Die Philosophie der Neuzeit 3

Teil 1

Kritische Philosophie
von Kant bis Schopenhauer

Von Wolfgang Röd

 

Geschichte der Philosophie

Herausgegeben von Wolfgang Röd

Band IX, 1

 

Verlag C.H.Beck München

 


 

Zur Reihe

In der vierzehnbändigen Geschichte der Philosophie stellen namhafte Philosophiehistoriker die Entwicklung des abendländischen Denkens durch alle Epochen bis zur Gegenwart einführend und allgemeinverständlich dar.

Das Gesamtwerk

Geschichte der Philosophie. In 14 Bänden. Herausgegeben von Wolfgang Röd

Band I: Die Philosophie der Antike 1: Von Thales bis Demokrit
Von Wolfgang Röd
3., überarbeitete und aktualisierte Auflage. 2009. 275 Seiten. Broschiert

Band II: Die Philosophie der Antike 2: Sophistik und Sokratik. Plato und Aristoteles
Von Andreas Graeser
2., überarbeitete und erweiterte Auflage. 1993. 389 Seiten. Broschiert

Band III: Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skepsis
Von Malte Hossenfelder
2., aktualisierte Auflage. 1995. 254 Seiten. Broschiert

Band IV: Die Philosophie der ausgehenden Antike und des frühen Mittelalters
Von Wolfgang L. Gombocz
1997. 513 Seiten. Broschiert

Band V: Die Philosophie des Hoch- und Spätmittelalters
Von Theo Kobusch
2011. 655 Seiten. Broschiert

Band VII: Die Philosophie der Neuzeit 1: Von Francis Bacon bis Spinoza
Von Wolfgang Röd
2., verbesserte und ergänzte Auflage. 1999. 336 Seiten. Broschiert

Band VIII: Die Philosophie der Neuzeit 2: Von Newton bis Rousseau
Von Wolfgang Röd
1984. 498 Seiten. Broschiert

Band IX,2: Die Philosophie der Neuzeit 3, Zweiter Teil
Klassische Deutsche Philosophie von Fichte bis Hegel
Von Walter Jaeschke und Andreas Arndt
2013. 320 Seiten. Broschiert

Band X: Die Philosophie der Neuzeit 4
Positivismus, Sozialismus und Spiritualismus im 19. Jahrhundert
Von Stefano Poggi und Wolfgang Röd
1989. 360 Seiten. Broschiert

Band XII: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 2
Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie
Von Helmut Holzhey und Wolfgang Röd
2004. 400 Seiten. Broschiert

Band XIII: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3
Lebensphilosophie und Existenzphilosophie
Von Rainer Thurnher, Wolfgang Röd und Heinrich Schmidinger
2002. 431 Seiten. Broschiert

Folgende Bände sind in Vorbereitung:
Band VI: Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance
Band XI: Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 1: Die analytische Tradition
Band XIV: Die Philosophie der neuesten Zeit: Hermeneutik, Frankfurter Schule, Strukturalismus, Analytische Philosophie

Zum Buch

Die Kantische Philosophie stellt eine Wende in der Geschichte des neuzeitlichen Denkens dar. Kant beanspruchte mit Recht, sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie revolutioniert zu haben. Neben Kant, seinen wichtigsten Schriften und seiner kritischen Methode stellt der Band auch die bedeutendsten Anhänger und Kritiker Kants im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert vor, darunter Reinhold, Schiller, Jacobi und Herder. Ein dritter Teil gilt den selbständigen Vertretern des kritischen Denkens mit einem besonderen Blick auf die Philosophie Schopenhauers.

Über den Autor

Wolfgang Röd war bis zu seiner Emeritierung Ordinarius für Philosophie am Philosophischen Institut der Universität Innsbruck und ist Herausgeber und Autor der bei C.H.Beck erscheinenden Reihe „Geschichte der Philosophie“. Von ihm sind darüber hinaus lieferbar: Dialektische Philosophie der Neuzeit (21986), Erfahrung und Reflexion (1991), Der Weg der Philosophie (2 Bände, 22008/09), Der Gott der reinen Vernunft (2009).

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

  I. Immanuel Kant

  1. Leben und Werke

a) Die wichtigsten biographischen Daten

b) Kants sog. vorkritische Schriften

c) Die kritischen Hauptwerke

d) Kants Schriften nach 1790

  2. Kants Philosophie vor 1770

  3. Die Kritik der reinen Vernunft

a) Die Methode der „Kritik“

b) Die Transzendentale Ästhetik

c) Die Transzendentale Analytik

d) Die Transzendentale Dialektik

  4. Die Ethik

a) Kants Ethik in den sechziger Jahren

b) Die Methode der Kantischen Ethik

c) Prinzipien des sittlichen Sollens

d) Freiheit und Würde der Person

e) Die Dialektik der reinen praktischen Vernunft

f) Tugenden und Tugendpflichten

  5. Die Kritik der Urteilskraft

a) Die Funktion der Urteilskraft

b) Die Lehre vom Schönen

c) Die Lehre vom Erhabenen

d) Urteilskraft und Teleologie

  6. Metaphysik der Natur und die Spätform der Transzendentalphilosophie

a) Die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften

b) Naturphilosophie im Opus postumum

c) Transzendentalphilosophie im Opus postumum

  7. Rechts- und Staatslehre

a) Die Rechtslehre

b) Die Staatslehre

  8. Die Religionsphilosophie

a) Kants religionsphilosophische Schriften

b) Der vernünftige Glaube

c) Das radikale Böse

d) Die Kirche und der Kirchenglaube

e) Schriftauslegung im Licht der Moral

f) Der Charakter von Kants Religionsphilosophie

  9. Die Anthropologie

10. Die Geschichtsphilosophie

a) Der Fortschritt der Menschheit

b) Fortschritt in der Philosophie

 II. Anhänger und Kritiker Kants im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert

  1. Frühe Vertreter des Kantianismus

a) Reinhold

b) Beck

c) Krug

d) Schiller

  2. Kritiker des Kantianismus

a) Jacobi

b) Bardili

c) Schulze

d) Maimon

e) Herder

III. Selbständige Vertreter des kritischen Denkens

  1. Herbart

a) Die Methode der Philosophie

b) Die Theorie der Realen

c) Grundgedanken der Psychologie

d) Die praktische Philosophie

  2. Fries

a) Grundgedanken des Kritizismus

b) Die Metaphysik

c) Die Geschichte der Philosophie

d) Die Friessche Schule

  3. Schopenhauer

a) Leben und Werke

b) Die Welt als Vorstellung

c) Die Welt als Wille

d) Die Erlösungslehre

e) Die Grundprobleme der Ethik

f) Die Geschichtsphilosophie

g) Die Auffassung der Metaphysik

  4. Beneke

a) Charakter und Aufgabe der Philosophie

b) Grundgedanken der Metaphysik

c) Die Logik

 

Schlußbemerkungen

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Mit dem vorliegenden ersten Teil von Band IX der „Geschichte der Philosophie“ wird – ebenso wie mit dem bald folgenden zweiten Teil – eine Brücke von den Bänden VII und VIII zu den Bänden Xff. geschlagen. Der ursprünglichen Planung zufolge sollte in Band IX sowohl die Kantische als auch die nachkantische idealistische Philosophie erörtert werden; bald wurde aber klar, daß dieser Themenbereich zu weit ist, als daß er in einem Band angemessen hätte dargestellt werden können. Zugunsten der Teilung von Band IX in zwei Halbbände sprachen jedoch nicht nur äußerliche, sondern auch inhaltliche Erwägungen, vor allem die Überlegung, daß der nachkantische Idealismus einen anderen Charakter hat als die Kritische Philosophie.

Bei der Aufteilung des Stoffs auf zwei Bände ließen sich gewisse Überschneidungen nicht vermeiden. Da bei der Entstehung des nachkantischen Idealismus Bemühungen um die Modifikation der Kantischen Philosophie eine wichtige Rolle spielten, können Philosophen, die, wie Karl Leonhard Reinhold oder Salomon Maimon, vermeintliche Mängel des Kantischen Kritizismus überwinden wollten und damit den Weg zum Idealismus ebneten, einerseits als Fortsetzer und Umbildner der Kantischen Philosophie, andererseits als Wegbereiter des nachkantischen Idealismus betrachtet werden. Das erstere geschieht im vorliegenden, das letztere im folgenden Halbband. Wenn manche Autoren in beiden Teilen von Band IX berücksichtigt werden, handelt es sich somit nicht um bloße Wiederholungen, sondern um einander ergänzende Darstellungen.

Herzlich gedankt sei auch an dieser Stelle Herrn Dr. h. c. Wolfgang Beck, der als Verleger den Anstoß zur Entstehung der vorliegenden „Geschichte der Philosophie“ gegeben und die Arbeit an dem Werk mit anhaltendem Interesse begleitet hat; dem zuständigen Lektor, Herrn Dr. Stefan Bollmann, und Frau Angelika von der Lahr für die sorgfältige Betreuung des Bandes von seiten des Verlags; Herrn Henning Moritz (Magdeburg), der das gesamte Manuskript gründlich durchgesehen, zahlreiche Verbesserungsvorschläge gemacht und die Register erstellt hat; Herrn Professor Reinhard Kleinknecht (Salzburg), der einen Teil des Manuskripts kritisch durchgesehen und wichtige Korrekturen angeregt hat.

Einleitung

Neue philosophische Konzeptionen treten nicht unvermittelt, sondern erst nach einer gewissen Vorbereitungszeit – Heidegger sprach im Hinblick auf den Satz vom Grunde von Inkubationszeit – in vollentwickelter Gestalt auf. Das gilt auch für die Kantische Transzendentalphilosophie, deren Gedanken zum Teil schon geraume Zeit vor Kant bei verschiedenen Denkern ansatzweise vorhanden waren. Es liegt nahe, zur Einführung in die Darstellung der Kantischen Philosophie und der Reaktionen, die sie im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jh. hervorrief, einen Blick auf gewisse den Kantischen Kritizismus vorbereitende bzw. vorwegnehmende Auffassungen im 17. und 18. Jh. zu werfen. Das kann im vorliegenden Zusammenhang allerdings nur skizzenhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit geschehen.

Ungeachtet der Tatsache, daß manche Gedanken Kants da und dort vage antizipiert wurden, stellt die Kantische Philosophie eine Wende in der Geschichte des neuzeitlichen Denkens dar, weil sie nicht nur auf eine Änderung der philosophischen Denkweise hinauslief, sondern diese Änderung zum Ziel hatte und sie systematisch durchführte. Kant beanspruchte mit Recht, sowohl die theoretische als auch die praktische Philosophie revolutioniert zu haben. Die theoretische Philosophie hat nach Kant nicht mehr die Aufgabe, Gegenstände, insbesondere erfahrungsjenseitige Gegenstände, zu erkennen, sondern sie dient dem Ziel, Erkenntnisansprüche, namentlich den mit einzelwissenschaftlichen Sätzen verbundenen Anspruch objektiver Gültigkeit, begreiflich zu machen; in der praktischen Philosophie geht es auf Grund der von Kant eingeleiteten Revolution nicht mehr um die Ableitung von Geboten und Verboten aus der Natur der Dinge oder der Natur des Menschen, sondern um die Bestimmung der Bedingungen, unter denen sich das sittliche Sollen begreiflich machen läßt. Die Kantische Philosophie ist somit einerseits Theorie der Erfahrung, andererseits Theorie der moralischen Pflicht, und in Abhängigkeit hiervon einerseits Metaphysik der Natur, andererseits Metaphysik der Sitten (mit Rechts- und Staatsphilosophie) sowie Ästhetik und Lehre von der Naturteleologie.

Die Wende vom objektbezogenen Philosophieren zur Reflexion auf subjektive Bedingungen der Gegenstandserfahrung und des Bewußtseins unbedingter Verpflichtung wurde durch eine andere Wende ermöglicht, die sich in der frühen Neuzeit anbahnte. Im 17. Jh. sah sich die Philosophie durch die von Galilei, Huygens, Kepler und anderen repräsentierte Naturwissenschaft, die die Naturphilosophie des Mittelalters und der Renaissance verdrängte, zu einer Umorientierung gezwungen. Das Ideal unbedingt gewisser Wirklichkeitserkenntnis, das das metaphysische Denken seit Parmenides (s. Bd. I, Kap. VII) geleitet hatte, schien mit den Mitteln der mathematischen Naturwissenschaft verwirklicht werden zu können – ein Irrtum, wie in der Rückschau festzustellen ist, aber ein für die zeitgenössische Philosophie wichtiger Irrtum, denn er hatte zur Folge, daß Themen, die bisher als genuin philosophisch gegolten hatten, an die Naturwissenschaften abgetreten wurden. Das gilt für die Kosmologie als Teil der speziellen Metaphysik, der die Astronomie den Rang abzulaufen begann, wie für die metaphysische Seelenlehre, deren Ablösung durch die empirische Psychologie bald danach einsetzte. Dieser Rückzug aus Bereichen, die früher als Domäne der Philosophie gegolten hatten, wurde kompensiert durch die Erschließung eines neuen Aufgabenbereichs: Angesichts des für die Naturwissenschaften charakteristischen Erkenntnisanspruchs erhob sich die Frage, ob und inwieweit dieser Anspruch berechtigt sei.

In der theoretischen Philosophie, auf die zunächst geblickt werden soll, kündigte sich die Wende bei Descartes an, der vom Physiker und Mathematiker, der er ursprünglich war, zum Metaphysiker wurde, als er einsah, daß der mit den Grundsätzen der mathematischen Naturwissenschaft (und in Abhängigkeit von ihnen auch mit spezielleren naturwissenschaftlichen Sätzen) verbundene Anspruch objektiver Gültigkeit einer Begründung bedürfe. Physikalische Theorien könnten rein subjektive Konstruktionen sein, denen in der Wirklichkeit selbst nichts entspricht. Der Zweifel an der objektiven Gültigkeit naturwissenschaftlicher Sätze, der den Kern des Cartesianischen methodischen Zweifels bildet, muß im Interesse der Wissenschaft ausgeräumt werden. Das geschieht bei Descartes mit Hilfe einer metaphysischen Theorie, in der, ausgehend von der Gewißheit der Existenz des denkenden Ich, die Existenz Gottes als des absolut vollkommenen und daher auch wahrhaftigen Wesens erschlossen wird. Gott kann den Menschen nicht so geschaffen haben, daß er irrt, wenn er – wie es bei wissenschaftlichen Sätzen der Fall ist – auf Grund klarer und distinkter Ideen urteilt, denn ein solcher Irrtum wäre unvermeidlich und könnte als Irrtum nicht erkannt werden, so daß dem Menschen das Vermögen, Wahres von Falschem zu unterscheiden, abgesprochen werden müßte, was mit Gottes „Wahrhaftigkeit“ nicht zu vereinbaren ist. Gott fungiert bei Descartes somit als Garant der objektiven Gültigkeit der evidenten Urteile, vor allem in der Mathematik und der Physik (s. Bd. VII, Kap. III, 6–7).

Formal ähnlich, wenn auch in inhaltlich verschiedener Weise, haben Leibniz, Spinoza und andere Vertreter der rationalistischen Metaphysik die Objektivität von Urteilen über denkunabhängige Gegenstände zu begründen gesucht: Sie nahmen an, daß Denk- und Seinsordnung einen gemeinsamen Grund hätten – er heiße Gott, absolut unendliche Substanz oder Urmonade – und infolge der Abhängigkeit von diesem einander zugeordnet seien. Der zentrale Gedanke ist bei allen Vertretern der rationalistischen Metaphysik derselbe, nämlich die Annahme, daß es eine umfassende vernünftige Ordnung der Wirklichkeit gebe, in welche die Formen der Dinge ebenso wie die Formen des klaren und distinkten Denkens eingebettet sind. Wegen der Zugehörigkeit zu dieser Ordnung stimmen Denk- und Seinsformen überein. Die rationalistische Metaphysik erweist sich, so gesehen, als Theorie der Erfahrung bzw. der Erkenntnis. Als Theorie der Erfahrung verfolgt sie, wenn auch mit anderen Mitteln, dasselbe Ziel wie Kants theoretische Philosophie: begreiflich zu machen, wie objektiv gültige Urteile, vor allem Urteile der Naturwissenschaft, möglich sind.

Auch Kants kritische Methode wurde im 17. und 18. Jh. antizipiert, nämlich von jenen Philosophen, die der analytischen (regressiven) Methode den Vorzug vor der synthetischen (progressiven) gaben. Bei der Analyse wird von etwas ausgegangen, das als gegeben betrachtet wird, und nach den Bedingungen gefragt, unter denen es gegeben sein kann. Bei der Synthese werden dagegen allgemeine Sätze (Axiome) zugrunde gelegt und aus ihnen Theoreme abgeleitet. Ausdrücklich bezeichnete Descartes die Analyse als die der Metaphysik angemessene Betrachtungsweise. Die synthetische Methode ist seiner Ansicht nach in der Mathematik, nicht aber in der Metaphysik am Platze – eine Auffassung, die auch Kant vertreten hat. Spinoza, Leibniz, Chr. Wolff und andere wollten dagegen die Metaphysik nach synthetischer Methode – ordine geometrico – aufbauen, doch auch bei ihnen finden sich Ansätze der analytischen Betrachtungsweise. Wenn Spinoza das Ziel der Analyse in der reflexiven Erkenntnis des Wissens, in der Idee des Wesens der Idee, erblickte, meinte er eine analytische Theorie der Erfahrung.[1] Auch Leibniz hatte die analytische Methode im Auge, wenn er forderte, Wahrheiten durch Zurückführung auf deren Bedingungen (conditions, requisits) zu begründen. Hat dieses Verfahren Erfolg, kann es zu evidenten Einsichten führen.[2] Mit Hilfe der Analyse soll in der Theorie der Erfahrung begreiflich gemacht werden, daß wir Dinge nicht als bloße Aggregate von Eigenschaften, sondern als Einheiten erfahren. Nach Leibniz wird die Einheit der Dinge nicht vorgefunden, sondern vom Subjekt im Denken erzeugt; unabhängig vom einheitsstiftenden Denken könnte das Ding nicht als Einheit in der Mannigfaltigkeit begriffen werden.[3]

In bezug auf die Methode der Philosophie stand Kant der Cartesianischen Auffassung nahe, doch seine analytische Betrachtungsweise ging in eine andere Richtung; sie zielt auf die Unterscheidung von Form und Inhalt ab, die es Kant möglich machte, die – räumliche, zeitliche und kategoriale – Form auf das Subjekt, den Inhalt (die Empfindungen) auf die Dinge an sich zu beziehen. Mit der Feststellung, daß sich ohne Berücksichtigung des inhaltlichen Moments die Erfahrung von Gegenständen nicht als möglich begreifen lasse, trug Kant der empiristischen Betrachtungsweise Rechnung; mit der Auffassung von Raum, Zeit und Kategorien (wie „Verursachung“) als erfahrungsunabhängiger Anschauungsformen bzw. Begriffe trat er dem empiristischen Reduktionismus entgegen und nahm mit den Vertretern des Rationalismus an, daß es nicht-empirische Begriffe gibt.

Bei Descartes findet sich auch im Ansatz eine Auffassung, die erst Kant mit voller Klarheit vertreten sollte, nämlich die Einsicht in die Rolle, die Urteile in der Erfahrung von Dingen spielen. Die Erfahrung ist nach Descartes, wie später nach Kant, kein rein rezeptiver Akt; schon die einfachste Wahrnehmung enthält mindestens implizit ein Urteil. Die landläufige Ausdrucksweise, der zufolge Dinge gesehen, gehört, getastet werden usw., ist irreführend; korrekt muß es heißen: Wir urteilen, daß es sich um ein so und so beschaffenes Ding handelt.[4] Da Descartes das Urteil als Akt des Verstandes, somit des Geistes, betrachtete, konnte er sagen: Die Wahrnehmung ist nicht ein Sehen, ein Berühren, ein Vorstellen, sondern ausschließlich eine Einsicht des Geistes.[5] In diesem Sinne war auch Kant überzeugt, daß es unabhängig von der Spontaneität des Subjekts keine Gegenstandserfahrung geben könne.

Der im Mittelpunkt der rationalistischen Erkenntnismetaphysik stehende Gedanke einer transzendenten Wahrheitsgarantie machte es erforderlich, die Existenz des Wahrheitsgaranten – Gottes, der absolut unendlichen Substanz, der Urmonade – zu beweisen, und zwar ausschließlich mit den Mitteln des Systems von Grundbegriffen und Grundsätzen, als das diese Metaphysik verstanden wurde. Als ein solcher Beweis kam nur das ontologische Argument in Betracht, d.h. der Schluß vom Begriff eines absolut vollkommenen Wesens auf dessen als „Vollkommenheit“ aufgefaßte Existenz. Als Hume, die Einwände früherer Kritiker überbietend, diesen Schluß als fehlerhaft durchschaute, brach er den Schlußstein aus dem Gewölbe der rationalistischen Metaphysik heraus. Kant wurde durch Humes Kritik aus dem dogmatischen Schlummer, d.h. dem Traum von einer rein vernünftigen Erkenntnis der denkunabhängigen Wirklichkeit, geweckt, ohne jedoch Humeaner zu werden.

Hume hielt die Ansicht, daß Vorstellungen bewußtseinsjenseitige Gegenstände repräsentieren, nicht nur für unbeweisbar, sondern für sinnlos, da sie prinzipiell nicht empirisch überprüft werden kann. Sein radikaler Empirismus mündete somit in den Skeptizismus, während Kant den reinen Verstandesbegriffen, den mit ihrer Hilfe formulierten Grundsätzen und ihren Folgesätzen objektive Gültigkeit sichern wollte. Er lehnte den reduktionistischen Empirismus ab, weil er erkannte, daß es Begriffe gibt, die unabhängig von Sinneseindrücken konstruiert werden. Hume hatte gemeint, daß Begriffe der Geometrie, wie „Punkt“, „Gerade“ usw., auf konkreten Anschauungen beruhten und daher niemals völlig präzis seien. Infolgedessen hielt er Sätze der Geometrie, ebenso wie empirische Sätze, für bloß wahrscheinliche Hypothesen und verfehlte damit das Wesen des mathematischen Denkens. Kant faßte dagegen die Grundbegriffe der Mathematik als Konstrukte auf, die unabhängig von besonderen Anschauungen auf Grund der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit vom Subjekt erzeugt werden, und vermochte daher besser als Hume dem Charakter der mathematischen Erkenntnis gerecht zu werden.

Eine ähnliche Korrektur an der empiristischen Auffassung nahm Kant in bezug auf Begriffe wie „Substanz“ oder „Kausalität“ vor. Der von ihm bewunderte Locke hatte von solchen Begriffen bzw. von komplexen Ideen im allgemeinen gemeint, daß sie, anders als einfache Ideen, vom Subjekt erzeugt würden (s. Bd. VIII, Kap. II, 6), und Hume suchte ihre Entstehung mit den Mitteln der Assoziationspsychologie zu erklären. Diese Begriffe haben seiner Ansicht nach rein subjektiven Charakter, so wie auch Grundsätze, wie das Prinzip der Substantialität oder das Kausalitätsprinzip, subjektiv bedingte Annahmen, somit nicht notwendig wahr sind. Demnach sind nicht nur Kausalsätze – wie „Die Sonne erwärmt den Stein“ –, sondern auch das Kausalitätsprinzip als hypothetisch zu betrachten. Kant stimmte Hume in bezug auf spezielle Kausalurteile zu, lehnte es aber ab, das Kausalitätsprinzip als hypothetisch aufzufassen; er betrachtete es als streng allgemeingültiges, somit nicht-hypothetisches Urteil, das nicht Ausdruck einer psychologisch erklärbaren Überzeugung sein kann. Was vom Kausalitätsprinzip gilt, kann auf die obersten Grundsätze im allgemeinen übertragen werden: Sie lassen sich nach Kant nicht psychologisch erklären, so wie philosophische Fragen im allgemeinen nicht in einzelwissenschaftliche Probleme übersetzt werden können. So läßt sich auch das Objektivitätsproblem nicht im Rahmen der Psychologie lösen, von deren Standpunkt aus nur von einem irrationalen Objektivitätsglauben gesprochen werden kann. Da auch die rationalistische Metaphysik, allerdings aus anderen Gründen als der radikale Empirismus, gegenüber dem Problem der objektiven Gültigkeit von Grundbegriffen und Grundsätzen versagt, sah sich Kant vor die Aufgabe gestellt, eine philosophische Theorie der Erfahrung zu konzipieren, die weder auf die Konstruktionen der „dogmatischen“ Metaphysik noch auf einzelwissenschaftliche Annahmen angewiesen ist; angemessen läßt sich das Objektivitätsproblem nur im Rahmen der transzendentalen Theorie der Erfahrung diskutieren.

Der Grundgedanke der Theorie, die nach Kant allein diesem Problem gerecht wird, besagt, daß die Gegenstände der Erfahrung nicht unabhängig vom Subjekt vorhanden sind; sie werden insofern vom Subjekt erzeugt, als sie auf Deutungen innerhalb eines von ihm konzipierten theoretischen Rahmens beruhen. Weil Objekte von diesem Rahmen abhängig sind, sind Grundbegriffe und Grundsätze, die diesem Rahmen angehören, sowie alles, was aus ihnen folgt, von den Objekten gültig. Wir finden in den Objekten wieder, was wir deutend in sie hineingelegt haben.

In der Moralphilosophie fand Kant ebenfalls zwei unvereinbare Positionen vor, nämlich eine rationalistisch-metaphysische und eine empiristische Auffassung. Nach der ersteren hat die Ethik die Aufgabe der Normbegründung, während sie nach der letzteren auf Beschreibung und Erklärung moralischer Wertungen beschränkt ist. Die Vertreter der rationalistischen Ethik des 17./18. Jh.s nahmen an, daß es evidente moralische Prinzipien gibt, die unbedingt verbindlich sind; die empiristisch eingestellten Moralphilosophen der Epoche erblickten dagegen ihre Aufgabe vor allem in der Aufklärung der Genese moralischer Werturteile. Die rationalistische Auffassung kommt klar bei Leibniz und den Leibnizianern des 18. Jh.s zum Ausdruck, die „gut“ als „vollkommen“ verstanden und daher das sittliche Streben als Streben nach Vervollkommnung bestimmten. Moralische und naturrechtliche Normen sind dieser Ansicht nach in der Natur der Dinge fundiert und werden subjektiv als Vernunftgebote erfaßt. Die ethischen Prinzipien sind, wie Leibniz erklärte, ebenso in Gottes Ideen bzw. in der von ihnen abhängigen unveränderlichen Natur der Dinge begründet wie die Prinzipien der Mathematik.[6] Aus der Erkenntnis des Guten folgt die Pflicht, das Gute zu erstreben. In diesem Sinne stellte Chr. Wolff als oberstes moralisches Gebot den Satz auf: „Tue, was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener macht!“[7] Vom Standpunkt des Empirismus aus geht es dagegen in der Moralphilosophie nicht um die Formulierung ethischer Imperative, da sich moralische Gebote und Verbote empiristischer Ansicht zufolge nicht a priori begründen lassen. So erkannte Hume die Ableitung von Sollenssätzen aus Aussagen über die Natur der Dinge als unmöglich; an ihre Stelle tritt die psychologische Analyse der moralischen Billigung und Mißbilligung. Streng allgemeingültige Moralprinzipien lassen sich im Rahmen der empiristischen Betrachtungsweise nicht gewinnen; selbst wenn gewisse Wertungen immer und überall anzutreffen wären, würde das nicht bedeuten, daß sie ausnahmslos gelten müssen.

Wie in der theoretischen Philosophie war Kant auch in der Ethik nur in negativer Hinsicht von Hume beeinflußt, nämlich durch dessen Kritik an Versuchen metaphysischer Normbegründung; Humes Ansicht, der zufolge die Ethik in der Psychologie des Wertens aufgeht, konnte er dagegen nicht billigen, weil er der sittlichen Pflicht unbedingten Charakter zuschrieb und sah, daß im Rahmen der empiristischen Philosophie ihrer unbedingten Verbindlichkeit nicht Rechnung getragen werden kann. Da für ihn somit weder die rationalistische noch die empiristische Auffassung in Betracht kamen, mußte er nach einer Alternative sowohl zur transzendenten Normbegründung als auch zur Beschränkung auf eine deskriptiv-explanatorische Betrachtungsweise suchen. Er fand sie in einer Theorie des als unbedingt betrachteten sittlichen Sollens, die nicht auf transzendent-metaphysischen Prämissen, sondern auf der Analyse der Form moralischer Imperative beruht. Mit den Mitteln einer solchen Analyse formulierte er ein Kriterium der Beurteilung moralisch relevanter Maximen. Die Tatsache des unbedingten Sollens suchte er im Rahmen einer Theorie begreiflich zu machen, in der die Idee der Freiheit bzw. der sittlichen Autonomie, die Ideen Gottes und der Unsterblichkeit eine entscheidende Rolle spielen. Diese Ideen haben keine kognitive, sondern eine rein praktische Funktion.

Die Theorie der Erfahrung und die Theorie des sittlichen Sollens sind die zentralen Disziplinen der Kantischen Philosophie, von denen deren andere Teile, wie die Naturphilosophie, die Ästhetik, die Rechtsphilosophie, die Philosophie der Geschichte, abhängen.

Wenn ein Philosoph, wie es Kant tat, mit traditionellen Auffassungen bricht, muß das unter den Zeitgenossen unweigerlich zu einer starken Polarisierung führen. Tatsächlich standen sich im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jh. Anhänger und Gegner des Kantianismus gegenüber, wie im II. Kapitel gezeigt wird. Dabei verdienen die letzteren philosophiegeschichtlich mehr Beachtung, weil ihre Argumente die weitere Entwicklung des philosophischen Denkens stärker beeinflußten als die Bemühungen der Anhänger um die Verbreitung und die Klärung von Kants Gedanken. Unter den Kritikern sind wiederum jene, die sich um Modifizierung zentraler Kantischer Auffassungen bemühten, interessanter als die Vertreter einer uneingeschränkt ablehnenden Einstellung gegenüber dem Kantianismus. Daß in der Auseinandersetzung mit Kant auch auf ältere philosophische Auffassungen zurückgegriffen wurde, ist verständlich, da das traditionelle Denken immer noch einflußreich war. So stützte sich Johann August Eberhard (1739–1809) auf Leibniz, und Moses Mendelssohn hielt an zentralen Auffassungen der deutschen Aufklärungsphilosophie fest. Daß der Ablehnung des Kantianismus manchmal Mißverständnisse zugrunde lagen, ist angesichts seiner Neuartigkeit nicht verwunderlich. So handelte es sich um Mißverständnisse, wenn Mendelssohn in Kant einen rein destruktiven Denker – den Alleszermalmer – sah oder wenn Jacobi ihn als Wegbereiter des Nihilismus betrachtete.

Nach Ansicht dieser Gegner war Kant mit seiner Kritik an der überlieferten Philosophie zu weit gegangen; andere warfen ihm dagegen vor, nicht weit genug gegangen zu sein und den transzendentalen Ansatz nicht konsequent genug entwickelt bzw. bei der Systematisierung der Philosophie versagt zu haben, wie zum Beispiel K. L. Reinhold meinte. Der Versuch, die Transzendentalphilosophie durch Zugrundelegung eines obersten Grundsatzes zu systematisieren – außer Reinhold ist hier Fichte zu nennen, dessen Wissenschaftslehre in Bd. IX, 2 behandelt wird –, beruhte auf einer Auffassung der Grundsätze, die Kant bereits hinter sich gelassen hatte.[8]

Eine besondere Rolle bei der Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie spielten Einwände gegen die Annahme, daß der Inhalt der Erfahrung auf Affektion von seiten der Dinge an sich zurückzuführen sei. Da die Affektion (der Reiz) eine Art der Kausalität ist und da unter Kants Voraussetzungen die Kausalkategorie nicht auf Dinge an sich bezogen werden kann, scheint die Affektionslehre widerspruchsvoll zu sein. Dieser zuerst von Jacobi (s. Kap. II, 2 a) vorgebrachte Einwand wurde stark beachtet. Der Ausweg, daß wir die Wirklichkeit an sich nicht erkennen, sondern an sie glauben (im Sinne von Humes „belief“; s. Bd. VIII, Kap. IX, 3), wies bereits in die Richtung einer sich von Kants argumentativer Philosophie grundsätzlich entfernenden Denkweise. Auf einem anderen Weg suchte Salomon Maimon (s. Kap. II, 2 d) den Schwierigkeiten der Affektionslehre zu entgehen: Er faßt „Ding an sich“ als Grenzbegriff bzw. als Begriff des allseitig bestimmten Gegenstands auf und nahm damit die von den Marburgern Neukantianern vertretene Deutung vorweg.

Besondere Beachtung verdienen Einwände, die vom Standpunkt des Skeptizismus aus gegen die Kantische Philosophie gerichtet wurden. Kant hatte die rationalistische Metaphysik als dogmatisch bezeichnet; nun wurde ihm selbst Dogmatismus vorgeworfen, besonders eindringlich von G. E. Schulze (s. Kap. II, 2 c). Diese Kritik richtet sich gegen den von Kant erhobenen Anspruch, eine Philosophie konzipiert zu haben, deren Grundlage notwendig wahre Sätze bilden. Kants skeptizistische Kritiker hatten insofern recht, als Kant tatsächlich beanspruchte, nicht eine, sondern die einzig mögliche Philosophie grundgelegt zu haben, namentlich die einzig mögliche Theorie der Erfahrung. Auf Grund der Kritik an diesem Anspruch konnten Versuche, über die Kantische Position hinauszugehen, als gerechtfertigt erscheinen, zum Beispiel durch den Schritt vom kritischen zum spekulativen Idealismus. Obwohl der Idealismus, vor allem in Form der Hegelschen Philosophie, in den ersten Jahrzehnten zu der in Deutschland dominierenden Richtung wurde und obwohl er auch in England, Italien und Frankreich Vertreter fand (s. Band XII, Kap. VIII), beherrschte er nicht allein das Feld; Denker wie Herbart, Fries, Schopenhauer oder Beneke, deren Auffassungen im einzelnen stark auseinandergingen, stimmten in ihrer Ablehnung des spekulativen Idealismus überein. Obwohl sie an die Kantische Philosophie anknüpften, dachten sie so selbständig, daß sie nicht als Kantianer gelten können (s. Kap. III dieses Bandes; zur positivistischen und materialistischen Kritik am Idealismus s. Bd. X.) Vor allem die Hinwendung zu einer realistischen Metaphysik und die Tendenz zur psychologischen Fundierung der Philosophie trennen sie vom Kantianismus. Herbart meinte, durch die Aufdeckung von Widersprüchen der Erfahrungsrealität zur Wirklichkeit an sich vordringen und sie, ähnlich wie Leibniz, als Menge einfacher Substanzen bestimmen zu können. Fries führte metaphysische Ideen auf „Ahndung“ zurück, und Schopenhauer meinte durch Entziffern der Chiffrenschrift der Natur einen auf rationale Argumente nicht mehr angewiesenen Zugang zur Wirklichkeit an sich finden zu können. Beneke ging es dagegen nur um die Erklärung des Zustandekommens metaphysischer Ideen mit den Mitteln der Psychologie, so daß bei ihm die Philosophie zur Psychologie metaphysischer Überzeugungen wird.

Im ausgehenden 18. und im frühen 19. Jh. standen bei der Auseinandersetzung mit Kant Probleme der Theorie der Erfahrung und der Metaphysik im Vordergrund, mit der Folge, daß die Kantische Ethik weniger eindringlich erörtert wurde. Infolgedessen fand auch die ethisch fundierte Metaphysik bei den im vorliegenden Band behandelten Autoren – anders als bei den Vertretern des nachkantischen spekulativen Idealismus – weniger Beachtung. Die auf vernünftigem, ethisch begründetem Glauben beruhende Metaphysik, in der Kant in den späten Entwürfen zu einer Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (s. Kap. I, 10 b) das Ziel der von Leibniz ausgehenden, über Humes und seine eigene Kritik an der rationalistischen Metaphysik zur Metaphysik der Freiheit führenden Entwicklung erblickte, wurde vernachlässigt, so wie Kants Pflichtethik nur wenige Anhänger fand, unter ihnen J. Fr. Fries, der mit Kant in der Würde der menschlichen Person die zentrale moralische Idee erblickte (s. Kap. III, 2 b), während ihr Arthur Schopenhauer, der nicht nur die Kantische Pflichtethik, sondern die normative Ethik im allgemeinen verwarf, entschieden entgegentrat. Die Ethik hat nach Schopenhauer nicht die Aufgabe, Gebote und Verbote aufzustellen und zu begründen, sondern sie kann nur beschreiben, was als moralisch gut bzw. schlecht gilt, und versuchen, die Entstehung moralischer Wertungen zu erklären (s. Kap. III, 3 e). Einen anderen vom Kantischen verschiedenen Weg schlug Herbart ein, der die ethischen Urteile den ästhetischen annäherte. Seine Auffassung übte insofern Einfluß aus, als sie der eine Zeitlang tonangebenden Herbartschen Pädagogik zugrunde lag (s. Kap. III, 1).

Der vorliegende Band enthält keine Gesamtdarstellung des philosophischen Denkens der Epoche. Manche zeitgenössischen Strömungen sind in den Bänden VIII und X behandelt. Das Denken Bernard Bolzanos, eines Zeitgenossen Schopenhauers, wird ausführlich in Band XI dargestellt, und vor allem bleibt im vorliegenden Band die mächtige idealistische Strömung nach Kant unberücksichtigt, da ihr Band IX, 2 gewidmet ist.

I. Immanuel Kant

1. Leben und Werke

a) Die wichtigsten biographischen Daten

Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 – Locke war seit zwanzig, Leibniz seit acht Jahren tot und Chr. Wolff schloß eben die Reihe seiner deutschen Schriften ab – in Königsberg geboren.[1] Während seines fast achtzigjährigen Lebens, das äußerlich undramatisch verlief, entfaltete er eine Wirkung, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Seine kritischen Werke, vor allem die „Kritik der reinen Vernunft“ (in der Folge: KrV)[2] führten eine philosophische Wende herbei, die allerdings – wie alle großen Leistungen im Bereich der Philosophie – durch die vorangegangene Entwicklung des Denkens vorbereitet war.[3] Kant hat mit voller Klarheit die Philosophie als Analyse – sei es der Erfahrung von Gegenständen, sei es des sittlichen Sollens oder des Schönen und Erhabenen – aufgefaßt und der herkömmlichen Metaphysik den Charakter einer Wissenschaft abgesprochen. Er war überzeugt, mit dieser „Umänderung der Denkart“ einen Schritt getan zu haben, der mit dem Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild verglichen werden kann.

1740 begann Kant seine Studien an der Universität Königsberg und hörte neben Philosophie und Theologie (letztere bei seinem Förderer Franz Albert Schultz) auch Mathematik und Physik. Die wichtigsten Anregungen verdankte er dem jungen, auch in der Mathematik und den Naturwissenschaften bewanderten Extraordinarius für Logik und Metaphysik Martin Knutzen (s. Bd. VIII, Kap. VII, 2), der ein relativ selbständiger Vertreter der damaligen von Wolff geprägten Schulphilosophie war. Von 1747 bis 1754 verdiente er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer und hatte dabei die Möglichkeit, seine Studien fortzusetzen. 1755 erwarb er den Grad eines Magisters, und noch im selben Jahr erhielt er die Lehrbefugnis.

1770, nach fünfzehnjähriger Lehrtätigkeit als Dozent, wurde Kant auf den Lehrstuhl für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg berufen. In den folgenden Jahren publizierte er nur ein paar kleine Schriften und konzentrierte sich auf die Ausarbeitung seines wichtigsten Werkes, der „Kritik der reinen Vernunft“, die 1781 (in zweiter Auflage 1787) erschien und der 1788 die „Kritik der praktischen Vernunft“ und 1790 die „Kritik der Urteilskraft“ zur Seite gestellt wurden. Mitte der achtziger Jahre wandte sich Kant der auf den beiden ersten Kritiken aufbauenden Metaphysik zu. Außerdem erörterte er Themen der Geschichtsphilosophie und bemühte sich, seine Denkweise von abweichenden Auffassungen, wie sie z.B. von Herder oder Mendelssohn vertreten wurden, abzugrenzen.

Als Kant in den neunziger Jahren zu Fragen der Religionsphilosophie Stellung nahm, geriet er in einen Konflikt mit der Zensurbehörde und wurde von der Regierung gerügt. Mitte der neunziger Jahre wandte er sich der Rechtsund Staatsphilosophie bzw. der Philosophie der Politik zu. Er war durch seine Werke und seine Lehrtätigkeit berühmt geworden, fand aber nicht nur Anerkennung, sondern sah sich auch mit Kritik konfrontiert, sei es in Form direkter Ablehnung, sei es in Form von Versuchen, seine Auffassung zu modifizieren und weiterzuentwickeln. Angesichts solcher Reaktionen auf die von ihm inaugurierte Denkweise suchte er diese gründlicher zu erklären und gegen Mißverständnisse zu verteidigen. So erblickte er in den Auffassungen des von ihm zunächst geförderten Fichte eine Verfälschung seiner Intention,[4] von der er sich entschieden distanzierte.

Kant war mehrmals Dekan und wurde 1786 zum Rektor gewählt. Seit 1797 las er nicht mehr, arbeitete aber unermüdlich weiter. Der handschriftliche Nachlaß aus seinen letzten Lebensjahren, das sogenannte Opus postumum, läßt erkennen, daß seine geistigen Kräfte allmählich abnahmen, obwohl er unentwegt um die Weiterentwicklung seiner Philosophie bemüht war. Am 12. Februar 1804 starb Kant. Die außerordentliche Anteilnahme der Bevölkerung zeigte, wie groß sein Ansehen war.[5]

b) Kants sog. vorkritische Schriften

Noch vor Abschluß seines Studiums verfaßte Kant seine erste Schrift, nämlich die „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“ (1747; nach dem Frontispiz 1746).[6] Erst ungefähr zehn Jahre später legte er seine Magisterarbeit, die kurze Schrift „De igne“ (1755), vor und erwarb bald danach auf Grund der Abhandlung „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio“ (1755), die sein erstes rein philosophisches Werk war, die Venia legendi. Für die Dozentur hatte er sich außerdem durch die „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (Frühjahr 1755) qualifiziert. In dieser Schrift entwickelte er die später nach ihm und Laplace[7] benannte Theorie der Entstehung des Sonnensystems aus einem homogenen Urnebel.[8] Auch später erörterte er immer wieder naturwissenschaftliche Probleme, z.B. in dem Aufsatz „Von den Ursachen der Erderschütterungen“ (1756; zwei weitere in selben Jahr entstandene Arbeiten behandeln dasselbe Thema). Den Anstoß zu diesen Untersuchungen gab das Erdbeben von Lissabon am 1. Nov. 1755. Während Voltaire unter dem Eindruck dieses Ereignisses den metaphysischen Optimismus in Frage stellte (s. Bd. VIII, Kap. VI, 2 d), meinte Kant, dem es vor allem um eine kausale Erklärung ging, ihm eine – allerdings für uns nicht vollständig durchschaubare – Funktion im Gesamtplan der Natur zuschreiben zu können. 1758 folgte der Aufsatz „Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe“, und 1759 erschien der „Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus“.

1762 veröffentlichte Kant die kurze logische Untersuchung „Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren“, in der er die Ansicht vertrat, daß nur in der ersten Schlußfigur reine Vernunftschlüsse möglich seien. Im selben Jahr, jedoch mit der Jahreszahl 1763, erschien die erste rein philosophische Schrift Kants, die keine akademische Zweckschrift war, nämlich „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“.[9] Sie enthält den Versuch eines Gottesbeweises, der sich von den herkömmlichen ontologischen, kosmologischen und teleologischen Argumenten unterscheidet, aber noch auf dem rationalistischen Glauben an die rein vernünftige Erkennbarkeit Gottes beruht. Trotzdem setzt mit dieser Abhandlung schon die Distanzierung gegenüber dem Rationalismus der Leibniz-Wolffschen Schule ein (s. unten Abschn. 2), vor allem mit der Zurückweisung der Auffassung der Existenz als Komplement der Wesenheit.

Im „Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen“ (1763) wies Kant auf den wesentlichen Unterschied zwischen Realgrund (Ursache) und logischem Grund hin und trat damit den Vertretern der rationalistischen Metaphysik entgegen, die, wie Spinoza, „ratio“ und „causa“ für Synonyma hielten. Während Sätze der Logik auf Grund der Beziehungen zwischen den in ihnen vorkommenden Begriffen wahr sind, können Kausalsätze nicht analytisch sein. 1764 veröffentlichte Kant die populären „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“, die auf großes Interesse stießen.

Einen weiteren Schritt auf dem Wege der Distanzierung gegenüber der herkömmlichen Metaphysik tat Kant in der „Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral“ (1764), in der er, im Gegensatz zur rationalistischen Auffassung, die Methode der Metaphysik mit der Methode der wissenschaftlichen Erklärung, wie er sie bei Newton fand, in Verbindung brachte (II, 286). Die angemessene Methode der Philosophie ist die Analyse, nicht die Synthese, die in der Mathematik am Platze ist.

Berichte über angebliche übernatürliche Fähigkeiten des Theosophen Emanuel Swedenborg[10] regten ihn 1766 zu der Schrift „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“ an, in der er, über den konkreten Anlaß hinausgehend, die allgemeine Frage erörterte, ob die Erkenntnis einer Geisterwelt prinzipiell möglich sei. Im Gegensatz zur rationalistischen Auffassung vertrat er die Ansicht, daß sich ohne empirische Data (Empfindungen) nichts positiv denken lasse (II, 351). Die Metaphysik galt ihm nun nicht mehr als Lehre von einer transzendenten Wirklichkeit, sondern als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“ (II, 368). Die Frage nach den der menschlichen Erkenntnis gezogenen Grenzen konnte Kant damals allerdings noch nicht in der für sein Denken nach 1770 charakteristischen Weise beantworten. Als letzte Veröffentlichung im genannten Zeitraum erschien 1768 die kleine Abhandlung „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“.

c) Die kritischen Hauptwerke

Nach fünfzehnjähriger Lehrtätigkeit als nichtbeamteter Magister – seit 1766 durch die Anstellung als Unterbibliothekar an der Kgl. Schloßbibliothek finanziell einigermaßen abgesichert – wurde Kant 1770 ordentlicher Professor. Wie damals üblich, legte er aus Anlaß seiner Inauguration eine Dissertation vor. Die Abhandlung „De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis“[11] ist der erste Entwurf einer kritischen Theorie der Erfahrung.

In den Jahren von 1770 bis zum Erscheinen der KrV – dem „stillen Jahrzehnt“[12] – konzentrierte sich Kant auf die Ausarbeitung der in der Inauguraldissertation skizzierten Auffassung. In der kritischen Philosophie geht es nicht darum, Gegenstände zu erkennen; ihre Aufgabe ist es, zu Bedingungen zurückzugehen, unter denen Gegenstandserkenntnis möglich ist, nämlich zu Begriffen und Grundsätzen a priori. Kant nannte die Betrachtungsweise, die diese Bedingungen zum Inhalt hat, „transzendental“.

Die KrV ist das Ergebnis eines langen gedanklichen Ringens mit dem Problem der Erfahrung bzw. der Erkenntnis von Gegenständen. Zwar versicherte Kant in einem Brief an Mendelssohn vom 16. August 1783, er habe die Ergebnisse zwölfjährigen Nachdenkens innerhalb von vier bis fünf Monaten zu Papier gebracht;[13] das Werk kann aber im jetzigen Umfang nicht in so kurzer Zeit verfaßt worden sein. Da Kant in der Vorrede erklärte, Beispiele und Erläuterungen seien „im ersten Entwurfe an ihren Stellen“ eingeflossen (A XVIII; IV, 12), liegt die Annahme nahe, daß in der angegebenen Zeit dieser Entwurf entstanden ist.[14]

Als die KrV 1781 erschien, war Kant kein Unbekannter mehr. Trotzdem würde er, wenn er vor der Fertigstellung der ersten Kritik gestorben wäre, wohl nur als einer von einer Reihe relativ selbständiger Vertreter der damaligen Schulphilosophie betrachtet werden. Nach 1781 wurde er bald zum meistbeachteten deutschen, ja europäischen Philosophen, was nicht heißt, daß seine Philosophie nur Zustimmung gefunden hätte.

Die KrV war auf Grund ihrer Form nicht dazu angetan, weitere Kreise anzusprechen.[15] Kant dürfte sich dieses Umstands bewußt gewesen sein, denn schon 1783 präsentierte er in den „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“[16] die Themen der Vernunftkritik in neuer Weise. Dieses Werk ist, als „Plan nach vollendetem Werke“, für künftige Lehrer, nicht Lehrlinge der Philosophie geschrieben; ihm liegt nicht, wie der KrV, die synthetische, sondern die analytische Methode zugrunde (IV, 263). Änderungen sowohl der Darstellungsweise wie einzelner Auffassungen nahm Kant auch in der zweiten Auflage der KrV vor (1787). Welche Fassung den Vorzug verdient, war lange umstritten,[17] doch hat sich weitgehend die Ansicht durchgesetzt, daß die zweite Auflage gegenüber der ersten einen gedanklichen Fortschritt darstellt.

1788 erschien die „Kritik der praktischen Vernunft“. So wie Kant in der KrV zu Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung zurückgegangen war, so formulierte er in der KpV Bedingungen, unter denen unbedingtes sittliches Sollen als möglich begriffen werden kann. Die in der KpV entworfene Theorie der sittlichen Pflicht ist das Seitenstück zu der in der KrV formulierten Theorie der Erfahrung.

Nach Kant sollten die kritischen Werke die Voraussetzungen einer neuen Metaphysik schaffen, die nicht mehr die Erkenntnis erfahrungsjenseitiger Seiender – Gottes, der Seele und der Welt – zum Ziel hat und auch nicht Ontologie im traditionellen Sinne ist; sie hat vielmehr die Aufgabe, die in der KrV und der KpV konzipierten begrifflichen Rahmen auf bestimmte Geltungsbereiche zu beziehen, nämlich – als Metaphysik der Natur – auf physikalische Gegenstände und – als Metaphysik der Sitten – auf Rechts- und Tugendpflichten. Dem zweiten dieser Bereiche wandte sich Kant erstmals mit der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) zu, die vor der KpV (1788) erschien, jedoch wichtige Gedanken dieses Werkes vorwegnimmt. Erst 1797 folgte die „Metaphysik der Sitten“, mit der Rechtslehre als erstem und der Tugendlehre als zweitem Teil. Die Grundgedanken der Metaphysik der Natur entwickelte Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft“ (1786). Der in diesem Werk eingeschlagenen Richtung folgte er noch in seiner Spätzeit, als er sich um den „Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik“ bemühte.

1790 erschien die „Kritik der Urteilskraft“, mit der die Brücke von der reinen zur praktischen Vernunft bzw. vom Reich der Natur zum Reich der Freiheit geschlagen werden sollte. Weil die Urteilskraft, anders als der Verstand und die Vernunft, kein konstitutives, sondern ein regulatives Vermögen ist, entspricht der dritten Kritik kein Teil des metaphysischen Systems. Das kritische Werk sah Kant 1790 als vollendet an: „Hiermit endige ich … mein ganzes kritisches Geschäft“, heißt es in der Vorrede zur KU (V, 170).

In die Zeit zwischen der ersten und der dritten Kritik fallen auch Arbeiten zu Themen der Geschichtsphilosophie, namentlich die Aufsätze „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) und „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ (1786). 1784 erschien ein kleiner Aufsatz mit dem Titel „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, dessen Bedeutung in umgekehrtem Verhältnis zu seinem Umfang steht und in dem sich die bekannte Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ findet (VIII, 35). Zusammen mit der Rezension von Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1785) lassen diese Arbeiten die Umrisse von Kants Geschichtsphilosophie erkennen. Andere Veröffentlichungen dienten der Verteidigung gegen Einwände, z.B. die Streitschrift gegen Eberhard von 1790 „Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll“.[18]

d) Kants Schriften nach 1790

Nach dem Abschluß der KU1920