C.H.Beck
Die Philosophie der Antike umfasst einen Zeitraum von ungefähr 1100 Jahren. Sie bildet eine der bewegtesten und der reichsten Perioden der Philosophiegeschichte überhaupt. Vor den Griechen existierte philosophisches Denken nirgendwo im Mittelmeerraum – vielleicht ja sogar nirgendwo auf der Welt. Die Einführung liefert einen komprimierten Überblick über die wichtigsten Denker und Schulen der antiken Philosophie.
Christoph Horn ist o. Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Antike an der Universität Bonn. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Augustinus (1995), Antike Lebenskunst (1998), Wörterbuch der antiken Philosophie (2002, mit Christof Rapp).
Für Anna und Moritz
Vorwort
1. Die Anfänge:
Wie beginnt die philosophische Welterklärung?
2. Das fünfte Jahrhundert:
Philosophie in der Blütezeit Athens
3. Klassische Philosophie:
Platon und Aristoteles
4. Hellenistische Philosophie:
Nicht nur Kontroversen über die richtige Lebenspraxis
5. Philosophie in Rom:
Übersetzungsleistungen
6. Kaiserzeit und Spätantike:
Heidnischer und christlicher Platonismus
Antike Philosophie: Zeittafel
Literatur
Personenregister
Werkabkürzungen
Wollte man die antike Philosophie präzise datieren, so ließe sich behaupten, sie beginne im Jahr 585 v. Chr. und ende im Jahr 529 n. Chr. Das erste Datum kennen wir, weil Thales von Milet, der früheste für uns greifbare Philosoph, bezogen auf dieses Jahr eine Sonnenfinsternis vorhersagte. Das zweite Datum ist das Jahr der Schließung der letzten nicht-christlichen Philosophenschule im Römischen Reich, der neuplatonischen Akademie in Athen, durch Kaiser Justinian. Akzeptiert man diese beiden Daten, so umfasst die antike Philosophie einen Zeitraum von etwa 1100 Jahren. Es handelt sich um eine der bewegtesten und reichsten Phasen in der Philosophiegeschichte überhaupt. Vor den Griechen existierte philosophisches Denken nirgendwo im Mittelmeerraum – vielleicht ja sogar nirgendwo auf der Welt. (Letzteres hängt davon ab, was genau man unter ‹Philosophie› versteht.) Nach dem Ende der Athener Akademie gab es zwar weiterhin philosophisches Denken, auch organisiert in Institutionen; dieses stand aber für Jahrhunderte weitgehend unter der Autorität der christlichen Kirche.
Zugegebenermaßen ist eine solche Abgrenzung aber pseudopräzise. Einerseits ist zu betonen, dass die Anfänge der antiken Philosophie nicht allein an der Person des Thales festzumachen sind. Der Übergang von mythisch-religiösen Denkformen zu theoretischen Welterklärungen lässt sich bereits bei Homer und Hesiod greifen und ist als komplexer Prozess zu beschreiben. Thales spielt dabei eine herausgehobene Rolle, aber nicht die einer isolierten Gründerfigur. Andererseits darf man nicht vergessen, dass die Philosophie auch im christlich gewordenen Europa (und im islamischen Vorderen Orient) ihren Platz behielt und zum einen als Bildungsgut bewahrt wurde, zum anderen sachlich weitergeführt worden ist. Auch wenn man die Jahrhunderte, die man im Westen als ‹frühmittelalterlich›, im Osten als ‹frühbyzantinisch› bezeichnet, für weniger fruchtbar und interessant halten mag, besteht doch eine grundsätzliche Kontinuität zur Philosophie der Antike.
Die Schwierigkeit einer genauen Abgrenzung der Epochen deutet somit auf ein Problem hin, mit dem diese Einführung durchgehend konfrontiert ist: Vieles muss knapper und eindeutiger präsentiert werden, als es eigentlich gesagt werden sollte. Ein einführendes Buch kann auf den wenigen verfügbaren Seiten natürlich nur die Grundlinien eines solchen komplexen Stoffs entwickeln. Dennoch soll hier versucht werden, mehr als nur ein kondensiertes Extrakt zu liefern. Meine Hoffnung ist es, dass sich auch auf engem Raum einiges von der gedanklichen Attraktivität der antiken Philosophie einfangen lässt.
Danken möchte ich an dieser Stelle Dr. Anna Schriefl für zahlreiche Verbesserungsvorschläge, Malte Kuhfuß für die Erstellung des Registers – und ebenso Anna und Moritz für ihre Mithilfe.
Bonn, im März 2012
Christoph Horn
Die antike Philosophie beginnt an der Ägäis-Küste der heutigen Türkei, im griechischen Siedlungsgebiet Kleinasiens, gegen Anfang des sechsten Jahrhunderts v. Chr., und zwar mit einer besonders schillernden Figur: mit Thales von Milet. Thales war zugleich Astronom, Mathematiker, Ingenieur, Naturforscher und Politiker. Was ihn für uns interessant macht, ist, dass er zudem auch die erste philosophische Deutung der Realität zu geben versuchte.
Aber der Reihe nach. Als Astronom trat Thales in Erscheinung, indem er die Sonnenfinsternis des Jahres 585 v. Chr. prognostizierte. Als Mathematiker beschäftigte er sich mit Trigonometrie und berechnete beispielsweise die Höhe der ägyptischen Pyramiden; zudem schrieb er ein nautisches Handbuch für Seefahrer. Als Ingenieur lässt sich Thales betrachten, weil er einen Fluss umleitete, um so den Weitermarsch eines Heeres zu ermöglichen. Als Naturforscher kann man Thales insofern ansehen, als er sich mit der Frage auseinandersetzte, wie es in Ägypten zu den regelmäßigen Überschwemmungen des Nils kommt. Dass jemand auf so vielen Gebieten Herausragendes leisten kann, ist äußerst ungewöhnlich. Tatsächlich war Thales bereits in der Antike legendär, und sein Ruf als Gelehrter galt als sprichwörtlich. Nicht umsonst beginnt mit ihm die Reihe der ‹Sieben Weisen›: Er gehört (zusammen mit Pittakos, Bias, Solon, Kleoboulos, Myson und Chilon) zu den wichtigsten Exponenten der archaischen Moral und Lebenseinstellung in Griechenland. (Es handelt sich dabei um eine Moral des rechten Maßes und der Besonnenheit.) Nach einer Anekdote, die uns Aristoteles erzählt, betätigte sich Thales sogar als kluger Geschäftsmann: Er soll rechtzeitig vor einer üppigen Olivenernte sämtliche Ölpressen aufgekauft und dann gegen eine hohe Miete verliehen haben, um so zu beweisen, dass man auch als Philosoph zu Geld kommen kann (Politik I.11). Eher weltfremd wirkt er dagegen in der berühmtesten Anekdote, die sich um seine Person rankt: Als Thales eines Nachts den Himmel beobachtete und nicht darauf achtete, wo er hintrat, stürzte er in einen Brunnen – unter dem Gelächter einer thrakischen Magd, die ihn beobachtete (Platon, Theaitetos 174a). Die Magd bringt durch ihr Lachen den common sense-Verdacht zum Ausdruck, dass Philosophen durch ihre hochfliegenden Gedanken ihre Alltagstauglichkeit einbüßen.
Die philosophisch zentrale Leistung des Thales ist aber, dass er die erscheinende Wirklichkeit, wie wir sie aus der Erfahrung kennen, auf ein grundlegendes Prinzip zurückzuführen suchte. Für Thales ist das Wasser dasjenige, «woraus jedwedes Seiende ursprünglich besteht, woraus es als Erstem entsteht und worein es als Letztem untergeht, wobei das Wesen fortbesteht und nur seine Eigenschaften wechselt» (DK 11A12). Was uns Aristoteles hier über Thales berichtet, ist die Idee, man könnte sich alle Dinge in der Welt als Ausdifferenzierungen von Wasser denken. Laut Aristoteles war Thales «der Urheber dieser Art von Philosophie», nämlich derjenigen Denkweise, bei der man alles Seiende auf ein dahinterstehendes Prinzip (archê) oder Element (stoicheion) zurückführt. Die Theorie, wonach alles aus einem Prinzip zu erklären sein soll, lässt sich als explanatorischer Monismus bezeichnen. Für Thales’ Idee eines explanatorischen Monismus ist es kennzeichnend, dass er Argumente zu seiner Stützung aufbot. Um plausibel zu machen, dass das Wasser die Ur-Substanz der Welt ist, wies er darauf hin, dass die Nahrung aller Lebewesen wässrig sei und auch die Samen, aus denen sie entstehen, eine flüssige Form hätten. Thales meinte zudem (wenn auch fälschlich), die Landmasse der Erde schwimme auf dem Wasser des Meeres.
Trotz aller Innovationen unterscheidet sich Thales’ explanatorischer Monismus aber nicht gänzlich von der Erklärungsart, die man von Mythen und aus dem Epos gewohnt ist. Es wäre falsch anzunehmen, die Philosophie sei gleichsam aus dem Nichts entstanden. Homer und besonders Hesiod liefern in ihren Epen ebenfalls Welterklärungen grundlegender Art. In der Theogonie des Hesiod wird die Weltentstehung aus dem Chaos (d.h. dem leeren Raum oder Abgrund) beschrieben und das göttliche Urpaar Ouranos (Himmel) und Gaia (Erde) eingeführt, aus dem sich mehrere Generationen von Göttern und schließlich auch die sterblichen Lebewesen herleiten. Es liegt auf der Hand, dass der explanatorische Monismus des Thales dem des Hesiod aspektweise gleicht. Anders als Hesiod greift Thales allerdings weder auf personale göttliche Mächte noch auf traditionelle Erzählstoffe zurück; er erklärt die Welt aus einem materiellen und natürlichen Prinzip und bedient sich hierfür argumentativer Mittel. Dem widerspricht nicht, dass uns Thales’ Ansicht überliefert ist, dass «alles voll von Göttern» sei (DK 11A22). Hierin kommt nicht so sehr eine Fortdauer der mythischen Sichtweise zum Ausdruck. Vielmehr ist die These gemeint, das gesamte Universum sei ein lebender Organismus. Beispielsweise interpretierte Thales Magnete als ‹beseelt›, weil sie augenscheinlich ein Prinzip der Selbstbewegung sowie der Anziehung von Eisen in sich tragen.
Die Form von Philosophie, wie Thales sie erfand, setzt als eine eigenständig betriebene Disziplin die Tendenz vieler, vielleicht sogar aller Menschen fort, sich grundlegende Fragen über ihr Leben und die sie umgebende Welt zu stellen und diese mit theoretischen Mitteln zu beantworten. Einmal entdeckt, scheint Philosophie eine so attraktive Sache zu sein, dass sie aufgegriffen und fortgeführt wird. Man rubriziert die Autorengruppe des sechsten und fünften Jahrhunderts, die nach Thales Philosophie betrieb, gewöhnlich als ‹die Vorsokratiker› – was insofern fragwürdig ist, als die Philosophen vor Sokrates, die Thales’ Impuls aufgriffen, sachlich nur wenig miteinander teilen. Das Besondere ihrer Fortführung liegt vielmehr darin, dass sie Philosophie nicht repetitiv, sondern als selbständige Aneignung weiterbetrieben. Jeder Philosoph setzte neu an, indem er aufgriff, was ihn an den Erklärungen seiner Vorgänger überzeugte, aber auch klarstellte, was er für falsch hielt und was ihm stattdessen als angemessene Welterklärung erschien.
Es ist nicht überraschend, dass sich eine solche Theoriendynamik zunächst in Bezug auf Thales’ Heimatstadt Milet beobachten lässt. Jedenfalls trat der zweite für uns greifbare Philosoph, Anaximander von Milet, räumlich und thematisch in so unmittelbarer Nähe auf, dass man glauben muss, er habe sich direkt an Thales orientiert. Von Anaximanders Lebensdaten wissen wir nur, dass er im Jahr 546 v. Chr. das Alter von 64 erreicht haben soll. Für Anaximander ist «Prinzip und Element das Unbegrenzte» (to apeiron: DK 12A1 und 9–12). Das apeiron ist ewig, unendlich groß und ohne bestimmte Qualitäten. Anaximanders Überlegung könnte hier gewesen sein, dass das, woraus alle zeitlich aufeinander folgenden Dinge entstehen, selbst ohne Entstehung sein muss. Ebenso muss das, woraus alles nach Eigenschaften Differenzierte hervorgeht, selbst übergegensätzlich sein. Während manches in der Welt warm, anderes kalt ist, manches trocken, anderes feucht, zeigt das apeiron keines dieser Merkmale. Bemerkenswerterweise besitzen wir von Anaximander das erste wörtlich überlieferte Textstück der griechischen Philosophie überhaupt (von Thales existieren nur Berichte). Dieses Fragment, das in einen Bericht des spätantiken Autors Simplikios eingebettet ist, lautet:
Und was für die seienden Dinge die Quelle des Entstehens ist, dahin vollzieht sich auch ihr Vergehen «gemäß der Notwendigkeit; denn sie strafen und vergelten einander gegenseitig ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit», wie er es mit diesen ziemlich poetischen Worten ausdrückt.
Das wörtlich überlieferte Textstück beschränkt sich auf die Worte innerhalb der Anführungszeichen. Anaximander beschreibt hier die zeitliche Abfolge der Dinge als eine Art Gerechtigkeitsordnung, bei der das Vergehen einer Entität als Bezahlen der Strafe für das Unrecht aufgefasst wird. Welches Unrecht meint er dabei – vielleicht die Tatsache ihrer Entstehung als Einzeldinge? Zumindest könnte in dem Fragment eine Theorie angedeutet sein, die erklären soll, wie die Dinge hintereinander aus dem apeiron hervorgehen. Die Zeit erscheint dabei als die übergreifende kosmische Gerechtigkeit, die alles mit strenger Notwendigkeit aufeinander folgen lässt.
Anaximander führte aber auch die naturwissenschaftlichtechnische Seite des Thales fort: Er zeigt ein besonderes Interesse daran, Erdbeben zu prognostizieren, Sonnenfinsternisse vorherzusagen und meteorologische Phänomene zu erklären. Auch soll er den ‹Gnomon› nach Griechenland importiert haben – einen Stab zur Messung des Sonnenstandes (KRS 95). Zudem hat er als erster «die ganze bewohnte Welt auf eine Tafel» gezeichnet, d.h. die erste Weltkarte erstellt (KRS 98). Er fasste die Erdoberfläche als mathematisch beschreibbar auf; dabei deutete er die Erde als zylinderförmig, wobei sie in der «Tiefe ein Drittel ihrer Breite groß» sein sollte.
Der dritte milesische Autor ist Anaximenes. Als sicher gilt, dass er Schüler des Anaximander war. Anaximenes interpretierte die Luft (aêr) als das Prinzip, aus welchem alles entsteht. Um plausibel zu machen, wie die Elementarqualitäten des Feuchten, Trockenen, Warmen und Kalten aus der Luft hervorgehen können (und entsprechend Wasser, Feuer und Erde), bediente er sich der Vorstellung, es handle sich bei ihnen um Verfeinerungen oder Verdichtungen von Luft. So entstehe etwa jene Warmluft, die den Mund eines Menschen verlässt, durch die Verdichtung des Luftstroms an den Lippen. Eine plausibilisierende Größe bildeten für Anaximenes offenbar auch markante Wetterphänomene wie der Regen: Am Himmel entstehen gleichsam aus dem Nichts große Wolken, die Regen auf die Erde fallen lassen. Dies zeige die generierende Kraft der Luft.
Sicherlich der schwierigste unter den vorsokratischen Philosophen ist Heraklit (ca. 520–460 v. Chr.). Bereits in der Antike war seine Dunkelheit sprichwörtlich. Die etwa 120 überlieferten Fragmente, die aus dem einzigen Buch stammen, das er schrieb, sind meist pointierte, aphorismen-artige Kurztexte. Sie vermitteln sofort den Eindruck, dass man es mit einem originellen und hintergründigen, aber auch schwer zu enträtselnden Autor zu tun hat. Heraklits Texte enthalten häufig Paradoxien und sind oft mehrdeutig, bildhaft und reich an Metaphern. Die Heraklit-Deutungen, beginnend mit derjenigen Platons, divergieren denn auch ganz erheblich. Es scheint so, als habe Heraklit die uneindeutige Präsentationsform bewusst gewählt, um für Leser, die seiner Philosophie kein ausreichendes Verständnis entgegenbringen, unzugänglich zu bleiben. Tatsächlich berichten uns die wenigen biographischen Nachrichten, die wir über Heraklit besitzen, von seinem extremen Elitarismus.
Heraklit verbrachte sein ganzes Leben im ionischen Ephesus, das nicht weit von Milet entfernt ist. Es liegt daher nahe, an einen Einfluss der Milesier zu denken; er selbst charakterisiert sich jedoch als unabhängigen Autodidakten (DK 22B101). Gelesen hat Heraklit mit Sicherheit alle ihm zugänglichen Autoren, setzt sich von ihnen aber markant ab. Das zeigt sich bereits an seiner Ablehnung der ‹Vielwisserei› (polymathiê), die nichts zum wirklichen Verständnis der Welt beitrage (DK 22B40). Er soll der Ansicht gewesen sein, die menschlichen Meinungen seien ‹Kinderspielzeug› (DK 22B70).
Sein Buch scheint weder einem einzigen Thema gewidmet zu sein (sondern sowohl prinzipientheoretische als auch kosmologische, religionsphilosophische sowie politisch-ethische Fragen behandelt zu haben) noch eine kohärente Gedankenführung aufgewiesen zu haben (die erhaltenen Fragmente waren wohl als Epigramme aneinandergereiht). Bereits Platon und Aristoteles warfen die Frage auf, ob Heraklit gegen den Satz vom zu vermeidenden Widerspruch verstoßen habe – und wenn ja, ob dies in der Absicht geschehen sei, die paradoxale Natur der Welt vorzuführen. Dann wäre Heraklit als Irrationalist oder Mystiker anzusehen. Dafür spricht, dass er die Lehre von der Koinzidenz der Gegensätze vertreten zu haben scheint (DK 22B12). Platon selbst fasste ihn eher als radikalen Prozess- oder Fluss-Theoretiker auf, welcher behauptet, alles sei in einem permanenten Wandel begriffen, so dass man nichts Feststehendes und Invariantes in der Welt ausmachen könne (DK 22A6 und B49a).
Heute wird dies allerdings meist als ein Missverständnis der Koinzidenzlehre angesehen. Die Fluss-Fragmente verweisen wohl nicht auf einen prinzipiellen Relativismus, und folgerichtig muss Heraklit auch nicht als Irrationalist angesehen werden. Dem Kern der Philosophie Heraklits dürfte man vielmehr näher kommen, wenn man sich an folgendem Fragment orientiert: «Wenn man nicht auf mich, sondern auf den Logos hört, dann ist es weise zuzustimmen, dass alles eines ist» (DK 22B50). Die Welt wird damit als ein einheitlich strukturiertes Ganzes aufgefasst. Die These von der Einheit der Welt wäre mithin im Sinn eines Monismus, der möglicherweise stofflich-materiell ausgerichtet ist, zu verstehen: Alle Dinge in der Welt sind Feuer. Bei Heraklit lässt sich klar die Vorstellung identifizieren, alle Dinge seien letztlich Manifestationen dieses einen Elements (DK 22B30).
Ein wichtiges Motiv Heraklits besteht in der Blindheit oder Ignoranz der überwiegenden Mehrheit der Menschen gegenüber dem, was er selbst als Wahrheit identifiziert. Dieses Unverständnis attestiert er ihnen besonders in Bezug auf die Frage, wie die in der Welt erscheinenden Gegensätze gleichwohl als Ausdruck einer umgreifenden Einheit verstanden werden können. So sagt er etwa (DK 22B51):
Sie verstehen nicht, wie das Gegensätzliche mit sich selbst übereinstimmt: eine gegenläufige Harmonie wie bei Bogen und Leier.
Die Pointe des Vergleichs, den Heraklit hier anstellt, ist wohl, dass der hölzerne Bogen in einem ganz wörtlich genommenen ‹angespannten› Verhältnis zu den Saiten der Leier stehen muss, um Töne zu ermöglichen. Die Existenz von Gegensätzlichem bildet also nicht nur kein Hindernis für eine vereinheitlichende Betrachtung der Welt, sondern ist gerade Ausdruck des produktiven Prinzips, welches in ihr wirksam ist. So bezeichnet Heraklit in einem weiteren Fragment den Krieg (polemos, d.h. den Widerstreit des Gegensätzlichen) geradezu als den «Vater von allem» sowie als «König von allem» (DK 22B53). Das Meer, so betont Heraklit in einem ähnlich orientierten Epigramm, enthält zugleich das sauberste wie das schmutzigste Wasser, insofern es für Fische trinkbar und erhaltend sei, für Menschen dagegen ungenießbar und schädlich (DK 22B61). Hier ist neben der Gegensätzlichkeit der verschiedenen Lebenswelten offenbar zugleich die Relativität unserer Urteile (‹X ist trinkbar›, ‹Y ist schädlich›) angesprochen. Dass man auf denselben Gegenstand entgegengesetzte Merkmale beziehen kann, heißt nicht, dass damit eine konsistente Beschreibung der Welt unmöglich gemacht würde.
Im Bereich des richtigen Handelns und guten Lebens ist bei Heraklit zunächst der Satz bedeutend (DK 22B112):
Besonnensein ist die größte Tugend. Und die Weisheit besteht darin, das Wahre zu sagen und zu tun gemäß der Natur, indem man hinhört.
Heraklit vertritt hier ein theoretisches Lebensideal: Indem man auf das einheitliche Weltprinzip hinhört und es versteht, erlangt man eine Weisheit, die sich am Übergegensätzlichen orientiert. Hier erscheint erstmals in der griechischen Philosophie ein normativer Naturbegriff; ein Leben gemäß der Natur (kata physin) wird in der klassischen und hellenistischen Ethik eine der zentralen Formeln für eine angemessene Lebensführung abgeben. In gewisser Weise, so Heraklit, sind wir selbst es, die durch Einsicht oder Uneinsichtigkeit über unser Lebensschicksal entscheiden. «Für einen Menschen ist sein Charakter sein Daimon» (DK 22B119). Wenn man sich klarmacht, dass ein Daimon ein göttlicher Schutzgeist ist, muss das Epigramm in etwa besagen, dass jeder für sein Glück oder Unglück aufgrund seines Charakters selbst verantwortlich ist.
Ein wichtiges neues Kapitel der Philosophie wird, weit von den ionischen Anfängen entfernt, in Italien aufgeschlagen: die Schule der Eleaten. Der kleine Ort Elea (jetzt Velia) liegt in Süditalien, in der heutigen Provinz Salerno. Die Eleaten stehen in erster Linie für ein neuartiges logisch-begriffliches Argumentieren; sie versuchen, für ihre Positionen zwingende Überlegungen ins Feld zu führen. Zentral für ihre Schule sind drei Namen, nämlich Parmenides, Zenon und Melissos. Man kann Xenophanes von Kolophon, den Lehrer des Parmenides, vielleicht noch als einen Vorläufer zum Eleatismus hinzurechnen.
Die Philosophie des Xenophanes (etwa zwischen 570 und 475 v. Chr.) enthält hauptsächlich einen interessanten Punkt: eine revisionäre Form von Religionsphilosophie. Während nämlich nach allgemein geteilter, traditioneller Auffassung eine Vielzahl von Göttern existiert, vertrat Xenophanes die neuartige Meinung, es gebe nur einen einzigen Gott, oder richtiger: Es gebe einen größten unter den Göttern (Henotheismus). Diese Vorstellung untermauerte Xenophanes mit einem indirekten Argument, das in der späteren Religionskritik einige Bedeutung erlangte: Danach handelt es sich bei den vielen Göttern und ihren Attributen um anthropomorphe Projektionen. Xenophanes wandte sich gegen die Epen Homers und Hesiods, in denen die Götter als stehlende, ehebrechende und betrügende Figuren dargestellt wurden. Er lehnte die Vorstellung ab, sie seien gezeugt und geboren, hätten Kleider, eine Stimme oder einen Körper. Zudem weist er in kritischer Absicht darauf hin, dass «die Äthiopier sagen, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, und die Thraker behaupten, die ihren hätten hellblaue Augen und rote Haare» (KRS 168). Könnten Rinder, Pferde und Löwen Götterbilder herstellen, dann, so Xenophanes, würden sie rinds-, pferde- und löwengestaltige Götterfiguren erschaffen. Der Gott, den er als ‹größten› bezeichnet, gleicht denn auch «weder dem Körper noch dem Geist nach den Sterblichen» (KRS 170). Vor allem aber wird er als denkendes, geistiges Wesen bestimmt: «Als Ganzer sieht, als Ganzer denkt er, und als Ganzer versteht er» (KRS 172).
Die zentrale Figur der eleatischen Schule ist Parmenides. Seine Lebensdaten liegen vermutlich zwischen 515 und etwa 445 v. Chr. Parmenides ist bereits eine Figur des fünften Jahrhunderts, und Platon lässt ihn denn auch als alten Mann in einer (historisch nicht ganz unmöglichen) literarischen Fiktion mit dem jungen Sokrates zusammentreffen. Parmenides’ philosophische Position ist schwer zu interpretieren: Er vertritt wohl einen metaphysischen Monismus, nämlich die Auffassung, dass es überhaupt nur eine einzige Entität wirklich gibt; aber was er damit sagen will, lässt verschiedene Deutungen zu. Die Philosophie des Parmenides ist uns lediglich in ungefähr 160 Hexameter-Versen erhalten, die zu einem Lehrgedicht gehören, welches ursprünglich wohl 800 Verse umfasste. Das Gedicht besteht aus einem Proömium (Einleitungsteil), einem affirmativen, behauptenden Textstück (‹Wahrheitsteil›) und einer kritisch-destruktiven Passage, in der die gewöhnliche Meinung der Menschen zurückgewiesen wird (‹Doxa-Teil›; griech. doxa=Meinung).
Der Text beginnt mit einer Einleitungsszene, die als eine Fahrt im Pferdewagen zur Göttin und damit als eine Offenbarung geschildert wird. Die These, die Parmenides danach im affirmativen Teil des Gedichts der Göttin in den Mund legt, lautet, dass das, was ist, also das Seiende (eonsêmata