Sonderveröffentlichungen
der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte
herausgegeben von Jürgen Jensen
Band 68
Kiel ist nicht allzu häufig in den Fokus der großen deutschen Geschichte getreten. Meistens wird die Stadt in Verbindung mit dem Matrosenaufstand Anfang November 1918 genannt, als sich Matrosen und Arbeiter gegen das nach vier Jahren Weltkrieg ausgelaugte Wilhelminische Kaiserreich auflehnten. Sie forderten ein Ende der Kämpfe, die Abschaffung der Monarchie und eine demokratische Regierung für Deutschland. So schnell wie sich der Funke der Revolution in Kiel entzündete, so rasch sprang er auch auf ganz Deutschland über. Nur wenige Tage später ging der Kaiser ins Exil, und in der Reichshauptstadt wurde die Republik ausgerufen. Die große Politik war von Kiel nach Berlin weiter gezogen.
Der Matrosenaufstand 1918 war aber nicht das erste Mal, dass Kieler und Schleswig-Holsteiner für Demokratie, Bürgerrechte und Freiheit auf die Straße gingen. Bereits 70 Jahre zuvor hatten sich im März 1848 in Kiel und in den Herzogtümern Schleswig und Holstein Bürger versammelt, um für die Einheit und Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins und einen demokratischen deutschen Nationalstaat zu kämpfen. Der Landeshistoriker Alexander Scharff bilanzierte 1978, dass das, was auf dem Markt der Stadt Kiel in der Nacht vom 23. auf den 24. März 1848 geschehen sei, nicht nur „ein Ereignis der Kieler Stadtgeschichte oder ein Vorgang auf enger provinzieller Ebene“ gewesen sei; es habe „seine tiefen Wurzeln und ist von Wirkungen gewesen, die weit über das Land hinaus strahlten und weit über das Jahr 1848 hinaus von geschichtlicher Bedeutung sein sollten.“
Diese beiden epochalen Ereignisse von 1848 und 1918 sind bereits häufiger Gegenstand hiesiger historischer Untersuchungen gewesen, wobei „1848“ in den letzten Jahren eher in den Hintergrund und „1918“ in den Vordergrund des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses getreten ist. Nicht zuletzt aus diesem aktuellen Grund hat die Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte an den Historiker Dr. Martin Rackwitz den Forschungsauftrag vergeben, die Märzrevolution im Rahmen der internationalen Verwicklungen, aber auch unter besonderer Berücksichtigung der lokalen und regionalen Voraussetzungen und Ereignisse zu untersuchen. Wir sind dem Autor für seine hiermit vorgelegte gründliche und weiterführende Darstellung sehr zu Dank verpflichtet und freuen uns, im Boyens Buchverlag und seinem Verlagsleiter, Herrn Bernd Rachuth, wieder einen bewährten Partner gefunden zu haben.
Kiel, im März 2011
Dr. Jürgen Jensen
Vorsitzender der Gesellschaft
für Kieler Stadtgeschichte
Das Frühjahr 1848 stellt in der deutschen Geschichte einen wichtigen Wendepunkt dar. Dieses Buch schildert die politischen Ereignisse in Kiel und in Schleswig-Holstein im bewegten Jahr 1848 und ordnet sie in den Zusammenhang der deutschen Revolution und der Schleswig-Holsteinischen Erhebung gegen Dänemark ein. Durch das Eingreifen des Deutschen Bundes in einen Konflikt innerhalb der dänischen Monarchie wurden auch die europäischen Großmächte Großbritannien, Schweden und Russland im Sommer 1848 auf den Plan gerufen, und der in Kiel ausgelöste Konflikt um Schleswig-Holstein entwickelte sich zu einem europäischen Problem, das die internationale Diplomatie von 1848 bis 1852 in Atem hielt.
Einleitend wird die schwierige Stellung Schleswig-Holsteins im dänischen Gesamtstaat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschaulich vorgestellt. Daran anschließend wird das geistige und politische Klima in der Universitätsstadt Kiel erläutert, das in den 1840er Jahren wesentlich zum Entstehen der gegen den dänischen Gesamtstaat gerichteten Schleswig-Holsteinischen Bewegung beitrug. Die Ausrufung der Provisorischen Regierung am 24. März 1848 vor dem alten Kieler Rathaus markiert den Beginn der militärischen Erhebung gegen Dänemark und steht zugleich am Anfang einer Reihe bedeutender politischer und sozialer Reformen in Schleswig-Holstein, die auch weit über die Landesgrenzen hinaus wirkten. Diese Untersuchung zeigt ebenfalls die Rolle der Kieler Professoren und schleswig-holsteinischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung, dem ersten frei gewählten gesamtdeutschen Parlament, und erläutert ihre wichtigen Beiträge im Ringen für Bürgerrechte und einen demokratischen deutschen Nationalstaat. Im Mittelpunkt der anschließenden landesgeschichtlichen Betrachtung stehen die schrittweise Demokratisierung Schleswig-Holsteins und der politische Übergang von der noch nach vordemokratischen Prinzipien zusammengesetzten Ständeversammlung zu der in Kiel tagenden Landesversammlung, dem ersten aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlament, das im September 1848 mit dem Staatsgrundgesetz die erste demokratische und liberale Landesverfassung verabschiedete. Danach wird aus stadtgeschichtlicher Perspektive die Reform der Stadtregierung erläutert, die es den Kieler Bürgern erstmals ermöglichen sollte, ihre Stadtverordneten, kommunalen Amtsträger und Bürgermeister frei zu wählen. Die neu gewonnenen Freiheiten führten aber auch in Kiel zu großen Spannungen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen in der Stadt, und die Konflikte zwischen dem fortschrittlichen Bürgerverein und dem konservativ geprägten Magistrat als Bastion der alteingesessenen großbürgerlichen Familien werden ausführlich geschildert. Mit dem Scheitern der deutschen Revolution und der militärischen Niederlage der Schleswig-Holsteiner in der Erhebung fanden auch die demokratischen Reformen ein Ende. Abschließend wird untersucht, wie die Kieler Bürger und die Stadt Kiel in der Erinnerungskultur mit dem kontroversen politischen Erbe der Erhebung von 1848−51 umgingen und welche Spuren dieser bewegten Zeit sich heute noch im Stadtbild finden lassen. Diese Publikation würdigt den Kampf der Kieler und der Schleswig-Holsteiner 1848−51 für Bürgerrechte, die Unabhängigkeit ihres Landes von Dänemark sowie ein geeintes und demokratisches Deutschland. Zum besseren Verständnis runden 25 Kurzbiografien der wichtigsten Kieler und schleswig-holsteinischen Politiker sowie eine umfassende Chronologie der Schleswig-Holsteinischen Erhebung und der Deutschen Revolution 1848/49 das Buch ab.
Als Quellen für diese Darstellung wurden die Erinnerungen der beteiligten Politiker, die Sitzungsprotokolle der schleswig-holsteinischen Stände- und Landesversammlung, der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche sowie die zeitgenössische Berichterstattung aus den schleswig-holsteinischen und deutschen Zeitungen herangezogen. In Zitaten aus diesen Quellen wurde die exakte Schreibweise der Originale übernommen, um die Quellen originalgetreu wiederzugeben. Schleswig und Holstein waren bis zur Verkündung des Staatsgrundgesetzes am 15. September 1848 zwei verfassungsrechtlich getrennte Herzogtümer und bildeten erst danach einen gemeinsamen Staat. Der besseren Verständlichkeit halber wird aber auch für die Zeit der Provisorischen Regierung vom 24. März 1848 an von „Schleswig-Holstein“ gesprochen, da diese Regierung beide Herzogtümer als zusammengehörig betrachtete.
Viele Personen und Freunde haben zu diesem Buch beigetragen. Allen voran gilt mein Dank Dr. Jürgen Jensen von der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte, der die Anregung zu diesem Buch gab und es stets kritisch und hilfreich begleitete. Ein besonderer Dank gilt auch Dr. Jens Ahlers und Herrn Arndt von der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, die einen großen Teil der Bilddokumente für dieses Buch bereitgestellt haben. Dem Antiquariat Schramm, Kiel, verdanke ich die Vorlage von Bild Nr. 7 aus Gustav Kühns Neuruppiner Bilderbogen aus dem Jahr 1848. Herrn Professor Thomas Riis danke ich für die Durchsicht des Buchmanuskripts und seine wertvollen Hinweise zur dänischen Verfassungsgeschichte. Mein Dank gilt auch dem Landesarchiv Schleswig, der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek und dem Stadtarchiv Kiel, deren stets hilfreiche, kompetente und freundliche Mitarbeiter mir die Archiv- bzw. Literaturrecherche sehr angenehm gemacht haben und ohne deren tatkräftige Unterstützung diese Publikation so nicht zustande gekommen wäre.
Dr. Martin Rackwitz
Ludwig Nicolaus von Scheel, Präsident der für Schleswig und Holstein zuständigen Regierungsbehörde auf Schloss Gottorf, meldete zur Jahreswende 1847/48 an seinen Dienstherrn Carl Graf von Moltke, den Chef der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Kanzlei in Kopenhagen, dass den Menschen in Schleswig-Holstein wegen des strengen Winters kaum der Sinn nach Politisieren stehe, die politische Aufregung der vergangenen Jahre verflossen sei, die schleswig-holsteinische Agitation nachgelassen habe und im Volk zurzeit auf wenig Sympathie stoße.1
Nur wenige Wochen später sollten sich die politischen Ereignisse in Dänemark und Schleswig-Holstein überschlagen: In Kopenhagen starb der König, die alte gesamtstaatlich gesinnte Regierung wurde gestürzt und nationalliberale Dänen, die sogenannten Eiderdänen, übernahmen die Macht. In Kiel konstituierte sich die Provisorische Regierung, die Schleswig-Holsteiner bewaffneten sich und zogen gegen die dänische Armee ins Feld. Ludwig Nicolaus von Scheel floh aus seinem Schleswiger Palais nach Dänemark.
Die Ereignisse des März 1848 bildeten den Auftakt der Schleswig-Holsteinischen Erhebung gegen Dänemark – in Dänemark „oprør“ (Aufruhr) genannt –, in deren Mittelpunkt im Frühjahr und Sommer 1848 die Provisorische Regierung stand. Sie versuchte mit Hilfe der mehrheitlich deutsch gesinnten Bevölkerung, die Herzogtümer Schleswig und Holstein gegen den Willen der dänisch gesinnten Bevölkerung und der Regierung in Kopenhagen aus dem dänischen Gesamtstaat zu lösen und in einen neuen deutschen Nationalstaat einzugliedern.
Die Zukunft Schleswig-Holsteins wurde so weit über die Landesgrenzen hinaus zu einer Schicksalsfrage, die im Revolutionsjahr 1848 auch die große Politik in der Frankfurter Paulskirche bestimmte, wo die erste Deutsche Nationalversammlung zur gleichen Zeit um die politische und nationale Zukunft Deutschlands rang und in der die Kieler und schleswig-holsteinischen Politiker eine herausragende Rolle spielten.
Auch wenn der Ausbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung für viele überraschend kam und dem bis dahin friedlichen Nebeneinander der Deutschen und Dänen ein jähes Ende setzte, so gärte es doch bereits seit Jahren in den Herzogtümern. Vor allem im Landesteil Schleswig waren die Spannungen zwischen dem dänischen und dem deutschen Bevölkerungsteil nicht mehr zu übersehen.
Seit 1773 gehörten die Herzogtümer Schleswig und Holstein zum dänischen Gesamtstaat, der sich bei seiner Gründung von der Elbe im Süden bis nach Norwegen im Norden erstreckte und verschiedene Volksgruppen und Nationalitäten umfasste.2 Der dänische König herrschte seit der Lex Regia von 1665 absolutistisch, war in Personalunion zugleich Herzog von Schleswig und Holstein und in dieser Funktion Landesherr der beiden Herzogtümer. Letztere waren wiederum durch das Ripener Privileg von 1460 angeblich untrennbar verbunden und pochten auf ihre Sonderstellung innerhalb des dänischen Staates. Das „ewich tosamende ungedelt“ des Ripener Privilegs wurde in den 1840er Jahren von den deutschen Schleswig-Holsteinern zum Schlagwort „up ewig ungedeelt“ umgedeutet, um so die Zugehörigkeit beider Herzogtümer zu Deutschland zu rechtfertigen. In seiner Funktion als Herzog von Holstein war der dänische König zudem seit 1815 auch Mitglied des Deutschen Bundes, der aus nicht weniger als 38 Einzelstaaten bestand, und hatte sich in der Bundesakte vom 8. Juni 1815 dazu verpflichtet, für Holstein eine zeitgemäße landständische Verfassung zu schaffen.
Der Nationalstaatsgedanke als beherrschende politische Idee in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging auch an den Deutschen und Dänen in Schleswig und Holstein nicht spurlos vorbei und entzündete sich vor allem an der staatlichen Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig, das im Süden und in der Mitte überwiegend von Deutschen und im Norden mehrheitlich von Dänen bewohnt war. 1830 veröffentlichte der Sylter Landvogt Uwe Jens Lornsen die Flugschrift „Über das Verfassungswerk in Schleswigholstein“ und forderte eine Schleswig und Holstein verknüpfende Repräsentativverfassung, eine völlige verwaltungsmäßige Trennung Schleswig-Holsteins von Dänemark und die Verlegung der Regierungskollegien von Kopenhagen in die Herzogtümer. Obwohl Lornsen die Personalunion mit dem dänischen König beibehalten wollte und quasi eine Teilautonomie für die Herzogtümer vorschlug, war schon die Schreibweise „Schleswigholstein“ in einem Wort, die die seiner Auffassung nach untrennbare Zusammengehörigkeit der Herzogtümer signalisieren sollte, eine Provokation gegenüber dem dänischen König, die Lornsen mit seiner Absetzung als Landvogt und Verurteilung zu einem Jahr Festungshaft bezahlte. Von den deutsch gesinnten Schleswig-Holsteinern wurde er deshalb rasch zu einem prominenten Vorkämpfer und Märtyrer ihrer Sache hochstilisiert. Nur zwei Jahre später argumentierte der dem Dänentum verbundene Kieler Juraprofessor Christian Paulsen in seiner Schrift „Über Volksthümlichkeit und Staatsrecht des Herzogthums Schleswig nebst Blicken auf den ganzen dänischen Staat“, dass Schleswig zu Dänemark gehöre, und verteidigte das Recht der dänischen Schleswiger auf ihre Sprache und Kultur. Der Nationalitätenstreit um Schleswig zwischen Deutschen und Dänen hatte begonnen.
Die Eiderdänen unter ihrem Führer Orla Lehmann forderten ab 1842, das Herzogtum Schleswig inklusive der mehrheitlich deutsch gesinnten Gebiete in einen neuen dänischen National- und Verfassungsstaat einzugliedern, dessen südliche Grenze die Eider bilden sollte (Danmark til Ejderen!). Im Gegenzug waren sie bereit, Holstein und Lauenburg an Deutschland abzutreten. Eine Minderheit der deutsch gesinnten Schleswig-Holsteiner wollte sich hierauf aber nicht einlassen. Sie verwahrte sich gegen eine Trennung der Herzogtümer und verlangte auch die Eingliederung von Schleswig bis zur Königsau inklusive seiner dänischen Minderheit in einen deutschen Nationalstaat. Dänemark bis zur Eider bzw. Schleswig-Holstein bis zur Königsau, diese konträren Vorstellungen waren unvereinbar und bargen gewaltigen politischen Sprengstoff für Dänen und Deutsche. Erschwerend kam hinzu, dass sich die dänischen Nationalliberalen zunehmend als Vorreiter eines politischen Skandinavismus und einer gesamtnordischen Identität verstanden, die sich gegen den deutschen Einfluss in der Politik und Kultur Skandinaviens richteten. Die Zeitung „Fædrelandet“ (das Vaterland) wurde dabei zum Sprachrohr der antideutschen Eiderdänen. Trotz der nationalen Gegensätze muss aber auch festgehalten werden, dass dänische und deutsche Liberale anfangs noch gemeinsam gegen die absolutistische Regierung in Kopenhagen und für eine freiheitliche Verfassung kämpften, ehe die nationale Frage sie dann gründlich entzweite.
In den 1840er Jahren verhärteten sich die Gegensätze zwischen beiden Parteien und auch die bisher unpolitische Bevölkerung wurde zunehmend mobilisiert. 1840 wurde in den ländlichen Gebieten Nordschleswigs das Dänische, das bereits Kirchen- und Schulsprache war, auch als Rechts- und Verwaltungssprache eingeführt. Diese Verfügung des dänischen Königs Christian VIII., der seit 1839 regierte, entzweite die deutsche und dänische Bevölkerung, und das Fest der Dänen auf Skamlingsbanke in Nordschleswig im Mai 1843 sowie das Deutsche Sängerfest in Schleswig im Juli 1844 waren sichtbarer Ausdruck des kulturellen und politischen Auseinanderdriftens beider Volksgruppen. Während sich auf Skamlingsbanke südlich von Kolding etwa 12 000 dänische Schleswiger und Dänen aus dem Königreich unter dem Dannebrog versammelten, sangen ein Jahr später in Schleswig etwa gleich viele deutsche Schleswig-Holsteiner erstmals das Lied „Schleswig-Holstein meerumschlungen, deutscher Sitte hohe Wacht“ und schwenkten dazu blau-weiß-rote Fahnen.
Verschärft wurde dieser Konflikt noch durch die ungeklärte Erbfolge in den Herzogtümern. Das bevorstehende Ende der in Dänemark regierenden männlichen Linie der Oldenburger veranlasste die Herzöge von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, eine Nebenlinie des dänischen Königshauses, ihre Ansprüche auf die Nachfolge als Herzöge in Schleswig und Holstein anzumelden. Der „Offene Brief“ Christian VIII. vom 8. Juli 1846 legte die Erbfolge der dänischen Verfassung von 1665 auch für das Herzogtum Schleswig fest und schloss damit die Erbansprüche der Augustenburger aus. Diese Erbfolge wurde von der Schleswig-Holsteinischen Partei wegen der historischen und verwaltungsmäßigen Verbindung Schleswigs mit Holstein nicht anerkannt und führte zu wütenden Protesten des deutschen Bevölkerungsteils und dem Auszug der Abgeordneten aus der holsteinischen Ständeversammlung in Itzehoe am 4. August 1846. Auf den Tag genau vier Monate später verließen die deutsch gesinnten Abgeordneten die schleswigsche Ständeversammlung in Schleswig.3 Die dänische Regierung reagierte auf diese Proteste mit einer Verschärfung der Pressezensur und Einschränkung der Versammlungsfreiheit. So sehr die beratenden Ständeversammlungen durch den dänischen Absolutismus in ihrer politischen Mitsprache auch eingeschränkt waren, so sehr waren sie seit ihrer Einrichtung durch die dänische Verfassungsreform vom 28. Mai 1831 bzw. vom 15. Mai 1834 auch zu einer Bühne des nationalen Gegensatzes geworden, auf der die führenden deutschen und dänischen Politiker aus Schleswig und Holstein propagandistisch für ihre Sache stritten. Auf schleswig-holsteinischer Seite wurde in der Itzehoer Ständeversammlung Friedrich Graf von Reventlou-Preetz zur führenden Persönlichkeit, dem auch der Adel des Landes uneingeschränkt folgte. In der Schleswiger Ständeversammlung war der Obergerichtsadvokat Wilhelm Hartwig Beseler die führende Persönlichkeit, der vor allem im Bürgertum großen Rückhalt besaß. Beide sollten im Frühjahr 1848 mit dem Ausbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung wichtige Regierungsämter übernehmen.
Die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Landesteile des dänischen Gesamtstaats bot den schleswig-holsteinischen Agitatoren ebenfalls eine willkommene Angriffsfläche in ihrem Kampf gegen die Regierung in Kopenhagen. Holstein wies bereits frühindustrielle Strukturen auf und war – deutlicher noch als Schleswig – sowohl im Handel als auch in der Landwirtschaft weiter entwickelt als das wirtschaftsschwache Nordjütland und die dänischen Inseln. Die deutsch gesinnten Agitatoren erweckten geschickt den Eindruck, dass die Schleswig-Holsteiner weit mehr Steuern nach Kopenhagen zahlten als von der Regierung in die Herzogtümer zurückflössen. Schleswig-Holstein erbrachte ca. 40 % des gesamten Steueraufkommens, was in etwa seinem Anteil an der Bevölkerung des dänischen Gesamtstaates entsprach. Der Eindruck einer finanziellen Ausbeutung zugunsten Nordjütlands trieb vor allem im nördlichen Schleswig einen zusätzlichen Keil zwischen die überwiegend deutsch gesinnte, kaufmännische und bürgerliche Bevölkerung in den Städten und die überwiegend dänisch orientierte bäuerliche Landbevölkerung.4
Die Pariser Februarrevolution 1848, in der die „Zweite“ Republik in Frankreich ausgerufen wurde und der „Bürgerkönig“ Louis Philippe abdanken musste, verlieh dem Kampf für liberale Verfassungen, für Volksvertretungen, Bürgerrechte und bessere Arbeitsbedingungen für Arbeiter zusätzliche Impulse. Sie verbreitete sich wie ein Lauffeuer in ganz Europa, und in den folgenden Monaten gingen zehntausende Bürger und Arbeiter in vielen europäischen Hauptstädten auf die Straßen, errichteten Barrikaden, brachten restaurative Fürstenhäuser ins Wanken und erzwangen liberale Verfassungen und Bürgerrechte.
Als der dänische König Christian VIII. am 20. Januar 1848 in Kopenhagen starb, setzte dies auf dänischer wie auch auf deutscher Seite einen politischen Prozess in Gang, der – nicht zuletzt unter dem Eindruck der revolutionären Stimmung – am 24. März mit der Proklamation der Provisorischen Regierung vor dem alten Kieler Rathaus am Markt einen ersten Höhepunkt fand und auf den die militärische Erhebung der Schleswig-Holsteiner gegen ihren rechtmäßigen Landesherrn und die Dänen folgte. Die bis dahin politisch wenig bedeutende Provinzstadt Kiel rückte schlagartig in den Blickpunkt der deutschen und internationalen Politik, als von den Mitgliedern der Provisorischen Regierung, den Kieler Professoren in der Frankfurter Paulskirche und den schleswig-holsteinischen Politikern im Frühjahr und Sommer 1848 entscheidende Impulse auf die Deutsche Nationalversammlung ausgingen, die weit über die Landesgrenzen hinaus wirkten.
Der Vormärz, der die Zeit vom Wiener Kongress 1815 bis zum Ausbruch der Märzrevolution 1848 umfasst, war eine Zeit des geistigen Aufbruchs in Deutschland, und auch Schleswig-Holstein war trotz seiner peripheren Lage alles andere als intellektuelle Provinz. Der Eutiner Kreis um den Lyriker Friedrich Leopold zu Stolberg, den Dichter und Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß und den Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi oder der Emkendorfer Kreis um das Ehepaar Friederike Juliane und Friedrich Karl von Reventlow trugen entscheidend zu einer literarischen und künstlerischen Blüte in Schleswig-Holstein bei. Der „Emkendorfer Geist“ übertrug sich auch auf Kiel, und im Stadthaus der Reventlows in der Flämischen Straße trafen sich in den Wintermonaten Literaten und Künstler mit den Professoren der Universität zum Gedanken- und Meinungsaustausch. Der romantisch-pietistische Geist des Emkendorfer Kreises trug aber auch antiaufklärerische Züge. In seiner Zeit als Kurator der Kieler Universität von 1800 bis 1808 förderte Friedrich Karl von Reventlow die Naturwissenschaften und die Medizin, während er gleichzeitig seine engen Beziehungen zum Adel und hohen Beamtentum dazu nutzte, aufklärerische Tendenzen in der Theologie und im Schulwesen zu bekämpfen und einige besonders fortschrittliche akademische Lehrer von der Universität zu entfernen. Unter Heinrich Friedrich Graf Baudissin und seiner Frau Caroline, eine ältere Schwester von Friederike Juliane von Reventlow, entstand um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf Gut Knoop ein zweiter literarisch-künstlerischer Zirkel in unmittelbarer Nähe Kiels. Ein bedeutender Mittler zwischen diesen intellektuellen, teilweise aufklärerischen Zirkeln auf den adligen Gütern und dem gebildeten Stadtbürgertum war der Kieler Arzt und Publizist Franz Hermann Hegewisch, der mit seiner Frau Caroline von Linstow, die lange Gesellschafterin auf Gut Emkendorf war, in seinem Kieler Haus einen eigenen intellektuellen Salon etablierte.5
Die Entwicklung dieser intellektuellen Zirkel spiegelt zugleich auch den grundlegenden Wandel von einer ständischen zu einer bürgerlichen Gesellschaft wider. Waren im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert noch der grundbesitzende Landadel und die schleswig-holsteinische Ritterschaft die führende gesellschaftliche und politische Schicht, so begann sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das gebildete Bürgertum in den Städten zu emanzipieren. Die städtischen Bildungsbürger griffen zunehmend in die politische Diskussion ein, zogen die Meinungsführerschaft an sich und begannen, dem Landadel seine bis dahin führende gesellschaftliche Rolle streitig zu machen. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch den Anstieg des Handels und das stetige Wachstum der Städte. Die politische Diskussion in Schleswig-Holstein verlagerte sich allmählich aus den adligen Landhäusern in die Städte und vor allem in das geistige Zentrum der Herzogtümer nach Kiel. Die Stadt war zwar noch geprägt von den Palais des schleswig-holsteinischen Adels, der hier die Wintermonate verbrachte, aber die Staatsbeamten, Professoren, Bürger, Kaufleute und Händler gewannen zunehmend an Einfluss. Vor allem die 1665 als Landesuniversität gegründete Christian-Albrechts-Universität nahm innerhalb der Stadt eine immer wichtigere Stellung ein. Seit 1773 war sie neben Kopenhagen die zweite Universität im dänischen Gesamtstaat und ihre intellektuelle Strahlkraft prägte das geistige und politische Leben weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Dieses Kapitel zeigt den geistigen, kulturellen und politischen Aufschwung in Kiel im Vormärz und stellt die entscheidenden gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen sowie ihre nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung der Schleswig-Holsteinischen Bewegung vor.
Im Jahr 1848 war Kiel immer noch eine beschauliche Hafenstadt, die vom Handel, Handwerk und Gewerbe sowie der Versorgung des agrarisch geprägten Umlands lebte. Die Stadt erstreckte sich im Wesentlichen noch auf die Altstadtinsel, die Brunswik im Norden sowie die Vorstadt bis zum Sophienblatt im Süden.
Bei der Volkszählung am 1. Februar 1845 hatte Kiel gerade einmal 13 572 Einwohner, bis 1850 stieg die Bevölkerung auf etwa 16 000 Einwohner. Von vergleichbaren Hafenstädten unterschied sie sich allein durch ihre Universität. Diese rückte Kiel aber in den Mittelpunkt der politischen Meinungsbildung in Schleswig-Holstein.
Innerhalb des dänischen Gesamtstaates nahm Kiel mit seinem Hafen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend eine Mittlerfunktion zwischen den Wirtschaftszentren Hamburg und Kopenhagen ein. Seit der Fertigstellung der ersten Überlandchaussee in Schleswig-Holstein von Altona nach Kiel 1832 und der Eisenbahnlinie Altona–Kiel 1844 wuchs der (See-)Handel der Fördestadt stetig. Kiel profitierte enorm von den neuen Verkehrswegen und technischen Innovationen und investierte in den Ausbau seines Hafens. Ab 1819 gab es mit der „Caledonia“ die erste Dampfschiffverbindung zwischen Kiel und Kopenhagen. Seit 1835 verkehrten mit der „Löwe“ von Kiel aus und der „Friedrich VI.“ aus Kopenhagen bereits zwei Dampfschiffe auf dieser Linie und mit dem weiteren Anstieg des Seehandels in den 1840er Jahren kamen neue Schiffe hinzu. Im Jahr 1842 erwarb die Stadt die 28 ha großen Damperhofländereien westlich des Kleinen Kiels, um über ausreichend Gewerbe- und Wohnflächen für den erwarteten raschen Handels- und Bevölkerungsanstieg in Folge des Eisenbahnanschlusses zu verfügen.6
Der wirtschaftliche Aufschwung Kiels führte zu kontinuierlich steigenden Einwohnerzahlen, größeren Einnahmen aus dem Hafen und einem höheren Steueraufkommen. Regulierte und neu gepflasterte Straßen spiegelten den wachsenden Wohlstand auch im Erscheinungsbild der Stadt wider. Neben dem Handel wurde auch die Universität ein immer wichtigerer Wirtschaftsfaktor in der Stadt. 1835 lebten bereits etwa 500 Personen als akademische Lehrer, Angestellte oder Studenten von oder an der Universität. Der Wohlstand in der Stadt war aber sehr unterschiedlich verteilt.
Die Wahlen zur holsteinischen Ständeversammlung 1834 im Wahldistrikt Kiel sind ein aussagekräftiger Indikator für die Wirtschaftskraft der einzelnen sozialen Gruppen, ihre Repräsentation in der Ständeversammlung und die Verteilung des Reichtums innerhalb der Stadt. Da nur Männer über 25 Jahre wählen durften und das aktive und passive Wahlrecht zudem vom Versicherungswert des Hausbesitzes, dem Brandkataster, in der Stadt abhingen, waren insgesamt nur 3 % der Stadtbevölkerung bzw. 14,5 % der männlichen Bevölkerung über 25 Jahre berechtigt, an der Wahl der beiden Vertreter Kiels teilzunehmen. Den aktiven Wahlzensus erfüllten vor allem Kaufleute, vermögende Handwerksmeister, hohe Staatsbeamte und Rentiers. Das Bildungsbürgertum ohne Hausbesitz war wie die kleineren Kaufleute, die Handwerksgesellen und die Arbeiter vom Wahlrecht ausgeschlossen. Das an einen noch höheren Zensus geknüpfte passive Wahlrecht und die politische Homogenität der Wahlberechtigten führten dazu, dass nur vermögende Kaufleute und Bildungsbürger mit großem Hausbesitz gewählt wurden und die Honoratioren der Stadt in der Ständeversammlung unter sich blieben. Die wohlhabenden Einwohner lebten vor allem im 2. Quartier, das den südlichen Teil der Altstadtinsel nördlich der Holstenbrücke umfasste, und im 4. Quartier, östlich des Marktes zur Förde. Das 1. Quartier, die Vorstadt südlich der Holstenbrücke, hatte überwiegend schlechte Wohnqualität, niedrige Brandversicherungswerte und wurde von kleinen Leuten bewohnt. Das 3. Quartier westlich des Marktes war gemischt bebaut und wies sowohl Gebäude mit geringerem als auch gehobenem Standard auf.7
Die außerordentliche Einkommenssteuer, die 1848 von der Provisorischen Regierung zur Finanzierung des Krieges gegen Dänemark erhoben wurde, gibt ebenfalls einen guten Einblick in die Wirtschafts- und Sozialstruktur Kiels in der Erhebungszeit. Etwa die Hälfte des Steueraufkommens der Stadt wurde von gut 20 % der Steuerpflichtigen aufgebracht. Diese finanzstarke Gruppe bestand aus Kaufleuten, Händlern, Ärzten, Apothekern, hohen Militärs, Advokaten und Professoren sowie staatlichen Verwaltungsbeamten und städtischen Amtsträgern. Sie bildeten die städtische Oberschicht und bestimmten die Geschicke der Stadt.
Etwa 80 % der Kieler Haushalte waren wegen ihrer geringen Einkünfte entweder von der Einkommenssteuer befreit oder zahlten nur den niedrigsten Steuersatz. Zu dieser Gruppe zählten auch die meisten Handwerker wie z. B. Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schneider und Schuster sowie die Arbeiter.8
Eine besondere Rolle innerhalb der Stadt nahm die Christian-Albrechts-Universität ein. Sie war die Landesuniversität, und durch das 1767 eingeführte „Biennium“ mussten alle Anwärter auf höhere geistliche oder weltliche Beamtenstellen in den Herzogtümern zwei Jahre in Kiel studieren. Dadurch entwickelte sich die CAU zu einem Sammelbecken der akademischen Jugend Schleswig-Holsteins. Mit durchschnittlich 200 bis 300 Studenten in den 1830er und 1840er Jahren war die CAU eine der kleinsten Universitäten im Deutschen Bund. Sie profitierte aber enorm davon, dass zwischen 1815 und 1848 eine große Zahl herausragender, fortschrittlich gesinnter Professoren, wie z. B. die Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, Johann Gustav Droysen, Georg Waitz oder der Jurist und Rechtshistoriker Niels Nikolaus Falck, an ihr lehrten und sich auch aktiv in die Debatte um die politische Zukunft der Herzogtümer einbrachten. Nicht alle dieser gelehrten Persönlichkeiten blieben an der Förde und für manchen ambitionierten Hochschullehrer waren Kiel und die CAU nur eine Durchgangstation zu einer größeren Universität in Deutschland. Die meisten setzten sich aber auch nach ihrem Weggang aus Kiel weiterhin aktiv für die Schleswig-Holsteinische Bewegung ein und sollten im Erhebungs- und Revolutionsjahr 1848 noch eine wichtige Rolle spielen.
Wegen der herausragenden Bedeutung der CAU in der Schleswig-Holsteinischen Bewegung ist es lohnenswert, sich einmal kurz mit den meinungsführenden Professoren und der politischen Einstellung der Kieler Studenten zu befassen, die sich im Frühjahr 1848 – im wahrsten Sinne des Wortes – an die Spitze der Erhebung stellen sollten. Der zu Anfang des 19. Jahrhunderts noch deutlich manifestierte Gesamtstaatspatriotismus unter den Dozenten und Studenten der CAU wich nach der dänischen Niederlage an der Seite Napoleons und dem Staatsbankrott 1813 zunehmend einem Nationalstaatsdenken, und in Schleswig-Holstein wurde der nationale Diskurs ab den 1830er und 1840er Jahren ganz entscheidend von den Professoren der Kieler Universität bestimmt. Akademische Lehrer aller Fakultäten beteiligten sich fächerübergreifend an der politischen Diskussion, wobei vor allem die Juristen, Staatswissenschaftler, Historiker und Philologen die Debatte beherrschten.
Friedrich Christoph Dahlmann (1785 – 1860), der von 1812 bis 1829 als außerordentlicher Professor in Kiel Geschichte lehrte und seit 1815 zugleich Sekretär der Schleswig-Holsteinischen Ritterschaft war, führte die politische Geschichtsschreibung in Deutschland ein. Er maß der Geschichte praktisch-politische Bedeutung zu und begründete die Politikwissenschaft aus der Geschichte. Als Sekretär der „Fortwährenden Deputation der Schleswig-Holsteinischen Prälaten und Ritterschaft“, quasi der ständigen Vertretung der Ritterschaft, vertrat er deren Interessen und Privilegien bei der dänischen Regierung und sammelte so erste Erfahrungen in der politischen Praxis. Wegen seiner Einstellung zur verfassungsrechtlichen Zukunft der Herzogtümer geriet er als einer der ersten Kieler Professoren in Konflikt mit der dänischen Regierung, die ihm daraufhin die Beförderung auf eine ordentliche Professur verweigerte. Er setzte sich für den Erhalt der alten Privilegien der Herzogtümer ein und wandte sich damit gegen dänische Ansprüche. Obwohl Dahlmann bereits 1829 Kiel in Richtung Göttingen verließ, wo er eine ordentliche Professur für Deutsche Geschichte und Staatswissenschaften erhalten hatte, darf sein Einfluss auf die Diskussion um die politische Zukunft Schleswig-Holsteins nicht unterschätzt werden. Er machte die Worte „dat se bliven ewich tosamende ungedelt“ aus dem Ripener Privileg von 1460 zu einem politischen Glaubensbekenntnis und bereitete als Fürsprecher der „Schleswig-Holsteinischen Sache“ den Boden für Uwe Jens Lornsen. Dass diese Worte in der ständischen Gesellschaft des späten Mittelalters eine andere Bedeutung als im nationalstaatlichen Denken des frühen 19. Jahrhunderts hatten, nahm er für die Schleswig-Holsteinische Sache billigend in Kauf. Er wollte mit der angeblichen Unteilbarkeit der Herzogtümer letztlich die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund begründen. Dabei war er wie viele seiner Professorenkollegen der Meinung, dass das Ripener Privileg weiterhin Rechtsgültigkeit besaß, da es nicht formell aufgehoben war. Dass es zum letzten Mal im 16. Jahrhundert bestätigt worden war und durch die Landesteilungen und die Nichtbestätigungen längst seine Gültigkeit verloren hatte, spielte in der damaligen Rechtsauffassung keine Rolle.9 Viele der entscheidenden Personen der Schleswig-Holsteinischen Bewegung und später der Erhebungszeit hatten bei Dahlmann studiert und waren von seinen Vorstellungen einer politischen Geschichte beeinflusst worden. Vor allem wegen des Bienniums war auch fast die gesamte schleswig-holsteinische Beamtenschaft während ihres Studiums in Kiel mit den politischen Ansichten Dahlmanns oder seines Kollegen Falck in Kontakt gekommen. Dahlmann selbst sollte 1848 einer der wichtigsten Politiker und Vertreter der Schleswig-Holsteiner in der Frankfurter Paulskirche werden.10
Dahlmanns Nachfolger in Kiel wurde Andreas L.J. Michelsen (1801 – 1881). Er hatte von 1819 bis 1823 Rechtswissenschaften in Kiel, wo er der Burschenschaft beitrat, und Göttingen studiert und wurde dabei stark von Dahlmann beeinflusst. Nach der Promotion zum Dr. jur. 1824 in Berlin und einem dreijährigen Forschungsaufenthalt in Kopenhagen mit Arbeiten zur Geschichte Schleswig-Holsteins und zur skandinavischen Rechtsgeschichte wurde er 1829 zum außerordentlichen Professor der Geschichte nach Kiel berufen und 1837 zum ordentlichen Professor ernannt. 1833 gründete er mit anderen Gelehrten die „Schleswig-Holstein-Lauenburgische Gesellschaft für vaterländische Geschichte“, deren Präsident der Kieler Rechtshistoriker Falck und deren Sekretär er selbst wurden. Seine Unterstützung für Uwe Jens Lornsen im Verfassungsstreit der 1830er Jahre brachte ihn ebenfalls in Konflikte mit den dänischen Behörden, weshalb er 1842 den Ruf auf eine Professur für Staats- und Völkerrecht in Jena annahm. Wie sein Vorgänger und Mentor Dahlmann unterstützte Michelsen die Forderung nach einer Repräsentativverfassung für Schleswig-Holstein und wies dänische Ansprüche zurück. Auch nach seinem Weggang aus Kiel blieb er der Schleswig-Holsteinischen Bewegung verbunden und wurde 1848 Abgeordneter des ersten schleswigschen Wahldistrikts zur Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt.
Mit Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) wurde 1840 ein weiterer profilierter Historiker als ordentlicher Professor an die Förde geholt, denn nicht alle waren mit Michelsens Lehre zufrieden. Zwar hatte sich Droysen in Berlin bis dahin vor allem in der klassischen Altertumskunde einen Namen gemacht und den Begriff des „Hellenismus“ geprägt, aber unter dem Eindruck der Schleswig-Holsteinischen Frage wandte er sich der neueren Geschichte und der Politik zu. 1848 wurde er Vertreter der Provisorischen Regierung bei der Frankfurter Paulskirchenversammlung und Abgeordneter in der Deutschen Nationalversammlung. Droysen trat als Historiker und Politiker klar für eine Abtrennung Schleswig-Holsteins von Dänemark und einen Anschluss an Deutschland bzw. Preußen ein, was auch ihn in Konflikt mit den dänischen Behörden brachte. Um seiner drohenden Entlassung zu entgehen, wechselte er 1851 an die Universität Jena.
Der in Flensburg geborene Georg Waitz (1813 – 1886) setzte die Reihe bedeutender Verfassungsgeschichtler, Rechtshistoriker und Mediävisten in Kiel fort. Nach dem Studium der Geschichte, Rechtswissenschaften und Philosophie in Kiel und Berlin von 1832 bis 1836 lehrte er als Nachfolger von Michelsen als ordentlicher Professor für Geschichte von 1842 bis 1848 in Kiel. Auch wenn er sich intensiv mit der Landesgeschichte Schleswig-Holsteins befasste und 1842 auch Michelsens Nachfolger als Sekretär der Geschichtsgesellschaft wurde, tat er sich politisch nicht so deutlich hervor wie die anderen Professoren und versuchte Konflikte mit der dänischen Regierung zu vermeiden, was ihm aber nicht immer gelang. 1846 hatte er zusammen mit seinen Professorenkollegen Droysen und Falck entscheidenden Anteil an der Denkschrift „Staats- und Erbrecht des Herzogthums Schleswig“, die eine Replik auf den „Offenen Brief“ König Christian VIII. vom 8. Juli 1846 war, die vertragsmäßige Zusammengehörigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein betonte und deshalb die weibliche Erbfolge zurückwies. Als er 1846 von der dänischen Regierung kurzfristig als Vertreter der Universität Kiel in die holsteinische Ständeversammlung berufen wurde, protestierte er wie seine Vorgänger gegen das Vorgehen der dänischen Regierung und geriet dadurch in Gegensatz zu ihr. Im Herbst 1847 entschied sich Waitz deshalb zu einem Wechsel an die Universität Göttingen, wo er zum Sommersemester 1848 seine Vorlesungen aufnehmen wollte. Mit dem Ausbruch der Erhebung stellte er sich in den Dienst der Provisorischen Regierung, die ihn als Bevollmächtigten nach Berlin entsandte. Von Mai 1848 bis Mai 1849 vertrat Waitz den Wahldistrikt Kiel−Plön in der Deutschen Nationalversammlung. Im Juni 1849 nahm Waitz seine Lehrtätigkeit in Göttingen auf und kehrte als akademischer Lehrer nicht mehr an die CAU zurück.
Doch nicht alle Professoren der CAU propagierten die Zukunft von Schleswig und Holstein in einem zukünftigen deutschen Nationalstaat. Der im heute dänischen Emmerlev (dt. Emmerleff) geborene Rechtshistoriker Niels Nikolaus Falck (1784 – 1850) lehrte seit 1815 als ordentlicher Professor Deutsches und Schleswig-Holsteinisches Recht in Kiel. Seit 1835 war er u. a. als Vertreter der Kieler Universität fast ununterbrochen Mitglied der holsteinischen bzw. schleswigschen Ständeversammlung, deren Präsident er viermal war. Er hegte zwar deutliche Sympathien für die schleswig-holsteinische Unabhängigkeitsbewegung, stand aber loyal zum dänischen Monarchen und Gesamtstaat, wodurch er die Unterstützung der nationalliberalen Schleswig-Holsteiner verlor.
Deutlich weiter als Falck ging der in Flensburg geborene Jurist Christian Paulsen (1798 – 1854), der nach seiner 1824 in Kopenhagen erfolgten Promotion ab 1825 zunächst als außerordentlicher Professor Dänisches Recht an der CAU lehrte. Paulsen befürwortete das Dänische als Schul- und Amtssprache in den Teilen Nordschleswigs, in denen es Volkssprache war. Seit 1842 ordentlicher Professor der Rechte machte er sich für die dänischen Belange in Schleswig stark und verweigerte 1846 seine Unterschrift unter die von seinen Professorenkollegen Falck, Droysen und Waitz verfasste Denkschrift an den dänischen König. Als einer der führenden und einflussreichsten Köpfe der dänisch-schleswigschen Bewegung verließ Paulsen 1848 Kiel und wechselte an die Schleswig-Holstein-Lauenburgische Kanzlei in Kopenhagen, wo er Etatsrat wurde. Unter den Kieler Juristen, Historikern und Staatswissenschaftlern nahm Paulsen wegen seiner prodänischen politischen Ansichten eine Sonderstellung ein, für die ihn die Dänen auch als den „ersten Südjüten“ bezeichnen.
Die enge Verknüpfung zwischen den Mitgliedern der Provisorischen Regierung 1848 und aktiven und ehemaligen Professoren der CAU ist noch heute in den Kieler Straßennamen zu verfolgen. Die Olshausenstraße, Beselerallee und Reventlouallee bilden eine „Straße der Demokratie“ von der Universität zum heutigen Landeshaus mit dem Sitz des schleswig-holsteinischen Landtages, und auch die Franckestraße, Waitzstraße und Droysenstraße künden von den Kieler Politikern und Professoren, die in der Provisorischen Regierung und der Frankfurter Paulskirche für die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins und eine liberale Nationalverfassung kämpften. Die Ahlmannstraße und die Samwerstraße tragen die Namen zweier weiterer bedeutender Kieler Politiker, deren Wirken eng mit der konstituierenden Landesversammlung und dem schleswig-holsteinischen Staatsgrundgesetz vom September 1848 verbunden ist.
Die Studenten gehörten im Vormärz zu den progressivsten Kräften in Deutschland. Sie forderten demokratische Reformen und wollten das restaurative System des österreichischen Staatskanzlers Metternich überwinden. Volksvertretungen, liberale Verfassungen, Bürgerrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie ein demokratischer deutscher Nationalstaat standen ganz oben auf ihrer Agenda. Die Kieler Studenten – es waren bis in das frühe 20. Jahrhundert noch ausschließlich Männer zum Studium zugelassen – bildeten diesbezüglich keine Ausnahme.11
Mehr als die Hälfte der Studenten an der CAU gehörte einer Verbindung, entweder der Burschenschaft oder einem Corps, an. Die politischen Forderungen der Kieler Burschenschafter waren im Vergleich mit denen süddeutscher und mitteldeutscher Universitäten aber recht gemäßigt. So z. B. lehnten die Kieler Burschenschafter es ab, sich aktiv an Umsturzversuchen zur Schaffung einer Republik zu beteiligen.12 Was die nationale Zugehörigkeit der Herzogtümer betraf, war ihre Position jedoch eindeutig. Dem angestrebten republikanischen deutschen Nationalstaat müssten Schleswig und Holstein selbstverständlich angehören. So ist es auch nicht verwunderlich, dass führende Köpfe der Schleswig-Holsteinischen Bewegung wie z. B. der Sylter Landvogt Uwe Jens Lornsen13 (1793 – 1838), die Brüder Theodor (1802 – 1869) und Justus Olshausen (1800 – 1882), die Brüder Wilhelm Hartwig Beseler (1806 – 1884) und Georg Beseler (1809 – 1888), Lorenz von Stein (1815−1890), Karl Samwer (1819−1882) und Theodor Mommsen (1817−1903) während ihres Studiums in Kiel der Burschenschaft angehörten.14 Gerade den Gebrüdern Olshausen und Beseler sollten mit Ausbruch der Erhebung 1848 herausragende Rollen zufallen. Der linksliberale Journalist und Verleger Theodor Olshausen wurde 1848 Mitglied der Provisorischen Regierung und zuständig für das Polizei- und Armenwesen; sein älterer, ebenfalls republikanisch gesinnter Bruder Justus, der als 17-jähriger Student bereits am Wartburgfest 1817 teilgenommen hatte und seit 1823 als Professor für orientalische Sprachen an der CAU lehrte, wurde Erster Vizepräsident der konstituierenden Landesversammlung in Kiel und Kurator der Universität. Der Jurist Wilhelm H. Beseler, ein Schüler und Bewunderer Dahlmanns, wurde 1848 Präsident der Provisorischen Regierung und 1849 von der deutschen Zentralgewalt als Statthalter für die Herzogtümer eingesetzt. Sein jüngerer Bruder Georg Beseler, der 1832 als Jurist aus Gewissensgründen den Huldigungseid auf den dänischen König verweigert hatte, gehörte 1848/49 der Frankfurter Nationalversammlung an und hatte mit Dahlmann und Droysen im Verfassungsausschuss entscheidenden Anteil an der Ausarbeitung der „Grundrechte für das Deutsche Volk“. Neben diesen Liberalen wurde mit dem konservativen Preetzer Klosterpropst Friedrich Graf von Reventlou (1797 – 1874) 1848 ein weiterer ehemaliger Kieler Verbindungsstudent Mitglied der Provisorischen Regierung, zuständig für den Bereich Äußeres, und wie Beseler später auch der Statthalterschaft. Reventlou war 1818 als Jurastudent dem eher konservativen und landsmannschaftlich geprägten Corps Holsatia beigetreten. Trotz wiederholter Verfolgungen durch die Universitäts- und Polizeibehörden waren die Kieler Studenten im Vormärz politisch sehr aktiv und viele der entscheidenden Persönlichkeiten von 1848 – sei es auf deutscher oder dänischer Seite – hatten in dieser Zeit in Kiel studiert, sich einer Verbindung angeschlossen und ihre politische Prägung erhalten. Eine Beobachtung aus dem Jahr 1842 verdeutlicht die politische Einstellung der Kieler Studenten. Als der Dichter, Literaturwissenschaftler und Politiker Ludwig Uhland, Führer der süddeutschen Liberalen und prominenter Vorkämpfer für liberale Staatsverfassungen in Deutschland, am 2. August 1842 in Kiel weilte, veranstalteten die Kieler Burschenschafter ihm zu Ehren einen großen Fackelzug durch die Altstadt und gaben damit auch ihrer Forderung nach demokratischen Reformen Nachdruck.15 Zwar blieben die eher konservativ gesinnten Corpsstudenten dem Fackelzug fern und beobachteten ihn lieber aus den Fenstern, doch Ende Februar 1848 schlossen sich Burschenschafter und Corpsstudenten ohne großes Zögern über alle Verbindungsgrenzen hinweg zusammen, bildeten ein bewaffnetes Studentenkorps und begannen mit Schieß- und Exerzierübungen, um die Interessen der Herzogtümer gegebenenfalls mit Waffen zu wahren.
Insgesamt gesehen nahm die große Mehrheit der Kieler Professoren und Studenten im politischen Diskurs um die nationale Zugehörigkeit der Herzogtümer eine klare prodeutsche Haltung ein, die in Kopenhagen verständlicherweise auf wenig Gegenliebe stieß. „Lüge ist auch eine Wissenschaft, sprach der Teufel. Er studierte in Kiel“, lautete daher eine gängige, auf den dänischen Schriftsteller Bernhard Severin Ingemann (1789 – 1862) zurückgehende, keinesfalls vorurteilsfreie Redensart dänischer und skandinavischer Patrioten gegen die deutschfreundliche Stimmung an der Kieler Universität in den 1830er und 1840er Jahren. Dennoch lebten in Kiel bis zum Ausbruch der Schleswig-Holsteinischen Erhebung im März 1848 deutsche und dänische Gelehrte und Studenten friedlich nebeneinander. Selbst der Husumer Schriftsteller und überzeugte Schleswig-Holsteiner Theodor Storm, der von 1837 mit zwei Semestern Unterbrechung in Berlin (WS 1838/39 – SS 1839) bis 1842 Rechtswissenschaften in Kiel studierte, berichtete in seiner 1862 veröffentlichten Novelle Auf der Universität vom wüsten Kieler Studentenleben und erwähnte dabei keinerlei Spannungen zwischen den deutschen und dänischen Studenten in der Stadt, und auch in den zeitgenössischen Tagebüchern Kieler Studenten lassen sich keine Hinweise auf einen Nationalitäten- oder Kulturkonflikt unter den Studierenden der CAU finden. Im Winter 1834/35 fasste der alternde deutsche Naturforscher und Dichter Adelbert von Chamisso seine Eindrücke von Kiel, wo er 19 Jahre zuvor einen Zwischenstopp vor dem Beginn seiner dreijährigen Weltumsegelung mit Otto von Kotzebue eingelegt hatte, in folgende Worte: „Zu Kiel sind die Professoren deutsch, die Studenten dänisch gesinnt.“16 Dieser Eindruck von der Kieler Universität war bei seinem Besuch im Juli 1815 zweifelsohne richtig, denn nur anderthalb Jahre zuvor hatten die Kieler Studenten bei Sehestedt am alten Eider-Kanal Seite an Seite mit dänischen Soldaten gegen eine schwedisch-russisch-preußische Armee gekämpft. Als Chamisso seine Erinnerungen 19 Jahre später niederschrieb, hatte sich die Stimmung unter den Kieler Studenten aber gewandelt und die Mehrheit fühlte deutsch statt dänisch.
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