Michel Soëtard

JEAN-JACQUES ROUSSEAU

Leben und Werk

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

Zum Buch

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ist der am meisten gelesene französische Aufklärer. Von Immanuel Kant wurde er als «der Kopernikus der Moral» enthusiastisch begrüßt. Auf einzigartige Weise spiegeln sich die Widersprüche seiner Zeit in Rousseaus unstetem Leben, in seinem Denken an der Grenze zwischen Aufklärung und Romantik und in seinem breit gefächerten philosophischen und literarischen Werk. Seine bahnbrechenden Abhandlungen zu Kunst und Kultur, seine Theorie vom Gesellschaftsvertrag, sein Erziehungsroman «Emile» oder seine autobiographischen «Bekenntnisse» werden bis heute viel gelesen und lebhaft diskutiert. Michel Soëtard macht den Leser anschaulich und mit Blick für das Wesentliche mit dem wechselvollen Leben Rousseaus und seinen wichtigsten Werken vertraut.

Über den Autor

Michel Soëtard, geb. 1939, ist Professor em. für Pädagogik an der Université Catholique de l′Ouest in Angers. In Deutschland wurde er mit einer großen Monographie zu Johann Heinrich Pestalozzi bekannt.

Inhalt

Einleitung

1. Der Entwurzelte. Kindheit und Jugend in Genf. 1712–1728

2. Der Wanderer. Auf der Suche nach Liebe, Geld und Kunst. 1728–1742

3. Der Musiker. Notenschrift, Pariser Leben, Venedig. 1742–1749

4. Der Bekehrte. Umwälzende Abhandlungen. 1749–1755

5. Der Einzelgänger. Roman der Leidenschaft: Die Neue Heloise. 1756–1757

6. Der Reformator. Streit mit Voltaire, Krankheit und der Gesellschaftsvertrag. 1758–1761

7. Der pädagogische Träumer. Die Sprengkraft des Emile. 1762–1770

8. Der Versöhnte. Auf der Suche nach Harmonien und Pflanzen. 1770–1774

9. Der Bekenner. «Ich fühle mein Herz». Bis 1778

Epilog: Jenseits der Widersprüche

Zeittafel

Literaturhinweise

Personenregister

Einleitung

Jean-Jacques Rousseau ist eine ganz besondere, ja einzigartige Figur in der Geschichte der abendländischen Kultur. Er hat den Großteil seiner Bildung mit dem Lesen von Romanen an der Uhrmacherbank seines Vaters aufgesogen – aber er hat unserer von Plato und von einem platonischen Christentum ererbten Kultur eine grundsätzliche Wendung gegeben. Er zog meist als Flüchtling durch ganz Europa, unfähig, sich an ein bürgerliches Leben und an eine religiöse Konfession zu binden – aber er hat die Idee der Demokratie so klar wie niemand vor ihm und niemand nach ihm formuliert und die Grundlagen für ein erneuertes Christentum entworfen. Er war ein Begründer des Liebesromans und ein Apostel der auf Tugend gegründeten Liebe – aber er hat sein Leben lang an seiner Unsicherheit gegenüber den Frauen gelitten. Und wer von diesem Genfer ein streng systematisches Denken oder gar ein wissenschaftliches System erwartet, muss diese Erwartungen schnell revidieren: Alles von ihm Verfasste, und sei es noch so brillant, wird am Ende von Rousseaus eigenem Ich verschlungen, sein gesamtes Werk erscheint schließlich wie ein Spiegel seiner autobiographischen Bekenntnisse.

Das geradezu Einmalige bei Rousseau ist, dass er niemals von einem Katheder herab unterrichtet wurde, sondern wie ein trockener Schwamm die intellektuellen Anregungen seiner Zeit und seiner Umgebung aufsog, sich zu Eigen machte und so umgestaltete, dass er ganz neue und unerwartete Kombinationen hervorbrachte. So bestätigt sich seine Genialität auf allen wichtigen Gebieten unserer Kultur, wobei er jedes Mal einen neuen Weg gebahnt hat: Die Politik gewinnt eine neue Basis, die sich über unsere erschlaffende Demokratie hinaus bewahrt; von Kant wird Rousseau als «der Kopernikus der Moral» begrüßt; Pestalozzi erklärt den Autor des Emile als «eine höhere Natur, als Wendepunkt der alten und neuen Welt in der Pädagogik»; und wenngleich Rousseau ausgerechnet auf seinem Lieblingsgebiet, nämlich der Musik, keinen großen Erfolg erzielen konnte, so hat er doch auf eine Harmonie verwiesen – auch auf die Harmonie der Natur in der Botanik –, die alle Widersprüche und Disharmonien der menschlichen Existenz aufzuheben vermag. Sein Hauptverdienst liegt aber in der Sublimierung der condition humaine durch ihren literarischen Ausdruck und in der Zurückgewinnung des moralischen, veredelten Ich jenseits seiner Zersplitterung in einer entfremdeten Gesellschaft.

Rousseaus Leser müssen lernen, mit Paradoxen zu arbeiten: «Ich ziehe vor», so verkündet er mitten im Emile, «eher ein Mensch von Paradoxen als ein Mensch von Vorurteilen zu sein.» Diese Vorurteile sind die Widersprüche, mit denen sein Jahrhundert kämpft und die keine Lösung mehr in einem beruhigenden Humanismus finden können: Die mit neuen Weihen versehen raison herrscht nicht mehr allein, sie muss ihr Reich mit ihrer Gegenspielerin, der lange missachteten passion, teilen. Besser dann das Paradoxe behalten und pflegen, als die Kraft des Denkens einem der beiden Extreme opfern und im Vorurteil steckenbleiben. Rousseau ist so zu einer unerschöpflichen Quelle von intellektuellen Streitigkeiten geworden, bei denen jede Partei Gründe zugunsten ihrer eigenen Position gefunden hat und immer wieder findet: Danton versus Robespierre, Führen versus Wachsenlassen, unberührte Natur versus Stadtplanung, Schaugesellschaft versus republikanische Tugend … Man muss mit begeisterten Parteigängern und mit eifernden Gegnern Rousseaus auf allen Schlachtfeldern rechnen.

So ist Rousseaus Werk immer eine Gratwanderung zwischen Aufklärung, die ihn nicht zufriedenstellt, und Romantik, die allein ihn auch nicht befriedigen kann; zwischen Genfer Demokratie, die ihn erfüllen würde, und Pariser Monarchie, der er sich nicht verschwören will; zwischen amour passion, die ihn entflammt, und amour devoir, die ihn beruhigt. So wird Rousseau am Anfang des 21. Jahrhunderts zu einem Zeitgenossen für uns, die wir von blutbefleckten Abenteuern des selbstbewussten Verstandes noch immer nicht befreit sind und die romantischen Utopien einer verrückt gewordenen Vernunft bereits erschöpft haben. Am Ende dieses Büchleins werden wir den Ertrag und die Aktualität des Rousseauschen Erbes zu bilanzieren haben.

Rousseaus Biographie lässt sich nicht von seinem Werk trennen. Wir treffen bei ihm auf die erste Manifestation der modernen Existenzphilosophie – mit Augustinus und seinen Bekenntnissen als Vorfahren und mit einer schier unbegrenzten Nachkommenschaft. Diese Existenz gilt ihm aber nicht als ein Eines und für sich Seiendes; sie wird ständig im Spiegel des Geschriebenen distanziert ausgedrückt und beurteilt. Wir werden deshalb diesen Essay wie ein Dreigespann führen, das – Etappe für Etappe, Kapitel für Kapitel – Leben, Werk und Denken ständig zusammenkoppelt: die biographische Abfolge der Erlebnisse, die Hauptmerkmale der Rousseauschen intellektuellen Attitüde und ihren schriftlichen Ausdruck in seinen Hauptwerken.

Diese permanente, aus Erlebnissen und Emotionen sich nährende Expansion des Ich macht eine Systematisierung des Rousseauschen Denkens äußerst schwierig. Manche Interpreten haben daher auf jede Parallelisierung des Lebens und der Schriften verzichtet. Dabei hat der Genfer selbst auf die innere Strukturierung seines Werkes klar hingewiesen: Die beiden ersten Diskurse gelten der déconstruction der alten Welt, Emile oder Über die Erziehung wird zum Projekt, um eine neue Welt aufzubauen. Wir möchten hier gerne Pestalozzi folgen, wenn er das oben zitierte Urteil fortsetzt: «Von der allgewaltigen Natur allgewaltig ergriffen, die Entfernung seiner Zeitgenossen vom sinnlichkräftigen eben so wohl als vom geistigen Leben, wie kein Anderer, und mit unendlichen Schmerzen fühlend, sprengte er mit herkulischer Kraft die Fesseln des Geistes und gab das Kind sich selbst, gab die Erziehung dem Kinde und der menschlichen Natur zurück.»

Diese Revolution hat Kant wohl geahnt, als er bei der Lektüre des Emile seinen ihm heiligen Spaziergang versäumte. Der Philosoph der Modernität schuldet dem «Kopernikus der Moral» die bahnbrechende Richtung seines eigenen Denkens, und indem er mit den Paradoxen des Genfers kämpfte, ist es ihm gelungen, die wahrscheinlich einzige Umwälzung des abendländischen Denkens seit Plato zu vollenden.

1. Der Entwurzelte
Kindheit und Jugend in Genf
1712–1728

Jean-Jacques Rousseau wurde am 28. Juni 1712 in Genf geboren, in der Grand Rue 40, unweit der Kirche Saint-Pierre, in der er am 4. Juli getauft wurde. Sein Vater, Isaac Rousseau, entstammte einer ursprünglich in Montlhéry bei Paris ansässigen hugenottischen Familie von Buchhändlern, die 1549 während der Religionskriege nach Genf geflohen war und dort 1555 das Bürgerrecht erworben hatte. Isaac Rousseau wurde am 28. Dezember 1672 geboren, und wie sein Vater und seine beiden Großväter wurde er Uhrmacher. Nach seiner Lehre schloss er sich allerdings zunächst ein Jahr lang mit zwei Mitbürgern zusammen und gab – in einer Stadt, in der derlei Zerstreuung untersagt war – den jungen Engländerinnen eines Internats am Ufer des Genfer Sees Tanzunterricht. Als die Gesellschaft aufgehoben wurde, kehrte er wieder in seinen erlernten Beruf zurück.

Rousseaus Mutter, Suzanne Bernard, wurde am 6. Februar 1673 in Genf geboren. Ebenfalls Tochter eines Uhrmachers, verlor sie mit neun Jahren ihren Vater und wuchs bei ihrem Onkel, einem Pastor, auf. Als sie zweiundzwanzig war, ging ihre Beziehung zu einem Patrizier der Stadt, Monsieur Vincen Sarasin, einem verheirateten Mann und Familienvater, in die Chronik der Stadt ein: Den beiden wurde vom Konsistorium, einer Art Tribunal der Genfer Sittenpolizei, zur Last gelegt, sich «ungeachtet wiederholter Vermahnungen und Zurechtweisungen» weiterhin zu treffen. Dieselbe Demoiselle Bernard wurde auch beschuldigt, als Mann verkleidet den Possenspielen der Marktschreier auf dem Molard zugeschaut zu haben; als sie deswegen vor Gericht erscheinen sollte, weigerte sie sich; schließlich wurde sie «nachdrücklich gerügt» und dem Kreis «zweifelhafter» Personen zugezählt.

Am 2. Juni 1704 heiratet sie Isaac Rousseau. Jean-Jacques’ älterer Bruder François kommt am 15. März 1705 zur Welt. Ein Jahr nach der Hochzeit, am 22. Juni 1705, verlässt Isaac, von Geldsorgen geplagt und wohl auch mit seiner unter demselben Dach lebenden Schwiegermutter zerstritten, die Stadt, um sich einer Kolonie von Handwerkern in Konstantinopel anzuschließen. Zuvor hat er seine Frau bevollmächtigt, während seiner Abwesenheit seine Geschäfte zu führen. Nach dem Tod der Schwiegermutter kehrt Isaac im September 1711 nach Genf zurück. Jean-Jacques wird am 28. Juni 1712 geboren.

Seine Mutter Suzanne stirbt am 7. Juli im Wochenbett, im Alter von neununddreißig Jahren von «anhaltendem Fieber» dahingerafft. «Nach zehn Monaten wurde ich krank und schwächlich geboren, kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück», so lautet Rousseaus erstes Bekenntnis (Bekenntnisse, S. 39). Jean-Jacques wird nun von der Schwester seines Vaters, seiner «Tante Suzon», aufgezogen, die das kleine, schmächtige Geschöpf, das von zarter Gesundheit ist, aufopfernd umsorgt.

Nach wie vor in Geldnöten, verkauft Isaac Rousseau im Juni 1718 das von seiner verstorbenen Frau geerbte Haus in der «Oberstadt», in Genfs Patrizierviertel, und lässt ich im Kleineleuteviertel Saint-Gervais nieder, in der Rue de Coutance 28. Zunächst ein «Junge von oben» ist Jean-Jacques nun also «nur noch ein Kind von Saint-Gervais».

Von Jean-Jacques’ früher Kindheit und Erziehung wissen wir so gut wie nichts, außer dass er sich, kaum dass er lesen konnte, schon im Alter von fünf oder sechs Jahren mit seinem Vater in Bücher vertieft hat. Zunächst nahmen sie sich die von der Mutter hinterlassene Sammlung vor, hauptsächlich Romane: Artamène ou le Grand Cyrus von Madeleine de Scudéry, Cassandre et Cléopâtre von La Calprénède, L’Astrée von Honoré Durfé … Vater und Sohn verschlingen nächtelang heldenhaftgalante Dichtung, und wenn sie im Morgengrauen die Vögel zwitschern hören, sagen sie ganz beschämt zueinander: «Gehen wir schlafen!»

Auf diese Weise sind die Bücher der Mutter bald ausgelesen. Die beiden stürzen sich nun auf die Bibliothek des Großonkels, des für Literatur und Wissenschaft aufgeschlossenen Pfarrers Samuel Bernard. Dieser Lesestoff ist ernsthafter, fast noch ungewöhnlicher für ein siebenjähriges Kind: die Geschichte der Kirche und des Kaisertums von Le Sueur, die Abhandlung über die Weltgeschichte von Bossuet; Plutarch, Ovid, La Bruyère, Fontenelle, Molière … Gelesen wird in der Werkstatt, während der Arbeit.

1   Die Rue de Coutance im Genfer Handwerkerviertel Saint-Gervais. Aus Geldnot zieht Jean-Jacques’ Vater 1718 mit seinem sechsjährigen Sohn aus dem Patrizierviertel hierher.

Besonders Plutarch wird Jean-Jacques’ Lieblingslektüre, und sie wird es bis ans Ende seines Daseins bleiben. Die Helden aus dessen «Parallelen Biographien» berühmter Griechen und Römer bevölkern seine Traumwelt: «Ohne Unterlass mit Rom und Athen beschäftigt», so schreibt er in den Bekenntnissen (S. 42), «mit ihren großen Männern gewissermaßen lebend, selber als Bürger einer Republik geboren und Sohn eines Vaters, dessen Vaterlandsliebe seine stärkste Leidenschaft war, entflammte ich an seinem Beispiel, fühlte mich als Grieche und Römer und wandelte mich innerlich gewissermaßen in den Menschen um, dessen Leben ich gerade las; der Bericht über Züge von Standhaftigkeit und Unerschrockenheit, die mich ergriffen hatten, erfüllte meine Augen mit Feuer und meine Stimme mit Kraft. Als ich eines Tages bei Tisch die Geschichte des Mucius Scaevola erzählte, sah man mit Schrecken, wie ich meine Hand ausstreckte und über ein Kohlbecken hielt, um seine Handlungsweise zu veranschaulichen.»

Aber mit der Leseidylle ist es bald vorbei. Während einer seiner Jagdpartien, für die Isaac Rousseau ohne allzu große Skrupel seinen kleinen Uhrmacherladen schließt, gerät er mit dem Besitzer eines Feldes, Pierre Gautier, einem Rittmeister a. D. der Kurfürsten von Sachsen, in Streit und legt das Gewehr auf ihn an. Als er ihm einige Monate später in Genf wiederbegegnet, verspottet Isaac Rousseau ihn und schlägt vor, die Angelegenheit mit dem Degen zu erledigen. Gautier entgegnet ihm, dass man für Leute seines Schlags einen Knüppel brauche. Die Beleidigung ist offenkundig: Isaac Rousseau zieht den Degen und streift seinen Widersacher an der Wange. Passanten treten dazwischen und trennen die beiden Gegner. Jean-Jacques’ Vater wird angeklagt und vor Gericht geladen, doch er erscheint nicht. Und der Beamte, der ihn in der Rue de Coutance aufsuchen will, findet dort niemanden vor. Isaac Rousseau ist nach Noyon im Kanton Waadt geflohen. In dieser kleinen Stadt lässt er sich nieder, vermählt sich am 5. März 1726 mit einer gewissen Jeanne François und stirbt am 9. Mai 1747.

Im selben Jahre 1722, in dem sein Vater in die Verbannung geht, ergreift auch Jean-Jacques’ Bruder François, der mit dreizehn Jahren in eine Besserungsanstalt gekommen und danach bei einer Uhrmacherlehre gescheitert war, die Flucht und verschwindet auf Nimmerwiedersehen.

Jean-Jacques ist erst zehn Jahre alt, ein äußerst empfindsamer Junge, der nun ohne den Schutz einer Familie, sich selbst und seinen Trugbildern überlassen, der Welt die Stirne bieten soll. «Das waren die Urheber meines Lebens», schreibt er später im Ersten Buch seiner Bekenntnisse (S. 40), «Von allen Gaben, mit denen sie der Himmel bedacht hatte, ließen sie mir allein ein gefühlvolles Herz. Während es aber ihr Glück gemacht hatte, wurde es für mich die Quelle allen Unglücks meines Lebens.»

Jean-Jacques wird nun der Vormundschaft seines Onkels Gabriel Bernard unterstellt, eines Baumeisters in militärischen Diensten, der an der Befestigung Genfs arbeitet. Zusammen mit seinem eigenen Sohn gibt dieser ihn in Bossey, einem kleinen Ort am Fuße des Mont Salèves ein paar Kilometer von Genf entfernt, beim dortigen Pastor in Pension.

Hier in Bossey, umgeben von zärtlichen, liebevollen, friedlichen Empfindungen, erlebt Jean-Jacques eine Art Kindheitsparadies, an das er sich später stets mit großer Rührung erinnert. Pastor Jean-Jacques Lambercier ist ein höchst einfühlsamer Mann, der seine Schüler nicht überfordert und der es versteht, ihre Freude am Lernen zu wecken. Hier lernt der junge Rousseau zum ersten Mal mit seinem Cousin Bernard den Zauber der Freundschaft kennen: «Bis dahin», so berichtet er in den Bekenntnissen (S. 47), hatte ich wohl erhabene, aber nur eingebildete Gefühle gekannt.» In Bossey beginnt er auch, Gefallen am Leben auf dem Land zu finden, ohne dessen jemals überdrüssig zu werden.

Aber Bossey bedeutet für Jean-Jacques vor allem seine erste Bindung zu einer Frau, zu der Frau, die ihm eine Mutter sein sollte, zu der er sich jedoch unter dem Einfluss «seiner frühreifen sexuellen Regung» wie zu einer Geliebten hingezogen fühlt. Es ist Gabrielle, die Schwester des Pastors Lambercier, die auf die Vierzig zugeht und den beiden Knaben gegenüber eine gewisse Strenge an den Tag legt, die sich nicht nur in Ermahnungen äußert, sondern auch darin, dass sie ihnen bisweilen den Hosenboden strammzieht. Doch siehe da, Jean-Jacques empfindet an dieser körperlichen Züchtigung insgeheim Vergnügen. Als Gabrielle dies merkt, versagt sie sich künftig diese Form der Bestrafung und weist den Kindern, die bis dahin in ihrem Zimmer und bisweilen sogar in ihrem Bett geschlafen haben, einen anderen Raum zu.

Dem Paradies wird jedoch ein jähes Ende gesetzt. Zu Unrecht wird Jean-Jacques eine geringfügige Verfehlung angelastet, er beteuert natürlich seine Unschuld, obwohl der Schein gegen ihn spricht. Man möchte ihn zu einem Geständnis bewegen, fragt ihn immer wieder, redet ihm zu, droht ihm. Je mehr er bedrängt wird, desto beharrlicher widersetzt er sich, so dass sich die zunächst belanglose Verfehlung zu einem bedeutenden Ereignis auswächst. Onkel Bernard wird benachrichtigt. Er übernimmt selbst die Bestrafung, die furchtbar ausfällt. Doch der Junge bleibt standhaft: er geht «zerfetzt, aber dennoch als Sieger» (Bekenntnisse, S. 55) aus dieser harten Prüfung hervor.

Nun sind sie vorbei, die idyllischen Tage von Bossey. Die Erzieher haben ihren Nimbus der Gerechtigkeit und souveränen Vernunft eingebüßt; Furcht, Lüge und Widerspenstigkeit schleichen sich ein; Lernen und Spiel sind gleichermaßen von Wut und Verzweiflung vergiftet; selbst die Landschaft ist wie mit einem Schleier überzogen und hat einen Teil ihres Zaubers verloren. Rousseau vergleicht diesen Zustand mit dem nach dem Sündenfall. Es dauert nicht lange, bis sich ein Gefühl des Überdrusses einstellt, und nach einigen Monaten müssen die beiden Kinder zu Onkel Bernard zurück nach Genf.

In der Stadt genießt Jean-Jacques bei seinem Onkel, einem lebenslustigen Mann, und seiner Tante, einer alten protestantischen Frömmlerin, die sich kaum um ihn kümmert, eine Zeitlang die größtmögliche Freiheit. Sein Cousin ist ihm geblieben: er nimmt an dessen Studien und Spielen teil, er zeichnet, lernt ein wenig Geometrie, vertrödelt ansonsten weitgehend seine Zeit und führt ein müßiges und zugleich emsiges Dasein, in dem einen Käfig bauen, einen Stich kolorieren oder Marionetten bewegen ernsthafte Tätigkeiten sind, die ganze Tage oder Wochen ausfüllen können.

Die zwei Knaben geben sich wenig mit anderen Kindern ab; ihr scheues Wesen reizt nur zu Sticheleien. Jean-Jacques, der stärkere und ungeduldigere der beiden, schwingt sich zum Rächer seines Vetters auf, wird zornig, schlägt zu und wird seinerseits bei Prügeleien auf dem Schulweg geschlagen. Aber in dieser Zeit ist Jean-Jacques auch kindlich verliebt: in die kleine Goton, die Lehrerin spielt und ihm das Hinterteil versohlt, und in Mademoiselle de Vulson, die er in Nyon kennenlernt und zu deren untertänigem Ritter er sich erklärt.

Mittlerweile ist Jean-Jacques in einem Alter, in dem er allmählich an einen Beruf denken muss. Man schickt ihn zunächst zum Gerichtsschreiber Masseron, damit er dort «das nützliche Handwerk eines Schuldeneintreibers erlerne» (Bekenntnisse, S. 69). Aber dieser Beruf entspricht so wenig seinem Charakter und seinem Geschmack, dass sein Lehrherr den Eindruck bekommt, er sei und bleibe für immer ein Esel, und ihn seiner Dummheit wegen schon nach kurzer Zeit schimpflich aus der Gerichtskanzlei verweist.

Die Angestellten des Hauses Masseron sind der Meinung, Jean-Jacques tauge höchstens zum Handhaben einer Feile; daraufhin gibt man ihn zwar nicht zu einem Uhrmacher, wohl aber zu einem Kunststecher in die Lehre. Das bringt erneuten Verdruss. Sein Meister, Abel Ducommun, ist ein junger, ungeschlachter und gewalttätiger Mann, bei dem Jean-Jacques nicht wagt, den Mund aufzumachen, und der ihn ob der nichtigsten Vergehen halbtot schlägt. Also lernt er, sich zu verstecken, Dinge zu verheimlichen, zu lügen und schließlich zu stehlen, zunächst aus Gefälligkeit für einen anderen, dann für sich selbst: er stiehlt Äpfel und Leckereien, Werkzeuge und Zeichnungen.

Dieses Leben eines Taugenichts befriedigt ihn jedoch nicht. Die plumpen Belustigungen seiner Kameraden langweilen ihn, die Arbeit macht ihm keine Freude. Um sich zu zerstreuen, nimmt er zum Lesen Zuflucht; seine Neigung wird zur Leidenschaft, seine Leidenschaft zur Raserei. Ducommun kann ihn noch so sehr überwachen, beim Lesen ertappen, ihn schlagen und seine Bücher verbrennen oder aus dem Fenster werfen: er braucht Bücher, um jeden Preis, gute wie schlechte. Und er holt sie aus der Leihanstalt La Tribu; die wenigen Sous, die er wöchentlich erhält, trägt er regelmäßig zur Bücherverleiherin. Wenn sein Geld nicht reicht, gibt er ihr seine Hemden, seine Krawatten, bittet sie um Kredit.

«So wuchs ich», schreibt er in den Bekenntnissen (S. 84) «in mein sechzehntes Jahr hinein: unruhig, mit allem und mir selbst unzufrieden, ohne Liebe zu meinem Beruf, ohne Freuden, die meinem Alter angepasst waren, verzehrt von Wünschen, deren Gegenstand ich nicht kannte, weinend, ohne jeden Grund zu Tränen, seufzend, ohne zu wissen, worüber, kurz, zärtlich an den Gaukelbildern meiner Phantasie hangend, da ich rings um mich nichts erblickte, was sie hätte aufwiegen können.»

Sonntags nach der Kirche treibt sich Jean-Jacques mit seinen Kameraden gern außerhalb der Stadtmauern herum. Er tut dies mit solchem Eifer, dass er darüber vergisst, wann die Stadttore geschlossen werden. Zweimal hat sein Ausbleiben so üble Folgen für ihn, dass er schwört, sich dem nicht mehr auszusetzen. Als ihm das Missgeschick zum dritten Mal passiert, beschließt er, am nächsten Morgen nicht mehr mit seinen Kameraden in die Stadt zurückzugehen. Es ist der 14. März 1728.

Die Heimat, die Jean-Jacques auf diese Weise verlässt, hätte für ihn der Ort seines Glücks sein können. «Ich wäre ein guter Christ gewesen, ein guter Bürger, ein guter Familienvater, ein guter Freund, ein guter Arbeiter … und nach einem schlichten und dunklen, aber gleichmäßigen und erfreulichen Leben friedlich in den Armen der Meinen gestorben.» Mit diesem Anflug wehmütigen Bedauerns schließt der Autor der Bekenntnisse (S. 88) den Bericht über die erste Periode seines Daseins.

Aber hätte dieser junge Mann mit der Empfindsamkeit, die ihm nun einmal zu Eigen war, im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts diesen Hafen des Friedens überhaupt in Genf finden können? Das darf bezweifelt werden.

Die Republik Genf war damals eine kleine Stadt mit etwa 20.000 Einwohnern. Sie besaß nur einige in der Umgebung verstreute Ländereien, aber ihre bevorzugte Lage am Schnittpunkt der großen europäischen Durchgangstraßen prädestinierte sie zum Handels- und Umschlagplatz. Obendrein hatte die Reformation Genf schon ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zur Hochburg des französischsprachigen Protestantismus und bald zu einer der protestantischen Hauptstädte Europas erkoren. Im Lauf des 17. und des 18. Jahrhunderts unternahmen die Vereinigung der Pastoren, die Akademie und der Kleine Rat gemeinsame Anstrengungen, um Genf seine geistige Ausstrahlung zu bewahren. Die Stadt hatte sich vorsichtig den neuen Strömungen geöffnet: Ende des 17. Jahrhunderts hatte Jean-Robert Chouet der kartesianischen Lehre den Einzug in die Akademie gewährt, und Jean-Alphonse Turettini und sein Schüler Jacob Vernet versuchten im 18. Jahrhundert die Gebote des Glaubens mit den Erfordernissen der Vernunft in Einklang zu bringen. Dieses Christentum, wiewohl es sich «vernünftig» und duldsamer gab, blieb dennoch einer strengen Orthodoxie verhaftet.

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