Amir Hassan Cheheltan

Teheran, Stadt ohne Himmel

Eine Chronologie
von Albtraum und Tod

Aus dem Persischen übersetzt
von Kurt Scharf

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Kerâmat sieht gut aus, ist mutig und brutal. Mit zehn läuft er von zu Hause weg, geht nach Teheran und verkauft seinen Körper. Am Vorabend der Islamischen Revolution schließt er sich einer Gang an, die Bordelle betreibt und gegen unliebsame politische Versammlungen vorgeht. Aus dem Krieg zwischen dem Iran und dem Irak schlägt er Kapital, indem er einen Schwarzhandel mit Medikamenten und Lebensmitteln organisiert. Als Dank für die Zerschlagung oppositioneller Gruppen erhält Kerâmat nach der Revolution den Posten des Direktors in einem berüchtigten Gefängnis für politische Gefangene.

Mit Kerâmat macht Amir Hassan Cheheltan eine ambivalente Figur zum Helden seines neuen Buchs. In ihr kristallisieren sich die Widersprüche des heutigen Irans, von denen der Autor in einer poetischen und bestrickenden Sprache zu erzählen weiß.

Über den Autor

Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, studierte in England Elektrotechnik, nahm am Irakkrieg teil und veröffentlichte in Teheran bislang Romane und Erzählbände. Zwei Jahre hielt er sich wegen der Bedrohung durch das Regime mit seiner Familie in Italien auf. Sein Roman «Teheran Revolutionsstraße» erschien 2009 als Welt-Erstveröffentlichung auf Deutsch, es folgten «Teheran, Apokalypse» und «Teheran, Stadt ohne Himmel» (beide bei C.H.Beck). Cheheltan veröffentlicht Essays und Feuilletons in der FAZ, der SZ, der ZEIT und anderswo. Er lebte zuletzt u.a. in Berlin und Los Angeles, inzwischen wieder in Teheran. Bei C.H.Beck ist auch sein Roman «Der Kalligraph von Isfahan» (2015) erschienen sowie als Teil der Teheran-Trilogie in einer Neuauflage «Teheran, Revolutionsstraße».

Über den Übersetzer

Kurt Scharf, geboren 1940, ist Übersetzer und Herausgeber von Literatur aus dem Persischen, Portugiesischen und Spanischen. Bei C.H.Beck gab er u.a. den Band «Der Wind wird uns entführen. Moderne persische Dichtung» (2003) heraus.

 

 

Kerâmats Leben in Daten

1
Vier Uhr nachmittags

2
Fünf Uhr nachmittags

3
Sechs Uhr abends

4
Sieben Uhr abends

5
Acht Uhr abends

6
Zehn Uhr abends

7
Elf Uhr abends

8
Zwölf Uhr nachts

9
Am nächsten Tag Elf Uhr morgens

10
Vier Uhr nachmittags

Hinweise zu Umschrift und Aussprache

Personenverzeichnis

Erläuterungen

Nachwort

Kerâmats Leben in Daten

1929

Geburt in einem abgelegenen Dorf.

1941

Er flieht von zu Hause, schlägt sich nach Teheran durch und wird von einem englischen Unteroffizier missbraucht.

1942

Er wird in Habibs Fleischerei beschäftigt.

Sommer 1945

Er verschwindet aus der Fleischerei.

Winter 1945

Erziehungsanstalt.

Sommer 1946

Entlassung aus der Erziehungsanstalt und Bekanntschaft mit Scha’bun «ohne Hirn», Eintritt in eine Bande, deren Aufgaben Angriffe auf Versammlungen, Parteilokale und Zeitungsredaktionen von Kommunisten und Mossaddegh-Anhängern sind, Bekanntschaft mit Pari, der ersten Liebe seines Lebens.

Sommer 1953

Aktive Teilnahme am Staatsstreich der CIA gegen Mossaddegh zugunsten des Schahs.

1954

Bekanntschaft mit Batul.

1955

Eröffnung einer Fleischerei.

1956

Eröffnung einer Goldhandlung.

1959

Bekanntschaft mit Aghdass und die Entdeckung des persischen Schnulzenfilms.

1967

Eröffnung einer Obsthandlung.

1968

Bekanntschaft mit Talâ.

1969

Er sieht den Film «Gheyssar».

1970

Eröffnung einer Automobil-Firma.

1975

Talâ verlässt Iran.

1978/79

Die Islamische Revolution gegen den Schah und Kerâmats aktive Teilnahme daran.

Februar 1979

Sieg der Islamischen Revolution.

Sommer 1979

Kurze, vorübergehende Rückkehr Talâs nach Iran.

November 1979

«Einnahme des Spionagenestes» (Besetzung der amerikanischen Botschaft).

September 1980

Beginn des Irakisch-Iranischen Krieges.

November 1980

Heirat mit Ghontsche.

1981

Beginn einer effektiven Mitarbeit in den revolutionären Institutionen.

1982

Aufnahme der Tätigkeit auf dem schwarzen Markt für Drogen und im Antiquitätenhandel.

Herbst 1994

Erneute, plötzliche Rückkehr Talâs nach fünfzehn Jahren.

1

Vier Uhr nachmittags

Die Kinder standen mitten in der Halle, sie waren fertig angezogen, Ghontsche war dabei, in die Schuhe zu schlüpfen. Sie wollten offensichtlich fort, dennoch fragte Kerâmat: «Ihr geht aus?»

Statt zu antworten, erkundigte sich Ghontsche ihrerseits: «Du bist schon zurück? Warum so früh?»

Kerâmat legte seine Aktentasche auf den Tisch und fläzte sich in den Sessel, der dort stand. Er küsste Ssamie, der an ihn herangetreten war, weil er ihm etwas zeigen wollte, und erwiderte: «Ich hatte keinen Bock, was zu machen, ich war überhaupt nicht in Stimmung.»

Ghontsche schickte die Kinder mit einer Handbewegung zur Tür und meinte: «Kein Wunder, bei der nervtötenden Arbeit, die du hast!»

Dann sah sie ihren Mann an. Es war zwar nichts Neues, aber sie musste es ihm trotzdem noch einmal sagen: «Diese Arbeit ist schließlich und endlich auch nicht gottgegeben, das weißt du ja. Die Leute beschimpfen und verwünschen uns hinter unserm Rücken.»

Dann nickte sie wie zum Zeichen der Konzentration und sprach halblaut zu sich selbst: «Ich muss los!»

Die Kinder waren inzwischen zur Tür hinausgetreten. Ghontsche blieb, bevor sie diese schloss, einen Augenblick auf der Schwelle stehen und meinte dann mit Blick auf die Kinder: «Wir gehen ins Kino, und vielleicht essen wir danach auch unterwegs Abendbrot. Für dich steht was im Kühlschrank, falls du noch nicht gegessen hast. Im Übrigen …» Darauf wandte sie Kerâmat den Kopf zu: «… hat eine Frau angerufen und nach dir gefragt. Sie heißt Talâ.»

Zunächst glaubte Kerâmat seinen Ohren nicht zu trauen, plötzlich strich er die Lehne glatt und wollte fragen: «Wer?!» Aber er tat es nicht. Ghontsches Gesichtsausdruck war vollkommen ernst. Atemlos wiederholte er: «Talâ!»

Nun war Ghontsches Interesse geweckt. Sie drehte sich ganz zu Kerâmat um, und mit der Miene und Haltung von jemandem, der einen Verdächtigen zu einem Geständnis drängen will, fragte sie: «Wer ist denn diese Frau?» Dann setzte sie mit einem bösen Grinsen hinzu: «Bestimmt eine von deinen alten Flammen. Wie sie geflötet und gesäuselt hat! Man hörte, dass sie nicht mehr die Jüngste ist, aber sie tat immer noch ganz schön geziert und kokett. Das alles konnte ich schon aus der Art, wie die redet, heraushören.»

Kerâmat war mittlerweile aufgestanden, er stemmte die Hände in die Hüften: «Ist sie denn jetzt in Iran?»

Ghontsche runzelte die Stirn, sie war offensichtlich unzufrieden und fauchte: «Was? … Ich weiß ja nicht mal, wer diese Person überhaupt ist.»

Sie drehte sich um, tat zwei, drei Schritte und hielt wieder inne. Inzwischen stand sie schon draußen. «Sie hat sogar zweimal angerufen. Das zweite Mal wollte sie die Nummer von deinem Büro, aber ich habe sie ihr nicht gegeben. Auf jeden Fall wusste sie, wo du arbeitest.»

Dann zog sie hinter sich zu.

Kerâmat starrte eine Weile auf die geschlossene Tür. So, als ob alles mit ihr zu tun hätte, mit dieser Tür. Er trat auf sie zu und berührte ohne bestimmte Absicht die Klinke. Es war abgeschlossen.

Er wusste, dass Träume durch geschlossene Türen gehen können, auch Albträume. Nichts kann sie aufhalten. Sie vermögen von weit her zu dir zu kommen und bei dir zu bleiben, viele Stunden, ja sogar tagelang. Außerdem war ihm klar, dass es nicht immer die Träume sind, die zu dir kommen, bisweilen wirst du mitten unter sie geschleudert. Das wusste er instinktiv.

Er schüttelte den Kopf und trat zurück, als wäre das lebenswichtig. Entfernte sich so weit von jener Tür, wie es ihm in jenem großen Haus möglich war, und blieb vor den mannshohen Fensterscheiben des Salons stehen.

Der große, herbstliche Garten war voll gelber Blätter und kahler Äste gewesen, und Talâ hatte auf einer golden schimmernden Schaukel mitten auf dem Rasen gesessen, der nun auf einmal grün war, sie hatte auf eine Stelle im Garten gezeigt und gemeint: «Siehst du die japanischen Quitten da? Die sind mir aus dem Palast des Schahs hierher gebracht worden. Die Kakteen dort …, die mit den lila Blüten, die habe ich auch selbst gepflanzt. Jene orangefarbenen Gladiolen dagegen wuchsen schon in den Gärten, als ich das hier gekauft habe. General Eschrâghi hat mir erzählt, die Stauden sind ihm aus Südfrankreich gebracht worden.»

Talâ strich sich die Haare hinters Ohr, ihre feinen, weichen Locken und die blonden Strähnen neben ihren Wangen glänzten in der Sonne. Sie drehte sich um und forderte ihn auf: «Komm, komm lass uns von hier weggehen. In diesem Land haben wir nichts mehr verloren.»

Verwirrt hätte Kerâmat beinahe die Hände durch die Scheiben nach ihr ausgestreckt, da nahm er Talâs Duft wahr. Er verdrängte alle anderen Gerüche, wehte vom Rand des Gartens herüber.

Ghontsche hatte voller Abscheu gesagt: «Ich weiß ja nicht mal, wer diese Person überhaupt ist.»

Aber Talâ war der einzige Mensch, der es gut mit Ghontsche gemeint hatte. Sie hatte Kerâmat eine Nachricht geschickt, in der sie ihm geschrieben hatte, er solle das erst siebzehn Jahre alte Mädchen nicht plötzlich zu Tode erschrecken …

Kerâmat ging zum Speicher, ohne es zu wollen, seine Schritte lenkten ihn von allein dorthin, so als hätte er keine Wahl. Er schaltete nicht einmal das Licht an, sondern steuerte geradewegs auf einen alten Holzkasten zu, in dem er ein paar persönliche Gegenstände aufbewahrte. Er öffnete vorsichtig den Deckel, und mit einem Schlage veränderte sich die Atmosphäre.

Auf einer Schachtel, die er vor einiger Zeit für die Kinder gekauft hatte, sah er ein Bild, auf dem Rauch aus dem Schnabel einer Kanne aufstieg und die Form einer schönen Frau annahm. Verschiedene Messer mit einer Arretierung und einem Elfenbein- oder Perlmuttgriff, ein paar Ringe mit einem Achat, Ketten, Tücher, einige, wenige Briefe. Und so viele Fotos? Wie viele mochten es sein? Er griff eine Handvoll heraus. Menschen, Orte! … Er nahm die Schachtel mit ins Zimmer.

«… Ich habe gehört, Du willst heiraten. Hauptsächlich deswegen schreibe ich Dir jetzt diesen Brief. Ein halbes Kind. Ich frage mich, was Du mit ihr vorhast? Mit einer, die nicht weiß, was ein Mann ist. Pass auf, dass Du sie nicht plötzlich zu Tode erschreckst, dieses noch nicht flügge gewordene Mädchen … mit dem unsinnigen Gebrüll, das Du ab und zu ausstößt … Ich kenne doch Deine Entzugserscheinungen ebenso wie Deine Rauschzustände und wie lange Du brauchst, um diese offensichtlichen Dinge zu begreifen. Frage nicht, wie ich das erfahren habe! Ich habe es eben mitbekommen. Ich habe dort drüben halt noch ein paar Leute, die mich informieren. Ich bin nicht beleidigt, ich bin auch nicht verärgert. Du hast in all diesen Jahren Dein Leben geführt und ich meins. Aber was ist mit unserer Übereinkunft? … Sie tut Dir jetzt leid, ich weiß. Erst baust Du etwas auf, und dann machst Du es kaputt, das hast Du schon immer so gemacht. Ich kenne die Männer und besonders Leute wie Dich … Warum bist Du nicht mit mir mitgekommen? Wozu bist Du überhaupt dageblieben? Um dann wieder auf alles zu pfeifen? Um zu …?»

Scha’bun «ohne Hirn» hatte den Vorhang noch in der Hand gehalten und ihn mit folgenden Worten empfangen: «Sie hat grade erst angefangen, die ist praktisch noch unberührt.»

Und dann hatte er noch einmal gerufen. Pari war hinter dem Vorhang hervorgekommen. Sie zitterte. Die dünne Seide, unter der ihr Körper deutlich zu sehen war, glitt von ihren Schultern herab. Die dicken, schwarzen Locken glänzten auf ihrer hellen Stirn. Ihre nierenförmigen, roten Lippen waren leicht geöffnet. Die Hände auf dem Bauch, stand sie vor Scha’bun «ohne Hirn» und Kerâmat und senkte den Kopf wie ein Kind. Scha’bun lachte dröhnend und kratzte sich mit einem schabenden Geräusch die Brust.

Und Kerâmat verliebte sich in sie, es war wahre Liebe wie der Minnedienst der edlen Ritter, wie er später begriff, als er das Kino kennenlernte; und es gab nur ein Problem: Pari arbeitete in einem Teheraner Puff. Die ersten paar Tage fragte Pari: «Wieso kommst du hierher? Willst du mich zu deinem Schoßhündchen machen?»

Die Höfe der Bordelle waren überdacht, ab und zu verkümmerte ein Baum vor einem der Häuser aus Mangel an Licht, die viereckigen Fliesen, mit denen man den Boden gepflastert hatte, waren locker. Die Toiletten rochen nach Permanganat, statt Türen hatten sie Vorhänge, ihre muffigen Messingwasserhähne tropften, und die bemoosten Wasserbecken stanken. Die Puffmütter waren picklig, ihre Zigarettenpackungen steckten sie sich zwischen die Brüste, die Frauen rochen nach Monatsblut und wurden Mama genannt. Verbrauchte alte Männer servierten Tee, sammelten Zigarettenstummel vom Boden auf und schickten mürrische Polizeibeamte mit ein, zwei grünen Scheinen fort. So sahen die Teheraner Freudenhäuser im Allgemeinen aus.

Die Puffmutter saß hinter einem klapprigen Tisch und verkaufte Jetons. Soldaten auf Urlaub, Provinzler, denen man von den Teheraner Bordellen vorgeschwärmt hatte, Männer mittleren Alters, die sich mit ihren Frauen gestritten hatten, junge Männer, denen der Schwanz juckte, alle miteinander hockten sie ringsumher auf Eisenbänken und warteten darauf, dass sie an die Reihe kämen. Immer wenn jemand die Treppe herabstieg, erhob sich der Kunde, der dran war, und ging hinauf.

Kerâmat ging Tag für Tag ins Dirnenhaus, aber er rührte Pari nicht an. Er setzte sich neben das Bett auf den Boden und schaute sie an. Er ging immer und immer wieder dorthin, bis sich das Mädchen endlich in ihn verliebte. Schließlich bat ihn Pari: «Nimm mich mit, hol mich hier raus!»

Sie gab Kerâmat die Adresse eines Dorfes, das hinter Berg und Tal lag, jenseits der Wüste. Sie forderte ihn auf: «Geh zum Grab meines Vaters und zünde eine Kerze an, geh und sieh, ob meine Mutter schon wieder geheiratet hat. Ich hatte einen kleinen Bruder, der erst drei war …» Die Puffmutter sah sich gezwungen, aufzustehen und die Treppen hinaufzusteigen, sie klopfte an die Tür und knurrte: «Pari, bist du denn immer noch nicht fertig! Nun mach schon, die Kunden warten.»

Scha’bun «ohne Hirn» hatte befohlen, ihn nicht mehr hereinzulassen. Kerâmat wusste sich wieder einmal keinen Rat mehr. Geld! Wenn er doch nur Geld hätte! Dann würde er Pari an der Hand nehmen und sie wegbringen. Er würde sie in sein Dorf bringen. Er würde sie zu seiner Mutter bringen. Er würde … Damals hatte er keinerlei Habseligkeiten. Nur, was er auf dem Leib trug. Wenn er das wusch, setzte er sich, bis es getrocknet war, in die Sonne. Er hatte nicht einmal Wäsche zum Wechseln. Manchmal verkaufte er mit einem Bauchladen getrocknete Sauermolke, Rosinen und Trockenobst. Manchmal, wenn ihm danach war, ging er auf den Gemüsegroßmarkt, erstand am Abend zehn, zwanzig Kilo Restposten, und bis zum Mittag des nächsten Tages hatte er alles vertickt. Manchmal erpresste er jemanden. Manchmal gab ihm Scha’bun ein üppiges Trinkgeld. Allerdings hatte er auch kaum Ausgaben. Mit einem Zehn-Tumân-Schein in der Hand kam er sich vor wie ein König. Er lebte von der Hand in den Mund und war zufrieden damit. Alles in allem war er zu dem Schluss gekommen, dass Arbeiten etwas für Esel war.

Seine erste Anstellung hatte er in Habibs Fleischerei gefunden. Was hatte ihm das gebracht? Asis, «der Sperber», der die geschlachteten Rinder in die Fleischerei trug, steckte ihm ein Licht auf: Er schuftete sich zu Tode, aber Habib war es, der abends ein Bündel Geldscheine nach Hause brachte.

Als Erstes fing er damit an, eine ruhige Kugel zu schieben. Dann lernte er, beim Abwiegen zu schummeln und minderwertige Ware unterzumogeln. Zum Schluss griff er in die Kasse und machte sich dünne. Einen ganzen Winter lang gammelte er mit Asis, dem «Sperber», herum und haute das Moos auf den Kopf.

Als er nach Teheran gekommen war, hatte er die ersten vier, fünf Monate am Straßenrand herumgelungert und sich vor den Läden aufgehalten, und wenn weder der Schlächter noch seine Kunden diesem Jungen mit dem mageren Hals und den aufgerissenen Lippen, der sie anstarrte, die geringste Aufmerksamkeit schenkten, zog er Leine und haute ab. Seine Augen waren vor Hunger stumpf geworden, und sein größtes Vergnügen war, sich die wunden Stellen am Körper zu kratzen. Aber schließlich stellte ihn Habib ein.

Drei, vier Jahre war er dort beschäftigt. Er bekam keinen Lohn, nur Kost und Logis. Nach und nach nahm er etwas zu und wurde kräftiger. Bis Asis, «der Sperber», ihn anstiftete, in die Kasse zu greifen.

Morgens fing er damit an, den Laden zu fegen und aufzuwischen. Dann zeigte ihm Habib, wie man das Fleisch richtig zerlegt. Kerâmat bewies großes Talent. Nach ein, zwei Jahren konnte er das Fleisch mit geschlossenen Augen von den Knochen lösen sowie Keule und Hesse von der dünnen Fettschicht trennen. Wenn Kerâmat da war, konnte Habib beruhigt die Hände in den Schoß legen, und schließlich machte er seine Arbeit so gut, dass ihm Habib den Laden ganz und gar überließ.

Die Kunden verließen sich ebenfalls auf ihn. Von ihm würden sie nie Ziegen- statt Rindfleisch bekommen oder zähes oder nicht mehr frisches Fleisch. Sogar der Kaffeehausbesitzer und der Kebâbhändler waren zufrieden mit ihm. Dank seiner Anwesenheit wurde das Fleisch des Schlächters Habib nie gammelig, und obendrein war die ganze Lieferung immer schon ausverkauft, bevor es Mittag wurde.

Außerdem bewies er Geschmack. Die Schalen der Tafelwaage, die im Laden stand, rieb er mit Ziegelstaub blitzblank, und die weißen Fliesen an den Wänden polierte er so, dass sie leuchteten. Das Fett der Schwanzstücke schnitt er in Streifen fein wie Haarsträhnen, die Speckschwarten brachte er auf Hochglanz, die Milchlämmer verzierte er mit Papierblumen, steckte ihnen Orangen in den After und hängte sie am frühen Morgen an die Haken an der Wand. Am Abend zündete er in dem leeren Laden zwei, drei Kerzen an, flocht Kränze aus Blumenstängeln und dekorierte damit die Haken. Er schmückte den Laden wie ein Brautgemach.

Gegen Abend kam Habib, nahm ein Bündel Geldscheine aus der Kasse, steckte es sich in die Tasche und ging nach Hause. Kerâmat aber blieb da, auch wenn er sich vom frühen Morgen an abgerackert hatte. Kaum war Habib fort, tauchte Asis, «der Sperber», auf. Sein Unterarm war tätowiert. Das Gesicht einer Frau, umgeben von einem Kranz lockiger Haare. Er erklärte: «Die Erinnerung an eine Traumfrau.»

Die Frauen! Ein- oder zweimal hatte er im Fleischerladen selbst, zum Beispiel an einem heißen, stillen Nachmittag, als eine Frau hereingekommen war und ein verlockender Geruch … vielleicht war es auch nur ein bestimmter Blick oder eine Bluse, von der ein Knopf nahe dem Bauchnabel abgefallen war, und, als er sich zu der Frau umgedreht hatte, um ihr ein in Papier eingewickeltes Stück Fleisch hinzuhalten, und ihren Bauch gesehen hatte, hatte er gespürt, wie er einen Steifen bekam und sich seine Hose vorn wölbte.

Kerâmat war förmlich in die Höhe geschossen. Die Arm- und Beinmuskeln waren nach und nach fest und hart geworden, und seit einiger Zeit traten die bläulichen Adern auf seinem Unterarm deutlich hervor. Der Stimmbruch war zu Ende gegangen, er hatte einen Bass bekommen, und wenn er über etwas nachdachte, bildeten sich zwei tiefe Furchen mitten auf seiner Stirn zwischen den beiden Augenbrauen. In solchen Augenblicken war es ein- oder zweimal geschehen, dass er, wenn er den Kopf hob, bemerkte, dass eine Frau den Blick plötzlich zu Boden senkte.

Asis, «der Sperber», schluckte schwer und fing an, von Freudenhäusern zu schwärmen, von todschicken Frauen, mit denen man für eine Fünf-Riâl-Note schlafen konnte, und eines Abends erzählte er Kerâmat, dass sie sich etwas über die Brüste tun, was man Büstenhalter nennt, und er sprach von Unterhöschen, die sich die Huren anziehen und die keine Hosenbeine haben, und meinte: «Dann kann man, ohne dass sie sich die ausziehen …» Kerâmat bekam wieder einen Ständer; dann zog Asis eine Flasche Arak aus der Innentasche seiner Jacke und sagte: «Die habe ich als Belohnung dafür gekriegt, dass ich einem amerikanischen Soldaten einen Gefallen getan habe.» Dann drehte er den Schraubverschluss auf, hielt sie Kerâmat unter die Nase und meinte: «Riech mal!»

Es roch scharf, Kerâmat wich zurück, aber schließlich trank er einen Schluck. Von der Kehle bis tief in den Bauch hinunter brannte alles wie Feuer.

Asis, «der Sperber», sagte: «Habib hat Asise, die Tochter von Mostafâ, der ‹Leiche›, die ihr Mann dreifach verstoßen hatte, auf Zeit geheiratet, er hat ihr im Judenviertel ein Zimmer gemietet und hält sie da aus.»

Dann setzte er hinzu: «Du rackerst dich hier ab, und dieser Scheißkerl macht Fettlebe.»

Er drängelte immer wieder und wieder, bis er ihn endlich herumgekriegt hatte. Kerâmat geriet auf die schiefe Bahn und gab sich keine Mühe mehr. Der Laden, der bis dahin so blitzblank gewesen war, dass man vom Fußboden hätte essen können, verkam, und auf einmal lag überall Dreck herum.

Die Kunden wurden allmählich unzufrieden; er gab ihnen nur noch ein paar Hände voll Schund und Schmutz. Zuerst verkaufte er ihnen minderwertiges Fleisch, dann betrog er sie beim Abwiegen und dann …

Dann kam die kalte Dusche: sechs Monate Erziehungsanstalt … Vielleicht wäre es ihm besser ergangen, wenn er bei Habib geblieben wäre … Nein! Der hatte ihn wie einen Sklaven gehalten. Zwei, drei Jahre danach begriff er, wie der Hase lief. Er sah ein, dass man nicht zu pingelig sein durfte. In der Besserungsanstalt wurden ihm Augen und Ohren geöffnet. Da war es auch, wo er Hassan, den «Kreisel», und den «gestiefelten» Ahmad kennenlernte.

Nach der Entlassung aus der Erziehungsanstalt hatte der Reigen seiner Bekanntschaften mit verschiedenen Frauen begonnen, aber keine war so umwerfend gewesen wie Talâ. Ghontsche, nun ja, sie war seine Frau, war die Mutter seiner Kinder, aber sie stand ihm fern, war seinen Träumen fremd, auch seinen Albträumen. Und es war stets diese Talâ, die ihm vor Augen kam, manchmal angeheitert und flatterig, manchmal ernst und mürrisch, manchmal auch trübsinnig und griesgrämig.

Mit einem Mal bemerkte er, dass er ganz nass geschwitzt war. Mit der Hand wischte er sich den Schweiß von der Kehle ab. Und dann begann er zu frösteln, tief in seinem innersten Wesen zitterte er vor Kälte. Das war für ihn etwas Neues.

Seinerzeit hatte er das Gefühl zu frieren nicht gekannt. Für ihn war immer Frühling, immer Sommer gewesen. Wenn sie in einer Gruppe zum Teehaus des Maschdis in die Berge gezogen waren, dann hatte er sich ausgezogen, kaum dass er angekommen war. Er hatte sich bei diesem nach seinem Befinden erkundigt, und schweißnass, wie er war, war er in den kleinen Teich, den die Quelle bildete, gesprungen. Einen Tümpel, dessen Wasser eiskalt war, so kalt, dass man die Hand nicht hineinhalten konnte. Man konnte nicht einmal die Zähne in die Wassermelonen schlagen, die der Teehausinhaber am Vorabend zum Kühlen am Rand ins Wasser gelegt hatte.

Er hörte förmlich die zittrige Stimme des Maschdis: «Na! Kerâmat, erinnerst du dich noch an den Tag, als …? Das verzeih ich dir nicht. Eine ganze Woche lang habe ich geglüht wie ein Backofen. Als Folge dieses Unheils habe ich eine Lungenentzündung bekommen, von der ich mich nie mehr erholt habe. Im nächsten Winter ist es mit mir zu Ende gegangen. Mein Blut soll über dich kommen … Nach meinem Tod musste meine Frau als Haushaltshilfe arbeiten. Meine Tochter, die blühte wie ein Strauß von Rosen, musste anfangen, in einem Freudenhaus zu arbeiten. Ich verzeih dir nicht. Noch in dieser Welt wirst du dafür bezahlen!»

In Kerâmats Kopf ging es drunter und drüber wie am Jüngsten Tag. Er sah den hageren Mann aus dem Grab hervorschauen. Seine schmalen Schultern ragten aus der Erde, die bläulichen Adern zogen sich von den Schläfen hinab bis zur Kehle. Durch den Staub, in dem alles verschwand, warf er ihm Blicke zu, die ihn tief aus den Augenhöhlen anblitzten.

Um diese Bilder, diese Albträume, die auf ihn einstürmten, nachdem er die Schachtel mit den Briefen und den Fotos geöffnet hatte, zu vertreiben, schüttelte er den Kopf. Und dann versuchte er, mit einer Handbewegung die flüchtigen Schatten, die vor seinen Augen tanzten, als ob sie aus dem Gewirr der Äste im Garten erneut auf ihn eindrängen, zu verscheuchen. Und unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand ans Geschlecht und murmelte: «Ich weiß nur eins, ich bin wieder gefickt. Damals hab ich mich ficken lassen, und dann hab ich mich doch wieder aufgerappelt, und jetzt bin ich wieder dran.»

Und als läge es an diesem offenen Eingeständnis, wurden die Bilder vor ihm plötzlich blasser.

Als er mitten aus diesem Teich Wellen schlagend und prustend aufgetaucht war wie ein Wal, dessen Kopf die Wasseroberfläche durchstößt, war ihm das Wasser aus allen sieben Körperöffnungen geströmt, und er hatte laut gerufen: «Maschdi, leg deinen Kebâb auf die Glut!»

Er war nach vorn getreten, und das Wasser des Tümpels war übers Ufer geschwappt. Der Maschdi hatte sich das Baumwolltuch von den Schultern genommen, das Gesicht zu Boden gewandt und wie immer, wenn er nicht recht wusste, was er seinem Gesprächspartner antworten sollte, verlegen den Kopf zum Tisch geneigt und zwei, drei Wörter vor sich hin geflüstert.

Kerâmat schoss schon wieder heraus und machte einen Kopfsprung. Alles im Umkreis wurde nass, das Wasser spritzte so heftig, dass eine der Scheiben des Teehauses in tausend Stücke zersplitterte. Erschreckt flatterten die Kanarienvögel hinter den Gitterstäben.

Als Kerâmat die Füße in das Becken hielt, beruhigte sich das Wasser schnell. Der Maschdi nahm zwei, drei trockene baumwollene Tücher von der Stuhllehne und lief auf ihn zu. Kerâmat drehte sich halb um, nahm seine Männlichkeit in die Hand und pisste von dem Ufer aus, an dem er stand, in einem hohen Bogen in das zwei, drei Meter entfernte Gärtchen. Auf einem Holzbrett hinter ihm war ein Knabe mit einem erigierten Glied eingebrannt.

Kerâmat nahm dem Maschdi ein Tuch aus der Hand und band es sich um die Hüften, das nächste legte ihm dieser selbst auf die Schultern.

Die Federmesser machten ein kratzendes Geräusch. Die Kameraden von Kerâmat, die mit ihm zusammen in die Berge gekommen waren, hatten ihre Messer herausgeholt, sie standen unter den Platanen des Gärtchens und stachen damit in die Haut der unreifen Nüsse, die sie unterwegs unter den Bäumen aufgesammelt hatten. Alle warteten gespannt.

Kerâmat wand sich die Handtücher um Kopf und Schultern und fragte: «Na? Ist der Kebâb fertig?»

Das Gesicht des Maschdis war kreidebleich. Da er schielte, war sein Blick nicht auf Kerâmats Gesicht gerichtet, sondern auf einen Holzpfosten der Terrasse. Seine Nasenflügel zitterten. Er senkte den Kopf und sagte: «Lieber Kerâmat … du weißt, dass ich immer Fleisch für Kebâb bereitgehalten habe. Oder ist es etwa schon mal passiert, dass du gekommen bist und die Kohle im Becken nicht glühte? … Aber …»

Seine Stimme zitterte. Hassan, «der Kreisel», «der gestiefelte» Ahmad und Asis, «der Sperber», standen, das Messer in der einen Hand und die Nüsse in der anderen, breitbeinig da, und mit verschleierten Augen, hochgezogenen Augenbrauen und schief sitzendem Hut pfiffen sie leise vor sich hin. Als hätte das, was in ihrer unmittelbaren Nähe geschah, nichts mit ihnen zu tun.

Es war, als ob das Sonnendach der Terrasse, das hölzerne Geländer des Hofs, die abgenutzten Tische, sogar der Innenraum des Teehauses und alles andere, was es ringsum gab, unter dem Eindruck von Kerâmats Gehabe stünden. Etwas Schweres lag in der Luft und raubte dem alten Mann den Atem. Kerâmat hatte noch immer das Baumwolltuch um Kopf und Ohren gewickelt. Die Augenbrauen hochgezogen, den Blick starr auf den Boden gerichtet und die Stirn gerunzelt, flößte er dem alten Mann immer mehr Angst und Schrecken ein. Er war es nicht gewöhnt, ein Nein zu hören. Als Zeichen der Geringschätzung fuhr er sich mit der Hand ans Geschlecht, verzog das Gesicht und fragte: «Na und?»

«Dieser Yâdollah, der Schuft, er möge tot umfallen und auf der Pritsche einer Leichenwäscherei landen! Du weißt doch, der, der mir immer das Fleisch von der Bergweide brachte.»

«Hoffentlich geht dir bald die Puste aus! Als Antwort auf meine Frage genügt ein Wort.»

Der Maschdi antwortete mit derselben zittrigen Stimme: «Ich schäme mich ja so, lieber Kerâmat!»

Kerâmat zog nochmals die Augenbrauen hoch: «Du hast eine halbe Stunde Zeit. Entweder gibt es dann Lammkebâb, oder ich rupfe deine Kanarienvögel lebendig vor deinen Augen, brate sie am Spieß und stopf sie mir ins Maul.»

Erschrocken trat der Maschdi einen Schritt zurück, wandte den Kopf und schaute zu den Käfigen mit den Kanarienvögeln. Er sah aus, als wäre ihm alles Blut aus dem Körper ins Gesicht geschossen. Es fehlte nicht viel, und die zuckenden Augen wären ihm aus den Höhlen getreten. Dann wandte er sich wieder um: «Wo, zum Teufel, soll ich Fleisch herbekommen, wenn …»

Kerâmat schnellte empor wie eine Feder. Er brüllte so laut, dass alle Spatzen, die auf den Bäumen in der Umgebung saßen, aufflogen. «Ich ficke auf der Stelle deine Mutter und deine Schwester!»

Er kannte keine Gnade. Er packte den alten Mann an der Gürtelschnalle, riss ihn mit einem Ruck vom Boden hoch, und noch bevor seine Kameraden dazwischengehen konnten, schmiss er ihn in das Wasserloch. Der ganze Hof des Teehauses wurde nass gespritzt.

Der Maschdi stieß einen Hilferuf aus und versank.

Der alte Mann zappelte dabei wie ein Vogel, der mit den Flügeln schlägt. Immer wieder ging er unter, tauchte wieder auf und näherte sich dem Teichufer. Kerâmat setzte einen Fuß auf den runden Zementrand des Beckens, und mit dem anderen gab er dem Maschdi jedes Mal einen Fußtritt gegen den Kopf. Er fiel in die Mitte des Beckens zurück und versank wieder. Benommen von den dauernden Tritten auf den Hinterkopf schluckte er jede erdenkliche Menge Wasser. Dann hörte er auf zu blubbern. Wenn er den Kopf herausstreckte, hatten die Männer, bis er den nächsten Fußtritt erhielt, nur einen kurzen Moment Gelegenheit, die Todesangst zu sehen, die ihm aus den Augen blitzte.

Kerâmats Kameraden flehten ihn an. Sie beschworen ihn bei ihrem Bart, ihrem Schnurrbart und allem, was ihnen lieb und teuer war. Hassan, «der Kreisel», meinte: «Verehrter Kerâmat, ich appelliere an dein Gerechtigkeitsgefühl, dieser arme Kerl kann doch nichts dafür!»

Kerâmat brüllte und brüllte so laut, dass sich die verstorbenen Angehörigen des Maschdis im Grabe herumdrehten. Eine Zeit lang sah er seine Kameraden mit blutunterlaufenen Augen an, dann wandte er dem Wasserloch, einen Fluch auf den Lippen, den Rücken zu: «Schließlich muss ich diesem Arschloch doch Benehmen beibringen.»

Er sprang auf die Terrasse und versetzte den Stühlen ein paar Fußtritte. Endlich starrte er, die Hände am Gürtel, keuchend vor Wut auf die Käfige mit den Kanarienvögeln. Selbst wenn er das gesamte Teehaus in Brand gesteckt hätte, hätte niemand es gewagt, ihn auch nur mit einem Tröpfchen Wasser zu bespritzen, um seine Wut abzukühlen.

Er drehte sich um, hob die Hände, mit jeder Geste zerschnitt er die Luft. Seine Bewegungen waren so abgehackt, als hätte er ein Skelett aus Stahlbeton. Er selbst ging, aber seine Bewegungen blieben in der Luft hängen.

Als der Maschdi schließlich aus dem Wasser stieg, bibberte er eine ganze Stunde lang in der Sonne. Bald war das Zittern so stark, dass er mit den Zähnen klapperte, und er konnte nicht einmal sein Gebet für Kerâmats Tote zu Ende sprechen, als das Schlottern schon wieder seinen ganzen Körper ergriff. «Der gestiefelte» Ahmad rühmte Kerâmats Großmut dem Maschdi gegenüber und meinte zu diesem: «Nur zu, du kannst gar nicht genug für ihn beten.»

Kerâmat war ja allgemein bekannt für seine Güte und seinen Edelmut. Vor Kurzem hatte er im Gefängnis befohlen, eine von diesen Kommunistinnen und Heuchlerinnen vor den Augen aller auf die Fußsohlen zu schlagen, um sie zu züchtigen, aber die Frau gehorchte nicht, sie legte sich nicht hin und hielt die Füße nicht hoch.

«Ich habe dir gesagt, du sollst dich hinlegen!»

Das Gebrüll ließ die junge Frau zittern, aber sie sagte: «Ich lege mich vor keinem Mann hin.» Da war die junge Frau im Recht.

«Wo ist denn dein Sinn für Anstand geblieben, Mann», fragte er sich, und er verzieh ihr. Er war schließlich ein Gentleman. Er schlug sich mit der Peitsche an den Stiefel und blickte zu Boden. Sie war zwar eine Frau, aber sie hatte es auf den Punkt gebracht. Kerâmat biss sich im Mundwinkel auf die Lippe und wandte sich ab. Sein Assistent Mostafâ und ein Haufen Handlanger liefen hinterher.

An jenem Tag im Garten des Maschdis waren aus Kerâmats Mund, solange er dort war, nur Flüche zu hören gewesen, und er ging noch zwei-, dreimal auf den Maschdi los, sodass ihn seine Kameraden am Kragen packten, gebührend bewunderten, was für ein toller Kerl er doch war, und ihn zurückhielten.

Aber es gab noch ein anderes Gärtchen, dessen Wasser im Becken ebenso kalt war wie das im Teich vom Maschdi …!

Maulbeerbäume, Rosensträucher, gleichmäßig beschnittene Buchsbaumhecken und ein Zaun aus Metall mit einem Muster von Tauben und Sternen, ein Zementbecken, dessen blaue Farbe ausgeblichen war, und eine Frau namens Batul!

Kerâmat hatte inzwischen eine Fleischerei eröffnet, ja, das Geld hatte ihm Batul gegeben, aber Inhaber des Ladens war er aus eigener Kraft geworden. Danach war es sein größter Wunsch gewesen, eine auf Tschelou-Kebâb spezialisierte Gaststätte zu eröffnen. Sie sollte eine geräumige Küche haben und zahlreiche Angestellte, die das Fleisch auf die Spieße steckten, den Reis zubereiteten, Sumach darauf streuten und die Wasserpfeifen stopften. Und er selbst würde an der Kasse sitzen, von seinesgleichen würde er kein Geld nehmen, armen Kindern würde er gratis Kebâb geben, und wenn sich die Gelegenheit bot, würde er sie alle versammeln und zu dem Film «Ein edelmütiger Schelm» mit ins Kino nehmen. Wenn Batul ihr Gärtchen verkaufte, könnte er das größte Tschelou-Kebâb-Restaurant der Hauptstadt oder gar der Welt eröffnen.

Batul gab das Gärtchen jedoch nicht auf, und die Angelegenheit entwickelte sich nicht gut. Kerâmat fing an, sie unter verschiedenen Vorwänden anzuschreien.

An einem solchen Tage – auf dem Höhepunkt einer ihrer täglichen Streitereien – stand Batul auf und ging zum Telefon. Sie wählte eine Nummer, und dann fragte sie nach dem Herrn Oberst.

Kerâmat hatte auch schon vorher Wind davon bekommen, dass einer dieser Großkotze ein Auto mit Chauffeur zu ihr zu schicken pflegte. Während Batul mit dem Telefonkabel spielte, lachte sie wollüstig, und zwar so laut, dass der Kronleuchter an der Decke ins Schwanken geriet. Zwischendurch schaute sie Kerâmat mit finsteren Blicken an.

Wütend schlug er die Tür hinter sich zu und ging. Er wusste, dass die Macht eines Obristen größer war als seine eigene, und er wusste auch, dass Scha’bun mit vielen dieser hohen Offiziere bekannt war. Er ging zu Scha’bun, aber er hatte den Mund noch nicht geöffnet, um ihm sein Leid zu klagen, als dieser ihn mit folgenden Worten begrüßte: «Gut, dass du kommst, sei morgen ganz früh hier, ich habe Arbeit für dich. Die Kommunisten haben zu einer Demonstration aufgerufen, das sollen sie büßen!»

Es sollte ein stürmischer Tag in den Straßen der Stadt werden … Sie waren auf die Straße gezogen, brav wie Schulkinder hatten sie sich in Reihen aufgestellt, sie trugen Brillen und Schlipse, manche hatten Schirmmützen auf. Unter ihnen waren auch unverschleierte Frauen. Sie erhoben die Faust und riefen ihre Parolen. Sie verlangten Brot, Wohnung und noch ein paar solche Dinge.

Man durfte nicht zulassen, dass sie den zentralen Platz der Stadt erreichten. Wenn sie da ankämen, würden er und seine Leute nichts mehr ausrichten können. Auf einmal flog ein brennendes Holzscheit durch die Luft und fiel mitten in die Menge. Eine Frau schrie auf. Die Reihen gerieten durcheinander, zwei, drei Verwundete wurden vom Schauplatz des Geschehens weggebracht … Es dauerte nicht lange, und die Menge setzte ihren Marsch fort. Kurz darauf begann es Steine zu hageln.

Am Straßenrand standen Polizisten mit der Hand hinterm Rücken, ließen ihren Knüppel um das Handgelenk kreisen, trillerten mit ihren Pfeifen und guckten in die Luft. In solche brenzligen Angelegenheiten mischten sie sich lieber nicht ein. Auf beiden Straßenseiten pissten eine Gruppe von Männern von den Balkonen der Regierungsgebäude herab auf die Leute, die unten auf dem Bürgersteig standen und zuschauten.