Zeitschrift für Ideengeschichte
Heft VIII/2 Sommer 2014

1914

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von
Sonja Asal & Helwig Schmidt-Glintzer

ZUM THEMA

Sonja Asal, Helwig Schmidt-Glintzer:
Zum Thema

 

«Das Gesicht, das den Kaiser
auf die Palme brachte!»von Urte Krass

1914

Gangolf Hübinger: Hingabe an die Nation.
Die Ideenkämpfe 1911–1914

 

«Wird morgen lediglich ein Versuch unternommen
oder ein richtiger Angriff?» von Julia Encke

 

Meike G. Werner: Jugend im Feuer.
August 1914 im Serakreis

 

«Wenn man nicht in Allem, auch in dem Schwersten
Gottes Hand erkennen will, ist man verloren»
von Holger Afflerbach

 

Friedrich Wilhelm Graf: Tillichs Durchbruch

 

«Bismarck ist Nietzsche in Kürassierstiefeln, und Nietzsche …
ist Bismarck im Professorenrock» von Andreas Urs Sommer

 

«Rosa, wir fahr’n nach Lodz» von Ethel Matala de Mazza

ESSAY

Herfried Münkler: Die Antike im Krieg

 

«Diesen Platz haben wir übel bombardiert.
Aber gerade die hässlichen Teile Gott sei Dank beinahe für
Kunsthistoriker nicht zu bedauern. Aber Reims: oh weh!»
von Ulrich von Bülow

 

«Der kleine Wilhelm begeht einen winzigen Einbruch
und schickt seine Beute heim» von Frank Druffner

DENKBILD

Valentin Groebner:
Soldatenfotos für die Schwarze Madonna

 

«Es besteht die Tendenz zu verwechseln:
Kultur mit Komfort …» von Ulrich Johannes Schneider

 

«Krieg auf einer Bergspitze. Tal friedlich
wie auf einer Sommertour» von Michael Ott

KONZEPT & KRITIK

Pitt Dietrich: Die Welle.
Jakob Burckhardts optimistischer Geist

 

Thomas Meyer: Der Mythenberg von Davos

 

Sonja Asal: Anleitungen zum Lockersein

 

Tim B. Müller: Nach dem Krieg

 

Reinhard Mehring:
Donaldismus als strenge Wissenschaft

 

«Ich glaube, daß nicht einmal der Todesritt der
Leichten Brigade mutiger hätte sein können
als unser irrwitziger Angriff auf diese
Maschinengewehre» von Warren Breckman

 

Die Autorinnen und Autoren

 

Im nächsten Heft: Kleine Formlosigkeiten von Holger Afflerbach, Walter Burkert, Werner Busch, Caroline Bynum, Stanley Corngold, Hans Magnus Enzensberger, Robert Darnton, Kurt Flasch, Kurt F. Forster, David Freedberg, Gottfried Gabriel, Eckhard Henscheid, Ian Jackson, Wolfgang Kemp, Thomas Walter Laqueur, Claudio Magris, Suzanne Marchand, Peter von Matt, Ruth E. Mohrmann, Gabriel Motzkin, Fritz J. Raddatz, Joachim Radkau, Stefan Rebenich, Jan Philipp Reemtsma, Henning Ritter, Hannelore Schlaffer, Arnold Stadler, Barbara Stafford, Martin Walser, Martin Warnke, Liliane Weissberg und weiteren.

 

 

 

 

 

Zum Thema

 

 

«Der Krieg bricht los» schreiben die Dichter im August 1914, und viele, in Deutschland wie im damaligen Österreich-Ungarn, sprechen von den «großen Tagen», unter ihnen so verschiedene Temperamente wie Max Weber oder Arnold Schönberg. Als einer der wenigen hält Karl Kraus Abstand. Unter dem satirischen Titel «In dieser großen Zeit» mokiert er sich über einen noch nie dagewesenen «stürmischen Anschluß an die Banalität». Womit tatsächlich weniger eine spontane Begeisterung gemeint gewesen sein dürfte, die plötzlich die ganze Nation erfasst hätte, als vielmehr eine in Kreisen von Publizisten und Professoren um sich greifende Bereitschaft zur intellektuellen Kriegsführung. So ist auch in einem «Brief aus der Provinz», veröffentlicht «Am zehnten Mobilmachungstag» in der Neuen Rundschau, von «moralischer Gefechtsbereitschaft» und von der Suche nach «gemeinsamen Ideen» die Rede, «um derentwillen dieser Krieg geführt werden durfte, und die einzigen, die es lohnen werden, daß er geführt worden ist.»

Für die Ideengeschichte ein schwieriges und in seiner Diversität nicht leicht zu überschauendes Feld. Unter den zahlreichen Begründungsfiguren, die teilweise auf eine lange Vorgeschichte im Kaiserreich zurückblicken konnten, war der Gedanke der kulturellen Überlegenheit besonders verbreitet. Deutschland sei die Aufgabe gestellt, «den europäischen Osten und Vorderasien zu befruchten, durch Vorbild und Leitung die Völker dieser Länder zu kultivieren und zu heben». Die Deutschen verstanden sich als Kulturvolk, ein Volk, das in Konzertsälen, Opernhäusern, Theatern und Bibliotheken zuhause war. Umso entsetzter war der Aufschrei, als in der Nacht vom 25. auf den 26. August deutsche Truppen in Louvain die Universität mit dem Bibliotheksflügel und weite Teile der Stadt in Flammen aufgehen ließen. 93 führende Wissenschaftler und Künstler Deutschlands verwahrten sich in einem «Aufruf an die Kulturwelt» gegen die Schmähungen der Deutschen als «Hunnenvolk». Es waren Begriffe wie «Kultur», «Genie» und «Kunst», die Thomas Mann in seinen «Gedanken im Kriege» den Deutschen zuordnete. Eine kulturelle Sendung, von der auch Friedrich Meinecke überzeugt war. In seinem Beitrag «Der Weltkrieg» fasste er dies in den Worten zusammen: «Das deutsche Volk will kein Eroberervolk, aber ein Weltvolk werden.»

Die eigentümliche Faszination, die für uns heute von dem Datum 1914 ausgeht, mag in der Halbdistanz liegen, in der wir uns dazu befinden. Was unsere Großeltern aus ihrer Kindheit noch lebhaft erinnerten, ist uns zwar historisch fern gerückt, aber doch nicht in jedem Fall gänzlich fremd geworden. Die Epoche, die 1914 begann, ist noch nicht abgeschlossen – Thomas Mann hat rückblickend im «Vorsatz» zum Zauberberg die treffenden Worte gefunden, dass es sich um eine Art vergangener Zukunft handelt, die «zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat».

In den Beiträgen dieses Heftes dokumentieren wir die dem Krieg vorangehenden Ideenkämpfe wie die ersten Reaktionen, die darauf folgende Ernüchterung und spätere Selbststilisierungen. In zehn kürzeren Beiträgen soll die Zeit selbst zum Sprechen gebracht werden. Unsere Autorinnen und Autoren haben prägnante Sätze ausgewählt, die sie durch ihre Interpretation unserem heutigen Verständnis näherbringen. Denn in gewisser Weise ist wahr geworden, was Thomas Mann in seinen «Gedanken im Kriege» den europäischen Nachbarn Deutschlands prophezeite: dass wir uns alle «staunend genötigt sehn, uns zu studieren».

 

Sonja Asal
Helwig Schmidt-Glintzer

 

 

 

 

 

«DAS GESICHT, DAS DEN KAISER AUF DIE PALME BRACHTE!»

 

 

Das Foto, das auf der Titelseite dieser Ausgabe abgebildet ist, sorgte schon bald nach seiner Veröffentlichung Ende 1917 für Empörung. Sofort nachdem der Kaiser es in die Hände bekommen habe, soll er ein Kopfgeld auf den darauf verewigten australischen «Barbaren» ausgesetzt haben, tot oder lebendig. An diese Legende erinnert das Sandstein-Denkmal für den Soldaten John «Barney» Hines, das im Jahr 2002 in einem Vorort von Sydney aufgestellt wurde und in welches eine Kopie des berüchtigten Fotos mit Inschrift eingelassen ist: «The face that got the Kaiser’s goat!» Süffisant wird hinzugefügt, der «liebenswürdige Draufgänger» habe trotz dieser Drohung noch lange Jahre gelebt und sei erst 1958 im Alter von 84 Jahren in einem nahe gelegenen Krankenhaus gestorben.

John Hines war ein in Liverpool geborener australischer Soldat, der sich im Ersten Weltkrieg einen Namen nicht nur durch besonders grausame Vorstöße, sondern auch durch das Zusammenraffen von «Souvenirs» gemacht hatte, die er deutschen Kriegsgefangenen und toten Soldaten jeglicher Nationalität auf den Schlachtfeldern an der Westfront abnahm. Die Fotografie stammt vom offiziellen australischen Militärfotografen Frank Hurley und ist im Laufe der dritten Ypernschlacht nach dem Kampf um den Polygon-Wald (26. September bis 3. Oktober 1917) entstanden. Sie zeigt Hines zwischen seinen deutschen Beutestücken und wurde unter dem ironischen Titel «Wild Eyes – the Souvenir King» in mehreren Zeitungen und Zeitschriften publiziert.[1] Souvenirs sind ja meist käuflich erworbene Urlaubsandenken, während Hines hier vielmehr seine Trophäen-Sammlung zur Schau stellt.

Dumpf brütend über seinem zusammengestohlenen Schatz von Militaria und anderen Habseligkeiten wirkt der Gefreite John Hines eher wie ein ehrloser Raffke denn wie ein Kämpfer der Alliierten. Im Krieg den Fokus darauf zu richten, persönliche Erinnerungsstücke, militärische Auszeichnungen, Waffen und Wertgegenstände der gegnerischen Soldaten zu sammeln, dieser Fixierung haftet etwas Rückständiges, Rohes, Kleinkriminelles an, das wenig vereinbar ist mit der Vorstellung von einem Krieg, der zwischen Nationen geführt wird und dem ein höherer, zivilisatorischer Sinn beigemessen wird; das Gebaren des Soldaten Hines ist gewissermaßen die Antithese zum Ideal des heroischen Kriegers, dessen moralisches Bewusstsein auch im Grauen der Schützengräben funktioniert und ihn nach Pflichterfüllung und ehrenhaften Taten streben lässt. Hines präsentiert sich zwischen seinem Beutegut wie ein vormoderner Stammeskrieger. Diese Konnotation war es wohl, die zusammen mit dem Wissen darum, dass es sich bei dem Abgebildeten um einen der 295.000 im Laufe des Ersten Weltkriegs an der Westfront eingesetzten Australier handelt, dem Bild die enorme Aufmerksamkeit garantieren konnte, die es bis heute genießt.

Die Fotografie weckt Assoziationen zu Darstellungen des Gottes Mars, der zwischen seinen Waffen sitzt, oder Personifikationen des Todes inmitten seiner grausigen Werkzeuge. Eine andere berühmte, lethargisch dreinblickende und schwer auf dem Boden zwischen unterschiedlichen, um sie herum verstreuten Gegenständen sitzende Figur kommt dem mit der abendländischen Bilderwelt vertrauten Betrachter vielleicht ebenfalls in den Sinn: Albrecht Dürers «Melencolia I» von 1514. Zwar ist John Hines nicht im Melancholie-Gestus mit dem auf die Hand gestützten Kopf festgehalten worden, aber die Haltung seiner Beine ähnelt stark derjenigen von Dürers Personifikation: In den Knien gebeugt, fallen die Beine rechts und links nach beiden Seiten und bilden so eine lastend schwere Basis für den Oberkörper. Beide Gestalten sind in schweren Stoff gekleidet, der grobe und feinere Falten wirft, beide Figuren sitzen unter freiem Himmel, und der Blick des Betrachters wird jeweils an eine Horizontlinie links im Bild geführt. Ob der Fotograf des Bildes – der Autodidakt Frank Hurley – tatsächlich an den Kupferstich dachte, als er Hines porträtierte, ist schwer zu sagen. Immerhin sind einige seiner Kriegsfotografien auf Kritik gestoßen, weil Hurley sie wie Gemälde inszeniert und effekthascherisch nachbearbeitet hat.[2] In unserem Fall sind zumindest einige Ähnlichkeiten zum Bildaufbau in Dürers Stich frappierend: Der Kugel der Fortuna vor den Füßen der Melancholie entspricht in der Fotografie der Stahlhelm eines deutschen Soldaten; die Lage der Stielhandgranate zu Barney Hines’ Füßen korrespondiert mit derjenigen des Hobels vor der Melancholie. Die dunkle Gesichtsfarbe, die beide Figuren aufweisen, ist im Falle der wuchtigen geflügelten Melancholie als Ausdruck der übermäßigen schwarzen Galle gedeutet worden. Der Reichtum der Renaissance-Melancholie wird durch den an ihrem Gürtel befestigten Beutel angezeigt – John Hines hat sich eine große Stofftasche um den Hals gehängt und hält ostentativ einige deutsche Reichskassenscheine[3] in den Händen.

Zange, Nägel, Säge, Hobel und Richtscheit, wie sie Dürer im Kupferstich präzise darstellt, sind Werkzeuge des Künstlers und des Handwerkers. Der Melancholie sind sie als Attribute beigegeben, um ihr schöpferisches, kreatives Potential und ihre wissenschaftliche Befähigung zu verdeutlichen. Dagegen wirkt der Souvenir-Schatz des John Hines, bestehend aus geraubten Familienfotografien, Eisernen Kreuzen, deutschen Geldscheinen, Waffen und Munition auf den Betrachter wie der Inbegriff der Destruktivität des Krieges.

«Das melancholische Bewusstsein», so schreibt der französische Kunsthistoriker und Essayist Jean Clair, «ist dasjenige, das sich vom Lebendigen, von der Welt der Menschen abkehrt, um sich nurmehr ins Reglose, in die Welt der Dinge zu versenken, […] weil ihm angesichts seines drohenden Verschwindens die reglose Realität der Objekte zur einzigen Zuflucht, zur einzigen Tröstung und Bezauberung geworden ist.» Die Welt der Dinge – sie scheint auch der Rückzugsort des modernen Melancholikers John Hines im Kriegsgeschehen des Jahres 1917 gewesen zu sein.

Hines erreichte zwar ein hohes Alter, erführte jedoch nach seiner Rückkehr nach Australien ein Leben in Armut und am Rande der Gesellschaft. An der Peripherie von Sydney bewohnte er über vierzig Jahre lang einen mit Lumpen wetterfest gemachten Verschlag, an dessen Zaun er deutsche Stahlhelme aufgehängt hatte. Er fand keine Arbeit, sondern lebte von seiner Armee-Pension – und dem Verkauf seiner «Souvenirs».

Urte Krass

 

 

 

  1 Wahrscheinlich in der Sydney Mail sowie in den Zeitschriften, welche die Australian War Records Section herausgab. Für diesen Hinweis danke ich Joanne Smedley, der Kuratorin für die Fotografien am Archiv des Australian War Memorial.

  2 Alasdair McGregor: Frank Hurley. A photographer’s life, Victoria/New York 2004, S. 205.

  3 Für diese Auskunft danke ich Dietrich Klose von der Staatlichen Münzsammlung München.

 

 

 

 

 

1914

 

GANGOLF HÜBINGER

Hingabe an die Nation

Die Ideenkämpfe 1911–1914

 

 

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurden die europäischen Gesellschaften weltweit in immer größere transnationale «Kontaktzonen» eingebunden.[1] Dieser Prozess steigerte die Rivalität unter den modernen Nationalstaaten und beförderte Ideen und Weltbilder, die kämpferisch die «Stärke der eigenen Nation» auf die Fähigkeit hin prüften, «sich im globalen Wettbewerb zu behaupten».[2] Den militärischen Kämpfen gingen agonale Ideenkämpfe voraus.

Die zeitgenössische Formel von der Hingabe an die Nation, die diesem Essay zugrunde liegt, findet sich bei dem Theologen, Kulturphilosophen und Publizisten Ernst Troeltsch. Troeltsch hat wirkungsvoll das Schlagwort vom «Kulturkrieg» geprägt. Seine bedeutendste Rede hierzu hielt er im März 1916 vor der «Deutschen Gesellschaft 1914» und publizierte sie stark erweitert im Mai 1916 in der Neuen Rundschau unter dem Signal-Titel Die Ideen von 1914. Die Neue Rundschau aus dem renommierten S. Fischer-Verlag zählte zu den führenden literarischen Zeitschriften. Troeltsch listete sorgfältig auf, welche «Ideen von 1914» bei deutschen Intellektuellen seit dem 1. August 1914 militant gegen die westlichen «Ideen von 1789» in Anschlag gebracht wurden und nannte an erster Stelle: «Wiedergeburt der in Selbstkultus entarteten Subjektivität zur freien Hingabe an den Nationalgeist.»[3]

Geschichtspolitisch wird hier der frische Nationalgeist von 1813 abgerufen. Die Mobilisierung der deutschen Nation gegen Napoleons imperiale Ansprüche sollte 1914 aktiviert und aktualisiert werden, denn «nicht anders liegt die Sache heute», befand Troeltsch[4] und lag damit ganz im europäischen Trend. Nach dem August 1914 ordneten die europäischen Intellektuellen nicht nur ihre Gegenwart, sondern gleich die ganze europäische Geschichte in Freund-Feind-Polarisierungen neu. Viel zitiert ist Henri Bergson mit seiner Verpflichtung der Académie des sciences morales et politiques auf den «Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei».[5] Der führende deutsche Soziologe Werner Sombart wähnte die deutschen Helden im Krieg gegen die englischen Händler.[6] Hohe Identifikationskraft besaßen die zahllosen Aufrufe zum Kampf der germanischen gegen die slawische Rasse. Um solche Schwarz-Weiß-Zeichnungen des «Kulturkrieges» nach dem 1. August 1914 geht es im Folgenden nicht. Schon Troeltsch stellte in Rechnung, die Zeiten seien unter den Bedingungen «planetarischer Weltpolitik»,[7] wie er den Globalisierungsprozess an der Schwelle zum 20. Jahrhundert nennt, viel zu komplex für simple Schemen. Sein Punkt ist ein anderer. Troeltsch mobilisiert seine Leser in der Überzeugung, Franzosen und Engländer hätten agonale Muster eines Kulturkrieges bereits auf Abruf bereit, die Deutschen dagegen müssten sie in ihrer existenziellen Not im «Schmelztiegel der großen Katastrophe» erst herausbilden.[8]

Troeltsch lenkt mit seinem Vergleich zu den ideenpolitischen Ressourcen der Kriegsgegner den Blick auf die Vorkriegsphase. Wie kulturkämpferisch denken Europas Kultureliten, wie rivalisieren die intellektuellen Zeitdiagnostiker, ohne das Datum des 1. August zu kennen? Wie sehen die Experten für die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften, die Zeithistoriker, Sozialwissenschaftler, Philosophen und politischen Publizisten, den Wert und den Ort ihrer eigenen Nation im Gefüge der «planetarischen Weltpolitik»? Also, welche Ideen und Ideenkämpfe versetzen die räsonierende Öffentlichkeit in eine agonale Bereitschaft zum Krieg oder in eine fatalistische Kriegserwartung, ohne zu wissen, dass einer der Regionalkriege und eine der vielen diplomatischen Krisen tatsächlich die Maschinerie der Mobilmachungen unaufhaltsam in Gang setzt?

Die europäische Konfliktgeschichte nennt einen Zeitpunkt, zu dem sich ideenpolitische Gegensätze so steigerten, dass vor allem in Frankreich und Deutschland und – davon beeinflusst – in England, Österreich-Ungarn und Russland das Denken definitiv auf Krieg gestimmt wurde – das ist der Herbst 1911. Zwischen Juli und Oktober 1911 führte die zweite Marokkokrise nach der deutschen Kanonenbootdiplomatie mit dem Panthersprung nach Agadir Europa näher an den Rand des Krieges als in den bisherigen Krisen. Die deutsche Publizistik, vom Massenblatt bis zu den literarischen Quartalsschriften, etwa Maximilian Hardens Zukunft, schürte eine nationalistische Kampagne, deren Melodie bis zum tatsächlichen Kriegsausbruch auf Aggressivität gestimmt war.

Die «Nation» wurde immer beschwörender als Letztinstanz äußerer wie innerer Krisenbewältigung angerufen. Wer sich in Europa nach 1911 auf die politische Gemeinschaft der «Nation» berief, der verstand «Nation» als Kampfgemeinschaft, die Hingabe bis zum Opfertod erfordert; er argumentierte im öffentlichen Kommunikationsraum in Codierungen von Wir und die Anderen, Freunde und Feinde, Sicherheit und Bedrohung, auch Fortschritt und Untergang.

Aktuelle Untersuchungen bestätigen im Prinzip die ältere dezidierte These von Wolfgang J. Mommsen, hier habe sich endgültig die Idee von der «Unvermeidlichkeit» eines großen europäischen Krieges, eines Weltkrieges, festgesetzt und sei handlungsleitend geworden. Eine Idee, weniger forciert von berufsblinden Militärs oder reaktionären Machtcliquen, sondern von der modernen medialen Öffentlichkeit und ihren geistigen Wortführern. Die politischen Akteure der Julikrise hätten sich dem Fatum der Kriegserwartung gebeugt, ihre kompromisslose Krisenverschärfung sei «die Folge von zwei Jahrzehnten nationalistischer Agitation, welche die amtliche Politik in Schranken zu verweisen niemals im Stande gewesen war».[9] Das neueste Buch hierzu, Christopher Clarks Sleepwalkers, verweist zwar auf mäßigende Zwischentöne vor allem in England.[10] Aber das politische Gesamtklima war «von einer Polarisierung der Gegensätze und einer Ausweglosigkeit» durch eine «zunehmend negative Darstellung der ‹feindlichen Mächte›» gekennzeichnet. Durch den Druck der Presse wurde der «Handlungsspielraum der politischen Akteure […] immer enger».[11]

Mir geht es jetzt weniger um das anonyme Kollektiv der medialen öffentlichen Meinung. Es geht um die zeitdiagnostischen Eliten, die in ihrer exponierten Sprecherrolle «als geistige Führer der Nation» betrachtet wurden,[12] sei es, indem sie deutliche Wertakzente zu Selbst- und Fremdbildern setzten, sei es, indem sie Ordnungsmodelle nationaler Herrschaft systematisch durchrationalisierten. Hier geriet Europa spätestens seit 1911 in heftigste Bewegung.

In Frankreich gewann gegenüber der alten Opposition der «deux Frances» aus Dreyfusards und Action française eine neue Strömung mit den Schriftstellern Charles Peguy, Henri Massis und Alfred de Tarde an Einfluss. Sie verstand es, die akademische Jugend «auf die Mühlen des Nationalismus» umzuleiten und die Verständigungspolitik eines Jean Jaurès auszubremsen.[13] Auch im Deutschen Kaiserreich verstärkte sich eine solche dritte Kraft zwischen den Bellizisten, wie sie sich traditionell im Alldeutschen Verband sammelten, und den Kriegsgegnern rund um die Sozialdemokratie. Lauter wurden die Stimmen eines imperialen Liberalismus, und typisch für die deutsche Kultur: es waren nicht wie in Frankreich die Schriftsteller, es waren die politischen Professoren, die den nationalen Ton vorgaben.

Der Historiker Friedrich Meinecke hielt im liberalen Südwesten Deutschlands, in der beschaulichen Universitätsstadt Freiburg an der Grenze zu Frankreich, im Juni 1913 die Festrede «Deutsche Jahrhundertfeier und Kaiserfeier» zum Doppeljubiläum «Hundert Jahre Befreiungskriege» und «Fünfundzwanzig Jahre Regentschaft Wilhelms II.».[14] Meinecke hatte sich 1907 mit Weltbürgertum und Nationalstaat an die Spitze der deutschen Neuzeithistoriker geschrieben. Im Vorwort zur 2. Auflage von 1911 benannte er als Zweck des Buches, dass «in freier Regung und Fühlung mit den großen Mächten des Staats- und Kulturlebens» die deutsche Geschichtsforschung «mutiger baden dürfe in Philosophie wie in Politik, ja daß sie erst dadurch ihr eigenstes Wesen entwickeln könne, universal und national zugleich zu sein».[15] Für das mutigere Baden in Politik enthielt die Freiburger Jubiläumsrede von 1913 nun einen impliziten agonalen Subtext und eine explizite agonale Botschaft.

Unter der Leitfrage «Was ist das Wesen der Nation?» richtete sich der Subtext gegen Frankreich. Der «Vernunftstolz der französischen Revolution», gepaart mit der imperialen Machtentfaltung Napoleons, habe Frankreich zum bedrohlichen nationalen europäischen Machtstaat zusammengeschweißt. Die Deutschen dagegen pflegten «das schöne Charisma des Romantikers»,[16] ein Weltbild zwischen «schöpferischem Ich» und idealistischer Menschheitsemphase. Dazwischen liege eine gefährliche politische Leerstelle. Im Kampf gegen Napoleon hätten die Deutschen erst lernen müssen, dass «die Sorge um die eigene Existenz» die politische Gemeinschaft eines wehrhaften Nationalstaates erfordere: «durch Entfaltung aller Willens- und Geisteskräfte einer Nation, durch entschlossene Wahrung aller ihrer Errungenschaften, – wenn es sein muß in heißestem blutigem Kampfe.»[17] Rhetorisch geschickt verband Meinecke den Erinnerungsort von 1813 mit der Konfliktlage von 1913, wenn er den deutschen Kaiser nunmehr als Garanten einer ökonomisch prosperierenden und militärisch schlagkräftigen Kulturnation pries, und das in einer Zeit, in der die Nationen nicht anders als 1813 «in eine Gefahrenzone eintreten, deren Ausgang im Dunkeln liegt». Meineckes Zeitdiagnose schließt mit der expliziten Botschaft: «Die eigentlichen Schlachtfelder unserer Zeit liegen noch vor uns, nicht hinter uns.»[18] Eines ist besonders bemerkenswert. Friedrich Meinecke und der zu Beginn zitierte Ernst Troeltsch standen in einem engen intellektuellen Austausch. Was aber Troeltsch an agonalem Potential erst nach dem 1. August in den «Ideen von 1914» wachsen sah, bot Meinecke in den «Ideen von 1913» schon als ausgeprägtes und handlungsleitendes Deutungsmuster an. Und in keiner Weise handelte es sich um eine gelehrte Gelegenheitsrede.

Schon länger zirkulierten solche Ideen von der kriegsbereiten Hingabe an die Nation in der Welt der Gebildeten – beglaubigt durch die Autorität der Professoren. Typisch erscheint eine Kontroverse der Freiburger Universität mit der international angesehenen linksbürgerlichen Frankfurter Zeitung in der Folge der zweiten Marokkokrise im November 1911. Freiburgs Prorektor hatte die Einweihung des neuen Universitätsgebäudes für eine nationale Deklamation genutzt. Die Frankfurter Zeitung berichtete: «Er warnte dann vor den ‹Einfaltspinseln›, die durch ihre ‹Friedensduselei› das Volk wehrlos machen wollten.» Solche Töne hielt das international angesehene linksbürgerliche Blatt für unangebracht und unverantwortlich, zumal vor der akademischen Jugend. Gegen diesen kritischen Bericht wiederum protestierten in einem Manifest renommierte Universitätsvertreter, darunter Georg von Below, Heinrich Rickert und Friedrich Meinecke.[19] Der Philosoph Heinrich Rickert klärte seinen Heidelberger Freund Max Weber brieflich auf, was die Professoren so erregte. «Was mir speziell dieses Blatt unsympathisch gemacht hat, ist ein Chauvinismus mit umgekehrten Vorzeichen, der bisweilen geradezu zu einer Gesinnungsschnüffelei ausartet, wie sie die Chauvinisten nicht schlimmer treiben können», urteilt Deutschlands führender Schulphilosoph. Und weiter: «Gerade der radikale Liberalismus sollte endlich lernen, daß man mit den alten Aufklärungsphrasen, die die Frankfurter Zeitung noch immer liebt, keine Politik mehr machen kann. […] Das gesamte Verhalten der Frankfurter Zeitung in nationalen Angelegenheiten aber halte ich für umso schädlicher, als dieses Blatt im Auslande viel gelesen wird.»[20] Die Auseinandersetzungen um den kontinuierlichen Machtzuwachs des deutschen Kaiserreichs unter den europäischen Weltmächten beherrschte die intellektuelle Debatte, und kein Thema barg so viel Erregungspotential wie die «Nation». Sogar ein Gelehrten-Forum, das sich in seinen Statuten auf strengste Sachlichkeit verpflichtet hatte, konnte sich dem nicht entziehen. 1912 stellte der Zweite Deutsche Soziologentag in Berlin das Thema «Nation» ins Zentrum seiner Verhandlungen, was prompt zu einem Eklat führte. Als der Philosoph Paul Barth seine universalhistorischen Reflexionen über «das Volk» als «ein geistiger Organismus» in die suggestive Frage ausmünden ließ, «Wäre es nun für den Fortschritt […] besser, wenn der Staat nicht national, sondern international wäre», sorgte Max Weber für den Abbruch des Vortrages.[21] Weber, selbst ein leidenschaftlicher Verfechter nationaler Machtsicherung, insistierte gerade deshalb wissenschaftlich auf einer «wertfreien» Selbstaufklärung über das Phänomen des modernen «Nationalgefühls». Als Definition bot er an und fand partielle Unterstützung wie Widerspruch bei so illustren Mitdiskutanten wie Eduard Bernstein, Ludo Moritz Hartmann oder Robert Michels: «Wenn man es überhaupt zweckmäßig findet, ein Nationalgefühl als etwas Einheitliches, spezifisch Gesondertes zu unterscheiden, so kann man das nur durch Bezugnahme auf eine Tendenz zum eigenen Staat und man muß sich dann klar sein, daß darunter sehr heterogen geartete und verursachte Gemeinschaftsgefühle zusammengefaßt werden.»[22]

Eine Soziologie des Nationalismus, die auf Trennung zwischen Wissenschaft und Politik beruhte, war jedoch nicht mehrheitsfähig. Die Sozialexperten und Zeitdiagnostiker suchten deren Verbindung und wollten in Friedrich Meineckes Art «mutiger baden». Die Zeichen der Zeit standen auf Wertung und Bekenntnis.

Aus dem breiten Spektrum der liberalen Bildungseliten unterstreichen das zwei prominente Positionen, die jeweils mit einer einflussreichen Zeitschrift verbunden sind. Eher leise, und deshalb unterschätzt, ist die Stimme des Militärhistorikers und Herausgebers der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück. Delbrück stimmt seine Leser auf die Weltherrschaft durch die fortschrittlichen Nationalstaaten ein und darauf, «daß die deutsche öffentliche Meinung sich darüber klar zu werden» hat, warum das Reich «bei der kolonialen Aufteilung der Welt» stärker zum Zuge kommen müsse. «Absatzgebiete, Pflanzungen, Anlegung von Kapitalien, Ausbeutung ungehobener Naturschätze. Eine größere Anzahl von Deutschen soll in den Kolonien Gelegenheiten haben, zu erwerben, und ihr Wohlstand wird dem gesamten Volksvermögen zugute kommen und mittelbar auch breiten Massen durch Absatz und Arbeitsgelegenheit Nutzen schaffen.»[23] Das ist klassisch wirtschaftsimperialistisch gedacht, aber für den Autor nicht das Entscheidende. Unter Berufung auf seinen britischen Kollegen, den Kulturhistoriker William Edward Hartpole Lecky, der die englischen Kolonien als Schulungsstätte für den «British character» empfohlen habe, schlussfolgert Delbrück: «Das Entscheidende ist, daß überhaupt nicht das wirtschaftliche Interesse, sondern der nationale Gesichtspunkt die Kolonialpolitik zu leiten hat.» Denn «Handel und Gewerbe sind nur das Mittel für die Ausbreitung und Stärkung des deutschen Volkstums.»[24]

Begeistert besprach Delbrück das Buch des Publizisten und Reiseschriftstellers Paul Rohrbach: Der deutsche Gedanke in der Welt (1912). Dieser Studie, die sich dazu bekennt, die Nation habe mit dem «sittlichen Idealgehalt des Deutschtums […] ein Stück Menschheitsfortschritt zu verwirklichen, indem sie der Welt den Stempel ihrer nationalen Idee» aufdrückt,[25] wünschte Delbrück nachdrücklich, «was man eine Massenverbreitung nennt».[26] Der Wunsch war längst Wirklichkeit. Mit seiner griffigen These, der Kampf um «die Zukunft als Weltvolk» stehe den Deutschen noch bevor,[27] war der studierte Theologe Rohrbach der lauteste und meistgelesene Verfechter einer expansiven Kulturmission im deutschen Bürgertum und präsent in allen einschlägigen Journalen. In einer enzyklopädischen Gegenwartsdiagnose Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung durfte Rohrbach die Ansprüche auf «Ausdehnung unseres nationalen Interessensgebietes» mit der Drohung, «daß wir bereit sein müssen, falls es nicht anders geht, uns darum zu schlagen», als Handbuchwissen manifestieren.[28]

Die imperiale Denkfigur – nur kampfbereite Expansion und Druck auf die weltpolitischen Rivalen sicherten die Existenz der eigenen Kulturnation – stand mithin durch literarische Multiplikatoren wie Paul Rohrbach der deutschen Öffentlichkeit griffig zur Verfügung. Die Jahre zwischen 1911 und 1914 waren beherrscht von dieser Denkfigur, die ihre Wirkungskraft aus der engen Verzahnung innerer und äußerer Ordnung im Zuge einer zunehmenden Demokratisierung bezog: «Partizipationsverheißung und Aggressionsbereitschaft gehörten von Beginn an zur Grundausstattung nationalen Denkens.»[29]

Ganz in dieser Perspektive gründete Paul Rohrbach zusammen mit Ernst Jäckh, dem Promotor der deutsch-türkischen Beziehungen, im April 1914 die Wochenschrift Das Größere Deutschland. Im ersten Heft wurde die ständige Mitarbeit der zeitdiagnostischen Professorenelite versprochen, von Rudolf Eucken über Friedrich Meinecke bis zu Gustav von Schmoller.[30] Einmal mehr zeigt sich, so wie für Frankreich die Schriftsteller als Seismographen der intellektuellen Mobilisierung gelten können, so muss man für Deutschland auf die Professoren schauen.

Wie ist das weltbeherrschende England in diesen Diskurs einzubeziehen? Die Forschung betont ein Auf-und-Ab der Stimmungslagen und eine starke Neigung, bürgerkriegsträchtige Konflikte wie den um die irische Home Rule durch militante Appelle an die Einheit und Stärke der Nation nach außen zu lenken. An dieser Front liebte die britische Massenpresse seit Jahrhundertbeginn die «newspaper wars» mit viel Kriegsrhetorik, auch wenn zwischenzeitlich Hoffnungen auf eine gemeinsame europäische Friedenspolitik geweckt wurden. Auf jeden Fall änderte sich durch die Macht der Presse der Charakter der öffentlichen Ideenkämpfe. Schon in der Epoche Bismarcks und Salisburys traten nationale31