Verlag C. H. Beck München
Das mittlerweile als Standardwerk geltende Buch führt in die metrische Formensprache der deutschen Dichtung ein. Die theoretischen und methodischen Voraussetzungen werden einleitend nach Grundsätzen der linguistischen Poetik bestimmt. In seinen Hauptstücken ist das Buch historisch angelegt, stellt also die im Deutschen gebräuchlichen metrischen Systeme im geschichtlichen Zusammenhang vor.
Für die 5. Auflage wurde das Buch um drei Kapitel zur mittelalterlichen Dichtung erweitert. Es umfaßt jetzt die ganze deutsche Metrik von den Anfängen in der germanischen Stabreimdichtung bis zur Prosaischen Lyrik der Gegenwart. Das ausführliche Register kann zugleich als Lexikon der deutschen Metrik benutzt werden.
Christian Wagenknecht ist emeritierter Professor für Deutsche Philologie an der Universität Göttingen.
Vorworte
1. Theoretische Voraussetzungen
1.1 Einleitung
1.1.1 Begründung einer literaturwissenschaftlichen Metrik
1.1.2 Gegenstandsbestimmung
1.1.3 Einteilung der Metrik
1.2 Metrische Grundbegriffe
1.2.1 Grundbegriffe der Theoretischen Metrik
1.2.2 Grundbegriffe der Prosodie
1.2.3 Grundbegriffe der Versifikation
1.2.4 Zum Begriff der metrischen Lizenz
1.3 Metrische Notation
1.4 Metrische Typologie
1.5 Deutsche Metrik als Deutsche Versgeschichte
1.5.1 Grundzüge der deutschen Prosodie
1.5.2 Grundbegriffe der Fuß-Metrik
1.5.3 Grundbegriffe der Reim-Metrik
1.5.4 Zum Begriff der Tonbeugung
2. Stabreimdichtung
2.1 Übersicht
2.2 Prosodie
2.3 Versifikation
2.4 Ausblick
3. Reimpaardichtung
3.1 Übersicht
3.2 Prosodie
3.3 Versifikation
3.4 Ausblick
4. Sangversdichtung
4.1 Übersicht
4.2 Prosodie
4.3 Versifikation
4.3.1 Grundzüge
4.3.2 Einzelne Maße
4.4 Ausblick
5. Knittelvers, Meistersang, Kirchenlied
5.1 Übersicht
5.2 Prosodie
5.3 Versifikation
5.3.1 Der Knittelvers
5.3.2 Der Meistersang
5.3.3 Das Kirchenlied
5.4 Ausblick
6. Das Volkslied und die volksliedhafte Lyrik
6.1 Übersicht
6.2 Prosodie
6.3 Versifikation
6.4 Ausblick
7. Renaissancedichtung
7.1 Übersicht
7.2 Prosodie
7.3 Versifikation
7.4 Ausblick
8. Deutsche Poeterey
8.1 Übersicht
8.2 Prosodie
8.3 Versifikation
8.3.1 Grundzüge
8.3.2 Einzelne Maße
8.4 Ausblick
9. Antiker Form sich nähernd
9.1 Übersicht
9.2 Prosodie
9.3 Versifikation
9.4 Ausblick
10. Freie Rhythmen
10.1 Übersicht
10.2 Prosodie
10.3 Versifikation
10.4 Ausblick
11. Deutsche Verskunst im 20. Jahrhundert
11.1 Allgemeine Tendenzen
11.2 Spielarten freier Versgestaltung
11.3 Konkrete Poesie
12. Angewandte Metrik
12.1 Vers oder Prosa
12.2 Alexandriner, Knittelverse – oder was sonst?
12.3 Metrum und Rhythmus
Literaturverzeichnis
Quellennachweise
Register
Eine abhandelnde systematische Darstellung der deutschen Metrik gibt es nicht und kann es nicht geben so wenig als eine solche der deutschen Grammatik. Es kann nur historische Darstellungen geben, die den Usus und die Praxis gegebener Epochen schematisieren.
Rudolf Borchardt (1911)
Es wird berichtet, daß der junge Heine, wenn jemand etwas Gutes geschrieben hatte, zu sagen pflegte: «Der hat die Metrik los.» Und er soll diese Redewendung mit den Worten begründet haben: «Fürwahr, die Metrik ist rasend schwer; es gibt vielleicht sechs oder sieben Männer in Deutschland, die ihr Wesen verstehen.» Das ging natürlich auf die Dichter der Zeit – und paßt auf die Dichter unserer Tage wohl erst recht. Ganz anders aber könnte und sollte es sich heute mit den Lesern verhalten – zumal mit solchen, die sich als Lehrer oder als Kritiker von Berufs wegen mit Dichtung befassen wollen. Denn so schwer es ihnen auch fallen mag, das ‹Wesen› sei’s einer Epoche, sei’s einer Gattung zu ‹verstehen›: ein leichteres Spiel, als es das Studium der Metrik mit sich bringt, finden sie nirgendwo sonst. Und schwerlich eines, das größeren Gewinn verspricht – wenn anders Goethe recht hat mit der Bemerkung: «Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazu zu tun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.» Den Inbegriff nämlich dessen, was allenfalls die Form von Dichtung heißen kann, bildet seit Platons Dichterschelte und noch in Jakobsons Grammatik der Poesie: deren metrische Gestalt. Und eben diese Gestalt einer Ordnung, der sich die Vers-Rede in Abweichung von der Gestalt der Prosa-Rede unterwirft, ist Gegenstand einer wohlbewährten Disziplin der Literaturwissenschaft: der Metrik, die sich theoretisch und empirisch, systematisch und historisch mit Versen befaßt. Wenn es also einen Königsweg geben sollte, der zum deutlichen und richtigen Verständnis dichterischer Werke führt, dann darf mit Fug und Recht erwartet werden, daß eben die Metrik ihn zu eröffnen weiß.
[…]
Der Titel des Buches kann beim Wort genommen werden. Ich halte es für ein Vorurteil, daß eine Metrik wie die des Deutschen anders als historisch überhaupt darzustellen sei. Als sei mit der Einheit der Sprache auch schon eine Einheit der Dichtung verbürgt. Als könne es wie eine ‹altnordische› auch eine ‹neudeutsche› Metrik geben. Tatsächlich sind aber im literaturgeschichtlichen Verlauf, der sprachgeschichtlichen Kontinuität zum Trotz, ganz verschiedene metrische Systeme ausgebildet worden – darunter auch solche, in denen Wort- und Satzakzent nur eine Nebenrolle spielen. Ähnlich verschieden ist bekanntermaßen ja auch die Geltung des Reims. Es verhält sich da mit der deutschen Versdichtung nicht anders als mit der deutschen Literatur im ganzen – die als ganze ja auch kaum irgend systematisch, sondern eben nur historisch auf Begriffe zu bringen ist. Selbst literaturgeschichtliche Einheiten sind in metrischer Hinsicht nicht immer homogen; sie können sich, wie die Dichtung des Göttinger Hains, der unterschiedlichsten Systeme bedienen. Erst recht sind Goethes oder Brechts vielgestaltige Vers-Werke nicht aus einem Punkte zu studieren.
Hingegen können und sollen die einzelnen Systeme metrischer Ordnung durchaus systematisch behandelt werden. Meine Darstellung nimmt dabei Grundsätze der formalistischen und der strukturalistischen Poetik auf: indem sie das Gedicht als einen eigentümlich (nämlich: metrisch) regulierten Text versteht. Insoweit knüpft sie zugleich an die Auffassungs- und Darstellungsweise der normativen Verslehre des 16. und 17. Jahrhunderts an. Zumal der neueren Metrik-Theorie folgen die kategorischen Unterscheidungen zwischen Bau und Vortrag von Versen und zwischen Prosodie und Versifikation. In diesen Hinsichten sticht die nachfolgende Einführung auch von den jüngsten Darstellungen der deutschen Versgeschichte ab – die trotz sachlicher Vorbehalte methodisch noch immer im Bann des allerdings monumentalen Werks von Andreas Heusler stehen und der sprachwissenschaftlichen Wendung der Literaturwissenschaft, wie sie zumal von Roman Jakobson kodifiziert worden ist, allenfalls beiläufig Rechnung tragen. Mit gleicher Entschiedenheit versagt sich mein Buch aber auch dem übereilten Bemühen um eine Formalisierung der Metrik nach Art der generativen Grammatik. Eine halbwegs informelle Beschreibung metrischer Systeme dürfte bis auf weiteres noch das Äußerste an Deutlichkeit und Fruchtbarkeit gewährleisten können.
Anlage und Aufbau des Buches erklären sich leicht aus den voranstehenden Bemerkungen. Das erste Kapitel soll die Grundannahmen und Grundbegriffe der Darstellung, so knapp und so klar es geht, im Zusammenhang explizieren. Es mischt sich nur beiläufig in die methodologische Diskussion und faßt im wesentlichen nur deren in jüngster Zeit erreichten Stand zusammen. In den nachfolgenden Kapiteln 2 bis 10 werden die in der Geschichte der deutschen Versdichtung hauptsächlich verwendeten metrischen Systeme nach einem und demselben Schlüssel einzeln vorgestellt – wobei zumal die Ausblicke am Schluß über Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Versgeschichte zu berichten haben. Das elfte Kapitel skizziert dann die Grundzüge und die Spielarten der deutschen Versdichtung im 20. Jahrhundert – die sich allerdings dem Zugriff der Metrik weitgehend und zunehmend entzieht. Abschließend, im zwölften Kapitel, werden fallstudienweise – also ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber freilich in exemplarischer Absicht – einige Anwendungsfälle der Disziplin demonstriert. Und es sollte mich freuen, wenn ich damit dem satirischen Diktum aus Heines Tannhäuser-Gedicht:
In Göttingen blüht die Wissenschaft,
Doch bringt sie keine Früchte.
wenigstens keinen weiteren Beleg geliefert hätte. Auf Anmerkungen, die ohnehin wohl mehr dem Verfasser als dem Leser das Geschäft erleichtern, habe ich ganz verzichtet. Die obligatorischen Quellennachweise sind, zur Nachprüfung der Zitate, im Anhang zusammengestellt; das knappgehaltene Literaturverzeichnis, ebendort, registriert die nach meinem Urteil wichtigsten Schriften weiterführender Art; das abschließende Register mag sich auch als Lexikon mit Vorteil verwenden lassen.
Dieses Buch geht in den Grundzügen und in vielen Einzelheiten auf eine im Sommersemester 1976 an der Göttinger Universität gehaltene einstündige Vorlesung zurück. An deren Vorbereitung haben in einigen Seminaren mitgewirkt: Rainer Grübel, Angela Joost-Odenwald, Heino Kuhlmann, Gabriele Schramm, Antje Schumann und Reinhold Zimmer. Bei der Revision der damals ausgegebenen Papiere haben mir Harald Fricke und Reinhold Zimmer geholfen. Ernst-Peter Wieckenberg und Konradin Zeller im Verlag C. H. Beck haben sich die Langwierigkeit der Fertigstellung nicht verdrießen lassen. Ich bedanke mich bei allen hier Genannten – und schreibe meine Darstellung dem Andenken an Wolfgang Kayser zu, dessen Vorlesungen und Abhandlungen mich vor mehr als zwanzig Jahren auf die Spur gesetzt haben.
Göttingen, 11.6.1980 |
Christian Wagenknecht |
Sie unterscheidet sich von den zweiten bis vierten Auflagen des Buches außer durch fortgesetzte Berichtigungen, Verdeutlichungen und Ergänzungen vor allem dadurch, daß sie unter Hintanstellung anfänglicher Bedenken um drei Kapitel zur deutschen Dichtung des Mittelalters erweitert worden ist. Hinzugekommen sind darum auch einige neue Einträge im Literaturverzeichnis und im Register.
Göttingen, 11. Juni 2006 |
Christian Wagenknecht |
Die im folgenden angeführten Vers-Zitate entsprechen den im Anhang (S. 147–155) nachgewiesenen Quellen in Orthographie und Interpunktion; nicht aber in jedem Fall auch in Hinsicht auf die Typographie. In Fraktur gedruckte Texte erscheinen hier allemal in Antiqua – mit Kommata statt Virgeln und mit der neueren Umlaut-Schreibung. Außerdem sind alle Zitate linksbündig gesetzt; sie geben also nicht auch die Einrückungen der Originale wieder. Die über oder unter die Verse gesetzten metrischen Kennzeichnungen bilden – außer in eigens benannten Fällen – Zutaten des Zitators. Meine Konjekturen sind bei Tilgung durch runde, bei Ergänzung durch eckige Klammern bezeichnet. Unbezeichnet bleibt nur die Tilgung von Satzzeichen am Schluß eines Zitats. Durch Kursivierung werden allemal Hervorhebungen der Originale reproduziert.
Am 25. Februar des Jahres 1824, im Verlauf eines Gesprächs über «zwei höchst merkwürdige Gedichte», die Goethe unveröffentlicht gelassen hat, bekommt Eckermann zu hören:
Sie haben recht, es liegen in den verschiedenen poetischen Formen geheimnisvolle
große Wirkungen. Wenn man den Inhalt meiner Römischen
Elegien in den Ton und die Versart von Byrons Don Juan übersetzen
wollte, so müßte sich das Gesagte ganz verrucht ausnehmen.
Auf solche Beobachtungen, wie sie ähnlich von Aristoteles über Schiller und Hegel bis hin zu Brecht immer wieder angestellt worden sind, gründet sich, als selbständige Disziplin innerhalb der Literaturwissenschaft, die literaturwissenschaftliche Metrik. Denn wenn sich die Literaturwissenschaft wesentlich mit Texten zu befassen hat und wenn sich diese Texte wesentlich auch nach ihren «poetischen Formen» unterscheiden, dann bedürfen sowohl die «Töne» als auch die «Versarten», von denen Goethe spricht, eines je eigenen Studiums. Eine Lehre von den «Tönen», wie sie von der klassischen Rhetorik ausgebildet und von Hölderlin fortentwickelt worden ist, hat sich als besondere Disziplin freilich noch nicht etablieren können. Von den «Versarten» jedoch handelt schon seit den Anfängen der Philologie bald in systematischer und bald in historischer Absicht die Wissenschaft der Metrik.
Den empirischen Gegenstand der Metrik bilden Texte in ‹poetischer› Form – gleichviel, welcher ‹Gattung› sie im übrigen angehören. Sie hat es also gleichermaßen mit lyrischen, epischen, dramatischen und (sofern es eine solche vierte Gattung geben soll) didaktischen Gedichten zu tun – vorausgesetzt, daß es sich dabei eben um ‹Gedichte›, um Texte in ‹gebundener› Rede, um ‹Verstexte› handelt. Solche Texte gibt es in jeder heute bekannten Literatur und wahrscheinlich auch in jeder illiteraten Kultur. Sie zeichnen sich allgemein durch eine besondere Art der ‹Abweichung› von ‹normgerechter› Sprachverwendung aus, dadurch nämlich, daß das phonetische Material, dessen sie sich wie alle Texte bedienen, innerhalb syntaktischer Grenzen, nach denen sie wie wiederum alle Texte gegliedert sind, einer periodischen Ordnung unterworfen wird. Aufgrund dieser Ordnung teilt sich das Kontinuum der Sätze, die einen Verstext bilden, in metrische Segmente (in Verse und gegebenenfalls in Strophen) auf. Und die Metrik studiert solche Texte dann eben im Hinblick auf diese Gebundenheit.
Natürlich können unter dem Gesichtspunkt der Metrik Gedichte gleich welcher Art nicht ‹erschöpfend› behandelt werden. Sie kann von sich aus weder über den Gattungscharakter eines gegebenen Textes (also etwa in der Frage, ob er ein Epos oder ein Lehrgedicht bildet) noch über dessen individuellen ‹Gehalt› (selbst in Begriffen wie ‹religiös›, ‹politisch› oder ‹ästhetisch›) befinden. Ebenso indifferent bleibt die Metrik gegenüber Fragen einer allgemeinen Poetologie wie der nach dem Status von ‹Fiktionalität› – und selbst gegenüber der Frage nach dem (wie auch immer zu bestimmenden) ‹Wert› dieser oder jener auch in ihr Gebiet einschlagenden Erscheinung. Andererseits dürften allerlei Fragen solcher Art sich nicht ohne Rücksicht auf metrische Sachverhalte ordentlich lösen lassen. Um die in gewissem Maße grundlegende Bedeutung der Metrik für die Literaturwissenschaft wahrzunehmen, braucht man sich im übrigen nur daran zu erinnern, daß von Horaz bis Boileau die ‹Poetik›, als die deskriptive oder normative Lehre von der ‹Dichtkunst›, ihren Gegenstand dem Umfang nach mit der ‹Verskunst› hat in eins fallen lassen. Im französischen und englischen Sprachbereich hat sich diese Auffassung und Auszeichnung von ‹poésie› bzw. ‹poetry› (zumal gegenüber der Prosa des neuzeitlichen Romans) bis heute gehalten – während im deutschen Sprachbereich, wo auch Romanciers wie Wieland, Fontane und Döblin als ‹Dichter› gelten, und zwar mit Recht, der Name ‹Poesie› erst neuerdings wieder in jenem älteren Sinne (und ohne abfälligen Nebenton) gebräuchlich zu werden scheint. Paradoxerweise geht diese Entwicklung wohl auf die gerade metrisch kaum noch gebundene ‹Konkrete Poesie› der fünfziger Jahre zurück. Auch bezieht sich die neuere Literaturtheorie, wenn sie (wie bei Jakobson) ein «poetic principle» zu bestimmen sucht, programmatisch und faktisch vor allem auf das Dichten in Versen.
Die eben gegebene Gegenstandsbestimmung versteht sich allerdings nicht von selbst. Während sie auf die spezifische Differenz zwischen Texten überhaupt und solchen in gebundener Rede gerichtet ist und insoweit eine ältere Tradition aufgreift, in der die Metrik einen Anhang zur Grammatik bildet, bestimmen neuere Darstellungen ihren Gegenstand nicht selten in kunstwissenschaftlicher Orientierung: durch das Moment des «Rhythmus», das wie vor allem in der Musik auch in der Literatur zu beobachten sei. Diesen Versuchen ist nun aber entgegenzuhalten, daß sich die «Gliederung der Zeit in sinnlich faßbare Teile» (Heusler) allein am vorgetragenen Text beobachten läßt – also in einem Medium, das nur dem Rezitator offensteht. Der nun kann (wie ein Setzer) auch wohl Fehler machen oder (wie ein Komponist beim Vertonen) eigenen Regeln folgen – und muß sich in jedem Fall am Bestand des jeweils Gedichteten messen lassen. Darüber hinaus ist es noch gar nicht ausgemacht, ob selbst jedes ‹richtig› vorgetragene Gedicht im Sinne Heuslers «rhythmische» (oder gar «takthaltige») Rede bildet – während auch in solchen zweifelhaften Fällen, etwa beim Strengen und beim Freien Knittelvers des 16. Jahrhunderts, eine metrische Ordnung durchaus gegeben sein kann. Insofern hätte die hier vorgenommene Gegenstandsbestimmung, die das Gedicht zunächst als sprachliches Gebilde nimmt, wenigstens den Vorzug der Unvorgreiflichkeit.
Die Theoretische Metrik befaßt sich mit Versen überhaupt und als solchen (vor allem im Unterschied zur Prosa) und gehört insofern zur Theorie der Literatur. Die Deskriptive Metrik hat es demgegenüber mit einzelnen sprachlich oder geschichtlich oder auf beiderlei Weise abgegrenzten Corpora von Verstexten zu tun und gehört insofern zu dieser oder jener Literaturwissenschaft – etwa zur ‹Deutschen Philologie›. Die Beziehungen zwischen verschiedenen solchen Corpora werden von der Komparativen und der Historischen Metrik studiert. Ein kennzeichnendes Beispiel für Untersuchungen dieser Art bildet Heuslers ‹Deutscher und antiker Vers›. Die Herleitung metrischer Erscheinungen aus außermetrischen Sachverhalten (etwa kulturellen Veränderungen oder anthropologischen Bedürfnissen) wäre Aufgabe einer Erklärenden Metrik. Als literaturwissenschaftliche Hilfsdisziplin dient die Metrik (wie etwa auch die Rhetorik) vor allem der Analyse, Interpretation und Kritik einzelner Verstexte. In Einzelfällen kann sie auch von textkritischem und editionspraktischem Nutzen sein.
Der einzelne Vers, als Segment eines Verstextes, ist zunächst von den speziellen Regeln, nach denen er gebildet ist, seinem Metrum (oder Versmaß), zu unterscheiden. Roman Jakobson hat für diese beiden Größen die Ausdrücke «verse instance» und «verse design» vorgeschlagen. Ihr Verhältnis entspricht etwa dem zwischen Performanz und Kompetenz in Chomskys Grammatik-Theorie.
Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen verse instance und verse design sind viele Ausdrücke der Deskriptiven Metrik neutral und im Grunde äquivok. In aller Regel aber sorgt der jeweilige Zusammenhang ihres Auftretens für das richtige Verständnis. Wenn wir sagen: «Der Blankvers ist im 18. Jahrhundert aus England übernommen worden», so ist damit ebenso eindeutig ein bestimmtes Metrum gemeint wie in der Rede von «Lessings Blankvers» das Corpus der Verse, die Lessing nach eben diesem Metrum geschrieben hat – und die sich in anderer Hinsicht (‹rhythmisch›) durchaus von Goethes Blankversen unterscheiden können. Entsprechend verschieden werden auch Ausdrücke wie ‹Jambus› und ‹Sonett› verwendet.
Ebensowenig wie mit seinem Metrum darf der einzelne Vers mit irgendeiner seiner phonetischen oder graphischen Realisationen, im Vortrag oder im Druck, verwechselt werden – schon darum nicht, weil diese Realisationen («delivery instances» nach Jakobson) je nach Maßgabe des Verses für mehr oder minder ‹angemessen› und im Extremfall auch für ‹fehlerhaft› müssen gelten können. Insofern bildet bereits der Vers (wie erst recht sein Metrum) einen vergleichsweise ‹abstrakten› Gegenstand. Wimsatt und Beardsley haben diesen Sachverhalt vortrefflich bezeichnet mit den Worten: «A performance is an event, but the poem itself, if there is any poem, must be some kind of enduring object.» Auch einer Lesung durch den Dichter selbst bleibt das Gedicht allemal vorgeordnet.
Andererseits verdienen natürlich vor allem die historischen ‹Stile› des Vortrags (etwa auf der Bühne) die Aufmerksamkeit zumal der Erklärenden Metrik. Gewisse ‹delivery designs› wie die Pausierung am Vers-Ende können von den Dichtern durchaus in Rechnung gestellt und bei der Handhabung etwa des ‹Zeilensprungs› berücksichtigt worden sein. Ähnlich erklären sich wohl einige sprachmetrische Merkmale zumal der Lieddichtung aus der Rücksicht auf musikmetrische Konventionen bei der Vertonung poetischer Texte. Man vergleiche hierzu Abschnitt 6.3.
Allgemein dürfte vor allem mit zwei verschiedenen Vortragsweisen zu rechnen sein. Während die eigentliche Rezitation im Vortrag die Eigentümlichkeit des Gedichts hörbar zu machen sucht, indem sie etwa Geschwindigkeit und Klangfärbung von Fall zu Fall anders bestimmt, kehrt die Skansion besonders den metrischen Gattungscharakter des Textes (den er mit anderen Texten teilt) hervor. Die Bezeichnung dieser Vortragsweise erklärt sich daraus, daß in der älteren Verslehre bereits die metrische Analyse eines Verses gewöhnlich als ‹Skansion› bezeichnet wird. Der Vortrag kann zwischen Rezitation und Skansion natürlich auch zu vermitteln suchen.
Es muß weiterhin zwischen dem Metrum (oder Versmaß) eines Verses (oder besser: eines Verstextes) und dessen Rhythmus unterschieden werden – wobei dieser an sich mehrdeutige Ausdruck hier genauer die Art und Weise bezeichnen soll, in der irgendein Metrum jeweils behandelt wird. So weisen etwa auch ganze Corpora von Versen wie die Blankverse Lessings und Goethes ungeachtet des beiden gemeinsamen Metrums einen je anderen Rhythmus auf. Einen ersten Versuch zur Bestimmung solcher «Rhythmustypen» hat Wolfgang Kayser unternommen und damit vor allem der Angewandten Metrik ein bisher freilich noch wenig genutztes Instrument an die Hand gegeben.
Eine letzte Unterscheidung von grundsätzlicher Art ist im Bereich der den Verstext konstituierenden Ordnungsregeln selbst zu treffen. Zur Prosodie eines gegebenen Corpus gehören alle und nur diejenigen Regeln des Systems, die über die metrisch erheblichen sprachlichen Konstituenten des Verses befinden – insbesondere darüber, was als Silbe im metrischen Sinne zu gelten hat und wie die Silben in metrischer Hinsicht gegebenenfalls zu klassifizieren sind. Hierher gehören von Fall zu Fall auch Bestimmungen über die Tauglichkeit der Wörter zum Reim. Demgegenüber bestimmen dann die Regeln der Versifikation über die Anordnung der prosodisch bestimmten Konstituenten im einzelnen Vers sowie über den Aufbau von Sequenzen höherer Stufe (von Strophen). Ähnlich unterscheidet John Lotz zwischen «linguistic constituents» und «metric superstructure». Im Sinne dieser Unterscheidung ist etwa ‹Stabreim› zunächst ein prosodischer, ‹Kreuzreim› hingegen allein ein versifikatorischer Begriff. Gewisse Versarten wie der ‹Hexameter› können selbst innerhalb einer Sprache auf der Grundlage verschiedener Prosodien gebildet sein.
Die Gesamtheit (oder auch der Inbegriff) der Regeln, unter denen irgendein Corpus von Versen steht, wird nicht selten und auch im folgenden selbst als dessen ‹Metrik› bezeichnet: «Die Metrik der mittelhochdeutschen Blütezeit». Umgekehrt bezeichnet ‹Prosodie› oft auch die entsprechende Teildisziplin der Metrik als Wissenschaft: «Versuch einer deutschen Prosodie». Im allgemeinen aber ergibt sich der jeweils gemeinte (objekt- oder metasprachliche) Sinn auch hier aus dem Zusammenhang.
Die metrische Ordnung des phonetischen Materials erfolgt, wie gesagt, im Rahmen der syntaktischen Gliederung des Textes. Dabei kommt als kleinste syntaktische Einheit das Wort und als größte der Satz in Betracht. Der Absatz (als semantisch halbwegs geschlossene Folge von Sätzen) ist metrisch irrelevant; auch wenn Strophen (wie etwa im Epos aus Stanzen) de facto oft mit Absätzen zusammenfallen. Erst recht kann die Einheit des Textes, weil sie nur Anfang und Ende des Ganzen bestimmt, außer Betracht bleiben. Hingegen spielt in vielen Metriken, so auch im Deutschen, zwischen Wort und Satz eine Einheit mittlerer Größe eine Rolle: das Kolon – auch «Wortfuß», «Sprechtakt», «Atemgruppe», «rhetorisches Syntagma» oder «Phrasierungseinheit» genannt. Die «Phrasierung» des Textes – genauer: des Satzes, da am Satzende immer eine Phrasierungsgrenze liegt – ist phonetisch durch «Pausen» gekennzeichnet; mögen diese nun notwendig oder (bei langsamem Sprechen) nur möglich sein. Nach Stellung und Stärke sind solche Pausen weitgehend (also eben nicht vollständig) von der syntaktischen Oberflächenstruktur des Satzes bestimmt und fallen dementsprechend oft (aber eben nicht immer) mit den durch Satzzeichen markierten Einschnitten zusammen: «Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß.» Als weitere Bestimmungsfaktoren wirken offenbar auch Silbenzahl und Akzentverteilung mit. Obwohl nun aber in neuerer Zeit, etwa von Klaus Birkenhauer, Verfahren entwickelt worden sind, die Gliederung in Kola genauer zu bestimmen, wird sich die literaturwissenschaftliche Metrik vorerst noch auf die intuitive Phrasierung durch sprachlich und literarisch kompetente Leser und Hörer verlassen können. Ähnlich problematisch bleibt in manchem Einzelfall ja auch die Bestimmung von Wort- und selbst von Satzgrenzen.
Im Rahmen der syntaktischen Gliederung des Textes (nach Satz, Kolon und Wort) wird sein phonetisches Material nach quantitativen oder qualitativen Eigenschaften der syllabischen Struktur metrisch geordnet. Die wichtigste phonetische Einheit des Textes bildet also die Silbe – wobei aber die genaue Abgrenzung der einzelnen Silben des Textes (soweit sie nicht mit Wortgrenzen zusammenfällt) metrisch ohne Belang ist. Metrisch grundlegend ist vielmehr die Aufeinanderfolge syllabischer Zentren: im Deutschen der silbenbildenden Vokale. Die Prosodie einer Metrik teilt nun die Silben der entsprechenden Sprache (oft schon im Hinblick auf Kontextverhältnisse in der Rede) in gewisse Äquivalenzklassen ein und stellt sie, dergestalt geordnet, für die metrische Versifikation bereit. Dabei ist mit drei verschiedenen Möglichkeiten zu rechnen.
(1) Es gibt überhaupt nur eine Äquivalenzklasse, der also alle Silben angehören. Oft erlaubt (oder verlangt) eine auf den Kontext bezogene Regelung, daß ein Vokal im Auslaut des Wortes, wenn ihm ein vokalisch anlautendes Wort folgt, verschliffen (‹Synalöphe›) oder ausgelassen (‹Elision›) und die entsprechende Silbe nicht als solche gerechnet wird:
Umgekehrt können Silben, die sich in der Alltagssprache längst verloren haben, in der Versrede wieder zählen:
Ähnliche Regelungen gibt es oft auch in Prosodien vom nächsten Typ.
(2) Hier nun werden die Silben aufgrund eines oder mehrerer ihrer ‹prosodischen› Merkmale (im linguistischen Sinn: nach Akzent, Tonhöhe, Tonart oder Dauer) in verschiedene Klassen eingeteilt – und zwar, wie es scheint, allemal in zwei. Die Silben der einen Klasse gelten allgemein als schwer, die der anderen als leicht. Als Bemessungsgrundlage dient entweder schon das Lexikon (soweit etwa Länge oder Kürze der Vokale den Ausschlag geben) oder erst die syntagmatische Verbindung (wenn etwa der Anlaut eines nachfolgenden Wortes in Rechnung zu stellen ist). In diesem Sinn unterscheidet beispielsweise die Metrik der klassischen Sprachen zwischen langen und kurzen Silben – und zwar so, daß ‹lang› eine Silbe heißt, wenn sie entweder einen langen Vokal enthält («scrībere») oder wenn einem kurzen Vokal zwei Konsonanten folgen («lěctio»). Im ersten Fall ist die Silbe ‹naturâ› (φύσει), im zweiten ‹positione› (θέσει) lang. Dabei spielt außer der ‹lexikalischen› Beschaffenheit des Wortes auch dessen ‹syntagmatische› Stellung eine Rolle: insofern nämlich, als sich die Doppelkonsonanz, die eine Positionslänge stiftet, im Satz auf zwei Wörter verteilen kann:
Integēr vitae scelerisque purus
Ein Teil des Silbenmaterials kann von der Disjunktion ausgenommen sein und steht dann zu beliebiger Verwendung bereit – wie im Falle von ‹muta cum liquida› nach kurzem Vokal:
et primo similis volŭcri, mox vero volūcris
Die Prosodie der neueren deutschen Verskunst hat sich zeitweise recht eng an die der antiken Dichtung angeschlossen und nach ganz ähnlichen Regeln zwischen ‹langen› und ‹kurzen› Silben unterschieden. Sach- und sprachgerechter bestimmen aber Praxis und Theorie den Unterschied zwischen schweren und leichten Silben nach Maßgabe ihres akzentuellen Gewichts. Dabei dient seit dem 18. Jahrhundert als Bemessungsgrundlage vorzugsweise der bei langsamer Artikulation korrekt akzentuierte Satz. Man vergleiche hierzu Abschnitt 1.5.1.
(3) Die Silben können schließlich auch aufgrund ‹inhärenter› (oder außerdem ‹prosodischer›) Merkmale in Äquivalenzklassen eingeteilt werden – die füglich als ‹Reimgruppen› zu bezeichnen sind. Im allgemeinen bezieht sich diese Klassifikation allein auf einen Teil des Silbenmaterials. Sie erfaßt gewöhnlich nur die Anfangs- oder nur die Endsilben der Wörter: je nachdem ob die Versifikationsregeln Anfangs- oder Endreim (einschließlich bloßer Assonanz) verlangen. Solche Gruppen finden sich in Reimlexika förmlich zusammengestellt. Während also Wörter wie «Hand» und «Pfand» in einer Prosodie vom Typus (1) beide als einsilbig und in einer Prosodie vom Typus (2) beide außerdem als schwer ausgewiesen werden, ordnet eine Prosodie vom Typus (3) sie schließlich noch derselben Reimgruppe ein. Auch hier ist von Fall zu Fall mit Sonderregelungen (wie über die englischen ‹eye-rhymes›) zu rechnen. Die Reim-Prosodie der neueren deutschen Metrik besteht in der Regel auch auf ‹prosodischer› (akzentueller) Gleichgewichtigkeit der Reimsilben und faßt deshalb «Zeit» zwar mit «gescheit», nicht aber mit «Wahrheit» in einer Gruppe zusammen.
Entsprechend den drei Arten der Prosodie, von denen eben die Rede war, lassen sich auch drei Arten der Versifikation unterscheiden.
(1) Im Falle einer Prosodie, die die Silben nur als solche bestimmt, unabhängig davon, wie sie im einzelnen beschaffen sind, regelt die Versifikation die Anzahl der Silben im Vers. Die Verse sind dann nach Silben gezählt.
nach Größengeordnet.