Ingrid Möller
Ein Schmetterling aus Surinam
Die Kindheit der Maria Sibylla Merian
ISBN 978-3-95655-579-4 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1995 bei Beltz & Gelberg, Weinheim.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Ein Schmetterling aus Surinam wurde mit dem Peter-Härtling-Preis für Kinder- und Jugendliteratur der Stadt Weinheim ausgezeichnet.
Für meine Enkelinnen Kerstin, Dörte und Anne Mareike.
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Februar 1651
»So halt doch endlich den Kopf still!«
Ungehalten klingt es, fast frostig.
Maria Sibylla zuckt zusammen und starrt wieder hoch zur mittleren Kerze auf dem Messingleuchter, wie ihr großer Bruder Matthäus es ihr befohlen hat. Nicht mucksen darf sie sich, kein Wort sagen, sich nicht rühren. Denn Matthäus malt sie. Schon eine Woche geht das so. Tag für Tag.
Matthäus hat gute Gründe, ungehalten zu sein, denn eigentlich war dieses Familienbild der Merians längst fertig. Vor acht oder neun Jahren schon. Aber dann merkte der Vater, wie seine Kräfte nachließen, und äußerte den Wunsch, dass seine zweite Frau und vor allem sein Nesthäkchen Maria Sibylla einen Platz im Bild haben sollten. Matthäus hat es dem sterbenden Vater versprechen müssen. Und dieses Versprechen löst er jetzt ein, wenn auch widerwillig, denn es bedeutet, dass er den fertigen Bildaufbau zerstören muss. Wegen eines Kindes! Dabei findet er seine kleine Schwester noch nicht einmal hübsch.
Matthäus stöhnt. Heute will ihm die Arbeit überhaupt nicht von der Hand gehen. Seine Gedanken sind nicht bei der Sache. Und Kinder mag er überhaupt am wenigsten malen. Er ist ganz andere Modelle gewöhnt. Hohe Herrschaften. Grafen, Fürsten, sogar Könige. Sie schicken ihm ihre Staatskarossen - aus allen Teilen Europas. Von ihm, Matthäus Merian dem Jüngeren, wollen sie gemalt werden. So wie er sie darstellt, wollen sie der Nachwelt überliefert werden. Ja, er hat einen Namen in der vornehmen Welt, schon jetzt, mit knapp dreißig. Und seitdem der Vater nicht mehr lebt, ist er als ältester Sohn auch verantwortlich für das berühmte Verlagshaus, von dem Einzeldrucke und Bücher in alle Welt gehen. Besonders die vielen, vielen Stadtansichten haben den Namen Merian berühmt gemacht. Und nun diese Pflichtarbeit!
Er tritt einen Schritt zurück von der Staffelei und überblickt noch einmal die Figurenanordnung. Dabei kneift er die Augen zusammen, um das Bild nur im Groben zu sehen. Doch, so müsste es gehen: In der Mitte sitzt der Vater, gewichtig, mit weit ausholender Handbewegung. Er wendet sich ihm zu, seinem Ältesten. Neben ihm die Mutter, auch gewichtig, und dann Caspar, sein jüngerer Bruder. Er reicht einen Druckbogen herüber, womit gesagt wird, dass er vor allem als Kupferstecher wirkt. Dass die Schwestern Susanna Barbara und Margarethe im Hintergrund bleiben, ist in jeder Hinsicht richtig. Vaters zweite Frau wird er an den Bildrand setzen wie eine Magd, das entspricht ganz ihrer Rolle in der Familie. Rechts unten im Bild hat nun Maria Sibylla ihren Platz, aber sie verschwindet fast hinter dem großen Gipskopf des Laokoon.
Matthäus amüsiert sich im Stillen. Das mit dem Gipskopf war eine glänzende Idee. Der allbekannte Kopf aus der Antike zieht die Aufmerksamkeit auf sich und flößt dem Betrachter Respekt ein vor einer Familie, die so auf klassische Bildung hält. Andererseits ist links der Totenschädel nicht zu übersehen, so dass man ihm keinen Hochmut nachsagen kann. Denn jeder weiß, dass der Schädel an die Sterblichkeit aller gemahnen soll.
Maria Sibylla wird der Nacken steif. Wenn sie doch wenigstens das Kinn ein bisschen aufstützen dürfte auf eine Locke dieses kalten Riesenkopfes, den sie so gar nicht leiden mag. Sie kann nicht verstehen, warum sie ihre Arme darum legen muss wie um eine Lieblingspuppe.
»Billa, dein Ohr sitzt schon wieder einen Fingerbreit zu tief!« Matthäus legt den spitzen Pinsel ab, geht zu ihr und dreht ihren Kopf unsanft zurecht. »So. Aber auch so lassen!«
Ob das noch lange dauert? Maria Sibylla wagt nicht zu fragen. Wie still es ist! Fast unheimlich. Und wie schwierig es doch ist, sich überhaupt nicht zu rühren. Caspar, der andere große Bruder, würde ihr das bestimmt nicht antun. Der würde ihr Pausen gönnen und etwas erzählen, damit die Zeit nicht so lang wird.
»Nicht«, tadelt Matthäus schon wieder. »Du darfst doch den Gips nicht zerkratzen!«
Der Arm ist an der Reihe. Wirkt er nicht zu kurz, das Ellbogengelenk nicht zu dick? Wieder blinzelt Matthäus, vergleicht, sieht hin und her zwischen Bild und Modell. Er seufzt. So bald wird er sich nicht wieder darauf einlassen, ein Kind zu malen! Alle Maßverhältnisse sind anders als bei Erwachsenen.
Eingeschüchtert sitzt Maria Sibylla da, den Blick starr auf den Deckenleuchter gerichtet. Nur die Angst vor Matthäus lässt sie noch ausharren.
»Herrje noch mal! Jetzt schielst du!«
Sie schluchzt leise und reißt die Augen weiter auf, den Tränen nahe.
Plötzlich hört sie etwas. Da! Rührt sich nicht etwas in der Ecke, wo der große Schrank steht? Sie horcht. Ja, es ist wie leises Flattern von Schmetterlingsflügeln. Immer deutlicher ist es zu hören. Da vergisst sie alle Furcht vor dem strengen großen Bruder und dreht sich um. Wirklich, auf dem Schubfach sitzt ein leuchtend gelber Falter.
Matthäus verliert die Beherrschung. »Billa! Was ist denn nun in dich gefahren?«
»Schaut doch - ein Sommervöglein!«, sagt sie aufgeregt. Matthäus wendet keinen Blick in die Richtung. »Unsinn!« Er schüttelt den Kopf.
»Doch, es war eben da«, beharrt sie.
Matthäus holt tief Luft und schlägt einen herablassend belehrenden Ton an: »Das sagt doch schon der Name >Sommervöglein<, dass es das im Winter gar nicht geben kann.«
Und doch war es da. Erwachsene sind manchmal seltsam. Immer wollen sie Recht behalten. Maria Sibylla sagt nichts mehr.
»Woher hast du überhaupt dieses Wort: >Sommervöglein<?«, fängt nun Matthäus wieder an.
»Von Vater.«
Natürlich, von wem auch sonst! Der Vater hatte einen Narren an der Kleinen gefressen. Er sprach mit ihr, als ob sie groß und verständig wäre. Er setzte völlig übertriebene Hoffnungen in sie. Es war manchmal nicht mit anzuhören! Einmal ging er so weit zu sagen: »Ganz wird mein Name nicht untergehen, denn es gibt ja Maria Sibylla!« Eine Beleidigung geradezu für die beiden Söhne! Noch jetzt kommt Matthäus bei diesem Gedanken die Galle hoch. Aber man hört ja manchmal, dass alte Leute so kindisch werden, dass sie sich zu Kindern mehr hingezogen fühlen als zu Erwachsenen.
Matthäus versucht, an anderes zu denken. Aber es ist wie verhext: Obgleich der Vater schon ein Dreivierteljahr tot ist, scheint er noch immer der Herr im Haus zu sein.
»Da«, ruft Maria Sibylla leise, »eben müsst Ihr es doch auch gesehen haben!«
Matthäus sieht sich nicht um. Verbissen strichelt er an ihrem türkisblauen Kleid herum, als hätte er nichts gehört.
Für Maria Sibylla aber gibt es nichts Wichtigeres als dieses Sommervöglein. Bestimmt fliegt es auf den Schrank, weil es denkt, dass die Blumen echt sind, die aus bunten Steinen ins Holz gesetzt sind! Woher mag es nur kommen? Eigentlich hat Matthäus schon Recht: Es passt nicht in den Winter.
In ihrer Erinnerung sieht sie die Mainwiesen vor sich, übersät mit bunten Blumen. Und darüber ebenso bunte Schmetterlinge. Keine Frage, dass die Falter aus abgelösten Blütenblättern entstanden sind. Zu gern hätte sie - wenigstens ein einziges Mal! - diesen Umwandlungsvorgang mit angesehen. Sie stand reglos in der Wiese und wartete, aber vergebens. Vielleicht geschah es nachts, ganz heimlich? Sie grübelt angestrengt weiter. Es muss eine gelb blühende Pflanze im Haus geben, aus der dieser Falter wurde ...
»Kannst aufstehen! Genug für heute!«
Fast hätte sie die Aufforderung überhört. Dann aber springt sie auf, sieht sich um, geht langsam auf den Schrank zu. Kein Falter zu sehen!
Matthäus beobachtet sie kopfschüttelnd. Doch dann traut er seinen Augen fast nicht: In einer Nische rührt sich wirklich etwas Gelbes. Schon hat Maria Sibylla es entdeckt und ganz behutsam zwischen ihre hohlen Hände genommen. Sie läuft durchs ganze Haus damit, vorbei am Papierlager, an dem Raum mit den großen Druckerpressen. So eilig hat sie es, dass sie nicht hört, was die Drucker mit den pechschwarzen Händen ihr nachrufen. Zu Caspar will sie, in die Stecherwerkstatt. »Caspar«, ruft sie schon von weitem, »ratet, was ich habe!«
Caspar hält inne, legt den Stichel beiseite und nimmt die Lupe vom Auge. »Billa, du weißt doch ...«
Natürlich weiß sie, dass sie ihn nicht stören und schon gar nicht erschrecken darf, dass ein Strich ganz leicht ausrutschen kann und dass dann die ganze teure Kupferplatte verdorben ist. Sie weiß, dass sie hier nur geduldet wird, wenn sie ganz still zuguckt.
»’tschuldigung, aber es ist wichtig!«
Caspar dreht sich auf dem Hocker um. »Na, dann zeig doch mal.«
Lachend schüttelt sie den Kopf. »Ratet!«
Er sieht auf ihre kleinen Hände. »Eine Feder?«
»Nein!«
»Eine Murmel?«
»Nein!«
»Eine ... Schneeflocke?«
Sie lacht übermütig. »Ganz, ganz falsch!« Sie öffnet die Hände einen winzigen Spaltbreit. »Na?«
»Ein Stofffetzen?«
»Auch nicht! Ihr werdet es nicht raten. Es ist« - sie nimmt die obere Hand weg - »ein Sommervöglein!«
»Ein totes?«
»Nein, vorhin ist es noch geflogen. Am bunten Schrank.«
Bestürzt sieht sie: Es rührt sich wirklich nicht mehr. »Ich hab ihm bestimmt nichts getan«, klagt sie und ist den Tränen nahe. »Es war doch vorhin noch so munter!«
Caspar zieht sie zu sich heran. »Das glaub ich dir gern! Du kannst nichts dafür. Das Sommervöglein hat sich im Kalender geirrt. Es war noch nicht seine Zeit.« Maria Sibylla sieht ihren Bruder mit großen Augen ernsthaft an. Ein bisschen ahnt sie, was er sagen will, aber ganz richtig versteht sie es nicht. Oft reden die Großen in Rätseln. Vielleicht wissen sie auch nicht alles. Woher das Sommervöglein jetzt im Winter kommt, weiß der Bruder wohl auch nicht.
Caspar klemmt sich wieder die Lupe vors Auge und greift zum Handwerkszeug. Maria Sibylla legt den toten Falter auf eine Tischdecke und klettert auf den anderen Hocker. Aufmerksam verfolgt sie, wie Caspar feine Linien Strich für Strich ins Metall ritzt. Hier fällt ihr das Stillsitzen überhaupt nicht schwer. Stundenlang könnte sie zusehen, wie so, ganz allmählich, ein Bild entsteht. Unzählige Male schon hat sie hier gesessen und immer wieder dieselbe Frage gestellt: »Bringt Ihr es mir auch bei, wenn ich Kraft genug dazu habe?« Und jedes Mal hieß die Antwort: »Aber natürlich!«
Eine Abmachung, die so oft bekräftigt wird, gilt. Heimlich befühlt sie ihre Oberarme. »Wenn die Osterglocken blühen, sagt Mutter, werde ich vier.«
»Hm!«
»Ist vier immer noch nicht alt genug?«
Caspar lächelt. »Vier ist zwar schon ganz schön alt, aber noch nicht alt genug. Zum Zeichnen und Malen jedoch reicht es.«
»Das kann ich doch schon«, sagt sie gekränkt.
»Gut genug?«
»Besser als die anderen Kinder, mit denen ich spiele.«
»Das heißt gar nichts. Was man wirklich lernen will, muss man jeden Tag üben - das ganze Leben lang!«
Caspar beugt sich tiefer über seine Arbeit. Er hat Schwierigkeiten mit den Augen. Sie ermüden schnell und immer stärkere Lupen sind nötig. Zudem lässt das Tageslicht früh nach in dieser Jahreszeit. Schon steht die Sonne tief. Ihre schräg fallenden Strahlen funkeln in den grünen Wölbungen der Butzenscheiben.
Fast unhörbar stöhnt Caspar. Er denkt darüber nach, wie viel Arbeit noch auf ihn wartet. Nach dem schrecklichen Krieg, der volle dreißig Jahre gedauert hat, suchen die Menschen Zerstreuung, Unterhaltung und auch Wissen. Sie möchten erfahren, wie es in fremden Ländern zugeht. Deshalb sind die Kupferstiche mit Stadtansichten und Bücher mit Reisebeschreibungen so gefragt.
Was wäre Frankfurt ohne die Messe! Und was wäre der Meriansche Verlag ohne die Messe! Da reisen Leute an aus aller Herren Länder. Und es gibt Kunden, die sich auskennen und ganz bestimmte Bücher aus dem Merianschen Verlag suchen. Sie dürfen nicht enttäuscht werden. Es darf nicht heißen: Nun, wo der alte Merian tot ist, geht es bergab mit dem Verlag. Da kann Caspar wenig Rücksicht auf die Augen nehmen. Doch jetzt brennen sie zu sehr. Er sieht die Striche schon doppelt.
»Du hast ja noch gar nicht in den Papierkorb gesehen«, sagt er wie nebenbei.
Maria Sibylla rutscht vom Hocker und stürzt zum Papierkorb. Dass sie den vergessen hat! Das muss wohl am Sommervöglein liegen. Sie kippt den Korb aus und sammelt Fetzen für Fetzen wieder ein. Notizen stehen darauf, die sie nicht lesen kann, Skizzen, Entwürfe. Zettel mit leeren Flächen legt sie beiseite. Damit lässt sich noch viel anfangen. Der Papierkorb ist wie eine Wundertüte. Voller Überraschungen.
»Oh!« Ganz verzückt legt sie einen Papierfetzen vor sich hin und streicht die Knitterfalten glatt. »Ist die aber schön!«
Der schwache Abdruck einer Blüte ist zu sehen, einer Tulpe. Ein Probeabzug aus dem großen Blumenbuch des Großvaters Theodor de Bry. Vor neun Jahren haben sie es neu gedruckt. Nicht zufällig geriet es in die Abfälle. Caspar sorgt immer dafür, dass Maria Sibylla etwas findet, woran sie sich freut.
»Kann ich das wirklich haben?«
Caspar nickt. Beglückt drückt sie das Blatt an sich und bringt es zu ihren anderen verborgenen Schätzen.
Sommer 1651
»Bil-la! ... Bil-la!«
Rief da nicht jemand? War das nicht die Stimme der Mutter? Maria Sibylla hebt den Kopf, horcht einen Augenblick lang und vertieft sich dann wieder in ihre Tätigkeit.
Es war wohl doch nichts. Das Haus ist groß. Viele Menschen gehen ein und aus und reden laut miteinander. Und auch die Nachbarhäuser stehen dicht aneinander geschmiegt und kommen sich über Straßen und Gässchen hinweg mit jedem Stockwerk näher. Manchmal kommt ein Stadtreiter und misst mit der Lanze nach, ob sie sich auch nicht über das zulässige Maß hinaus nahe kommen. Wegen der Brandgefahr.
Auch viele andere Geräusche dringen hierher in die Mainzer Straße: das Läuten der Betglocken vom Karmeliterkloster, die Ruderschläge der Boote auf dem Main, das Kreischen der Kräne und Winden an den Speicherhäusern, die Rufe der Straßenhändler, Kindergeschrei, Hundegekläff, Pferdegewieher, Hufgetrappel, Viehgebrüll. Da kann man sich leicht verhören. Erst recht auf dem Dachboden, in der abgelegenen Kammer. Hier nämlich hockt Maria Sibylla über ihren geheimen Schätzen. Hierher bringt sie alles, was sie nach und nach in der Werkstatt bei Caspar erbeutet. Papierfetzen. Farbreste. Abgewetzte Borstenpinsel. Zerbrochene Kohlestifte. Auch angeschlagene Gefäße. Schon jetzt fehlt fast nichts, was zu einer richtigen Werkstatt gehört.
Vor ihr liegt das Blatt mit dem schwachen Abdruck einer Tulpenblüte. Ein halbes Jahr lang hat sie es gehütet, bis sie endlich die richtige Farbe dafür aufgetrieben hat: Rot. Ein helles, leuchtendes, flammendes Rot.
Schon rührt sie mit dem nassen Pinsel auf der Tuschfarbe herum. Auf gar keinen Fall darf sie jetzt klecksen!
Nun müsste die Farbe genug gelöst sein. Ganz langsam und vorsichtig setzt sie den Pinsel an den linken Rand der Tulpenblüte und zieht den Umriss nach innen nach. O ja! Das leuchtet! Das sticht in die Augen! Maria Sibylla hält vor Entzücken die Luft an.
»Sibylla!«
Das ist nun wirklich nicht zu überhören. Die Mutter! Wenn sie den Namen vollständig sagt, ist es immer ernst. Ausgerechnet jetzt! Vor Schreck beißt Maria Sibylla sich auf die Unterlippe, dem Weinen nahe. Einen Augenblick kämpft sie mit sich. Soll sie den Ruf nicht einfach überhören? Aber wenn die Mutter sie suchen und hier finden würde - gar nicht auszudenken!
Hastig stülpt Maria Sibylla einen Karton über das noch nasse Papierstück. Sicher ist sicher. Auch wenn nur ganz selten mal jemand hierher kommt.
Leise huscht sie aus der Kammer, die Treppe hinunter.
»Du meine Güte, Sibylla! Wo kriechst du nur wieder herum? Wie sieht dein schönes Kleid schon wieder aus!«
Seufzend klopft und streicht die Mutter an ihr herum. »Wie soll aus dir nur jemals ein ordentlicher Mensch werden? Begreifst du denn gar nicht, was sich für ein gesittetes Mädchen gehört?«
Stumm und scheinbar schuldbewusst steht Maria Sibylla da und lässt alles mit sich geschehen. Wie schade, denkt sie die ganze Zeit, dass sie mich ausgerechnet jetzt gestört hat!
Maria Sibylla seufzt. Gerade so, als ob sie ihre Mutter nachäffen wollte. Die sieht sie streng an. Doch nein, widerborstig scheint das Mädchen nicht zu sein. Schlau wird man aus diesem Kind ja nie.
»Komm mit in die Küche, Billa, Erbsen auspahlen!«
Das hört sich friedlich an, aber Maria Sibylla mag die düstere Küche nicht. Sie erschrickt auch bei dem Gedanken, wie lange es dauern wird, bis sie wieder in die Dachkammer laufen kann.
»Darf ich das nicht im Geräms tun?«
Im Geräms, dem umgitterten Balkon, scheint wenigstens die Sonne. Und man kann sehen, was draußen los ist. Außerdem blüht dort der rosa Oleander im Kübel.
Die Mutter zögert. Sie weiß wohl, wie viel unterhaltsamer es im Geräms wäre. Aber Pflicht ist Pflicht!
»Nein«, sagt sie. »Es ist mir lieber, wenn Leni ein Auge auf dich hat.«
Also muss Maria Sibylla doch in die düstere Küche. Die Magd hat klare Anweisungen. Sie schiebt ihr einen Fußschemel zurecht. »Da, hock dich hin.«
Gehorsam setzt sich Maria Sibylla. Sie nimmt die Schüssel mit den Erbsen auf den Schoß und versucht, die Schoten zu öffnen. Es geht schwer. Und immer kullern und hopsen Erbsen über den Rand. Ewig wird das dauern!
Ihre Gedanken wandern die Wendeltreppe hinauf in die Bodenkammer. Bestimmt ist die rote Farbe schon angetrocknet und hat hässliche Ränder auf der Blüte gebildet! Auf dieser Blüte, die bestimmt wunderschön geworden wäre, wenn ...
Auf einmal kann Maria Sibylla die Erbsen nicht mehr deutlich sehen. Alles schwimmt vor ihren Augen. Tränen tropfen auf die Erbsen.
»Oje!«, erbarmt sich Leni. »So schwer ist es doch gar nicht, Mädchen. Guck - so!« Und sie zeigt ihr, wie sie auf die Spitze der Schote drücken muss, damit sie aufspringt.
Sie meint es gut mit ihr, aber was hilft das, wenn Maria Sibylla doch ganz andere Nöte hat! Die Tränen fließen nur umso heftiger. Alles wäre anders, wenn der Vater noch lebte! Dann müsste sie sich nicht in der Bodenkammer verstecken und heimlich tun, was ihr wichtiger ist als alles andere. Er würde nicht zulassen, dass sie Erbsen auspahlen muss, während ihr eine Zeichnung verdirbt!
Wie hat er sich immer gefreut und ihr übers Haar gestrichen, wenn sie fragte, was auf den Kupferstichen zu sehen war. Und was auch immer sie aufs Papier kritzelte, er wusste es zu deuten. Und manches Mal sagte er: »Sibylla, meine Kleine, wenn du erst groß bist ...«
Die Mutter aber möchte ganz anderes. Sie möchte, dass ihre Tochter ihr gleicht und nichts will als eine gute Hausfrau werden. Hausfrau und Mutter. Alles andere sind Flausen, die ausgetrieben werden müssen.