Lu am Donnerstag, dem 7. Juni 2012, Fronleichnam
Wenn sie stirbt, dann ist es allein meine Schuld und wie könnte ich damit weiterleben?
Wirklich, ich hatte keine Ahnung, dass Liebe so gefährlich sein kann. Mir war klar, dass Liebe sehr glücklich machen kann oder auch sehr unglücklich. Doch die Liebe vermag noch viel mehr. Liebe kann gerade die Menschen töten, die du am liebsten hast. Und das Schlimmste daran ist, es kann jedem passieren. Aber das glaubt dir niemand. Jeder denkt, so etwas geschieht nur anderen und man selbst würde natürlich sofort merken, wenn etwas schiefläuft. Doch das ist eine Illusion, denn in Wirklichkeit gibt es die eine Wahrheit gar nicht.
Natürlich würde und werde ich alles tun, ja sogar beten, um ihr zu helfen, aber zu welchem Gott? Welcher Gott könnte so grausam sein, ihr zuerst so etwas anzutun, nur um sie dann gnädig wieder zu retten? Und wenn keiner sie rettet, wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, sie zu finden?
Ich muss mich beeilen und ich muss mich endlich beherrschen, doch wenn ich an ihre braunen Augen denke, an die kleinen Speckknubbel über ihren Ellenbogen und ihr rot verschmiertes Gesicht, wenn sie heimlich Himbeermarmelade genascht hat, dann möchte ich den Kopf in meine Arme legen und nur noch heulen.
Schon tropfen wieder Tränen aus meinen Augen auf den Block, der hier in diesem Vernehmungszimmer vor mir auf dem weißen Resopaltisch liegt, und verwandeln meine Notizen in verschwommene Tintenkleckse. Sie haben gesagt, wenn ich es schaffe, mich an jedes noch so kleine Detail zu erinnern, kann ich sie vielleicht retten, deshalb muss Schluss sein mit der Heulerei, ganz egal, wie schmerzhaft es ist, sich unter diesen Bedingungen an etwas zu erinnern, von dem ich dachte, es wäre das Schönste in meinem Leben.
Die Kriminalbeamten tun zwar so, als wäre es nicht meine Schuld, aber sobald Yukiko wieder in Frankfurt gelandet ist, wird sich das ändern, denn sie ist hellsichtig wie alle Mütter. Ihr wird klar sein, dass das, was passiert ist, kein Schicksal war, sondern einzig und allein die Konsequenz aus meiner unfassbaren Dummheit.
Und wie groß diese Dummheit war, erkennt man allein schon daran, dass ich bis gestern dachte, das Schlimmste, was mir jemals passieren könnte, wäre, nie wieder von ihm zu hören oder von ihm betrogen zu werden, mit einer Glatze aufzuwachen oder fünf Kilo zuzunehmen.
Ich schaue auf die große runde Uhr, der einzige Schmuck an den kahlen grauen Wänden in diesem winzigen Raum, sehe, wie der Sekundenzeiger rasend schnell vorrückt, und zwinge mich endlich, an den Punkt zurückzugehen, an dem alles begann.
Die Beamten haben mir erklärt, wie wichtig es ist, dass ich mich genau an die Reihenfolge halte, in der es passiert ist. Auch scheinbar Nebensächliches soll ich erwähnen, denn irgendwo in meiner Geschichte, so behauptet jedenfalls die Kriminaldirektorin Rolfs, könnte der Schlüssel zu ihrer Rettung verborgen sein, und nur wenn ich mich beeile, hat sie eine Chance zu überleben.
Also, wie ich jetzt weiß, begann das alles schon vor achtunddreißig Tagen, nämlich am 1. Mai, als Sebastian und ich uns das weinrote Jaguarcabrio von Christian ausliehen, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Aber natürlich hatte ich damals nicht die leiseste Ahnung, welches Grauen sich daraus ergeben würde…
»Geil, oder?« Mein Bruder Sebastian, der meistens viel zu cool ist, um jemals mehr als »Jep« oder »Äh« oder »Uh« zu sagen, ist ganz aus dem Häuschen, drückt noch stärker aufs Gaspedal und rast die Landstraße Richtung Darmstadt entlang. Die Rapsfelder, die mit der Sonne fast schon brutal gelb um die Wette leuchten, fliegen nur so an uns vorbei und meine langen Haare flattern im Wind wie eine Fahne. In meinem Bauch spüre ich ein unbestimmtes Glücksgefühl, alles ist so frisch, alles scheint möglich, dicke Blütenpollen schweben durch die Luft, der Duft von Flieder und frisch umgegrabener Erde steigt mir in die Nase, während wir in Christians Luxuskarosse leise surrend durch die Landschaft jagen.
Christian ist unser ältester Bruder und irgendein Oberbossmanagerheadofchiefirgendwas bei der Money-Bank in Frankfurt, wo wir alle wohnen. Christian liebt seinen Drittwagen so sehr, dass er ihn nur aus der Garage holt, wenn die Sonne scheint und sein Oldtimer ganz sicher nicht von Regentropfen ruiniert werden kann. Er würde ausrasten, wenn er uns sehen könnte, kann er aber nicht, denn er ist gerade auf wichtigen Terminen in New York und seine Familie hat er mitgenommen, weil das einen besseren Eindruck macht. Das ist ihm wichtig, meinem Bruder Christian. Eindruck schinden.
Basti, der neben mir am Steuer sitzt, ist der jüngere meiner beiden Brüder und das genaue Gegenteil von Christian. Er will Schauspieler werden und findet Ausdruck viel wichtiger als Eindruck. Das hat ihn aber heute nicht daran gehindert, Christians Ray Ban aus dem Handschuhfach zu kramen und aufzusetzen.
»Lass mich auch mal fahren«, bettele ich, schließlich habe ich schon den Führerschein auf Probe.
»Viel zu riskant!«
»Biiitteeee!« Ich versuche es mit meinem süßesten Arme-kleine-Schwestern-Ton.
Basti wirft mir einen genervten Blick zu, ohne das Tempo zu verringern. »Erst wenn du den richtigen Lappen hast.« Er wird etwas langsamer, damit er einer Rennradfahrerin in aller Ruhe auf ihre langen Beine starren kann.
»Spießer!« Während ich beleidigt überlege, wie ich ihn umstimmen könnte, sehe ich von Weitem in einem seitlichen Feldweg ein Polizeiauto, das Basti noch nicht entdeckt hat, weil er sich gerade zu den Mikro-Shorts der Radfahrerin hinaufgearbeitet hat.
»Basti, schau lieber nach links vorne, da stehen nämlich Polizisten und winken uns mit einer Kelle.«
Sebastian bremst so stark, dass mein Oberkörper fest in den Gurt gequetscht wird und ich reflexartig die Hände gegen das Handschuhfach stütze.
»Verdammt aber auch! Bullen! Am Feiertag den Leuten auflauern, haben die denn sonst nichts zu tun? Müssen die keine echten Verbrecher jagen? Lu, hast du irgendwo was blitzen sehen, eine Kamera oder so?«
»Nein, aber ich hab auch nicht drauf geachtet.«
Basti fährt neben das Polizeiauto. »Du sagst nix, ist das klar?«, zischt er mir zu und ich frage mich, warum er dermaßen nervös ist. Hat er von der gestrigen Walpurgisnachtparty vielleicht noch irgendwelches Dope in den Adern, das man bei einem Röhrchentest entdecken würde?
Ein überraschend junger Typ in Uniform, dessen schwarze Haare üppig unter der Schirmmütze herausquellen, beugt sich mit missbilligendem Kopfschütteln zu Sebastian. Dabei fällt sein Blick auf mich und ein Ausdruck tritt in seine Augen, den ich nicht deuten kann. Überraschung? Oder ist das etwa… Bewunderung? Jedenfalls zuckt jetzt ein verblüfftes Lächeln über sein markantes Gesicht und ich fühle mich, als wäre ich ein Filmstar, dem man gerade den roten Teppich ausgerollt hat. Er muss sich räuspern.
Basti schaut mich ungläubig von der Seite an. Mein Anblick hat noch nie jemanden so beeindruckt. Ich bin der mollige Typ mit rotblonden Haaren, einer Brille und viel zu vielen Sommersprossen und könnte in keiner Castingshow mitmachen, weil ich eher altmodisch aussehe, mein Gesicht, meine Arme, alles, einfach alles an mir ist viel zu rund. Was echt ungerecht ist, denn meine Brüder essen den ganzen Tag und sind trotzdem rotblonde Spargeltarzane, was man von dem Polizisten, der sich immer noch verzweifelt räuspert, nicht behaupten kann. Der hat breite Schultern, eine schmale Taille und seine Armmuskeln sprengen fast das hässlich beigegelbe Hemd.
Immer noch lächelt er mich an und starrt so intensiv in meine Augen, dass etwas in mir zu vibrieren beginnt, und schließlich lächele ich zurück, obwohl er Polizist ist.
Leider nähert sich schon sein Kollege, der wiederum in seiner Uniform so verloren wirkt, als wäre ihm alles eine Nummer zu groß. Er hat einen viereckigen hellblonden, akkurat gestutzten Bart, der wie ein Bilderrahmen um sein fades Gesicht wächst und ihn viel älter wirken lässt als den hübschen, weshalb ich mal vermute, der bärtige hat das Kommando.
»Sie wissen, warum wir Sie rausgewunken haben?«, fragt er auch prompt und klingt so humorlos wie mein Physiklehrer beim Abfragen von Formeln. Seine ungewöhnlich bleistiftgrauen Augen scannen den Jaguar kritisch ab, als ob wir Diebesgut darin versteckt hätten.
Ich bin gespannt, wie Basti auf diesen Ton reagieren wird, er hält nichts von jeglicher Staatsmacht und sieht sich gern als kleiner Revoluzzer.
»Äh, ja«, säuselt da mein Bruder, »ich denke, ich weiß, warum Sie uns rausgefischt haben. Wir waren einen winzigen Tick zu schnell, oder?«
Ich fasse es nicht und würde meinen Bruder gern in die Rippen stoßen, um ihn daran zu erinnern, was er zu Hause immer predigt, aber ich bin zu sehr damit beschäftigt, dem hübschen Polizisten in die leuchtenden Augen zu schauen. Ich weiß nicht, sind sie blaugrün oder grünblau oder was? Und sein Mund ist auch sehr interessant, die Oberlippe ist fast herzförmig geschwungen, aber viel heller als die volle und blassrosa Unterlippe.
»Sie waren«, fängt der bärtige an und ich sehe aus den Augenwinkeln, dass er in einem schwarzen Gerät nachschaut, »Sie waren nicht nur ein winziges bisschen schnell, sondern Sie waren mehr als dreißig Stundenkilometer über der Geschwindigkeitsbegrenzung. Das wird teuer. Können Sie sich ausweisen? Und die Fahrzeugpapiere bitte.«
Jetzt kriege ich auch Panik, wir haben die Papiere natürlich nicht, weil Christian sie uns niemals geben würde. Ich reiße mich von dem Anblick des hübschen Polizisten los und überlege, was ich zu Bastis Unterstützung beitragen kann.
Aber da legt sich der hübsche schon für uns ins Zeug. »Hey, Kollege, können wir nicht mal eine Ausnahme machen?«
Der ältere schüttelt seine dünnen blonden Haare. »Nein, können wir nicht! Diesen Rowdys muss man Einhalt gebieten. Eine Verwarnung ist das Mindeste. Und achtzig Euro Bußgeld.«
»Wäre es möglich, das gleich zu regeln?«, fragt Basti und jetzt wird mir klar, dass er viel mehr Angst vor Christian hat als vor den Polizisten.
Der hübsche zwinkert mir zu. »Jep, achtzig Euro, Kollege, mach doch schon mal die Quittung fertig. Aber vorher müssen wir noch die Personalien aufnehmen. Von Ihnen beiden.« Unfassbar, noch nie hat mich jemand so angeschaut, seine Augen streicheln über meinen Körper und ich kriege davon Gänsehaut, als ob er mich wirklich anfassen würde. Ich kenne ihn doch gar nicht, wie kann er da solch eine Wirkung auf mich haben? Außerdem ist der Mann Polizist, dürfen die Frauen so hemmungslos angraben?
Basti protestiert und faselt etwas von Datenschutz, aber da bleiben die Beamten hart. Sie notieren sich unsere Namen und Adressen. Der ältere geht mit den Ausweisen zum Streifenwagen, um die Namen durch den Computer laufen zu lassen, während der hübsche bei uns stehen bleibt.
»Marie-Luise Schrader, dieser Name passt zu Ihnen«, sagt er, dann zuckt etwas in seinem Gesicht und er wendet sich an meinen Bruder. »Sie haben denselben Nachnamen, sind Sie etwa verheiratet?« Sein Blick wandert fragend zu mir zurück und presst seine Lippen aufeinander, was ihn enttäuscht wirken lässt.
»Nein, Sebastian ist nur mein Bruder«, erkläre ich deshalb schnell und mir wird heiß, weil ich kurz davor bin, dem hübschen auch noch zu verraten, dass ich gerade keinen Freund habe. Vielleicht auch noch die Kleidergröße? Ich muss verrückt sein. Hallo Lu-u-u, der Mann ist Polizist!
»Und wie heißen Sie?«, fragt Basti dann den hübschen und kramt zwei zerfledderte Fünfzigeuroscheine aus seiner Hosentasche, die der Polizist entgegennimmt, einen großen Geldbeutel aus seiner Hosentasche herausholt und Basti zwanzig Euro herausgibt.
»Friese. Aber meine Freunde…«, er schaut mich an, als ob Basti gar nicht da wäre. »Meine Freunde nennen mich Diego. Kommt von früher vom Kicken und ist irgendwie an mir kleben geblieben.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Diego. Ein Polizist.
Der bärtige kommt zurück. »Alles okay«, sagt er und überreicht uns widerwillig die Ausweise, dabei sieht er seinen Kollegen böse an. Der kriegt sicher gleich eine Strafpredigt.
»Hier ist auch alles in Ordnung«, sagt Diego, tippt sich an die Schirmmütze, nickt mir zu, tritt zurück und gibt uns frei.
Basti lässt sich das nicht zweimal sagen und fährt los. Betont langsam diesmal.
»Was war das denn?« Basti schaut mich gefährlich lange von der Seite an. »Du flirtest mit einem Bullen? Hast du sie noch alle? Du weißt doch, das sind alles verkappte Nazis.«
»Und du hast zu viele Vorurteile! Du hast dich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. So unterwürfig kenne ich dich gar nicht. Sei froh, dass wir so glimpflich davongekommen sind und Christian nichts von unserer Spritztour erfährt.«
Basti schnaubt verächtlich. »Ich fasse es nicht, du hast den Typen doch mit deinen Blicken förmlich verschlungen.«
»Er hat damit angefangen.«
»Das verstößt bestimmt gegen irgendwelche Regeln. So was dürfen die doch gar nicht. Die sind ja im Dienst!«
Ich muss grinsen, weil ich mich das auch gerade gefragt habe. »Hey Basti, ich denke mal, das ist ein Menschenrecht, sogar Polizisten dürfen sich verlieben.«
»Verlieben?« Basti wird richtig laut. »Der hat dir doch nur auf die Brust geglotzt, ganz klar, was der wollte! Verlieben? So ein Blödsinn. Mädchen sind so was von naiv!«
Mir reicht es jetzt. Und ich will nicht daran glauben, dass Sebastian recht haben könnte. Abgesehen davon, dass ich den Typen sowieso nicht mehr wiedersehe.
»Ich kann sehr wohl unterscheiden, ob mich jemand gierig anstarrt oder ob mich jemand als Ganzes wahrnimmt«, sage ich. »Lass uns zurück nach Frankfurt fahren.«
Basti lacht demonstrativ meckernd wie ein Ziegenbock. »Als Ganzes? Du bist ja nicht mal ausgestiegen. Er konnte nur deine Oberweite sehen!«
Ich rolle die Augen. Auf ein derartiges Niveau lass ich mich nicht ein. Es ist unglaublich, ja, aber es hat irgendwie zwischen uns gefunkt, ganz egal, was Sebi behauptet. Vielleicht täusche ich mich aber auch. Mein Sensor, was Typen angeht, ist ein bisschen beschädigt, seit Lukas mich wegen der hirntoten Vanessa verlassen hat und ich feststellen musste, dass ich die Einzige in der ganzen Schule war, die keine Ahnung von den beiden hatte.
Schweigend fahren wir zurück nach Frankfurt, wo wir in dem kleinen Häuschen unserer Eltern leben, die nach meinem siebzehnten Geburtstag nach Fuerteventura übersiedelt sind, weil Papas Asthma dort viel besser zu ertragen ist als hier.
Basti lässt mich an der U-Bahn aussteigen und bringt dann das Auto zurück in Christians Garage und die Autoschlüssel in die Wohnung. Die Haushälterin Andrea, die sich um das Penthouse kümmert, hat an Sebastian einen Narren gefressen und uns noch nie verraten.
Die U-Bahn ist leer und verführt mich dazu, in Tagträumen zu schwelgen. Als ich etwas später unsere Tür aufsperre, klingelt das Telefon. Ich renne hin, weil der Anrufbeantworter kaputt ist und meine beste Freundin Ellen sich später mit mir treffen wollte.
»Hallo…«, sagt eine samtige Stimme gedehnt. Nicht Ellen.
Mein Herz klopft plötzlich schneller. Kann es wirklich sein, dass das dieser Polizist ist, oder verarscht mich Basti, indem er von unterwegs anruft und seine Stimme dunkler macht als sonst? Mein jüngster Bruder ist berüchtigt für seine Telefonscherze.
»Hallo?«, fragt die Stimme wieder und da höre ich im Hintergrund den bärtigen, der Diego irgendetwas zuzischelt.
»Ja?«
»Entschuldigung, spreche ich mit Marie-Luise Schrader?«
»Lu«, sage ich wie aus der Pistole geschossen, »man nennt mich Lu.«
»Hier ist Diego. Ist es Ihnen unangenehm, dass ich anrufe?«
»Geht es noch einmal um den Strafzettel?«
»Nein, ich rufe nur Ihretwegen an.«
Ich zwinge mich, nicht jeden Satz zu wiederholen wie ein Papagei, obwohl mir fast ein »Echt, meinetwegen?« herausrutscht. Immerhin bringe ich ein neutrales »Ja?« zustande.
»Ich weiß, das ist vielleicht ein wenig ungewöhnlich und ich habe das auch noch nie gemacht, aber ich würde Sie gern wiedersehen. Wäre das für Sie eine Option?«
Eine Option? Für einen Straßenpolizisten redet er ganz schön geschwollen, aber dann fällt mir ein, dass er vielleicht auch nur aufgeregt ist, wenn er das tatsächlich noch nie gemacht hat.
»Das… das wäre wirklich eine Option.« Sage ich dann und muss dabei ein bisschen grinsen, weil ich mir gerade zum ersten Mal in siebzehn Jahren wie Miss Pretty Woman vorkomme.
Er fragt mich, was ich lieber machen würde, ein Konzert besuchen oder am Main spazieren, ein Eis essen gehen oder ins Kino.
Ich bin kurz sprachlos, aber mein Bauch kann sofort eine Entscheidung treffen, Konzert kommt nicht infrage, weil man da nicht reden kann, Kino kann man auch nicht reden, aber schmusen, also ist das erst mal auch nix, bleiben der Main und das Eis. Einen Moment lang frage ich mich, ob er das nur deshalb vorgeschlagen hat, weil ich der rundliche Typ bin und er mich für einen Zuckerjunkie hält – womit er leider auch recht hätte, aber das verdränge ich sofort wieder und wir verabreden uns für übermorgen, weil er da Schichtwechsel und deshalb nachmittags freihat.
Er gibt mir seine Handynummer, falls bei mir irgendwas dazwischenkommt, und ich diktiere ihm natürlich auch meine, als Polizist muss er bestimmt öfter mal länger arbeiten oder Sonderschichten fahren.
Nachdem wir uns verabschiedet haben, lege ich auf und merke, dass ich völlig außer Atem bin. Wow. Der hat ein ganz schönes Tempo vorgelegt. Den Rest des Tages verbringe ich damit, mir zu überlegen, was der Haken an der Sache sein könnte, denn bisher haben sich, von Lukas mal abgesehen, nur seltsame Typen für mich interessiert. Basti behauptet, das läge an meinem Busen, der würde Männer sofort einschüchtern. Christian sagt, ich wäre schlicht zu fett und sollte mal fünfzehn Kilo abnehmen, dann würden auch normale Jungs Schlange stehen. Das ist natürlich Blödsinn, fünf Kilo wären schon okay, aber keine fünfzehn. Vermutlich vergleicht Christian mich mit seiner Frau Yukiko, neben der jede europäische Frau wirkt, als wäre sie eine fettleibige Riesin. Yukiko ist zehn Zentimeter kleiner als ich und damit fünfundzwanzig Zentimeter kleiner als Christian, der mit einem Meter fünfundachtzig der Größte in unserer Familie ist. Er hat sie in Tokio an der Börse kennengelernt, sie war die Chefin der dortigen Börsenaufsicht. Obwohl sie so klein und zierlich wirkt, ist sie unglaublich tough, hat in Karate den höchsten Dangrad und lässt mich gern an den erhabenen Regeln von Karate teilhaben. Da fällt mir gleich die Regel Nummer vier ein: Erkenne zuerst dich selbst und dann den anderen. Also, Lu, was genau fühlst du da gerade? Aber das interessiert mich nicht wirklich, viel lieber würde ich wissen, ob Diego seine Muskeln vielleicht vom Karatetraining hat. Ich beschließe, dass ich meinen Brüdern nichts von der Verabredung verrate, weil mich deren Kommentare nur wahnsinnig machen würden. Der Typ, der Gnade vor ihren Augen findet, muss sowieso erst noch geboren werden. Nur meiner Freundin Ellen erzähle ich alles haargenau und sie freut sich einfach nur für mich mit. Natürlich auch, weil sie gerade selbst so glücklich mit ihrem neuen Freund Max ist und sich wünscht, dass wir dann zu viert losziehen können.
Ich überfliege das, was ich bis jetzt aufgeschrieben habe, und es erleichtert mich ein kleines bisschen. Denn selbst wenn alles nur meine Schuld ist, hätte ich eine Hellseherin sein müssen, um zu wissen, was mit alldem in Gang gesetzt wurde.