Stevani Fuhlrott mit Christiane Hagn

WENN MICH JEMAND SUCHT –
ICH BIN IM KÜHLSCHRANK

Mein fettes Leben in 30 Diäten

Ein Mutmachbuch

IMPRESSUM

Für meine Mutter
Ich liebe Dich

VORWORT

»Through humor, you can soften
some of the worst blows that life delivers.

And once you find laughter, no matter how painful
your situation might be, you can survive it.«

Bill Cosby

Zwei Frauen treffen sich auf einem Abitreffen ihres Jahrgangs. Sie haben sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Zu Schulzeiten waren sie die besten Freundinnen. Gemeinsam frischen sie ihre Erinnerungen auf.

»Weißt du noch damals, als wir im Skiurlaub waren und du so schrecklich in diesen Jens verknallt warst?«

»Na klar!«, lacht die andere. »Wie könnte ich das vergessen? Wegen diesem Kerl bin ich später durch die Fahrprüfung gefallen. Der stand ausgerechnet an dieser einen Ampel und knutschte mit der blonden Kuh aus der Parallelklasse. Warst du damals nicht mit ihrem Bruder zusammen?«

»Ach ja! Christian! Sogar bis kurz vor dem Abi, aber dann habe ich mich in den schönen Klaus verliebt. Mann, war das eine Granate!«

Ich erspare uns den weiteren Verlauf dieses Gesprächs. Vermutlich folgte nach Klaus Tom, nach Tom Tim und so weiter bis hin zu Jerry und Co.

Ich habe dieses Phänomen oft beobachtet, dass man – oder vielleicht eher frau – sich sehr häufig in Form von Lebensabschnittsgefährten ihres Lebens erinnert. Das ist so eine Art weibliche Zeitrechnung. »War das vor oder nach Tom?« Das ist eine wichtige Frage, denn vor Tom war alles andere als nach Tom, weil nach Tom wiederum vor Tim war. Sie verstehen …

Bei mir ist das etwas anders. Ich erinnere mich nicht in Form von Lebensabschnittsgefährten. Und zwar nicht etwa deshalb, weil es ­keine gegeben hätte. Die gab es schon. Allerdings gab es in meinem Leben immer etwas, das mir wichtiger war als Männer. Ich erinnere mich meines Lebens in Form von Diäten.

Leider meine ich damit nicht Diäten im Sinne von finanzieller Entschädigung. Ich spreche von Diäten, die (idealerweise) zur Gewichtsabnahme führen.

Träfe ich eine Freundin aus alten Zeiten, würden wir vermutlich folgendes Gespräch führen:

»Weißt du noch damals, als wir im Skiurlaub waren?«

»Nee, da war ich doch nicht dabei. Ich und Sport? Ich hätte es vermutlich nicht mal zum Skilift geschafft.«

»Ach ja ... Aber erinnerst du dich noch an meine Party zum 16. Geburtstag?«

»Ja klar, die vergesse ich bestimmt nicht. Ich fühlte mich wirklich fehl am Platz. Ich hatte diesen roten ›Sack‹ an, dessen korrupter Reißverschluss mir mitten in der Nacht auf dem Klo geplatzt ist. Und das, obwohl ich da gerade die Kohlsuppendiät gemacht habe. Gemeinheit! Ihr fandet das allerdings alle ziemlich komisch.«

»Oh! Aber die Jahresfeier der Firma, die war richtig gut. An dem Abend hab ich Peter zum ersten Mal geküsst. Und jetzt sind wir seit fast zwanzig Jahren verheiratet.«

»An die Feier kann ich mich nur dunkel erinnern. Ich habe den ganzen Abend lang in einer Ecke auf dem Hof gestanden und gekotzt, während der Hund des Hausmeisters mir dabei Gesellschaft geleistet hat. Ich glaube, ich habe gerade die Atkins-Diät gemacht und mich ausschließlich von Alkohol ernährt. Mann, ich hatte wochenlang Sodbrennen, war aber – bis auf dieses Kotz-Intermezzo – ziemlich lustig unterwegs.«

Und so weiter und so fort. Mein Leben bestand von meinem fünften bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr hauptsächlich aus Diäten. Seit ich denken kann, war ich zu dick. Meine ganze Familie ist dick. Richtig dick. Na gut: fett. Alle sind fett. Zumindest die Familienmitglieder, die noch am Leben sind. Und die anderen? Die sind an Fettleibigkeit gestorben. Nur heißt das dann anders: Herzversagen, Schlaganfall oder Lungenembolie. Also, entweder tot oder fett – so sind wir. Auch ich, Stevani. Die kleine, dicke Stevani. Damals wie heute. Na ja, nicht ganz. Ich bin immer noch klein. Ich bin immer noch Stevani. Ich bin dieselbe. Nur: Ich bin nicht mehr fett. Zugegeben, ich bin sogar ein ziemlich heißer Feger. Und der war ich schon immer. Eigentlich. Aber jetzt kann man das auch sehen.

Wie das kam? Das ist die Geschichte einer langen, kalorienreichen, nervenaufreibenden, verzweifelten Hunger- und Durststrecke – dabei hätte es so einfach sein können …

»SAG MAL, WURDE ICH SCHON DICK
GEBOREN?«

Gewicht: 3.968 Gramm

Gefühlslage: Suche neuen Schutzengel –
meiner ist jetzt schon mit den Nerven am Ende!

Schon meine ersten Erinnerungen an mein Leben sind mit Übergewicht verbunden. Allerdings ist das schwer nachzuprüfen, denn seltsamerweise existieren von mir so gut wie keine Kinderfotos. Nur vom Karneval – und da ging ich als Pilz, versteckt in einem für mich sehr vorteilhaften Ganzkörper-Schaumstoffkostüm. Mögliche Erklärungen für das mangelnde Bild-Beweismaterial über meine ersten Lebensjahre könnten folgende sein:

A) Paderborn wurde kurzfristig von außerirdischen Lebensformen besiedelt, die alle Kameras zwecks Fortpflanzungskatalogisierung entwendeten. (Ich glaube, unser Nachbarsjunge wurde in dieser Zeit geboren!)

B) Es gab einen Hausbrand, der alle zärtlichen fotografischen Erinnerungen an mich zerstört hat. Dabei gerieten vermutlich auch alle Kochbücher mit Rezepten für gesunde Mahlzeiten ins Feuer.

C) Meine Eltern waren so verliebt in ihr Speckbärchen, dass sie keine Zeit damit verschwendeten, überflüssiges Bildmaterial zu generieren.

Habe ich einen Telefonjoker? Ich glaube, ich will die Antwort besser nicht wissen …

Meine Karriere als »das etwas andere Kind« begann bereits mit drei Jahren. Mein damaliges Hauptnahrungsmittel: Biene-Maja-Eis bis zum Erbrechen. Leider auch einmal in den Cowboyhut meines Kindergartenkollegen, womit ich schon früh meinen einzigen Freund verlor. Jungs können so nachtragend sein! Nach diesem Kotz-Intermezzo (»Die Dicke hat sich überfressen!«) beschloss ich, einfach nie wieder in den Kindergarten zu gehen. Ja, ich hatte mit drei Jahren schon eine sehr eigene Vorstellung von meiner Karriereplanung. Und der Kindergarten gehörte von da an nicht mehr dazu. Die freie Zeit, die ich dadurch gewann, nutzte ich sinnvoll. Nämlich dazu, meine Oma an der Küchenzeile festzubinden und sie mit Kindertränen zu zwingen, ununterbrochen Vanillepudding für mich zu kochen. Mit Schokosoße – ist doch klar!

Aber diese selbst gewählte Freizeitgestaltung und damit einhergehende Ernährungsumstellung zeigte rasend schnell Wirkung. Als der Schlüpfer im Sommer immer enger wurde, entledigte ich mich seiner einfach. Es ließ sich auch wunderbar nackt durch den Garten flitzen und im Sandkasten buddeln. Daran konnte ich nichts Außergewöhnliches finden, schließlich hatte ich seit meinem selbst gewählten Kindergartenaustritt keinen Kontakt und damit auch keinen Vergleich zu anderen, gleichaltrigen Kindern mehr. Und so war die Zeit zwischen meinem dritten und fünften Lebensjahr vermutlich meine glücklichste, da unbeschwerteste. Keine gemeinen Kinder, kein Mobbing. Nur ich und meine Pudding kochende Omi. Was für ein Schlaraffenland!

Doch mit den Brüsten kam das Schamgefühl. Denn dieses Paradies wurde jäh zerstört, als die Nachbarskinder begannen, mir aufzulauern, um mich kichernd in meine kleinen Specktittchen zu kneifen. Sie wunderten sich arg, warum sie so etwas nicht hatten – wo sie doch älter waren als ich, die kleine, dicke fünfjährige Stevani. Ja, ja, die Welt kann so ungerecht sein. Immerhin konnte ich sie zum Lachen bringen. Positiv denken lernte ich schon früh.

Irgendwann wurde auch meinen Eltern klar, dass sie mich nicht für immer im Garten oder in Pilzkostümen verstecken konnten. Ich war fast sechs Jahre alt und die Einschulung stand unmittelbar bevor. Also beschlossen sie, mich noch schnell auf Kur zu schicken. Vielleicht verliert die kleine Stevani ja dort noch ein bis zehn Kilo, bevor es losgeht.

Wie es sich für ein ungeselliges, übergewichtiges fünf Jahre altes Mädchen anfühlt, für ein paar Wochen allein von zu Hause weg­geschickt zu werden, darüber haben sich meine Eltern wohl keine Gedanken gemacht. Ich fühlte mich wie Gretel, die in den Wald geschickt wurde. Nur ohne Hänsel. Und ohne Brotkrumen – die hätte ich bestimmt selbst gegessen. Noch dazu war ich so dick, dass mich die böse Hexe bestimmt sofort in ihren Ofen gesteckt hätte. Lecker Speck-kind! Ob ich mir noch ein dünnes Holzstöckchen hätte einstecken sollen? Survival-Tricks à la Gebrüder Grimm …

Besonders schwer fiel es mir in dieser Zeit, mich von meinem Opa zu verabschieden. Denn ich war ein absolutes Opakind, wie die Verwandtschaft immer betonte. Und da hatten sie ausnahmsweise mal recht: Ich vergötterte meinen Opa. Und irgendwie ahnte ich wohl, dass es ihm nicht gut ging. Ich wollte unbedingt zu Hause bleiben, bei Opa! Aber meine Eltern waren unerbittlich. Sie waren sich zum ersten und vermutlich auch zum letzten Mal wirklich einig: Stevani muss an die Nordsee! Ausgerechnet die Nordsee! Ich bekomme heute noch Depressionen, wenn ich mir bei Nordsee nur ein Fischbrötchen hole.

Meine Abspeckkur war das reinste Desaster. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Höllenängste (vor allem wegen der bösen Hexe) und noch dazu schreckliches Heimweh und Sehnsucht nach Opi. Ich vermisste es, mit ihm durch den Garten zu flitzen (okay, er flitzte, ich rollte), Unkraut zu jäten und Bohnen zu pflanzen. Mein Opa liebte seinen Garten und brachte mir alles bei, was ich heute über Gartenarbeit weiß. Auch, dass man bereits geernteten und gewaschenen Spinat nicht wieder im Sandkasten eingräbt. Ich wollte so schnell wie möglich zurück, um zu sehen, ob aus den vergrabenen Apfelkernen tatsächlich ein Bäumchen geworden war.

Aber ich konnte nicht weg. Ich saß fest. Und das Einzige, was mich bis dahin immer hatte trösten können, gab es nicht: leckeres Essen. Zum Frühstück bekam ich Salzwasser und Pfefferminztee (würg). Erst wenn das restlos ausgetrunken (oder unauffällig in die Topfpflanzen geschüttet) war, gab es »Frühstück«. Und was man da unter Frühstück verstand, hatte nichts mit den Lebensmitteln zu tun, die ich kannte. Es gab Grünzeug und Vollkornbrot. Da hätte ich ja noch lieber Weinbergschnecken gegessen.

Natürlich war ich, wie immer, die Außenseiterin und meine ungeschickten Versuche, mich mit den anderen Kindern anzufreunden, endeten oft damit, dass irgendwer heulte. Meistens nicht ich, aber Schuld hatte ich immer. Mir fehlte einfach die Übung, was soziale Kontakte betraf, und gegen Geld Spielsachen zu verleihen, führte nicht gerade zu Freundschaftsangeboten.

Ich war sozial inkompetent, hungrig, ängstlich, einsam, traurig und wütend, wurde krank und bekam hohes Fieber. Die Betreuer schickten mich nach nur zehn Tagen wieder nach Hause. Ihre Begründung: Heimweh. Das hätten wir wirklich abkürzen können.

Zu Hause angekommen, war mir klar, warum ich so dringend von der Bildfläche hatte verschwinden sollen. Man hatte geahnt, dass Opas letztes Stündlein bald schlagen würde. Ich kam zu spät und war um die Chance betrogen worden, mich von meinem geliebten Opa verabschieden zu können. Er starb mit nur 63 Jahren nach drei Herzinfarkten. Und für mich ging damit nicht nur der bis dahin wichtigste Mensch aus meinem Leben, sondern auch eine wesentliche Informationsquelle verloren, die ich später gern zu verschiedenen Themen befragt hätte, wie zum Beispiel: »Du, Opa, ist Papa wirklich das Kind der Krankenschwester?«

WAS MICH NICHT UMBRINGT,
FRESS ICH AUF!

Gewicht: 28 Kilo

Gefühlslage: Erwachsen werden?
Ohne mich!

Mit sechs Jahren war es vorbei, ob ich wollte oder nicht. Ich musste raus an die Front, weg vom heimischen Vanillepuddingherd. Ich wurde eingeschult. Stephanus-Grundschule Paderborn. Erstaunlich, aber dieses Ereignis lief ohne Zwischenfall ab. Vielleicht weil an diesem Tag ein anderes Kind die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, als es sich vor Aufregung in die Hose pinkelte. Vielleicht aber blieb ich auch nur deshalb an diesem einen Tag unbemerkt und damit verschont, weil ich mich erfolgreich hinter meiner überdimensional großen Schultüte (prall gefüllt mit Süßigkeiten) versteckte und einen karierten Pullover trug. So kam wenigstens niemand auf die Idee, mich für einen Wal zu halten und wieder zurück ins Wasser zu ziehen.

Aber bereits am zweiten Tag war es mit der Schonzeit vorbei. Meine Mitschüler hänselten mich nicht nur, weil ich speckig war, sondern auch – oder gerade –, weil ich immer noch in der Obhut meiner Oma war.

Ja, meine Eltern waren schwer beschäftigt. Meistens aber nicht mit mir. Und meine Oma mästete mich nicht nur mit Pudding, sondern zog mich auch an wie ihre holländischen Puppen, von denen sie einige fast lebensgroße Exemplare hatte. Ich hasste Puppen im Allgemeinen und diese unheimlichen Gestalten im Besonderen, die überall in der Wohnung verteilt waren und mich aus allen Ecken mit ihren unbeweglichen Glupschaugen anstarrten. Ich für meinen Teil spielte lieber mit Masters of the Universe-Figuren oder Lego. Und wenn Oma nicht aufpasste, schnitt ich den Puppen gern mal die Haare. Ihr Outfit bestand aus geschmacklosen Rüschenkleidern und bunten holländischen Trachten. Meines auch. Es gab kein Entkommen. Oma war gnadenlos, nicht nur, was meinen Kleidungsstil betraf. So zwang sie mich auch im Freibad immer in das Schwimmbecken, das so niedrig war, dass ich es nie schaffte, mich komplett darin zu verstecken. Irgendetwas schaute immer raus: Bauch oder Po. Und mein hochroter Kopf. Aber Oma hatte kein Verständnis für mein Schamgefühl. Schließlich hatte sie selbst keins. Falls mal keine Toilette in der Nähe war, machte Oma halt Pipi auf ein öffentlich einsehbares Blumenbeet – gern auch mitten in der Stadt.

So schlimm das klingt, das war noch nicht das Schlimmste. Denn Oma zog mich nicht nur an wie einen Zirkusclown, sondern betreute auch meine Hausaufgaben. Zunächst fand ich das ganz toll. Sie machte meine Hausaufgaben, während ich Pudding aß. Oma hatte wirklich eine wunderschöne Handschrift. Und so viel Fantasie. Aber leider keine Ahnung von Rechtschreibung oder Grammatik, dem Einmaleins oder Heimat- und Sachkunde. Meine Lehrerin sprach mich vor der versammelten Klasse auf meine Fehler an und ich gab kleinlaut Omas Devise zum Besten: »Hauptsache, es ist schön geschrieben!« Daraufhin brachen dreißig Kinder in schallendes Gelächter aus und ich bekam im Alter von sechs Jahren meinen ersten Tinnitus.

Auch mit der Pünktlichkeit nahm es meine Oma nicht so genau. War Schulbeginn nun um acht oder doch erst um zehn Uhr?

»Ach, ich fahr dich, sobald der Kuchen aus dem Ofen ist. Ein­verstanden?«

Ganz ehrlich? Wer hätte da Nein sagen können?

Dafür brachte sie mich dann auch bis vor das Klassenzimmer, öffnete die Tür und sagte: »Och, guck mal, die sind ja alle schon da!«

Ich sag nur: Tinnitus, der zweite.

Trotz allem liebte ich meine Omi über alles. Denn langweilig wurde es mit ihr nie!

Meine Eltern bekamen natürlich mit, dass das mit dem Kind in der Schule nicht besonders gut lief. Allerdings, wie immer, nur am Rande. Denn meine Mutter war dauerkrank und selten zu Hause. Und ­natürlich war ich schuld, denn seit meiner Geburt hatte sie ziemliche Nierenprobleme. Zudem bekam sie Magengeschwüre wie andere Leute Pickel.

Und Papa?

Darf ich vorstellen – mein Vater Otto, seines Zeichens Charmeur und Schwerenöter. Ich nehme an, die Ehe mit meiner Mutter war ihm einfach zu langweilig, denn der liebe Otto war sehr abenteuerlustig und sprunghaft. Nur in wenigen Dingen war er immer sehr zuverlässig: im Trinken, Lügen und Betrügen. Stand ein neues Motorrad vor der Tür, gab es immer auch eine neue Affäre dazu. So viel war sicher.

Mama war also im Krankenhaus und Papa hatte – im wahrsten Sinne des Wortes – freie Fahrt. Und er genoss seine Freiheit! Einziger Wermutstropfen: Er musste sich um mich kümmern. Autsch! Motorradtouren mit wechselnden Liebhaberinnen und einem unbeweglichen kleinen Mädchen? Das passt nicht zusammen, könnte man meinen. Doch weit gefehlt! Denn »geht nicht«, das gab’s bei Papa nicht. Gerade was seine Freizeitgestaltung anging, war er durchaus kreativ – einer seiner wenigen angenehmen Wesenszüge, die er mir vererbt hat. Stevani wurde also aufs Moped geschnallt und los ging’s: ab in die Kneipe! Dort angekommen, gab er mir fünf Mark und setzte mich vor die Spielautomaten. Ich glaube, es war Glücksspiel. Zumindest freute ich mich immer, wenn drei gleiche Kirschenpaare erschienen. Währenddessen turtelte er mit seiner neuen Liebe, der Wirtin. Wie praktisch war das denn?

Okay, ich war dick und komisch, aber nicht blöd. Natürlich roch ich den Braten. Ich wusste nie genau, was da lief. Aber dass was ganz schön faul war, das war mir klar. Doch wie man sich vorstellen kann, war es damals relativ einfach, mich zu bestechen.

»Papa, ich sag’s Mama!«

»Und wenn ich dir noch mal fünf Mark gebe?«

»Nein! Ich will zu Mama!«

»Okay, noch ’ne Limo und ein Eis?«

»Zwei Eis! Und fünf Mark!«

Schön, ich gab nach. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt oder einer gewissen Anzahl an Eiskugeln. Außerdem verbat ich mir Tätscheleien jeglicher Art und biss zu, wenn die jeweilige Dame versuchte, mir in die Wange zu kneifen. Schließlich hatte ich auch meinen Stolz.

Manchmal kam Papas »Damenbesuch« auch zu uns nach Hause. Mama war meistens im Krankenhaus und ich, wenn ich Glück hatte, bei Oma. Aber nicht immer. Und einer dieser Tage endete zumindest für mich unter dem Esstisch. Ich musste mich nämlich aus der Gefahrenzone in Sicherheit bringen. Denn was Papa auf dem Esstisch mit der Wirtin machte, das musste er meiner frühzeitig aus dem Krankenhaus entlassenen Mutter dann doch selbst erklären.

»Ich wollte nur ein Bier trinken gehen und dann, dann ist sie, äh, mir was dazwischengekommen.«

Ja, auch Otto verließ im entscheidenden Moment die Kreativität so manches Mal.

Aufgrund dieser und sicherlich auch einiger anderer Situationen (von denen ich dank Oma – Puppenklamotten hin oder her – nicht alle mitbekam) trennten sich meine Eltern, als ich sieben war. Damit schieden sich die Wege unserer kleinen Familie. Omi zog samt ihrer holländischen Puppenlegion in eine eigene Wohnung nach Benhausen und mein Vater kaufte eine Bruchbude von Haus in Neuenbeken. Ich blieb bei Mama.

Wir zogen in eine kleine Wohnung im ersten Stock eines Mehr­familienhauses in einem Randgebiet von Paderborn. Ja, Randgebiet Paderborn. Das war fies – einfach so weg aus der Metropole. Es war unglaublich langweilig dort. Ja, schlimmer geht immer. Oder: Was mich nicht umbringt, fress ich auf.

Neuer Ort, neue Schule, neue Hänseleien … Die Erfolgsbilanz meines ersten Schultages: 17 Gesichter, die mich belächelten, acht, die mich ignorierten, 15 neue Schimpfworte gelernt, zwei neue Spitznamen bekommen (»Kuheuter« und »Eisentitte« – ja, meine Brüste waren für ein siebenjähriges Mädchen riesengroß und knüppelhart;
Wegbandagieren hatte ich versucht, war aber gescheitert). Zudem war mir ein Zahn ausgeschlagen worden.

Mama meinte: »Hätte schlimmer kommen können.«

Und ich fürchte, da hatte sie ausnahmsweise mal recht.

Was Opa wohl dazu gesagt hätte? Wahrscheinlich: »Stevi, wenn du dich ärgerst oder traurig bist, mach ’ne Faust! Das hilft immer!«

Eine altbewährte Kriegsweisheit, nehme ich an.

Ich wurde dicker und dicker. Vielleicht hätte irgendjemand meiner Mutter sagen müssen, dass ein Tiefkühllieferant als ausschließlicher Ernährer nicht gesund sein kann. Auch dann nicht, wenn dieser Lieferant »Hausmannskost« heißt. Aber Die Super Nanny gab es damals noch nicht. Schokolade schon. Gibt’s eigentlich noch Pommes, Mutti?

Statt der Super Nanny zog sehr bald die jüngere Schwester meiner Mutter zu uns: meine Tante Helga. Denn so oft, wie meine Mutter im Krankenhaus war, wäre ich sonst schon mit sieben Jahren Alleinversorgerin geworden. Rückblickend wäre das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen. Denn leider war Tante Helga, die auf der Couch im Wohnzimmer schlief, schwere Alkoholikerin. Dass etwas nicht stimmte, merkten wir erst, als Mama einen Schluck aus Helgas »Mineralwasserflasche« nahm, um ihn unmittelbar danach im hohen Bogen durch das Wohnzimmer zu spucken. Verrückt! Es schien, als könnte meine Tante aus Wasser Korn machen. Halleluja!

Und so kam es, dass auch mein Tantchen sehr oft weg war. Mal auf Kneipen-, mal auf Entzugskur. Dann passte Oma auf oder ich wurde zu den Nachbarn abgeschoben. Bei denen war ich wirklich gern. Da durfte ich nämlich so viel fernsehen, wie ich nur wollte. Ich sah Knight Rider, das A-Team oder Ein Colt für alle Fälle. Außerdem entwickelte ich eine überraschende Leidenschaft für Wrestling und verliebte mich ein bisschen in Hulk Hogan. Ich fand seine Haare toll. Vielleicht begann ich deshalb später, meine Haare auch zu blondieren. Oder wegen Barbie. Da bin ich mir jetzt nicht mehr sicher.

Neben den männlichen Superhelden bewunderte ich Pippi Langstrumpf über alles, sie war mein großes Vorbild. Pippi und ich, wir wohnten beide allein. Doch im Gegensatz zu mir fand Pippi immer eine Lösung und war so stark, dass sie den bösen Jungs einfach ein paar auf die Zwölf geben konnte, wenn es sein musste. Ich wäre gern so wie sie gewesen: stark, reich, schlank … unbeschwert.

Während ich also Stunden vor dem Fernseher verbrachte und mich in andere Leben träumte, vernaschte ich ordentlich viel Zeug. Denn natürlich hatte ich auch bei den Nachbarn schon bald den Süßigkeitenschrank entdeckt, dessen Inhalt ich großzügig mit der Katze teilte. Ich liebte dieses Fellknäuel, das sich immer an mein Bein schmiegte und dabei wonnig schnurrte. Auch wenn mir ein gepunktetes Pferd und ein Affe, so wie bei Pippi, noch lieber gewesen wären. Aber bei uns zu Hause waren Tiere nun mal strengstens verboten. Der Vermieter war dagegen und Mutti auch. Sie sei allergisch gegen diese Biester, meinte sie. Daher waren die Stunden bei den Nachbarn, das Fernsehen und vor allem das Kuscheln mit dem Kätzchen mein absolutes Alltags-Highlight. Da hatte mich jemand lieb und zeigte es mir auch. Ich fühlte mich sauwohl. Es war ein bisschen wie Urlaub vom Leben.

Doch wie das so ist, geht jeder Urlaub mal zu Ende. Und oft erwartet einen nach der Rückkehr eine böse Überraschung. In meinem Fall war es kein Wasserrohrbruch oder unangenehmer Behördenbrief. Es war meine gerade zurückgekehrte Tante Helga, die bewegungslos auf der Couch lag. Egal was wir anstellten, niemand schaffte es, Tante Helga aufzuwecken, denn sie war tot.

Trotz dieses tragischen Ereignisses denke ich auch heute noch oft und gern an meine Tante Helga zurück – wenn auch mit einer Träne im Knopfloch. Denn sie war damals genauso alt wie ich heute: 37 Jahre.