez, Aden, Kapstadt, Gibraltar) und militärisch bedeutsame «Hafenkolonien»[14] (Singapur, Hongkong) gehörten denn auch zu den langlebigsten und am zähesten verteidigten Komponenten des britischen Empire. Als einziger Kolonietypus ist der des militärischen Stützpunkts auf lange Sicht modernisierungsfähig. Er hat sich aus der Ära des Kanonenbootes in die der taktischen Luftwaffe weiterentwickelt.
Die Begriffe «Kolonisation» und «Kolonie» sollten – das folgt aus diesem Versuch typologischer Auffächerung – nicht zu eng miteinander identifiziert werden. Es gibt Kolonisation ohne Koloniebildung: die in der Geschichte häufig auftretende Situation der Grenzkolonisation. Es gibt aber auch Koloniebildung, die nicht aus Kolonisation folgt, sondern ihre Ursache in militärischer Eroberung hat, die statt auf dem Pflug auf dem Schwert beruht. Zwischen beiden «idealtypisch» reinen Fällen steht die Siedlungskolonisation «afrikanischen» Typs (am deutlichsten ausgeprägt in Algerien), bei welcher die Eroberung die Voraussetzung für Siedlung in großem Stil schuf. Überhaupt darf nicht übersehen werden, dass auch Siedler bewaffnet sind; nur ist die Gewalt, die sie ausüben, zumindest in den Anfangsphasen der Kolonisation keine Staats-Gewalt.
Eine für die Neuzeit gültige Definition von «Kolonie», die sich aus diesen Überlegungen ergibt, muss eng genug sein, um historische Situationen wie vorübergehende militärische Okkupation oder die gewaltsame Angliederung von Grenzgebieten an moderne Nationalstaaten auszuschließen. Der folgende Vorschlag soll dieser Bedingung genügen; seine fast juristische Umständlichkeit ist ein Opfer, das der Genauigkeit geschichtswissenschaftlicher Sprachverwendung gebracht werden muss.
Eine Kolonie ist ein durch Invasion (Eroberung und/oder Siedlungskolonisation) in Anknüpfung an vorkoloniale Zustände neu geschaffenes politisches Gebilde, dessen landfremde Herrschaftsträger in dauerhaften Abhängigkeitsbeziehungen zu einem räumlich entfernten «Mutterland» oder imperialen Zentrum stehen, welches exklusive «Besitz»-Ansprüche auf die Kolonie erhebt.
Kolonien waren meist in ein übergreifendes Kolonialimperium eingebunden; die Beziehungen zwischen Kolonien eines Imperiums blieben in der Regel der «Primärbeziehung» zwischen Kolonien und Metropole untergeordnet.[15] Die grundlegende Asymmetrie im Verhältnis zwischen Kolonie und Metropole schließt dessen Wechselseitigkeit nicht aus. Seine Folgen und Wirkungen gingen keineswegs nur in eine Richtung – von einem (produktiven) «Zentrum» an die (rezeptive) «Peripherie». Vielmehr hatte der jeweilige Kolonialbesitz auch auf die «Mutterländer» vielfältige und nicht immer intendierte Auswirkungen.
Folgende Haupttypen von Kolonien – so kann nun im Anschluss an die sechs Formen der Expansion resümiert werden – sind in der Neuzeit durch die Expansion der europäischen Staaten, der USA und Japans entstanden:
(1) Beherrschungskolonien
– meist Resultat militärischer Eroberung, oft nach längeren Phasen eines nicht landnehmenden Kontakts
– Zwecke: wirtschaftliche Ausbeutung (durch Handelsmonopole, Nutzung von Bodenschätzen, Erhebung von Tribut, nicht: «farming»!), strategische Absicherung imperialer Politik, nationaler Prestigegewinn
– zahlenmäßig relativ geringfügige koloniale Präsenz primär in Gestalt von entsandten, nach dem Ende ihrer Tätigkeit ins Mutterland zurückkehrenden Zivilbürokraten, Soldaten sowie von Geschäftsleuten, nicht: von Siedlern!
– autokratische Regierung durch das Mutterland (Gouverneurssystem) mit Elementen paternalistischer Fürsorge für die einheimische Bevölkerung
Beispiele: Britisch-Indien, Indochina (frz.), Ägypten (brit.), Togo (dt.), Philippinen (am.), Taiwan (jap.) Variante Spanisch-Amerika: europäische Einwanderung führt zu städtischer Mischgesellschaft mit dominierender kreolischer Minderheit
(2) Stützpunktkolonien
– Resultat von Flottenaktionen,
– Zwecke: indirekte kommerzielle Erschließung eines Hinterlandes und/oder Beitrag zur Logistik maritimer Machtentfaltung und informeller Kontrolle über formal selbständige Staaten («Kanonenbootpolitik»)
Beispiele: Malakka (port.), Batavia (nl.), Hongkong, Singapur, Aden (alle brit.), Shanghai (internat.)
(3) Siedlungskolonien
– Resultat militärisch flankierter Kolonisationsprozesse
– Zwecke: Nutzung billigen Landes und billiger (fremder) Arbeitskraft, Praktizierung minoritärer sozio-kultureller Lebensformen, die im Mutterland in Frage gestellt werden
– koloniale Präsenz primär in Gestalt permanent ansässiger Farmer und Pflanzer
– frühe Ansätze zur Selbstregierung der «weißen» Kolonisten unter Missachtung der Rechte und Interessen der indigenen Bevölkerung
Varianten:
(a) «neuenglischer» Typ: Verdrängung, z.T. Vernichtung der ökonomisch entbehrlichen Urbevölkerung; Beispiele: die brit. Neuenglandkolonien, Kanada (frz./brit.), Australien
(b) «afrikanischer» Typ: ökonomische Abhängigkeit von einheimischer Arbeitskraft; Beispiele: Algerien (frz.), Südrhodesien (brit.), Südafrika
(c) «karibischer» Typ: Import von landfremden Arbeitssklaven; Beispiele: Barbados (brit.), Jamaika (brit.), Saint-Domingue (frz.), Virginia (brit.), Kuba (span.), Brasilien (port.)
Was aber ist «Kolonialismus»? Wie kann man den Begriff weitgehend unabhängig von dem der Kolonie bestimmen? Der Afrikahistoriker Philip Curtin spricht sehr allgemein von «Beherrschung durch ein Volk aus einer anderen Kultur».[16] Diese Formulierung enthält die beiden entscheidenden Elemente: «Herrschaft» und «kulturelle Fremdheit». Sie muss aber präzisiert werden. Nicht jede Herrschaft von Fremden in der Geschichte ist von den ihr Unterworfenen als illegitime Fremdherrschaft verstanden worden. So stand Ägypten zwischen 1517 und 1798 als Provinz des Osmanischen Reiches unter einer eingreifenden Herrschaft der Türken, ohne dass dies eine allgemeine Anerkennung des Systems durch die einheimische arabischsprechende Bevölkerung verhindert hätte.[17] Die sprachliche Fremdheit wurde in diesem Fall durch das gemeinsame Bekenntnis zum Islam und damit zu islamischen Vorstellungen von gerechter Regierung kompensiert.
Um die historische Eigenart des neuzeitlichen – vielleicht kann man an dieser Stelle sagen: des modernen – Kolonialismus scharf zu profilieren, muss Curtins Grundformel um drei Komponenten ergänzt werden. Erstens ist Kolonialismus nicht ein beliebiges Verhältnis von Herren und Knechten, sondern ein solches, bei dem eine gesamte Gesellschaft ihrer Eigenentwicklung beraubt, fremdgesteuert und auf die – vornehmlich wirtschaftlichen – Bedürfnisse und Interessen der Kolonialherren hin umgepolt wird. Dass Kolonialregierungen in der Praxis ein solch ehrgeiziges Ziel selten ganz erreicht haben, dass ihnen oft die Mittel fehlten, um es zu verwirklichen, ist im theoretischen Zusammenhang der Begriffsbestimmung fürs erste nebensächlich. Der moderne Kolonialismus beruht auf dem Willen, «periphere» Gesellschaften den «Metropolen» dienstbar zu machen.
Zweitens ist die Art der Fremdheit zwischen Kolonisierern und Kolonisierten von großer Bedeutung. Charakteristisch für den modernen Kolonialismus ist der weltgeschichtlich seltene Unwille der neuen Herren, den unterworfenen Gesellschaften kulturell entgegenzukommen. Die europäische Expansion hat an keiner Stelle eine «hellenistische» Kultursynthese hervorgebracht. Von den Kolonisierten wurde eine weitgehende Akkulturation an die Werte und Gepflogenheiten Europas erwartet; selten kam es zu einer nennenswerten Gegen-Akkulturation der Kolonisierer durch Übernahmen aus den beherrschten Zivilisationen. Im 19. Jahrhundert ist die Unmöglichkeit solcher Annäherungen durch die Existenz angeblich unüberwindlicher «rassischer» Hierarchien begründet worden. Eine Kolonialismus-Definition muss die mangelnde Anpassungswilligkeit der Kolonialherren berücksichtigen.
Drittens ist moderner Kolonialismus nicht nur ein «strukturgeschichtlich» beschreibbares Herrschaftsverhältnis, sondern zugleich auch eine besondere Interpretation dieses Verhältnisses. Zu seinem Wesenskern gehört eine spezifische Bewusstseinshaltung; man hat sogar gesagt, er sei durch «ideologische Programme» angetrieben.[18] Seit den iberischen und englischen Kolonialtheoretikern des 16. Jahrhunderts ist die europäische Expansion grandios zur Erfüllung eines universellen Auftrags stilisiert worden: als Beitrag zu einem göttlichen Heilsplan der Heidenmission, als weltliches Mandat zur «Zivilisierung» der 19