Transsilvania Speditionska

Es war eine fast ganz normale Nacht auf der Autobahn irgendwo zwischen Transsilvanien und Deutschland. Auf der Straße fuhren nur wenige Autos und die meisten Menschen darin schliefen – bis auf die Fahrer natürlich. Nur in einem alten und ziemlich klapprigen Lastwagen mit einem Wolfskopf neben der tiefschwarzen Aufschrift Transsilvania Speditionska waren alle Reisenden hellwach. Das lag daran, dass auf der Autobahn zwischen Transsilvanien und Deutschland nicht immer nur normale Menschen unterwegs sind – sondern auch waschechte Vampire. Und Vampire sind nun einmal nachts hellwach und normalerweise auf der Jagd nach einem köstlichen Tropfen Blut.

Mihai Tepes, zweitältester Sohn einer ehrwürdigen und uralten Vampirfamilie, hatte in dieser Nacht keine Zeit für die Jagd. Er war gerade dabei, mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern Silvania und Dakaria nach Deutschland umzuziehen.

Mihai Tepes wurde vor 2676 Jahren mitten im schaurig-schönen Transsilvanien geboren und hatte sein Heimatland bisher nur selten und äußerst ungern verlassen. Er liebte die kargen, rauen Berge, die rauschenden Flüsse und die dichten Wälder mit ihren herrlich saftigen Wildschweinen – wenn er nur daran dachte, tropfte ihm der Speichel von seinen scharfen, langen Eckzähnen. Seufzend fuhr er sich durch sein rabenschwarzes Haar und tröstete sich mit dem großen Glas voll Heimaterde und den dicken Blutwürsten seines Lieblingsmetzgers Sangrasa, die er im Gepäck hatte.

Unbeirrt steuerte er den alten Laster weiter durch die Nacht. Er musste ordentlich aufs Gaspedal drücken, denn auf dem Anhänger des Lasters war der senfgelbe Lada aufgeladen – der Familienwagen der Tepes’, den Mihai nicht in Transsilvanien hatte zurücklassen wollen. Da seine Frau unter den Menschen nicht auffallen wollte, hatte Mihai die Scheinwerfer des Umzugslasters eingeschaltet. Eigentlich konnte Mihai Tepes nachts besser sehen als tagsüber, aber weil er seine Frau Elvira Tepes sehr liebte, hörte er gern auf sie.

Elvira Tepes war nämlich ein waschechter Mensch und einer echten Menschenfrau sollte man nicht widersprechen, auch nicht als stolzer und starker Vampir. Darum hatte Mihai auch nicht Nein sagen können, als seine Frau zurück nach Deutschland wollte. Sie hatte Heimweh, was Mihai gut verstehen konnte. Und schließlich hatte Elvira ihm vor 12 Jahren zwei prächtige Mädchen geboren. Sie waren nicht nur Zwillinge, sondern auch blutechte Halbvampire, auf die Mihai sehr stolz war. Gemeinsam hatte Familie Tepes die letzten 12 Jahre in Bistrien gelebt. Bistrien war nicht nur die unterirdisch schönste Stadt Transsilvaniens, sie befand sich auch wirklich unter der Erde und wimmelte von Vampiren. Doch auch deren gierige Blicke auf ihren zarten Hals hatten Elvira Tepes nicht davon abschrecken können, dort zu wohnen. Zum einen, weil ihr Ehemann Mihai sie bis aufs Blut beschützte, und zum anderen, weil sie ihm ewige Liebe geschworen hatte.

Sicherlich ist eine Ehe zwischen einem Vampir und einem Menschen höchst selten. Deswegen liebten es Silvania und Dakaria auch, sich die Kennenlerngeschichte ihrer Eltern zu erzählen. Oder zumindest Silvania genoss jede einzelne Kleinigkeit, denn sie hatte ein romantisches Herz und verschlang jeden Liebesroman, gern auch mit über 500 Seiten. Dakaria, genannt Daka, interessierte sich mehr für Rockmusik, fand Liebesgeschichten albern und verschlang lieber knackige Fliegen oder Hackfleischbällchen – gern auch mit über 500 Maden.

Doch weil die Fahrt lang war und auch ein bisschen langweilig, hatte Daka sich neben Silvania hinten im Laderaum aufs Bett gelegt. Umgeben von Kartons blätterten die beiden Schwestern dicht aneinandergekuschelt durch das Fotoalbum der Familie Tepes. Silvania leuchtete mit einer Taschenlampe auf die Bilder.

„Guck mal, Mami und Papi. Das erste gemeinsame Foto.“

Seufzend betrachtete Silvania die Fotos, die ihre Mutter vor vielen Jahren in den rumänischen Karpaten geschossen hatte. Die Karpaten sind ein wildes, steiniges Gebirge, in dem man sich vorsichtig verhalten sollte. Zumindest wenn man ein Mensch ist und so zierlich und schön wie Elvira Tepes. Gleich am ersten Tag hatte sie sich bei einem Sturz verletzt und musste den Rest des Urlaubs mit einer Halskrause verbringen. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum die Karpaten gefährlich sind. Denn auch Transsilvanien liegt in Rumänien und genau genommen mitten in den Karpaten. Elvira Tepes glaubte damals jedoch nicht an Vampire und machte fröhlich Fotos von Bergen, Schluchten und betörend duftenden rosaroten Blumen.

Was Elvira nicht ahnte, war, dass der Duft ihres rosaroten Blutes jemanden angelockt hatte. Hinter einem großen Baum versteckte sich Mihai Tepes und in seinem gesamten Vampirkörper loderte die tödliche Begierde.

Gerade als Elvira ein Bild von sich selbst schießen wollte, wäre es fast um sie geschehen gewesen: Mihai Tepes stürzte sich mit weit aufgerissenem Mund auf sie. ZZSSSS – KLICK! Elvira knipste, Mihais spitze Eckzähne funkelten im Blitzlicht auf – aber sie gelangten nicht in den Hals von Elvira. Die Halskrause war im Weg. Elvira hatte Glück gehabt, schrie aber trotzdem wie vom Vampir gebissen auf. Erschrocken fuhr sie herum – und in diesem Moment war es um sie geschehen: Sie verliebte sich auf den ersten Blick in diesen schönen blassen Mann mit dem schwarzen Haar und den roten Lippen, die Elvira an köstliche Sommererdbeeren erinnerten.

Wieder hatte sie Glück, denn in dem schönen blassen Mann loderte auf einmal nur noch zärtliche Begierde. Mihai verliebte sich in die hübsche Frau mit den roten Wuschelhaaren und konnte seinen Blick gar nicht mehr von ihren Augen abwenden. Sie erinnerten ihn an den tiefblauen Himmel einer sanft durchflogenen Sommernacht.

„Zum Glück musste Mama da diese komische Halskrause tragen. Stell dir mal vor, sie hätte sie nicht angehabt. Dann hätte Papa sie ausgesaugt und uns gäbe es jetzt gar nicht“, sagte Silvania.

Daka antwortete nicht. Sie blätterte einfach weiter, aber Silvania stoppte sie bei den Hochzeitsfotos ihrer Eltern. „Wie schön Mama aussieht. So will ich auch mal heiraten“, schwärmte Silvania. „Mami, Papi!“, rief sie schmeichelnd. „Bitte erzählt uns noch mal von eurer Hochzeit.“

„Erzählt es ihr“, knurrte Daka. „Mir genügen die 239 Mal eigentlich.“

Doch Elvira hatte sich schon mit leuchtenden Augen umgedreht und fing sofort an zu schwärmen: „Wir hatten eine große Gruft auf dem alten Friedhof in Bistrien gemietet. Mihais Familie und alle seine Freunde waren da. Die Frauen trugen ihre modrigsten Kleider und die Männer ihre muffigsten Anzüge und Hüte. Ich hatte dieses traumhafte Kleid aus Spitze an und der Zeremonienmeister fragte Mihai zuerst, ob er mich lieben und ehren wolle, bis dass der Tod uns scheide und er antwortete …“

„Sni! Je pnam!“, unterbrach Mihai seine Frau in der Vampirsprache Vampwanisch und blickte sie verliebt an.

„Ach, ist das schön!“, hauchte Silvania und sah noch einmal auf das Foto. Der Zeremonienmeister sah gruselig vampirisch aus. Er hatte lange graue Haare und trug einen schwarz glänzenden Zylinder. In der Hand hielt er einen langen Dolch.

„Das Messer findest du schön?“, fragte Daka grinsend.

„Nein, dass Papa aus Liebe zu Mama die Blutzeremonie vollzogen hat. Stell dir das mal vor, ihretwegen hat er auf das ewige Leben verzichtet.“

„Ja, so war es, aber ich bereue gar nichts!“, rief Mihai nach hinten. „Der Meister schnitt mir in die Hand und genauso vollzog er es bei Elvira, nachdem sie ‚Ja, ich will‘ gesagt hatte. Wir legten unsere Hände ineinander und unser Blut vermischte sich. Nur so können ein Mensch und ein Vampir heiraten.“

„Also, ich würde das niiiieee machen!“, flüsterte Daka ihrer Schwester zu. „Ich meine, Papa wusste ja nicht, welche von seinen Vampirkräften er verliert. Er hat total Schwein gehabt, dass nur die Lichtempfindlichkeit und seine Superkräfte geschwächt wurden. Es hätte genauso gut sein können, dass er nach der Hochzeit nicht mehr hätte fliegen können! Stell dir das mal vor! Was für ein Albtraum.“

„Also ich würde für die große Liebe alles tun. Genau wie Papi“, sagte Silvania verträumt. „Aber ich versteh nicht, warum die keine Digitalkamera für die Hochzeitsfotos genommen haben. Man will doch auch den Bräutigam sehen!“

„Ist doch klar, da gab’s noch keine, das ist doch ewig her. Die hatten nur diese altmodischen Fotokameras mit dem Spiegel drin. Und Vampire sieht man nun mal nicht im Spiegel.“

Silvania nickte unglücklich. Dass Mama auf ihrem Hochzeitsfoto allein zu sehen war und von Papa nur der schwarze Anzug und sein Melonenhut, fand sie sehr schade. Immerhin würde ihr das nicht passieren – als Halbvampir war ihr Spiegelbild zwar auch leicht verschwommen, aber auf ihrer Hochzeit würde sie sowieso nur Digitalkameras erlauben.

Silvania schloss die Augen und malte sich ihr Hochzeitskleid aus: in Cremeweiß, mit raschelnden Rüschen, einem Hauch Spitze und einem altrosafarbenen Gürtel dazu. Über ihren rotblonden Haaren würde sie einen zarten Schleier tragen, den ihr Bräutigam liebevoll lüften würde, um sie zu küssen. Silvania seufzte sehnsüchtig, weil ihr einfiel, dass die Sache einen Haken hatte. Nicht die passenden Schuhe zu ihrem Traumkleid zu finden würde schwierig werden, sondern den passenden Bräutigam. Silvania war zwar Expertin in Sachen Liebe – aber leider nur auf dem Papier zwischen zwei Buchdeckeln. Wenn sie doch nur in Deutschland einen Jungen träfe, in den sie sich Hals über Kopf verlieben würde …

„Sag mal, schläfst du etwa mitten in der Nacht?“, riss Daka ihre Schwester unsanft aus ihren Nachtträumen. Noch unsanfter wurde es, als Mihai eine rasante Kurve fuhr und die beiden Schwestern samt Fotoalbum durch den Laderaum geschleudert wurden.

„Hilfe!“, schrie Silvania.

„Alles klar bei euch dahinten?“, fragte Mihai sofort.

„Ja, ja!“, rief Daka und legte sich wieder hin. Gegen ein bisschen Schleudern hatte sie gar nichts einzuwenden, wobei ihr ein erfrischender Nachtflug mit einem ordentlichen Looping lieber gewesen wäre. Sie verstand sowieso nicht, warum sie nicht nach Deutschland geflogen waren. Nicht in einem Flugzeug, sie waren ja keine Menschen. Oder zumindest nur halb, leider. Sie wäre gern mit ihrem Vater nach Vampirart geflogen. Das wäre ein tolles Training für den Trans-Europa-Flug gewesen, den Daka unbedingt eines Tages schaffen wollte.

Nachdem sie ihren Rock zurechtgezupft hatte, legte Silvania sich wieder neben Daka. Schließlich konnte es sein, dass sie aus dem Laster stieg und ihr deutscher Traummann sofort vor ihr stand. Und da wären Falten in den Klamotten wenig vorteilhaft. Silvania angelte sich das Familienfotoalbum. Diesmal schlug sie es weiter hinten auf.

„Guck mal, unsere alte Klasse in Bistrien!“

„Ha! Hier sieht man alle! Digitalkamera!“, rief Daka.

Schweigend betrachteten die Schwestern das Foto ihrer Mitschüler. Alle grinsten breit und ihre langen Eckzähne blitzten in die Kamera.

Daka schluckte. „Hach. Ich vermisse unsere Freunde jetzt schon!“, sagte sie leise.

„Hm“, nickte Silvania, „Aber dafür finden wir jetzt neue Freunde. Menschenfreunde!“

„Pfff, Menschen“, brummte Daka.

Würde sie in ihrer neuen Schule in Deutschland wirklich solche grausig-guten Freunde finden? Mit denen sie über ihre Lieblingsband Krypton Krax und die ultimativ coolsten Freestyle-Fly-Tricks reden konnte? Und die Lehrer waren bestimmt auch voll langweilig. Ihre transsilvanische Lehrerin hatte Daka zum Abschied Karlheinz geschenkt. Karlheinz war ein dicker orangefarbener Blutegel, den Daka liebevoll im Schleimtier-Unterricht gezüchtet und großgezogen hatte. Schnell klopfte Daka an das Aquarium, in dem Karlheinz wohnte. Karlheinz pupste laut und Daka fühlte sich ein bisschen wie zu Hause in Bistrien.

Silvania rümpfte die Nase. Sie fand Karlheinz eher eklig und sie war auch nicht so traurig wie Daka, als sie die Fotos ansah. Ihre Lehrerin hatte ihr gesagt, dass sie von jetzt an im Fach Sport-Fliegen nicht mehr die Schlechteste sein würde. Klar, denn so ein Fach gab es an einer deutschen Schule ganz bestimmt nicht. Und sicher war es dort auch nicht so wild und laut und unordentlich. Silvania freute sich auf Deutschland. Schnell schlug sie das Fotoalbum zu.

„Es wird schon hell“, bemerkte Daka.

„Ich bin auch schon voll müde“, antwortete Silvania gähnend.

„Boi noap, Schwesterherz“, murmelte Daka.

„Dir auch eine gute Nacht, kleine Schwester“, flüsterte Silvania, denn Daka war immerhin sieben Minuten jünger als sie.

Als gute große Schwester wusste Silvania, was sie gegen das Heimweh ihrer kleinen Schwester tun konnte, auch ganz ohne die Pupse eines Blutegels. Sie begann, mit geschlossenen Augen ein altes transsilvanisches Heimatlied zu summen. Mihai hatte es ihnen immer vorgesungen, als sie klein waren, und die ganze Familie Tepes liebte dieses Lied. Es klang ein wenig schief, bis Daka in das Lied einstimmte:

Transsilvania

Wuzzpogoi, oista snips, flopso, flugo,

Milobom job, rodna fantazyca!

job enzero inima naz, Transsilvania!

Obwohl die beiden Vampirschwestern müde und ein bisschen aufgeregt waren, sangen sie bald klar und schaurig-schön. Der Wind trug ihre Stimmen über die einsame Autobahn bis nach Deutschland, wo ein fast ganz normaler Tag beginnen sollte.

Die tödliche Gefahr

Es war ein herrlicher Samstagvormittag am nördlichen Rand von Bindburg. In der beschaulichen Siedlung war alles in bester und ordentlichster Ordnung. Jeder Bewohner der Siedlung hatte etwas Wichtiges zu tun: Herr Meier polierte sein Auto auf Hochglanz und Herr Schmidt schnitt seine Hecke auf Kante, während seine Frau die Straße fegte. Ein dicker Dackel pinkelte in einem gekonnten Bogen auf ein frisch geharktes Beet.

Vor seinem Haus mit der Nummer 21 stutzte Dirk van Kombast den Rasen mit einer Gartenschere. Er hatte ein Brot mit Kräuterfrischkäse gefrühstückt, seine Yogaübungen gemacht, seine Nasenhaare gestutzt (schließlich war Samstag, sein Stutztag), ausgiebig geduscht und dann sein Lieblingsparfum (Ginseng-Patschuli) aufgelegt. Der perfekte Start in den Tag. Nun genoss Dirk van Kombast die Ruhe im Lindenweg, das Schnappen der Heckenscheren, das Zwitschern der Vögel. Schnipp-schnapp, zwitscher-zwatsch. Das war fast besser als die Atemübungen beim Yoga. Entspannung pur, fand Dirk van Kombast. Doch mit der Entspannung sollte es gleich vorbei sein. Mit der Ruhe auch.

Mit einem lauten Scheppern bog ein uralter Laster in den Lindenweg ein. Er ächzte und quietschte und bremste. Bremste? Dirk van Kombast schnitt sich vor Schreck fast in sein Karohemd. Das waren nicht etwa …? Der Laster, oder wie immer sich diese Rostlaube nennen wollte, hielt vor dem Haus mit der Nummer 23. Tatsächlich! Er bekam neue Nachbarn. Neben seinem Haus zog wieder jemand ein.

Wobei Dirk van Kombast dieses Ungetüm nebenan nicht als Haus bezeichnete. Eher als Bruchbude. Eine Schande für den ganzen Lindenweg, wie auch Herr Meier und Herr Schmidt immer wieder kopfschüttelnd feststellten. Die Fensterläden hingen schief, der Garten war unerhört verwildert und die Holzfassade mit Efeu überwuchert. Wer um Himmels willen wollte in so ein Haus ziehen?, fragte sich Herr van Kombast.

Dann sah er zwei Frauenbeine aus der Beifahrertür aussteigen – zwei schlanke Frauenbeine, wie er angenehm überrascht bemerkte! Eine hübsche Frau mit einem eleganten Sonnenhut, unter dem lange, rot gelockte Haare hervorguckten, streckte den Kopf aus dem Auto. Vielleicht waren diese neuen Nachbarn doch nicht so schlimm wie ihr Fahrzeug.

Dirk van Kombast sog die Luft ein und spannte seine gut durchtrainierten Brustmuskeln an. Er wollte gerade mit seinem freundlichsten Nussknackerlächeln hinüberwinken, da stieg ein Mann aus. Herr van Kombast duckte sich hinter die Hecke. Der Mann war groß, schlank und ein bisschen zu blass für seinen Geschmack, schließlich ging Dirk van Kombast jeden Sonntag ins Solarium oder legte sich in die Sonne (Sonntag war sein Bräunungstag). Die Haare des Mannes waren schwarz und konnten mal wieder geschnitten werden. Den schwarzen Anzug, die Melone und die dunkle Sonnenbrille fand Dirk van Kombast etwas übertrieben. Vielleicht sogar verdächtig übertrieben.

Dirk van Kombast war 38 Jahre alt und Pharmavertreter. Er reiste mit einem Koffer voller Medikamente von Arzt zu Arzt, um ihnen möglichst viele von diesen Medikamenten zu verkaufen. Um als Vertreter Erfolg zu haben, brauchte er Menschenkenntnis und die hatte Dirk van Kombast. Und dieser Mensch kam ihm merkwürdig vor, ein Verkaufsgespräch mit ihm wäre sicher heikel. Er sah noch mal auf den Laster. Speditionska stand da. Dirk van Kombast hatte nicht nur Menschenkenntnis – er kannte sich auch mit Fremdsprachen sehr gut aus. Speditionska klang eindeutig italienisch, vermutlich war es sogar ein sizilianischer Dialekt. Er kombinierte und schloss messerscharf: Dieser Mann konnte ein gesuchter Mafioso sein, der in Deutschland untertauchen wollte!

„Gott, ist das toll hier – und dieses Haus sieht aus wie eine romantische Villa! Das spitze Dach, die süßen blauen Fensterläden, der bunte Garten und guck mal, Mihai, wie schön sich der knallgelbe Schmetterling da gegen das dunkle Efeu abhebt“, hörte Dirk van Kombast die Frau begeistert rufen.

Vielleicht waren die beiden auch gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Das würde die Blässe des Mannes und die Begeisterung der Frau für einen Schmetterling erklären. Dirk van Kombast sah, wie der Mann die Frau an sich zog und ihr zuraunte: „So schön wie du!“

Heißblütig war er also, wie alle Südländer. Herr van Kombast fühlte sich in seiner Mafia-Theorie bestätigt und blickte vorsichtig über die Hecke.

„Aufwachen, Fledermäuschen. Wir sind daha!“, rief die Frau jetzt.

Fledermäuschen? Dirk van Kombast hörte es im Inneren des Lasters rumpeln.

„Mein Hut, Fumpfs. Du liegst auf meinem Hut!“, ertönte die Stimme eines Mädchens.

„Was? Wie? Mach doch nicht so ’nen Stress“, brummelte ein anderes gähnend, vermutlich das, das Fumpfs hieß.

„Aber wir sind da!“, antwortete das erste Mädchen und stieg aus.

Wieder war Dirk van Kombast sehr überrascht, ob angenehm konnte er diesmal aber nicht sagen. Denn dieses Mädchen kleidete sich sehr speziell, zu speziell für seinen Geschmack. Sie trug mehrere geblümte Röcke übereinander, viele bunte Ketten und Armbänder und einen großen Sonnenhut. Das Mädchen war kostümiert wie für ein Bühnenstück und verkündete dann auch theatralisch: „Ich liebe Deutschland! Daka, komm raus! Es ist voll super hier! Übelst schön.“

Daka? Fumpfs? Was waren denn das für absonderliche Namen?, fragte sich Dirk van Kombast. Süditalienisch klangen die eigentlich nicht.

Dann kletterte das Fumpfs-Daka-Mädchen aus dem Laster und hielt sich, nicht weniger dramatisch als das Mädchen mit dem Rock, die Hände vors Gesicht: „Uah! Aaah! Sonne!“

Sie war genauso blass wie der Mann und schien eine Anhängerin dieser schwarzen Gestalten zu sein, die sich nachts auf Friedhöfen Gedichte vorlasen. Mit düsterem Blick sah sie sich um. Auf ihrer schwarzen Lederjacke steckte ein Button mit einem Totenkopf, ihre roten Strumpfhosen waren zerrissen und darüber trug sie kurze, zerfranste Hosen. Am auffälligsten aber waren ihre Haare. Sie waren rabenschwarz und erinnerten Dirk van Kombast an den Seeigel, in den er bei seinem letzten Tauchurlaub auf den Malediven getreten war. Fumpfs-Daka weckte keine guten Erinnerungen in ihm. Mafia oder nicht, diese neuen Nachbarn waren alles andere als normal.

Der Meinung schien auch Poldi, der Dackel von Frau Hase, zu sein. Bis zur Ankunft der neuen Nachbarn hatte er stolz seine Pinkelpfütze bewundert und zufrieden an den Kartoffelwurstauflauf gedacht, den sein Frauchen heute für ihn kochen wollte. Doch jetzt lag ihm jeder Gedanke an Futter fern – alle seine struppigen Haare sträubten sich und er witterte, schnupperte und schnüffelte. Diese Gestalten aus dem rostigen Ungeheuer rochen nicht wie Menschen. Die Frau schon, wie die meisten Menschenfrauen duftete sie nach Vanillepuder und Apfelshampoo. Aber diese zwei Mädchen und der schwarze Mann rochen anders. Fast wie ein Knochen, der lange verbuddelt gewesen war. Irgendwie muffig, nach Erde, Asche und ganz entfernt nach rohem Fleisch. Rohes Fleisch war für einen Dackel normalerweise ein Grund zur Freude, nicht aber für so eine alte, erfahrene Spürnase wie Poldi. Poldi witterte Gefahr, tödliche Gefahr!

Aufgeregt wedelte er mit dem Schwanz und flüchtete wild kläffend zu seinem Haus. Zum Glück öffnete sein Frauchen gleich die Tür. Poldi wusste zwar, dass sie nur gebrochen hundisch sprach, dennoch bellte er warnend in Richtung tödliche Gefahr und wieder zu ihr. Sie verstand ihn nicht, versprach aber ein Leckerli, und so zog Poldi den Schwanz ein und tapste hinter ihr her in seinen Flur. Er konnte nur hoffen, dass dieser Patschuli-Typ die Gefahr auch gewittert hatte und sich dem Problem im Lindenweg annahm. Er, Poldi, hatte für heute genug getan. Er musste sich um seine eigene Wurst kümmern.

Dirk van Kombast war weit davon entfernt, einfach in sein Haus zu gehen. Er wollte wissen, mit wem er es ab jetzt zu tun hatte. Notfalls würde er den ersten Schritt wagen und sich vorstellen. Hallo, ich bin Ihr Nachbar, oder so. Ganz normal tun und dann die richtigen Fragen stellen. Van Kombast schaute über seine Hecke. In diesem Moment entdeckte ihn der große Mann und kam mit ausladenden Schritten auf ihn zu. Fast schien es, als schwebte er auf ihn zu.

„Einen wunderschönen guten Tag, Herr …?“

„Äh, van Kombast. Dirk van Kombast“, antwortete Dirk van Kombast und wollte dem Mann gerade die Hand reichen, als ihm dieser mit der Faust auf die Stirn boxte. TOCK!

„Boi motra. Grüßi, Herr van Kombast.“ Der Mann lachte laut.

Aua, dachte Dirk van Kombast und dann: Boi motra? Das klang eigentlich nur entfernt italienisch. Vermutlich wieder dieser sizilianische Dialekt. Er konnte ja nicht ahnen, dass Boi motra vampwanisch war und „Guten Morgen“ hieß. Noch nicht.