Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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Alle Namen, Personen und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten sind nicht beabsichtigt oder wären reiner Zufall.

Titelfoto: Monty - Jan 2011 (© Udo Gremler)

© 2015 Holger Effnert

2. Auflage: Februar 2016

3. Auflage: Februar 2017

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7392-6505-6

Niemand kann für eine Sache kämpfen ohne sich Feinde zu schaffen

(Friedrich Engels: Entwurf zur Grabrede für Karl Marx, 1883.)

Inhaltsverzeichnis

  1. Die Geburt
  2. Vier Freunde
  3. Igor Toschenko
  4. Tiermarkt
  5. Beobachtet
  6. Der Tierarzt
  7. ein neues Zuhause
  8. Die Kinder Igor und Vitali
  9. Die Transporte
  10. Uninteressant
  11. Der eiskalte Engel
  12. Die Vermehrerin
  13. Die Informatikerin
  14. Deckrüde
  15. Die Tierschutz-Orga
  16. Die Planung
  17. Das erste Auge
  18. Tierquäler
  19. Spionage
  20. Im Tierheim
  21. Gegenwehr
  22. Hradec
  23. Warnschuss
  24. Rache

1. Die Geburt

Das Grollen übertönte immer wieder das Rauschen der Laubbäume, und die Wolken am Himmel, die mit letzter Kraft die unvorstellbare Energie in ihrem Inneren zurückhielten, ließen erahnen, was sie in absehbarer Zeit auf die Erde entladen würden. Normalerweise würde man zu dieser Uhrzeit Vogelgezwitscher hören, aber an diesem Juni-Nachmittag hat das aufkommende Gewitter jegliche Tiere verstummen lassen. Lediglich ein paar klappernde Fensterläden eines alten Gehöfts unterbrachen das monotone Konzert von Wind und Wetter.

Eine alte Holzscheune, die trotzig den Naturgewalten der letzten Jahre standhielt, lag etwas abseits von Stall und Wohnhaus. Diese gemauerten Gebäude waren zwar nicht so heruntergekommen wie die Scheune, sahen jedoch auch nicht sehr einladend aus.

Die einzigen Tiere, die man im Moment auf diesem alten Bauernhof im tschechischen Dörfchen Chodov wahrnahm, waren sechs Schweine, die lethargisch vor dem Stall in ihrem Gehege im Schlamm lagen.

Als der Wind einen Flügel des Scheunentores aufriss, konnte man neben Zellen mit Gittertüren auch einen schmalen Tisch sehen, der von einer Hängelampe beleuchtet wurde. Die am Tisch stehende Frau, war mit einem schäbigen Kittel bekleidet, und das verschwitzte Kopftuch ließ erahnen, wie es um die Frisur darunter bestellt war. Immer wieder strich sie über den bebenden Hundekörper, der auf dem Tisch lag. Es würde der fünfte Wurf werden, den die Hündin in ihren drei kurzen Lebensjahren zu ertragen hatte. Das Ergebnis des letzten Wurfs war so miserabel, dass der Bauer die Mopshündin schon loswerden wollte.

Die Geburt der Hundewelpen begann mit einem Krachen, als der Blitz wenige hundert Meter entfernt in einen Baum einschlug. Die Hündin blieb regungslos liegen und schenkte vier kleinen Geschöpfen das Leben, während sie unvermindert weiter hechelte.

Nachdem die Frau alle Welpen genau betrachtet hatte, stand sie nun mit geschlossenen Augen da. Sie musste einige Male durchatmen und dieser eine Satz schoss ihr wie eine springende Schallplatte durch den Kopf: „Nicht schon wieder, nicht schon wieder.“ Die Bäuerin wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete nun, wie die Mopshündin ihre Welpen sauber leckte.

Nachdem die Frau die Hündin versorgt hatte, brachte sie sie mit ihren Jungen zurück in eine der Zellen und säuberte den Tisch. Das blutige Wasser, das von dem Tisch tropfte, wurde vom trockenen Scheunenboden rasch aufgesogen. Im Gesicht der Bäuerin, das mit tiefen Furchen gezeichnet war, erkannte man nur Gram. Sie stützte sich auf dem Tisch ab, schaute zu den Neugeborenen und ignorierte das Knurren der Hündin, die schon wusste, was ihr nun bevorstand.

Von den vier Welpen, die an den Zitzen der Hündin fleißig am saugen waren, riss sie drei brutal hinweg. Es waren die drei beigen Mopswelpen, deren verkrüppelte Gliedmaßen ihr Todesurteil bedeuteten. Die Hündin versuchte sich aufzurappeln, war aber viel zu geschwächt und konnte ihren Kindern nur noch traurig hinterherschauen, als diese von dem Menschen in Richtung Wohnhaus fortgetragen wurden.

Sie warf den Schweinen die fiependen Welpen vor. Von Lethargie war bei den Schweinen nichts mehr zu sehen und vom Fiepen der Welpen bald nichts mehr zu hören.

Als die Bäuerin das Wohnhaus betrat, ignorierte sie den Blick ihres Mannes. Sie wusch ihre Hände und goss sich anschließend einen Kaffee ein. Nachdem sie die Tasse geleert hatte, ging sie zurück zur Haustür, der Blick des Mannes immer noch auf sie gerichtet. Kurz bevor die Tür ins Schloss fiel, sagte sie: „Es ist diesmal nur ein Schwarzer“.

2. Vier Freunde

Während Tina Bassman ihren Burger auf dem Tablett hin und her schob, beobachtete sie das ungleiche Pärchen zwei Tische weiter. Sie wusste genau, was da gleich passierte, aber sie wollte es mit eigenen Augen sehen. Tags zuvor bekam sie die Info, dass das Schnellrestaurant ein beliebter Übergabepunkt bei Hundehändlern ist. Sie konnte gar nicht glauben, dass hier neben Fast Food auch Hundewelpen serviert wurden. Der junge Mann, Anfang zwanzig, mit Kapuzenshirt und löchriger Jeans, schob der elegant gekleideten Frau dreihundert Euro hinüber. Die Frau, vielleicht Ende vierzig, übergab daraufhin eine weite Tasche, in der eine Pappkiste verstaut war. Es fielen zwischen Käufer und Verkäuferin nicht viele Worte, die Tina auf die Entfernung sowieso nicht verstanden hätte. Aber sie sah, dass die Frau einen blauen Hunde-Pass übergab und sich ein wenig über das Desinteresse ihres Gegenübers ärgerte. Der junge Bengel ignorierte nun die Verkäuferin gänzlich und versuchte, einen vorsichtigen Blick in den Karton zu werfen. Zum Vorschein kam ein kleiner beiger Kopf mit schwarzen Ohren, der schüchtern über den Rand schaute und ängstlich winselte.

Nicht nur Tina richtete ihren Blick in diesem Moment auf den anderen Tisch. Auch andere Gäste des Schnellrestaurants wurden auf die Übergabe des Mopswelpen aufmerksam. Die Frau stand rasch auf, bedachte den Mann mit einem missbilligenden Blick, zischte etwas mit osteuropäischem Akzent und verschwand. Verstehen konnte er das Verhalten nicht, letztendlich war es dem jungen Mann aber egal. Das war jetzt sein Hund. Mit glänzenden Augen schaute der neue Mopsbesitzer in die Runde und verkündete: „Das ist Killer.“

*

Als Ben Bremer von der Autobahn auf den Parkplatz auffuhr, fiel ihm der rote Kombi sofort auf. Ein paar Kilometer vorher überholte ihn genau dieser Wagen auf der rechten Spur. Auf der Rückbank saß ein großer Hund und schaute zu ihm herüber. Klasse, jetzt eine Vollbremsung und der Hund geht durch die Frontscheibe, dachte Ben. Der Kombi stand auf der linken Seite der Parkplatzeinfahrt. Wie kann man nur so dämlich parken, dachte er sich. Fünfzig Meter weiter sind alle Parkbuchten frei, und der muss sich direkt in die Einfahrt stellen. Er passierte den Wagen und sah, wie der Fahrer mit einem Dalmatiner-Mischling zwischen PKW und Leitplanke stand.

Ben steuerte eine Parkbucht an und stieg aus, um sich die Füße zu vertreten. Vor allem musste er sich erleichtern. Vor dem Eingang des Toilettenhäuschens blieb er stehen und überlegte kurz: Oder doch besser das Gebüsch? Ben hasste diese Klohäuser und noch viel mehr hasste er ihre Türgriffe. Der Gedanke an diese, konnte bei ihm in kürzester Zeit einen Herpes sprießen lassen. Kurz entschlossen ging er zum nächstliegenden Gebüsch und urinierte in die Natur. Der rote Wagen fuhr wieder an ihm vorbei. Ben schaute über die linke Schulter, und sein Blick traf den des Mannes im Kombi. „Blödmann“. Das Wort rutsche Ben ungewollt raus und war mehr gedacht als gesprochen. Dann streifte ihn ein Gedanke. Irgendwas passte da gerade nicht. Irgendwas fehlte da. Intuitiv riss er seinen Kopf nach rechts, und da sah er ihn, angebunden an der Leitplanke. „Dreckschwein“. Diesmal war das Wort mehr geschrien als gesprochen.

*

Torben Braun stand am Waldweg und schaute hinunter ins Gestrüpp. Eigentlich könnte man darüber grinsen, wie dieser durchtrainierte Hüne in seinem Muskelshirt dastand. Kahlrasierter Kopf und auf einen Meter und neunzig alle Muskelpartien extrem ausgeprägt. Die Oberarme des 28-Jährigen könnten es vom Umfang locker mit den Oberschenkeln so manch eines anderen aufnehmen. Auf diesen imposanten Armen hielt er eine beige Mopsdame und kraulte sie gedankenverloren. Schaute man ihm ins Gesicht, verging einem jedoch das Grinsen. Mit starren Augen liefen dem Mann dicke Tränen über die Wangen. Sein Blick war auf einen Labrador Welpen gerichtet, der ganz still im Gebüsch lag. Der Großteil seines Fells war der Demodexmilbe zum Opfer gefallen. Angebunden an einem Baumstamm lag er mit aufgerissenen Augen am Boden. Leben war nicht mehr zu erkennen. Das wurde dem Hund genommen, als man ihn mit zugebundener Schnauze der Junisonne überließ. Ein krankes Tier, entsorgt wie der kaputte Kühlschrank, der nur wenige Schritte daneben lag.

*

Luna führte die Tätowiermaschine gekonnt über Torbens Rücken. Hier fühlte er sich wohl. Seit Jahren schon besuchte er diese Frau, die gerne zur 68er Generation gehören würde. Allerdings war sie mit ihren knapp vierzig Jahren zu dem Zeitpunkt nicht einmal geplant. Luna betrieb ihr Tattoo-Studio in einem Anbau des elterlichen Hofes in der Nähe von Kassel. Ihr Bruder, der das Anwesen führte, stellte ihr Gebäude und Land zur Verfügung. Dort konnte sie gleich zwei Träume verwirklichen. Das Studio und einen komplett eingezäunten Bereich, der es ihr ermöglichte, Pflegehunde aufzunehmen. Luna war schon lange Mitglied einer Gemeinschaft von Hundefreunden, die als Tierschutzorganisation in Not geratene oder nicht mehr gewollte Tiere aufnahm, medizinisch versorgte und wieder aufpäppelte. Diese Tiere leben dann erst einmal in einer Pflegestelle, wie Luna sie ist. Findet sich dann ein passender Interessent, der auch die Vorkontrolle eines Fachmanns übersteht, wechselt der Hund zu seinem hoffentlich letzten Besitzer.

Torben kam vor gut zehn Jahren als erster in den Genuss, von Luna ein Tattoo gestochen zu bekommen. Sehr zum Verdruss seiner Eltern, die ihm als einzigem Kind eine anständige Bankkaufmannskarriere zugedacht hatten. Und dazu gehörten definitiv keine Tätowierungen. Seine Eskapaden kompensierte er immer wieder mit der Erfüllung von „Parents Dreams“. So nannte er die Erwartungen und Träume seiner Eltern. Sehr gutes Abitur, Studium an einer ausgewählten Universität und und und. Dafür stand ihm ein Teil von Papas Kapital zur Verfügung. Den nutzte Torben jedoch zum Teil für Besuche bei Luna. Und so schloss sich der Kreis.

Von Luna hatte er auch seine kleine Mopsdame Ohara. Erklären konnte er den Namen niemandem. Er wollte halt was Ausgefallenes. Für Luna war der Einsatz als Pflegestelle für Nothunde eine Herzensangelegenheit. Über ihr Engagement machte sie nie viel Tamtam. Allerdings entlud sich ihre Wut über die immense Einfuhr von billigen Vermehrerhunden immer heftiger. Und viel schlimmer waren die ignoranten Abnehmer, die ein vermeintliches Schnäppchen mit horrenden Tierarztrechnungen bezahlen mussten, oder aber sich der Tiere auf schändlichste Weise entledigten. Die Erlebnisse, die ihr Torben oder aber auch ihr Mann Ben schildert, waren nur die Spitze des Eisberges.

„In Göttingen öffnet wieder ein „Peters Pet-Shop“, grummelte sie. „Mit reichlich Welpen der gängigsten Rassen.“ Torben ballte die Fäuste. „Na Super, und zig Dumme, die dort kaufen werden.“ Ihm war klar, dass er einer von denen sein wird, die vor dem Geschäft demonstrieren würden. Torben war regelmäßig bei Aktionen wie dieser dabei, allerdings ist das seiner Meinung nach nur ein Schuss ins Leere. Die Tageszeitung wird auf Seite → einen kurzen Bericht bringen und am nächsten Tag spricht keiner mehr drüber. Aber alleine stellt man nicht so viel auf die Beine, als wenn man ein paar Gleichgesinnte an der Seite hat. Aber wen? Luna kümmerte sich zwar hingebungsvoll um die armen Geschöpfe, die man in ihre Obhut gab, aber sie hatte nicht genug Mut. Bloß nichts Verbotenes. Ihr Mann Ben war da schon aus anderem Holz geschnitzt. Er sieht zwar mit seinem unrasierten Gesicht und den zotteligen schulterlangen Locken verwahrlost und unmotiviert aus, aber wenn er in Fahrt war, hielt ihn so schnell nichts auf. Mittlerweile war Luna mit dem Tattoo auf Torbens Wade fertig, und während er sich von ihr verabschiedete, waren seine Gedanken schon bei der Demo.

*

Gut vierzig Tierfreunde versammelten sich vor der Tierhandlung und ließen ihrem Unmut freien Lauf. Schmähgesänge und Plakate ließen viele Passanten in der Göttinger Fußgängerzone aufmerksam werden. Auch die Polizeipräsenz tat ihren Teil dazu. Die ersten Handgreiflichkeiten gab es, als die Polizei zwei Demonstranten aus dem Eingangsbereich des Ladens entfernen musste. Eigentlich geht so etwas friedlich vonstatten, da aber die Beamten die beiden jungen Leute im Polizeigriff wegzerrten, wurde die Stimmung hitziger und die ersten Feuerzeuge flogen. Daraufhin wurde das Aufgebot der Staatsmacht erhöht und auch Videokameras wurden nun eingesetzt. Die Ladentür ging auf und beim Verlassen der ersten Kunden mit einem Welpen konterten vierzig Augenpaare die wütenden Blicke des Vaters, die peinlich berührten Blicke der Mutter und die total verängstigten Blicke des Jungen. Als das gellende Pfeifkonzert noch weiter anschwoll, drängte ein Großteil der Einsatzkräfte die Demonstranten zurück. Torben, der ein paar Reihen weiter hinten stand, bekam aus dem Augenwinkel mit, wie sich einige seine Mitstreiter Sturmhauben überzogen und nach vorne drängten. Dabei stießen sie eine junge Frau zu Boden, die mit dem Kopf hart aufschlug, und während über ihr die Chaoten und die Polizisten aufeinander losgingen, kauerte sie benommen auf dem Asphalt. Das Geschrei nahm die Frau nur wie ein Rauschen wahr. Zwischen den vielen Beinen um sich herum sah sie einen Mann auf allen vieren kommen. Ungeachtet der Hiebe, die Torben währendessen abbekam, packte er die junge Frau an den Schultern, drehte sie auf den Rücken und zog sie aus der Gefahrenzone. Der Menschenmasse entkommen, stand er auf, nahm die Verletzte in den Arm und verließ die Szenerie.

In einer Seitenstraße am Ende der Fußgängerzone stand sein silbergrauer Lexus. Er setzte die zitternde Frau auf den Beifahrersitz und machte sich mit dem Erste-Hilfe-Paket aus dem Kofferraum an der Kopfverletzung zu schaffen. Mit einem Lächeln bemerkte er, dass die Box schon seit drei Jahren abgelaufen war. Auf die Frage, was das dümmliche Grinsen solle, antwortete er nur mit seinem Namen. „Ich heiße Torben“. Sie schaute schmollend zur Seite. Wieder haben ein paar Idioten die ganze Demo zerstört und die Tierschützer in den Augen der Passanten als anarchistische Chaoten dargestellt. „Ich bin Tina“.

*

Der rote Fleck, der sich auf Tinas weißer Hose in Kniehöhe befand, war inzwischen auf Handflächengröße angewachsen. Er ließ drauf schließen, dass da noch mehr zu verarzten war. Da ein Krankenhaus für Tina überhaupt nicht in Frage kam, schlug Torben vor, eine gute Freundin aufzusuchen, die ganz in der Nähe wohnen würde. Er erzählte ein wenig von Luna und als Tina ihr OK gab, fuhren sie langsam in Richtung Hauptstraße. Immer noch kamen ihnen Einsatzwagen der Polizei entgegen, die auf dem Weg zur Tierhandlung waren.

Während der Fahrt wollte kein vernünftiges Gespräch zwischen den beiden zustande kommen und so war Torben froh, als sie ihr Ziel erreicht hatten. Dort saß Luna auf ihrer blauen Holzbank, die neben dem Eingang zum Tattoo-Studio stand und rauchte genüsslich eine Zigarette, gedankenversunken wie immer, wenn sie hier die Geräusche der Natur aufsog. Das abrupte Abbremsen des Lexus gut zwei Meter vor ihren Füßen ließ sie wieder in die Realität zurückfinden. Luna hasste diese blöde Angewohnheit von Torben. Sie wollte schon ihren Standardspruch loslassen, bemerkte dann aber die Beifahrerin und schaute mit einem leichten Grinsen zu Torben hinüber. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich aber schlagartig, als Tina den Wagen verließ. Beim Aussteigen fiel die blutverschmierte weiße Hose sofort auf und Luna führte die Verletzte ins Haus.

Während die beiden Frauen im Bad Tinas Wunden gründlich versorgten, setzte Torben einen Tee auf. Kaffee war nicht so ganz sein Fall. Nicht nur das unterschied ihn von Luna. Er war Nichtraucher, während Luna die Glimmstängel geradezu fraß. Nachdenklich stand er vor dem Küchenfenster und lauschte unbewusst den Schilderungen über die Aktionen in Göttingen, die Tina auf sehr energische Weise im Bad vortrug. Im Grunde hörte er gar nicht richtig hin. Torben war auf Standby und starrte nur vor sich hin. Alle Worte, die sein Ohr vernahm, verloren sich kurz hinter der Hörmuschel. Erst als Ben mit seinem Wohnmobil auf den Hof fuhr, erwachte er aus seiner Lethargie. Wie immer mit zerzausten Haaren, sprang Ben heraus und eilte hastig zur Wohnungstür. Ein Lächeln huschte über Torbens Gesicht. Die erste Tür flog zu und der Knall der zweiten Tür, der Toilettentür, wurde von einem entsetzten Schrei ersetzt. „LUNA!“ Dass da eine attraktive fremde Frau, nur mit Slip und Shirt bekleidet stand, schien Ben überhaupt nicht zu interessieren, er musste dringend auf die Toilette. Und während er wie ein kleines Kind von einem auf das andere Bein tänzelte, packte Luna die immer noch erschrockene Tina samt ihrer Hose und verließ das Bad. „Wir sind eh fertig“. In der Küche hörte man Torben herzhaft lachen.

Ben und der Tee waren fast zeitgleich fertig und die Männer gesellten sich zu den Frauen, die es sich draußen auf der blauen Bank bequem gemacht hatten. Jede hatte einen von Lunas Pflegehunden auf dem Schoss. Synchron kraulten sie deren kurzes dichtes Fell, sodass das genussvolle Grunzen der kleinen Vierbeiner im Einklang mit den Geräuschen der Natur war. In Kurzform wurde Ben über den Tag in Göttingen informiert und alle Vier steigerten sich in ihre Wut und Enttäuschung über so viel Dummheit und Geldgier hinein. Jeder konnte zig Beispiele und Erlebnisse von Tiermisshandlungen und vor allem von Vermehrern, Tierhändlern und naiven Käufern vortragen. Dann brach eine angespannte Stille aus, die selbst das typische Grunzen der Möpse verstummen ließen. Vier menschliche Augenpaare flogen unruhig von Einem zum Anderen.

Als Torben plötzlich und kraftvoll das Wort ergriff, zuckten die drei anderen zusammen. Selbst die Möpse sprangen von den Schößen und flohen in den Garten. „Wir müssen uns organisieren und denen mal empfindlich in den Arsch treten.“ Luna nickte erschrocken und auch Ben bestätigte Torbens Aussage mit der gleichen Kopfbewegung. Allerdings eher kampfbereit als erschrocken. „Ja, wir werden diese Hunde befreien“, unterstrich er seine Geste mit Worten. Tina sprang auf. „Wir sind die Frydoks.“

*

Tina und Torben fuhren zurück nach Göttingen. Eigentlich hätte Tina auch von Kassel zurück nach Nürnberg fahren können. Da die Beiden aber noch einmal bei „Peters Pet-Shop“ vorbeischauen wollten, würde sie anschließend von Göttingen aus die Heimreise antreten.

Torben parkte seinen Lexus wieder an der gleichen Stelle wie am Mittag. Um zum Bahnhof zu kommen, mussten sie durch die Fußgängerzone gehen, und dort lag ja auch ihr eigentliches Ziel, die Tierhandlung. Die Demonstration war kurz nach Beginn der Krawalle aufgelöst worden. Der Sachschaden hielt sich in Grenzen und ein paar Bedienstete der Stadtreinigung stellten den Ursprungszustand wieder her. „Peters Pet-Shop“ hatte für heute geschlossen. Nichts erinnerte an die Ausschreitungen, die noch vor einigen Stunden hier stattgefunden hatten.

Es dämmerte schon, und Torben bestand darauf, Tina noch bis zum Bahnhof zu begleiten. Als nächstes musste Torben zu seinen Eltern. Dort brachte er immer seine kleine Mopshündin Ohara unter, wenn er zu diversen Aktionen unterwegs war. Seine Eltern liebten die kleine Mopsdame, gab sie Torben doch so eine friedliche Note als Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung.

Da es mittlerweile dunkel war, nahm er von den drei Personen in der Seitengasse nur die Konturen wahr. Anhand der Stimmen wusste er, dass zwei Männer mit einer Frau stritten. Die Worte waren nicht laut, doch die der Männer klangen drohend und die der Frau verzweifelt. Nachdem Torben die Seitengasse passiert hatte, blieb er im nächsten Hauseingang stehen und lauschte. Scheinbar schuldete die junge Frau den Männern Geld, und da sie dieses wohl nicht aufbringen konnte, hatten die beiden Kerle kurzerhand den Hund der Frau gekidnappt. Sie drohten ihr, dem Hund etwas anzutun, wenn sie nicht bald mit der Kohle rüberkommen würde. Dann verschwanden die beiden Gestalten. Die schluchzende Frau kam jetzt direkt in den Hauseingang, in dem Torben stand, und erschrak. Ihre Blicke verharrten etliche Sekunden aufeinander, bis Torben sich wortlos an ihr vorbei auf die Straße drängte und den beiden Typen folgte. Er hatte die Männer recht schnell eingeholt, blieb aber stets weit genug entfernt, um seinerseits nicht entdeckt zu werden. Die Wortwahl des kleinen Dicken sowie die des großen Dünnen, als auch die Ideen, wie sie mit der Frau und dem Hund weiter vorgehen wollten, entsprachen dem Charakter zweier Psychopaten oder dem Gedankengut von zwei gemeingefährlichen Erwachsenen.

Das ungleiche Pärchen wechselte die Straßenseite und betrat ein vierstöckiges Stadthaus aus den 50ern. Das frisch gestrichene Gebäude stach zwischen den anderen herunter gekommenen Häusern regelrecht hervor. Torben blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete die Fenster. Im zweiten Stock auf der linken Hausseite ging Licht an. Nun überquerte auch Torben die Straße. Er eilte die Treppen bis zur Wohnung der beiden Kerle hinauf und klopfte. Der große Dünne, der die Tür öffnete, war höchstens Anfang zwanzig. Seinem dümmlichen Blick folgte ein lang gezogenes und fragendes „Jaaaaa“. Was für harte Kerle. Torben wollte schon nach den Eltern fragen und verkniff sich ein Grinsen. Er sagte nur trocken „Der Hund“. Ehe die Tür ruckartig geschlossen werden konnte, stand sein Fuß dazwischen und er betrat die Wohnung.