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Zu den Gemälden von William Turner Dannat vgl. Jean
Lorrain, Portraits de femmes.
Coins de l’Exposition in L’Événement
vom 13. September 1889 und L’Agonie.
Derniers frissons in Le
Gaulois vom 13. November 1900
(abgedruckt in: Jean Lorrain, Mes
Expositions universelles, hrsg. von
Philippe Martin-Lau. Paris: Honoré Champion, 2002, S. 150 und 348).
2 Vgl. Angelica Rieger, Alter Ego. Der Maler als Schatten des Schriftstellers in der französischen Erzählliteratur von der Romantik bis zum Fin de siècle. Köln: Böhlau, 2000, S. 417 f.: Sonyeuse.
3 Vgl. Edgar Allan Poe, The Oval Portrait, und Jean Lorrain, Monsieur de Phocas.
4 Es handelt sich um die erste Strophe des Gedichts »Broceliande« aus dem Victor Hugo gewidmeten Band La Forêt bleue (1883). Siehe Jean Lorrain, Poésie complète, hrsg. von Philippe Martin-Horie. Paris: Éditions du Sandre, 2015, S. 225.
Jean Lorrain
Sonyeuse (1903)
Aus dem Französischen von Sylvia Schiewe
MSeB Fiction bei Matthes & Seitz Berlin
Berlin 2015
Matthes & Seitz Berlin © 2015
Erstausgabe Paris: Charpentier, 1891. Um den Prolog erweiterte Zweitfassung Paris: Ollendorff, 1903
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Mit seiner Erzählung über den Musiker Niklas Metnev nahm Philipp Schönthaler beim Wettlesen des Ingeborg-Bachmann-Preises 2013 teil.
Mit feinem Gespür für das, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, zeichnet der vielleicht politisch radikalste Schriftsteller Deutschlands ein Bild der Krise, in der wir uns befinden. Doch Volker Braun entwirft kein Weltuntergangs-Szenario. Er formuliert eine Warnung vor ideologischer Ohnmacht, vor einem Kollaps aller revolutionären, oder gar reformistischen Bestrebungen und hält fest: der Karren steckt im Dreck. Damit fordert er nicht nur zur »Empörung« auf, sondern zur Revolution!
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
Im Schweizer Dorf Davos versammelt sich alljährlich die Führungselite der Welt, um ungestört über den Lauf der Dinge zu entscheiden.
Im Januar 2012 waren Emmanuel Carrére und Hélène Devynck vor Ort, um herauszufinden, wie die Mächtigen dieser Welt sich verhalten, wenn sie unter sich sind. Im »Disneyland der Großen« erscheint die Welt ganz klein - und der Kuchen, von dem jeder ein Stück haben will, lässt sich in beliebig viele Stücke teilen.
In diesem lebensphilosophischen Essay geht Byung-Chul Han, “einer der radikalsten Denker Deutschlands“ (Peter Schiering, ZDF aspekte), der Frage nach, warum wir heute kein Ende mehr finden. Das Schließen der Augen ist nicht Abschluss des Tages sondern nur noch Symptom der Erschöpfung.
Transparenz ist der Tod des Begehrens. Eine total transparente und liberale Gesellschaft würde nicht nur das Begehren töten, sondern auch Monstrositäten auf den Plan rufen. Mao siegt ist ein Versuch über den Sinn von Grenzen und die Grenzen des moralischen Liberalismus.
Wie reagieren wir auf PRISM und andere Überwachungsmechanismen? Wie lassen sich die ambivalenten Forderungen zur Transparenz im Internet zusammenfassen? In »Dataismus« wagt Alexander Pschera eine Theorie des Digitalen und unterzieht darin die anonyme Moral des Internets einer scharfen Kritik und entwirft ein Modell der Transparenz, mit dem er sich der Welt und ihren jüngsten Entwicklungen ohne Scheuklappen stellt.
Andi Schoons Essay befasst sich mit der Schwierigkeit, im symbolischen Kapitalismus subversiv zu handeln und schlägt als Alternative zur gängigen Hoffnung auf Kollektivität eine spezifische Form der Vereinzelung vor: das sujet imaginaire.
Andi Schoon, geboren 1974, studierte Musikwissenschaft, Soziologie und Neuere deutsche Literatur in Hamburg. 2005 promovierte er mit der Schrift „Die Ordnung der Klänge“, die 2009 auf der Ars Electronica ausgezeichnet wurde. Heute ist er Professor für Kultur- und Medienwissenschaft an der Hochschule der Künste Bern und leitet dort das interdisziplinäre Y Institut. Musikalische Veröffentlichungen als Mitglied der Gruppe Jullander und unter dem Namen déformation professionnelle.
An Antonio de la Gandara.
Blätter einer weit zurückliegenden Kindheitsgeschichte,
wiedererinnert vor zwei seiner Portraits
In Eifer und Melancholie,
Sein Freund,
Jean Lorrain.
Vor gut einem Jahrzehnt am Marsfeld1, in eben dem Saal, wo der Wahn der Spanierinnen von Dannat sich in den Hüften wiegte und verdrehte, in dämonenhafter und rasender Bewegung den Bürger zur Verzweiflung trieb, der diesem überschäumenden, brutal aufs Blau geworfenen Bild fast Auge in Auge gegenüberstand; an derselben Ausstellungswand, wo Boutet de Monvel die auf Porzellan gebannte Nichtigkeit seiner vaselinierten Dianen und emailäugigen Mondänen offenlegte, jedoch Seite an Seite mit den gewollten Verwegenheiten und gekonnten Lichtspielen eines wahren Malers, Mister Alexander, hingen drei große, gleich hohe Portraits, die mich unter allen durch die achatgebänderte Preziosität ihrer Atmosphäre anzogen.2 Noch bevor ich die inmitten ihrer Rahmen stehenden Personen unterschied, hatte mich ein halluzinatorischer Ausdruck von Traum und Wirklichkeit angesichts der drei Gestalten übermannt, die nicht länger durch mehr oder weniger ingeniöse Verfahren auf der Leinwand fixiert waren, sondern lebendig wirkten, ein geheimnisvolles Leben in der kalten Strenge weitläufiger, unmöblierter Zimmer zu führen schienen, in den Salons verlassener Patrizierhäuser, wie gemacht, um Erinnerungen heraufzubeschwören; zwischen den hohen Rahmen, die sich gleich Türen zur Leere eines mir nicht verortbaren hochherrschaftlichen Innenraums hin öffneten, herrschte jene undefinierbare Atmosphäre aus flüssigem Bernstein und milchigem Grau, eine befremdliche Atmosphäre, in der das Fleisch den Glanz von Perlmutt annimmt und die Blautöne irisieren, als stünden sie im Mondlicht, und die ich weltweit nur von drei Malern kannte: Reynolds, Burne-Jones und Whistler.
Sie stellten drei Frauen dar, diese Portraits, und waren mit A. de la Gandara signiert. Drei Frauen, alle drei aufrecht, eine alte Dame in Schwarz, eine junge Frau in Grün, ein Mädchen in Gelb, das Kind in der Mitte. Hinter ihnen verlief dieselbe graue, fein goldgeäderte Holztäfelung und machte sie allesamt zu Bewohnerinnen eines unfassbar doppelbödigen Empire-Salons, oder vielleicht, wer weiß, hatten sie sich in den langen Korridor eines Hauses Usher verirrt. Sie alle waren vom gleichen Geisterleben erfüllt, und ihre Schlagschatten drängten sich dicht hinter ihnen zusammen, beunruhigend genug, um das Zimmer für ein vom Spuk heimgesuchtes zu halten; die junge Frau aber und vor allem das Mädchen ließen mich nicht los.
Oh, die Dame in Grün! In welcher Erzählung Edgar Poes war ich ihm schon einmal begegnet, diesem ausdrucksvollen Köpfchen, das so blass war unter dem seidigen Gold ihrer Haare? Und diesen schönen Augen von durchsichtigem, feuchtem Blau, diesen Wasseraugen, diesen beiden großen Augäpfeln, die umherirrten, als beklagten sie flehentlich einen Abschied auf immer? Wo in Traum oder Leben hatte ich sie schon gesehen, geliebt, leidenschaftlich geliebt, angebetet und beweint, diese feine Blässe und dies zarte Profil und den ganzen Schmerz dieser in ihrer rührenden Anmut von einer uns unbekannten Fassungslosigkeit getroffenen Aristokratie?
Lady Ligeia, Morella, Berenice oder womöglich die so köstliche wie melancholische Dame3, deren Leben, Blick und Lächeln eines Abends dahinschwanden, als ihr Freund diese auf unvergängliches Leinen gebannt hatte, und die starb, indem die Liebesglut ihres Malers sie sich selbst entzog, während sie mit ihm in intimer Zweisamkeit eingeschlossen war? Die Namen morbider, ausschweifender Heldinnen, die noch atemberaubenderen Namen schöner Halluzinierender drängten sich auf meine Lippen, ohne dass einer zu diesem schmerzlich-liebreizenden Gesicht gepasst hätte, anwendbar gewesen wäre auf das Seidenmatt dieses schneeigen Nackens, das tiefe Blau ihrer brennenden Augen, zweier Augen von Tränen und Flammen, wie sie allein der Liebestod einer Seele trägt: die der Mutter oder Geliebten.
Vergissmeinnicht