Über den Autor

Hans Ulrich Schmid war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayerischen Wörterbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München und ist jetzt Universitätsprofessor für Historische Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig.

Zum Buch

Wann schreibt man bayrisch mit y und bairisch mit i? Ist Bairisch ein Dialekt oder eine Sprache? Hat das Bairische eine eigene Grammatik? Was sind typisch bairische Wortbildungen, Ortsnamen, Familiennamen? Hat Bairisch eine Zukunft?

Der bairische Dialekt, der in großen Teilen Bayerns, Österreichs und in Südtirol gesprochen wird, hat eine über 1000-jährige Geschichte. Das Buch gibt kurzweilig und unterhaltsam einen Überblick über wichtige Stationen der Literatur- und Sprachgeschichte, grammatische und lexikalische Besonderheiten sowie die Rolle des Dialekts in der heutigen Öffentlichkeit.

Hans Ulrich Schmid

Bairisch

Das Wichtigste
in Kürze

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

Inhalt

Vorwort

Einleitendes und Grundsätzliches

Bayrisch mit «y» und Bairisch mit «i»

Bairisch – Dialekt oder Sprache?

Bairisch ist Hochdeutsch – historisch und geographisch

Bei uns gibt’s koa Anarchie! Bairisch und gefühltes Bairisch

Dös haut scho Bairisch bei nicht-bairischen Autoren

Literarisches und Historisches

Die Bajuwaren – die «Leute aus Böhmen»

Dumm sind die Welschen, klug sind die Baiern. Frühes Stammesbewusstsein

Das erfuhr ich bei den Menschen als das größte Wunder Wessobrunner Gedicht und Gebet

Wenn sich die Seele auf den Weg macht. Das «Muspilli»

Von freuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen. Das Nibelungenlied

Got sende sî zesamene. Minnesang an der Donau

Daz dîner muoter ir brüste niht erdorreten! Die Predigten des Berthold von Regensburg

In diese landt, ietz Bairen genant. Ulrich Füetrer: Maler, Dichter und bayrischer Chronist am Münchner Hof

Das baierisch volk läuft gern kirchferten, trinkt ser, macht vil kinder. Aventinus: ein bayrischer Historiker und Philologe

So ichs betracht, so erzittert mein hertz. Argula von Grumbach: eine vergessene bayrische Autorin der Reformationszeit

Wodurch der gemeine Laie leicht sich in Hoffahrt erhebt. Johannes Eck: der bayrische Anti-Luther

Wider die Linguisten und andere Geißfüße. Der «Parnassus Boicus»

Brauch und Misbrauch von einander absöndern. Ignaz Weitenauer S.J.

Lieder, zum Teil in baierischer Mundart. Der Dialekt wird literaturfähig

Ich bin der Jozef Filser, kgl. Abgeorneter im Barlamend. Ludwig Thoma

Ein verjagter Dichter, einer der besten. Oskar Maria Graf

Wofür ich mich so oft gehalten, eine Überflüssige. Lena Christ

D’Menscherleit, die, die bringa, wanns sein muß, an jeden ans Kreiz. Carl Orff als Autor

Und dem machts die schönst Musi, der’s Spieln versteht. Schnaderhüpfl

Mundarttexte der Gegenwart. Ein kurzer Blick

Dialektgeographisches

Schnöl gäids. Innerbairische Dialektgrenzen

So muess i verschtau, dass i weiter soll gau. Bairisch und Alemannisch

Wos Bsunders und Aparti’s. Bairisch und Fränkisch

Bairischer Wortschatz: Wörterbücher

Johann Andreas Schmeller und sein «Bayerisches Wörterbuch»

Die Akademiewörterbücher des Bairischen in Bayern und Österreich

Ludwig Zehetner, Bairisches Deutsch. Lexikon der deutschen Sprache in Altbayern

Von der Sache zum Wort

Und is a «Grüß Gott» gwen hinum und herum. Gruß und Abschied

Das Basl, von dem ich hier erzähle. Familie und Verwandtschaft

I geh grad amal hoa’gart’n. Geselliges Beisammensein

Tuast da Erdöpfi her? Die Bezeichnungen der Kartoffel

Gniglt, gnaglt, gnaglt muaß sei. Der bayrische Geschlechtsverkehr

Das schwarze und das weiße Weib. Berufsbezeichnungen. Zum Beispiel die Hebamme

Vom Wort zur Bedeutung

Gel, tu di fei net volaafa, Kind! Das Wörtchen fei

Geh, Vata, iß dennerscht wos. Das merkwürdige Wort denner(sch)t

Lustih is’s Buamasei. Vom Bua und vom Dirndl

Sepp, Depp, Hennadreck. Einiges zu Depp (und damisch)

Aber beim Taroggen versteh ich keinen Spas. Schafkopf, Watten und Tarock

So seye der teuffel enckher selnsorger. Die Pronomina es, enk und enker

Der Bayer, jetzt erst recht grantig. Das Adjektiv grantig

Und das Schnauferl ist immer langsamer g’fahrn und g’hupft wie ein Bock. Neue Dialektwörter

Der Bürgermeisterin ihr Fotzn. Falsche bairisch-deutsche Freunde

Bairisch im Kontakt

Nû heizet er dunrestac oder phinztac. Bairisch und Gotisch

I gib ihr scho koan Audienz. Bairisch und Latein

Das Mädchen schaut vom Fenster und grüßt den Wallischerr. Bairisch und Französisch

Mit der Dirn werst hoit oiwei gschpeanzlt hobn! Bairisch und Italienisch

Hörig ist der Ehemann, untreu ist die Waben. Bairisch und slawische Sprachen

Die Fanny machte den Gspenser recht weit auf. Bairisch und Englisch

Die Ungerechtigkeiten der damaligen «Großkopferten». Bairisch und Standarddeutsch

Schratz und skratti. Bairisch-skandinavische Wortentsprechungen

Besonderheiten der Wortbildung

D’Nachtfahrn machen a Jagerts. Abstrakta auf -erts und -ads

Bald hätt ma’s nimmer derpackt. Die der-Verben

Feifalter flogezen, flibizen drüberhin. Verben auf -etzen und -itzen

Steig auffa zu mir, do woaßt ja scho wia! Richtungsadverbien auf -a und -e

Dem Urban sein indisches Bücherl. Verkleinerungen, die keine sind

Einiges über Namen

Straubing, Aichach, Tirschenreuth. Die Ortsnamen auf -ing, -ach und -reut(h)

Eder, Huber, Bichlmeier. Typisch bairische Familiennamen

Bei uns werden die eingesessenen Leute nach den Häusern genannt. Die Hausnamen auf dem Dorf

Grammatisches

Von Johann Andreas Schmeller bis Michael Kollmer Einige Handbücher zur bairischen Grammatik

Is mir lieber, wannst du dahoam bleibst. Konjunktionen mit «Endungen»

Mir san ma de Schwirzer vom Landl. Das «doppelte» Pronomen

Sehngs mir zwo, mir paß ma zsamm. Das Zahlwort zwei

Ich habe eine Forelle gestohlen gehabt. Imperfekt, Perfekt und «doppeltes» Perfekt

Daß’d an Ruah gibst, alt’s Rindviech. Grammatische Geschlechtsprobleme

I will den Mann nie-nindert-nit und nimmer wiedersehn. Die mehrfache Verneinung

Damit das mir die Schuhlden zallen, wo die Breißen haben. Relatives wo

Staad bist, und glei gehst abi. Besonderheiten der bairischen Wortstellung

Dialektverwendung

Der Max hat den Lukas eine runtergehaut. Bairisch in der Schule

Jetzt geh i voll Frieden ins Waldhütterl nauf. Bairisch in der Kirche?

So guat is mei Japanisch a wieder net. Prost! Bairisch in der Werbung

 

Literaturverzeichnis

Abbildungen

Personenregister

Sachregister

Wörter- und Namenverzeichnis

Vorwort

Schon wieder ein Bayrisch-Buch? Gibt es denn nicht schon genug davon? Diese Fragen sind durchaus berechtigt, und ich stelle sie mir gelegentlich auch selber, wenn ich in einer Buchhandlung an einen Tisch voller «Bajuvarica», «Monacensia», «Ratisbonensia» und dergleichen gerate. Die Palette reicht von betulichen Heimatbüchern, die eine vermeintlich «gute alte Zeit» verherrlichen, bis hin zu «zünftigen» Publikationen, von eher historisch-volkskundlich ausgerichteten Sachbüchern bis hin zu wissenschaftlichen Publikationen über grammatikalische Einzelaspekte der bairischen Dialekte. Bücher der letztgenannten Art findet man allerdings weniger in den Buchhandlungen als auf den Regalen von Universitätsbibliotheken.

Alles das soll dieses Büchlein nicht sein. Es soll auf möglichst verständliche Weise ausgewählte wichtige Aspekte der bairischen Literatur- und Sprachgeschichte beleuchten. Dabei soll möglichst nicht allzu viel wiederholt und aufgewärmt werden, was schon anderswo (und dort vielleicht besser) nachzulesen ist. Sollte die Lektüre stellenweise unterhaltsam sein, umso besser.

Der literaturgeschichtliche Teil beginnt im Frühmittelalter, als Autoren in den Klöstern des alten bairischen Stammesgebietes erstmals fromme Texte zu Pergament brachten. Der Bogen spannt sich über das Hoch- und Spätmittelalter bis in die Neuzeit und in unsere Gegenwart. Natürlich musste dabei eine subjektive Auswahl getroffen werden, und es hätten mit gleichem Recht auch ganz andere Autoren und Werke Erwähnung finden können als die, von denen hier die Rede ist. Ich hoffe aber, für jede Epoche eine repräsentative Auswahl getroffen zu haben, auch wenn das Weglassen schwieriger, um nicht zu sagen riskanter, wird, je näher man der Gegenwart kommt.

In den Abschnitten zu Wortschatz und Grammatik wird immer wieder in die Sprachgeschichte zurückgegangen, denn vieles, was heute im Kontrast zur deutschen Standardsprache als mundartliche Besonderheit wahrgenommen wird, ist alt, hat historische Ursachen und kann deshalb nur aus der Geschichte sinnvoll erklärt werden (auch wenn einzelne LinguistInnen irrtümlich andere Auffassungen vertreten). Hier musste ebenfalls eine Auswahl getroffen werden. Maßgeblich war vor allem die Häufigkeit, mit der ich immer wieder nach der Ursache bestimmter mundartlicher Besonderheiten gefragt werde.

Das bairische Dialektgebiet ist wesentlich größer als der Freistaat Bayern, in dessen Grenzen zudem nicht nur Bairisch gesprochen wird, sondern wo auch andere, hauptsächlich schwäbische und fränkische Dialekte zu Hause sind (gelegentlich soll auch schon «Hochdeutsch» gehört worden sein). Der größere Teil aller Bairisch-Sprecher lebt jedoch außerhalb Bayerns, und zwar mehrheitlich in Österreich, außerdem in Südtirol und anderswo. Trotzdem liegt – bedingt durch meine Herkunft – das Hauptaugenmerk auf dem bayrischen Bairisch. Was es mit dem «ay» und «ai» auf sich hat, wird gleich im ersten Kapitel erläutert.

Interessierte (Weiter-)Leser erhalten im Literaturverzeichnis einige Hinweise. Dort ist auch verzeichnet, welchen literarischen Werken die zitierten Textbeispiele entnommen sind. Dass bei der Durchsicht dieses Verzeichnisses ziemlich leicht persönliche Vorlieben erkennbar werden, muss ich in Kauf nehmen.

Mir bleibt noch, zwei weder bai- noch bayrischen, dafür aber geduldigen Korrekturleserinnen zu danken: Luise Czajkowski und Ann Kynast, beide Uni Leipzig. Dank auch an meinen geschätzten bayrischen Kollegen in Leipzig, Prof. Dr. Ludwig Stockinger.

 

Leipzig und Dettenhofen bei Regensburg, Sommer 2012

Einleitendes und Grundsätzliches

Warum schreibt man eigentlich manchmal Bayrisch mit y und manchmal Bairisch mit i? Ist das austauschbar und beliebig? Oder gibt es einen guten Grund dafür? Diese und weitere Fragen im Zusammenhang mit dem Bairischen (oder Bayrischen) sollen einleitend geklärt werden. Hat man es mit einer eigenen Sprache zu tun, was viele Mundartfreunde immer wieder temperamentvoll behaupten, oder «nur» mit einem Dialekt? Das ist, wie sich zeigen wird, ein Scheinproblem. Wie sieht das historische Verhältnis von Bairisch und Hochdeutsch aus? Und schließlich: Wie werden die Dialekte im Südosten des deutschen Sprachraums von außen wahrgenommen?

Bayrisch mit «y» und Bairisch mit «i»

Der Name des flächenmäßig größten deutschen Bundeslandes mit der Hauptstadt München ist Bayern. Ein dort ansässiger (mitunter durchaus erfolgreicher) Fußballclub heißt Bayern München. In der bayrischen Landeshauptstadt gibt es auch eine Bayerische Staatsoper sowie ein Bayerisches Nationalmuseum, und es gab einmal eine (letztlich eher erfolglose) Bayern-LB. Niemand würde auf die Idee kommen, in diesen Namen das y durch ein i zu ersetzen. Und trotzdem trifft man in bestimmten (vor allem sprachbezogenen und historischen) Zusammenhängen auch auf die Schreibweise Baiern und bairisch mit i statt y. Warum?

Historisch gesehen, ist der Freistaat Bayern in seinen heutigen Grenzen ein vergleichsweise junges politisches Gebilde. König Ludwig I. (1786–1868) regierte über ein Territorium, dessen Grenzen erst in nachnapoleonischer Zeit gezogen worden waren. Er hatte ein ausgeprägtes Faible für schöne Frauen, das Partizip Präsens und Griechenland und machte die klassisch-griechisch anmutende y-Schreibweise amtlich: Um seinem Königreich einen klassischen Touch zu geben, verfügte er, dass fürderhin Ba-y-ern mit y zu schreiben sei. Aus demselben Grund schreibt man auch Spe-y-er mit y, denn die Pfalz, also das Gebiet, in dem diese schöne alte Stadt mit ihrem romanischen Dom liegt, gehörte bis 1918 zum Königreich Bayern. Erfinder der y-Schreibung war Ludwig allerdings nicht. Schon wesentlich früher waren die Schreibweisen Bayern und Beyern gebräuchlich, daneben aber auch Baiern und Beiern.

Ob nun Königreich oder Freistaat: Bayern mit y bezeichnet eine neuzeitliche politische Einheit. Dagegen beziehen Philologen und Historiker Baiern und bairisch mit i auf das wesentlich ältere Dialekt- und Stammesgebiet, das mit Bayern nur teilweise deckungsgleich ist. In Bayern leben auch Nicht-Baiern, beispielsweise Schwaben und Franken. Die Dialekte im äußersten Nordwesten des Freistaats, um Aschaffenburg und in der Rhön, sind bereits hessisch. Ein kleines Gebiet im nördlichen Frankenwald ist in dialektaler Hinsicht thüringisch. Im südwestlichen Allgäu, am Nordufer des Bodensees, wird ein alemannischer Dialekt gesprochen, der sich in mancher Hinsicht vom Schwäbischen, wie man es in Augsburg, Ulm, Memmingen und Kempten hört, unterscheidet. Die Sprecher dieser Dialekte haben, obwohl sie innerhalb der bayrischen Landesgrenzen wohnen, ihre eigenen, vom Bairischen deutlich abweichenden Mundarten.

In weiten Gebieten außerhalb Bayerns spricht man jedoch ebenfalls Bairisch. Das größte außer-bayrische Baiern-Gebiet ist Österreich. Mit Ausnahme des Landes Vorarlberg, das sprachlich gesehen zum Alemannischen gehört und das deshalb dem Schweizerdeutschen näher steht als den bairischen Dialekten Österreichs, ist ganz Österreich bairisch. In Österreich gibt es sogar mehr Bairisch-Sprecher als in Bayern. Zum bairischen Dialektraum zählt zudem Südtirol (das als Alto Adige seit 1918 politisch zu Italien gehört). Auch Böhmen und das Egerland sind historisch und sprachlich gesehen bairisch.

Bairische und nicht-bairische Dialekte in Bayern (Kleiner Bayerischer Sprachatlas)

Südlich und südöstlich des zusammenhängenden Sprachraums haben sich im Mittelalter durch Abwanderung bairische Sprachinseln gebildet. Die ältesten liegen in den Alpen, in Venezien, in Friaul und im Trentino. Schon im 11. Jahrhundert sind Siedler aus der Gegend um Benediktbeuern dorthin ausgewandert. Noch heute kann man dort in einigen Orten ein sehr archaisches Bairisch hören, das im Lauf der Jahrhunderte allerdings stark vom umgebenden Italienischen beeinflusst worden ist. Man nennt diese Sprachinseln zusammenfassend Zimbrisch, allerdings nicht deshalb, weil es sich wirklich um die Nachkommen der alten germanischen Zimbern handelt, sondern deshalb, weil italienische Gelehrte des 17. Jahrhunderts sie irrtümlich für solche hielten.

Im Zuge der mittelalterlichen Ostsiedlung aus dem zusammenhängenden bairischen Gebiet entstanden weitere Sprachinseln. Eine der größten war Iglau (Jihlava) im östlichen Tschechien, nahe an der Grenze zur Slowakei. Überregional bekannt wurde sie für Silberbergbau und Tuchherstellung.

Wenn in den nachfolgenden Kapiteln die Schreibweise Bayern und bayrisch neben Baiern und bairisch verwendet wird, so ist das folglich keine orthographische Nachlässigkeit. Die y-Schreibung gilt dann, wenn von Gegebenheiten innerhalb des Freistaats die Rede ist. Die i-Schreibung wird dann gewählt, wenn es um sprachliche Aspekte geht, die grenzübergreifend Gültigkeit haben. Mit der Herkunft des Verfassers hängt es zusammen, dass in diesem Buch das bayrische Bairisch das deutliche Übergewicht hat.

Bairisch – Dialekt oder Sprache?

Stammesbewusste Freunde und Verehrer wahlweise des Bayrischen oder des Bairischen vertreten gelegentlich die Auffassung, sie sprächen eine eigenständige, «richtige» Sprache und keinen Dialekt. Das ist merkwürdig, denn letztlich heißt das ja, dass ein Dialekt weniger wert sei als eine Sprache. Trotzdem ist die Frage nicht abwegig, denn «Ist Bayrisch eine Sprache oder ein Dialekt?» wurde in einem Internet-Forum (http://www.wer-weiss-was.de) vielfach gefragt und mehr oder weniger sachkundig auch beantwortet.

Zunächst einmal: Würde es zutreffen, dass Bairisch eine Sprache und kein Dialekt ist, dann wäre Deutschland vielsprachig und die bekanntlich viersprachige Schweiz im Vergleich dazu sprachlich geradezu homogen. Das Schwäbische müsste dann ebenso als eine eigenständige Sprache gelten wie das Thüringische, das Hessische, das Plattdeutsche und natürlich eine Reihe weiterer Dialekte. Hätte das Schwäbische autonomen Sprachstatus, würden vermutlich alsbald die Badenser ihre linguistische Unabhängigkeit erklären. Die sprachpolitischen Folgen wären nicht abzusehen.

Dafür, dass Dialekte keine eigenständigen Sprachen sind, spricht bereits die Tatsache, dass sie in sich selbst wiederum in Unter-, Unterunterdialekte usw. gegliedert sind. Normierungsversuche wurden und werden zwar immer wieder unternommen, führen aber zu keinem tragfähigen Resultat. Dialekte entziehen sich aus verschiedenen Gründen der Normierung. Nach außen hin, zu Nachbardialekten, gibt es Übergangszonen. Freilich: Wenn ein Almbauer einen Fischer von der Waterkant in seinem Dialekt anspräche und dieser etwas in seinem Platt antworten würde, dann hätten sie ein Verständigungsproblem. Der räumliche und damit der dialektale Abstand wäre einfach zu groß. Wenn man aber genügend Zeit hätte, eine Wanderung von Garmisch nach Husum zu unternehmen, und außerdem dazu, sich in jedem Dorf, durch das man kommt, einen Abend lang ins Wirtshaus zu setzen (keine üble Vorstellung!) und sich mit Einheimischen zu unterhalten, dann würde man allenfalls schwache, fließende Übergänge bemerken. Am ehesten noch Lautnuancen, aber kaum scharfe Grenzen.

Zwischen Sprachen gibt es keine solchen allmählichen Dorf-zu-Dorf- und Stadt-zu-Stadt-Übergänge. Deutsch und Französisch, Deutsch und Tschechisch, Deutsch und Polnisch, Deutsch und Dänisch trennen Sprachgrenzen, die mit Landesgrenzen deckungsgleich sein können, aber nicht müssen (ein Sonderfall ist aus historischen Gründen die deutsch-niederländische Sprach- und Landesgrenze). Hier gibt es kein Verständigungskontinuum, sondern allenfalls punktuelle Beeinflussungen auf beiden Seiten der Grenze, die sich vor allem auf den Wortschatz beschränken, denn Wörter sind der «mobilste» Teil einer Sprache und können leicht aus einer Kontaktsprache übernommen werden.

Das Bairische, egal ob in Bayern oder in Österreich, wird zusammen mit dem Schwäbischen, Thüringischen, Hessischen, dem Plattdeutschen und einer Reihe weiterer Dialekte von einer überall gültigen Schrift- und Standardsprache «überdacht». Konkret: Ob man die Neue Zürcher Zeitung liest, die in München erscheinende Süddeutsche Zeitung, die Neue Osnabrücker Zeitung oder die Berliner taz – man erkennt in den verwendeten Sprachformen so gut wie keinen Unterschied (um Inhalte geht es hier nicht). Die Schulbücher in Bayern verwenden dieselbe (Standard-)Sprache wie die in Schleswig-Holstein. In Zeitungen und Büchern sind Orthographie und Grammatik weitestgehend normiert. Im Zweifelsfall kann man in Handbüchern nachschlagen. Auch der standarddeutsche Wortschatz ist überregional gültig. An Wörterbüchern von unterschiedlicher Dicke ist kein Mangel. Dagegen sind die Dialekte sprachliche «Varietäten» mit regionaler (oder nur lokaler) Reichweite. Sie werden, wenn man von Sonderfällen wie z.B. der Mundartdichtung oder Werbeanzeigen mit dialektaler Färbung absieht, nur in mündlicher Kommunikation verwendet. Und das gilt auch für das Bairische. Man tut ihm kein Unrecht, wenn man es als einen deutschen Dialekt unter vielen betrachtet. Stichhaltige philologische Argumente, es als eigene Sprache zu bewerten, gibt es nicht. Und selbst wenn: Was wäre denn eigentlich damit gewonnen?

Bairisch ist Hochdeutsch – historisch und geographisch

Wenn man von «Hochdeutsch» spricht, denkt man normalerweise den Gegensatz «Dialekt» mit oder allenfalls noch «Umgangssprache», «Slang», «Jugendsprache» (was immer man dafür hält). «Hochdeutsch» ist in diesem Verständnis insofern «hoch», als es vom Prestige her «höher» steht als irgendwelche «tiefer» stehenden Abarten des Deutschen. Man spricht ja auch von einem Hochenglischen (im Gegensatz z.B. zum Cockney), einem Hochitalienischen (im Gegensatz zu Dialekten in Apulien oder Sizilien) usw. «Hochdeutsch», das ist kurz gesagt das Deutsch der Tagesschausprecher, der Bücher und der Leitartikel. Aber «hoch» ist zunächst einmal ein räumlicher Begriff. Und auch «Hoch-Deutsch» war zunächst – das heißt bis ins 18. Jahrhundert – die Benennung für einen Sprachraum, und zwar für ungefähr die südlichen zwei Drittel des gesamtdeutschen Gebietes. Man bezeichnete die dort gesprochenen Varianten des Deutschen deshalb als «Hochdeutsch», weil das Gelände von der Mittelgebirgsschwelle bis zu den Alpen höher liegt als das norddeutsche Flachland. Die dort gesprochenen Dialekte sind niederdeutsch. Man sagt auch Plattdeutsch, was ja auch zur topologischen Beschaffenheit des Gebietes passt. Das historische Begriffspaar ist also «Hochdeutsch» gegenüber «Niederdeutsch».

«Hochdeutsch» ist aber kein veralteter Begriff, sondern die Sprachwissenschaft meint damit nach wie vor eine geographische Gegebenheit. «Hochdeutsche Dialekte» ist hier kein Widerspruch in sich, sondern die zusammenfassende Bezeichnung für alle Dialekte, die die sogenannte Althochdeutsche Lautverschiebung mitgemacht haben: in denen man also nicht ik sagt, sondern ich, nicht Water, sondern Wasser, nicht open, sondern offen. Zu diesen Dialekten gehört neben dem Alemannischen (vom Lech bis zum Elsass), dem Westmitteldeutschen (an Rhein und Mosel), dem Ostmitteldeutschen (in Thüringen und Sachsen), dem Ostfränkischen (um Würzburg, Bamberg und Bayreuth) eben auch das Bairische. Das Bairische ist also historisch und sprachgeographisch gesehen Hochdeutsch oder – genauer gesagt – ein hochdeutscher Dialekt. Da der Begriff «hochdeutsch» also auf zweierlei Weise verwendet werden kann, einmal historisch-geographisch, aber ebenso mit Bezug auf ein (wie auch immer definiertes) Sprachniveau, wird er in diesem Buch vermieden. Das Deutsch der Tagesschausprecher, der Bücher und Leitartikel wird als «Standarddeutsch» oder «deutsche Standardsprache» bezeichnet. Denn wie gesagt: Bairisch ist (!) Hochdeutsch.

Bei uns gibt’s koa Anarchie!
Bayrisch und gefühltes Bayrisch

Das Bairische schlechthin gibt es nicht. Es gibt auch kein einheitliches bayrisches Bairisch und daneben vielleicht noch ein österreichisches. Der bairische Dialektraum innerhalb Bayerns ist – selbst wenn man die schwäbischen und fränkischen Dialekte einmal wegdenkt – deutlich in sich gegliedert. Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen Bad Reichenhall im Süden und Marktredwitz im Norden. In Österreich ist es nicht anders. Im Gegenteil: Die dialektalen Unterschiede zwischen den Tiroler Mundarten und den Inn- und Mühlviertler Dialekten sind gravierend. Von außen und von ferne werden diese Unterschiede aber kaum wahrgenommen, und das nicht zuletzt deshalb, weil regelmäßig Bayern mit München verwechselt wird und Österreich mit Wien (übrigens wird aus einer undifferenzierten Westwahrnehmung auch nicht zwischen thüringischen und sächsischen Dialekten unterschieden). Und auch was diese beiden Zentren betrifft, sind es ganz bestimmte, besonders auffällige Lautformen, die als typisch wahrgenommen werden. Verstärkt wird das noch dadurch, dass die großstädtischen regional gefärbten Umgangssprachen – man könnte auch sagen diese «Dialekte light» – medial verbreitet und vermarktet werden. Da geben Madln und Buam in vermeintlichen «Trachten» in künstlich-rustikalen Studio-Stadln vermeintlich «Mundartliches» zum Besten.

Die typischen Lautformen sind dann für das bayrische Bairisch die Zwielaute (Diphthonge) ua wie in guat, Bua und Schua, das ia wie in liab, Briafal oder Ziach für ‹Ziehharmonika› und – ganz besonders! – das oa für hochdeutsches ei in Doag ‹Teig›, koa ‹kein› oder load ‹leid›. Gerne lässt man einen zuagroasten (man beachte das ua und das oa!) Studiogast (kurz gesagt an Breißn ‹einen Preußen›) das als urbayrisch geltende Wort Oachkatzlschwoaf ‹Eichkätzchenschweif› nachsprechen, um sich an der zu erwartenden ungelenken Artikulation des oa zu belustigen. Außer ua, ia und oa sind es dann noch einige Wörter (Fensterln, Lederhosn, Wiesn zum Beispiel), die die Außenwahrnehmung des Bayrischen, also das «gefühlte» Bayrisch, ausmachen.

Das «gefühlte» Österreichische macht sich in der Fern(seh)wahrnehmung an den langen dunklen åå in wie in kååfm, lååfm, schåång für ‹kaufen›, ‹laufen›, ‹schauen› (also für standarddeutsches au) oder den hellen ää wie drää, bääßn oder Ääs für ‹drei›, ‹beißen›, ‹Eis› (standarddeutsch ei) fest. Natürlich gibt es auch hier die typischen Wörter wie den Häärigen oder die Brettljååsn, den ‹Heurigen› und die ‹Brettljause›, der auf einem rustikalen Brett servierte kalte Imbiss aus verschiedenen Schinken-, Wurst- und Käsesorten.

Ein unentbehrliches Element des «gefühlten Bayrisch» ist, wie wir gesehen haben, ganz offensichtlich der Zwielaut oa, dessen Verwendung ausreicht, um eine schriftliche Äußerung als «typisch bayrisch» erscheinen zu lassen. Und nicht nur das, er scheint sogar suggestiv eine Art bayrisches Wir-Gefühl zu erzeugen. Als 1919 z.B. die bayrische Räterepublik brutal niedergeschossen worden war, wurden in München Plakate (Abb. S. 22) geklebt, die einen kraftvollen Bayern zeigen, der schwungvoll einen «Anarchisten» an einem weißblauen Grenzpfosten vorbei aus dem Land befördert. Am oberen Plakatrand steht, nicht auf Bairisch, sondern standarddeutsch, damit es der Anarchist (der nie und nimmer ein Bayer sein kann) auch wirklich versteht, Raus mit Euch! Aber unten: Bei uns gibt’s koa Anarchie. Das ist der implizite Appell ans kollektive bayrische Wir unter Verwendung des offenbar identitätsstiftenden Diphthongs oa. Ein vergleichsweise aktuelles Beispiel: Als Fans des FC Bayern München zu Tausenden ihre Aversion gegen den wechselwilligen Schalker Torwart Manuel Neuer kundtaten, hielten sie Plakate mit Koan Neuer in die Höhe. (Abb. S. 23)

Ein literarisch-satirisches Zeugnis für «gefühltes» Bayrisch mit möglichst vielen falschen oa und anderem Nonsens in Pseudodialekt ist ein Gedicht von Hanns von Gumppenberg (1866–1928) mit dem Titel Oadlwoaß ‹Edelweiß›:

Identitätsstiftendes koa(n) 1919 und 2011

O Berg – euch liab’ ich allezoat

Ja selbscht im Winta, wenn es schnoat!

Ich grüaß den roanen Sonnenschoan

Und stoag’ ins stoale G’wänd hinoan:

Doch wer’n miar wohl die Woadel hoaß

Doch grüaßt mich z’letzt oan Oadelwoaß, oan Oadelwoaß

O Liad, gediachtet still dahoam,

Wie g’froat von diar mich jeder Roam!

Jetzt kling’ von Berg zu Bergen woat,

Zum Proas der Alpenherrlichkoat!

Und singt dich d’Senn’rin hoch am Oas,

Dann bist auch du oan Oadelwoaß, oan Odelwoaß

Dös haut scho.
Bairisch bei nicht-bairischen Autoren

Es ist, wenn nicht alles täuscht, noch niemand gründlich der Frage nachgegangen, wie Schriftsteller, die selber nicht aus Bayern kommen, sich aber vielleicht einige Zeit dort aufgehalten haben, ihre Figuren bairischen Dialekt sprechen lassen. Welche Dialektmerkmale legen sie ihnen in den Mund? Sehen wir uns kurz drei solche Autoren an: Theodor Storm (1817–1888), Thomas Mann (1875–1955) und Erich Kästner (1899–1974).

In Theodor Storms Novelle «Pole Poppenspäler» tritt ein Marionettenspieler auf, der eine Tochter namens Lisei hat. Verkleinerungsformen auf -ei sind (anders als -l und -erl)in Bayern nicht sehr weit verbreitet. In der Wegscheider Gegend nördlich von Passau sagt man so, außerdem im südlichen Oberbayern, vor allem im Chiemgau und im Berchtesgadener Land, genau dort also, wo Storms Puppenspielerfamilie Tendler herstammt. Aber lassen wir ihn selbst bzw. sein Lisei zu Wort kommen. Paul, der Ich-Erzähler der Novelle, bringt das Mädchen mit nach Hause und stellt es seiner Mutter vor. Und dann:

Wie sie denn heiße, fragte sie (die Mutter), und ob es denn schon immer so von Stadt zu Stadt gefahren sei? – –Ja, Lisei heiße es – ich hatte das meiner Mutter schon oft genug gesagt – aber dies sei seine erste Reis’; darum könne es auch das Hochdeutsch noch nit so völlig firti krieg’n. – – Ob es denn auch zur Schule gegangen sei? – – Freili; es sei schon zur Schule gang’n; aber das Nähen und Stricken habe es von seiner alten Bas’ gelernt; die habe auch so a Gärtl g’habt, da drin hätten sie zusammen auf dem Bänkerl gesessen; nun lerne es bei der Mutter, aber die sei gar streng!

Storm flicht hier sehr geschickt die Äußerungen des kleinen Mädchens in eine indirekte Rede ein. Er lässt sie hier nicht selber sprechen, sondern gibt indirekt aus der Erzählerdistanz wieder, was Lisei auf die Fragen von Pauls Mutter antwortet. Dialektmerkmale, die er dabei einfließen lässt, sind Wortformen ohne -e am Wortende (Reis’, Bas’). In freili fehlt – ganz mundartgerecht – das ch am Ende, ebenso in firti das g. Bei diesem Wort hat Storm auch das e des entsprechenden schriftsprachlichen Wortes fertig durch dialektales i ersetzt (wie in mirka ‹merken› oder schwirzn ‹schwärzen›). Statt nicht sagt das Mädchen nit. Das helle a in den Verkleinerungsformen Gärtl und Bänkerl setzt Theodor Storm als ä um, was ein bairischer Autor wohl eher nicht gemacht hätte. Bei der Lektüre fragt man sich natürlich, woher der Husumer Autor seine bairischen Dialektkenntnisse bezog. Die Antwort hat er in einem Brief selber gegeben: Er hatte Franz von Kobells «Gedichte in oberbayrischer Mundart» gelesen und benützt. Zusätzlich hat er die Dialektpartien dem Stuttgarter Sprachwissenschaftler Georg Scherer zur kritischen Durchsicht vorgelegt.

Auch in Thomas Manns «Buddenbrooks» kommt wiederholt ein Bairisch-Sprecher zu Wort, nämlich der Münchner Hopfenhändler Permaneder. Mit Theodor Storms kleinem Mädchen kann der selbstverständlich nicht direkt verglichen werden. Auch dosiert Thomas Mann den fremden Dialekt (den er ja aus seiner Münchner Zeit bestens kannte) nicht so vorsichtig wie Theodor Storm an der zitierten Stelle. Wenn Herr Permaneder spricht, dann liest sich das beispielsweise so: Übrigens … i will nixen g’sagt ham, Herr Nachbor! Dös is fei a nett’s G’schäfterl! Mer machen a Geld mit der Aktien-Brauerei, wovon der Niederpau Direktor is, wissen S’. Dös is a ganz a kloane G’sellschaft g’wesen, aber mer ham eahna an Kredit geben und a bares Göld … zu vier Prozent, auf Hypothek … damit s’ eahnare Gebäud ham vergreßern können … Und jetzt mochen s’ an G’schäft, und mer ham an Umsatz und a Jahreseinnahm – dös haut scho!

In dieser Passage steckt, wie unschwer zu erkennen ist, wesentlich mehr Dialekt als in dem Zitat aus Storms «Pole Poppenspäler». Es kommen Wortformen vor wie nixen für ‹nichts›, mer für ‹wir›, eahna für ‹ihnen› und eahnare für ‹ihre›. Auch das unvermeidliche oa erscheint, und zwar in kloane. (Storm hat das vermieden: Er schreibt Reis’ für ‹Reise›. Das Dialektwort wäre Roas.) Ein zutreffendes Dialektmerkmal ist zudem die Verwendung von Kredit und Geld mit dem unbestimmten Artikel: a Geld, an Kredit, a bares Göld. Der Name Niederpau wird ganz dialektgerecht mit dem bestimmten Artikel der verwendet. Mit dös haut scho ‹das klappt schon› legt Thomas Mann seinem Herrn Permaneder eine sehr typische Redensart in den Mund. Überhaupt spricht Permaneder gerne in solchen Wendungen, an anderer Stelle z.B. is dös a Hetz, wörtlich ‹ist das eine Hetze› (gemeint ist ‹ist das aber lustig›) und dös san G’schichtn ‹das sind Geschichten› (in etwa: ‹das ist bemerkenswert›). Auch das Lisei verwendet ab und zu redensartliche Wendungen, z.B. das is g’schickt oder was geit’s für Sachen auf der Welt.

Vergleicht man Thomas Manns und Theodor Storms «Bairisch», kann man noch weitere Gemeinsamkeiten entdecken: Verben, die mit g anlauten, haben keine Vorsilbe ge–. Das Lisei sagt gang’n ‹gegangen›, Herr Permaneder geben ‹gegeben›. Am Wortende fehlt bei beiden das -e: Thomas Manns Permaneder sagt Gebäud und Jahreseinnahm, Storms Mädchen sagt Reis. Namen werden mit dem bestimmten Artikel gebraucht. Beide Autoren lassen ihre Figuren in mundarttypischen phraseologischen Fügungen sprechen. Alles das scheint im «hohen Norden» das Außenbild des Sprechens in bairischer Mundart zu bestimmen (oder bestimmt zu haben).

Einige kleinere Missgriffe sind Thomas Mann aber doch unterlaufen. In Bayern würde wohl niemand an G’schäft sagen. Das Wort ist wie in der Standardsprache ein Neutrum. An anderer Stelle stellt Herr Permaneder fest: München ist koane G’schäftsstadt. Die Form koane ist falsch. Hier hat Thomas Mann lediglich das ei in oa umgesetzt, sich aber bei der Wortform vertan. Es müsste heißen koa G’schäftsstadt. Auch die von Permander so geliebte Interjektion geltn S’ würde kaum so gesprochen. Theodor Storm verwendet sie richtig, das heißt ohne t: «Gel, Vater», rief das Lisei, «da wird aa die Mutter nit mehr brumm’n.»

Damit soll auf keinen Fall dem großen Thomas Mann dialektpedantisch am Zeug geflickt werden. Er war gebürtiger Lübecker, und dafür hat er seinen Herrn Permaneder mitsamt seiner bayrischen Wortwahl und Idiomatik ganz vorzüglich – um nicht zu sagen unnachahmlich – gezeichnet.

Anhand von Erich Kästners «Doppeltem Lottchen», wo gelegentlich eine Art bairisch eingefärbtes Standarddeutsch gesprochen wird, lassen sich einige dieser Beobachtungen bestätigen. Allerdings spielt Kästners Kinderbuch nicht im Schausteller-Milieu, auch nicht unter Münchner Hopfenhändlern, sondern in gehobenen Wiener und Münchner Musikerkreisen. Aber immerhin: Wenn Kapellmeister Palfy beispielsweise sagt Werden S’ solang bleiben können, bis das Luiserl – ein’ Schmarrn – bis das Lottchen, mein ich, wieder beisamm’ ist?, dann haben wir auch hier Namen mit Artikel (das Luiserl und das Lottchen) und eine e-lose Verbform (mein ich). Die Ausdrucksweise wieder beisamm’ sein für ‹sich wieder erholt haben› ist zumindest ungewöhnlich. Vielleicht hat Kästner hier wieder beinand ist gemeint. Das wäre das Gängigere. Aber man kann es ja leicht verwechseln …

Literarisches und Historisches

Als sich irgendwann um 500 nach Christus die Bajuwaren – aus welchen (prä-)historischen Wurzeln auch immer – zu einem germanischen Stamm formierten, hatten sie anderes zu tun, als irgendetwas aufzuschreiben. Die schriftliche Überlieferung des Bairischen begann ähnlich wie die des Fränkischen, Alemannischen und anderer germanischer Sprachen erst erheblich später, in der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts. Aber auf bairischem Boden sind herausragende Zeugnisse der althochdeutschen Literatur entstanden. Es wäre zwar anachronistisch, einzelne bedeutende Dichtungen des Frühmittelalters als bairische (erst recht bayrische) Mundartdichtung in Anspruch nehmen zu wollen, denn Mundartdichtung kann nur vor dem Hintergrund einer hochsprachlichen Literatur existieren. Sie lebt letztlich von diesem immer mitempfundenen Gegensatz. Die «Hochsprache» des Mittelalters war das Lateinische, nicht irgendein Hochdeutsch in unserem Sinne. Insofern ist jeder nicht-lateinische mittelalterliche Text dialektal, auch wenn es die Verfasser mehr oder weniger gut verstanden, extreme Regionalismen zu vermeiden. Trotzdem: Die althochdeutschen Texte, die im bairischen Raum geschrieben worden sind, zeigen in sprachlicher Hinsicht bereits unverkennbar bairische Merkmale. Als prominenten Beispiele werden (außer einem amüsanten lateinisch-bairischen Kurztext) das «Wessobrunner Gedicht» mit dem zugehörigen Gebet und das «Muspilli» vorgestellt. Auch im Hoch- und Spätmittelalter haben bairische Autoren erstrangige Werke verfasst. Hier stellt sich bereits vehement das Auswahlproblem. Auf keinen Fall darf der frühe «donauländische» Minnesang fehlen, ebenso wenig der vielleicht bekannteste Minnesänger Walther von der Vogelweide und das wohl bekannteste Epos des deutschen Mittelalters, das «Nibelungenlied». Dialektale Merkmale treten in diesen Werken allerdings deutlich zurück. So gesehen waren die althochdeutschen Texte «bairischer» als später die mittelhochdeutschen.

Die Zahl der bayrischen Autoren des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ist kaum noch zu überblicken. Hier können nur einige herausragende Repräsentanten (und eine wenig bekannte Repräsentantin) vorgestellt werden. Für die Zeit ab 1800 – und erst ab da kann man von bayrischer Mundartdichtung im eigentlichen Sinne sprechen – gilt das erst recht. Bayrische Autoren der Zeit um und nach 1900, allen voran die Klassiker Ludwig Thoma und Oskar Maria Graf, waren keine Mundartdichter in dem Sinn, dass sie kein Standarddeutsch geschrieben hätten, aber sie verwendeten den bayrischen Dialekt in ganz bestimmten Funktionen, um Figuren aus einem ländlich-bäuerlichen Milieu zu Wort kommen zu lassen, als Mittel der Ironie oder der satirischen Entlarvung oder «latent», um eine ereignisnahe Erzählerperspektive anzudeuten.

Literatur kann man niemals isoliert von historischen Kontexten betrachten. Deshalb müssen, wenn auch unsystematisch, von Fall zu Fall geschichtliche Begleitumstände wenigstens angedeutet werden.

Aber der Reihe nach.

Die Bajuwaren – die «Leute aus Böhmen»

An der Schwelle von der Antike zum frühesten Mittelalter, im 5. und 6. Jahrhundert, vollzogen sich in Mitteleuropa gewaltige Umwälzungen: Ein halber Kontinent war in Aufruhr und Bewegung. Doch schon früher, im 2. Jahrhundert, hatten die Goten ihre skandinavischen Wohnsitze verlassen und waren durch das heutige Polen bis nach Bulgarien, von dort nach Norditalien und Südfrankreich und schließlich nach Spanien weitergezogen. Der lange Marsch, der durch vorübergehende Reichsgründungen immer wieder für einige Zeit auch unterbrochen wurde, nahm Generationen und Jahrhunderte in Anspruch. Andere germanische Stämme wie die Langobarden und Burgunder legten ebenfalls weite Wege zurück, ehe sie sich in Oberitalien und in Gebieten des heutigen Südostfrankreichs ansiedelten. Die Herkunft und die Wanderroute dieser Germanenstämme von ihren ursprünglichen Wohnsitzen bis zum Ende ihrer langen Wege lassen sich mehr oder minder sicher rekonstruieren. Ganz anders bei den Bajuwaren, den Vorfahren der heutigen Baiern. Sie waren von Anfang an kein einheitlicher Stamm, der irgendwann von irgendwo aus zu neuen Wohnsitzen aufbrach, sondern das später bairische Gebiet wurde von ganz unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die zu unterschiedlichen Zeiten aus verschiedenen Richtungen einwanderten, besiedelt. An der Stammesbildung waren sicher Angehörige verschiedener germanischer Völkerschaften (Langobarden, Alemannen, Goten) beteiligt, dazu auch Romanen, die nach dem Abzug der römischen Truppen in der Umgebung einstiger Stützpunkte wie Regensburg, Straubing, Passau sesshaft geblieben waren. Nicht ganz unwahrscheinlich, aber letztlich wohl kaum zu beweisen ist, dass sich unter den frühesten Bajuwaren auch Kelten und Slawen befanden. Die böswillige Behauptung, dass die Baiern Nachkommen der «Fußkranken der Völkerwanderung» seien, ist allerdings nicht nur vom bayrischen Standpunkt aus aufs Heftigste zurückzuweisen. Wer die Gegend zwischen Donautal und Alpen kennt, wird verstehen, dass dort Angekommene wenig Neigung verspürten, noch einmal weiterzuziehen.

Woher kommt nun der Name der Baiern? In frühmittelalterlichen lateinischen Quellen gibt es verschiedene Schreibformen: Baiovarii, Baioarii, Baigoarii und ähnlich. Der Name besteht aus zwei Teilen: Baio- dürfte etymologisch zum Namen der Boier gehören, einer keltischen Ethnie, die in den antiken Jahrhunderten im böhmischen Becken siedelte. Der Namensteil -varii bedeutet ‹Leute›. Dazwischen ist ein «Mittelstück» ausgefallen. Die Baiovarii sind wahrscheinlich ursprünglich Baio-haima-varii, das heißt Leute aus Baiohaima, und das ist Böhmen, die Heimat der Boier. Dass in dreiteiligen Wortzusammensetzungen das Mittelstück getilgt wird, ist nichts Ungewöhnliches. Die Münchner Frauentürme beispielsweise sind die Frauen-kirchen-türme. Das Mittelstück wird ebenso weggelassen wie beim Wirtstisch. Das ist eigentlich der Wirts-haus-tisch.

Die frühesten Erwähnungen der Baiern und ihres Stammesgebietes finden sich bei den spätrömischen Autoren Jordanes und Venantius Fortunatus (Jordanes, ein gebürtiger Gote, lebte in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts, Venantius, Bischof von Poitiers, in der zweiten). Beide erwähnen die Bajuwaren zwar nur beiläufig, aber immerhin. In der lateinischen Gotengeschichte des Jordanes liest man, die Alemannen hätten als Nachbarn ab oriente Baibaros ab occidente Francos, ab meridie Burgundones, a septentrione Thuringos. Das heißt: ‹im Osten die Bajuwaren, im Westen die Franken, im Süden die Burgunder und im Norden die Thüringer›. Über Land und Leute der frühesten Baiern erfährt man bei Jordanes leider ebenso wenig wie bei Venantius, der in seiner poetischen Martinsvita die Stadt Augsburg erwähnt, wo die hl. Afra begraben ist. Dort könne man den Lech überqueren, aber nur si vacat ire viam neque te Baiovarius obstat ‹wenn der Weg frei ist und sich der Bajuware dir nicht in den Weg stellt›. Das ist immerhin eine geographische Angabe, und vielleicht kann man auch herauslesen, dass der Baiovarius nicht willens war, einen Fremden so mir nichts dir nichts in sein Gebiet spazieren zu lassen. Der Lech, den Venantius erwähnt, gilt übrigens noch heute als Dialektgrenze zwischen dem Bairischen und dem Schwäbischen.

Ein Kuriosum ist die Erwähnung Baierns durch den englischen König Alfred den Großen (†899). In seiner altenglischen Bearbeitung der lateinischen Weltgeschichte des Orosius (der um 400 lebte und von den Baiern noch nichts wusste) schreibt Alfred, nördlich der Donau und östlich des Rheins wohnen die Eastfrancan, die Ostfranken, südlich davon die Swaefas, die Schwaben. Und be eastan him sindon Bægware, se dæl the mon Regnesburg hætt ‹und östlich davon sind die Baiern, der Landesteil, den man Regensburg nennt›. Aus frühmittelalterlicher insularer Sicht war Baiern also mit Regensburg identisch (München existierte damals noch nicht).

In der Linguistik ist es in Mode gekommen, gesicherte Einsichten oder zumindest plausible Erklärungen mit (vermeintlich) neuen, grundstürzenden Theorien in Frage zu stellen. Auch dem Namen der Baiern ist dieses Schicksal widerfahren. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sorgte eine neue Etymologie vorübergehend für Furore. Es wurde behauptet, der Name Bajuwaren leite sich von Pagus Iobaocensium her, der lateinischen Bezeichnung des Salzachgaues. Demnach wäre das Zentrum des (prä-)historischen Baiern in der Gegend um Salzburg zu suchen. Gegen diese «Erklärung» spricht eine Reihe von Argumenten. Zum einen müsste der Name vom Lateinischen ins frühmittelalterliche Deutsche übergesprungen sein. Unter den germanischen Stammesnamen gibt es dafür keinen Parallelfall. Im Gegenteil: Germanische Stammesnamen sind von lateinischen Autoren übernommen und allenfalls latinisiert worden. Zudem hätte das p- von pagus lautgesetzlich pf- ergeben müssen (so wie bei lateinischem pondus zu Pfund, porta zu Pforte usw.). Die Baiern müssten nach dieser Logik Pfaiern heißen. Auch dass ein Gebietsname formal unverändert auf eine Gruppe von Menschen übertragen worden wäre, ist kaum denkbar. Freilich ist die traditionelle Erklärung der Bajuwaren als «die Leute aus Böhmen» nur eine Hypothese. Sie hat aber den Vorteil, plausibel zu sein.

Dumm sind die Welschen, klug sind die Baiern.
Frühes Stammesbewusstsein

Nicht allzu lange Zeit nachdem die Baiern aus der dämmerigen Vorgeschichte der Völkerwanderungszeit in das um Nuancen hellere Licht der frühmittelalterlichen Geschichte getreten waren, müssen sie bereits über ein ausgeprägtes ethnisches Selbstbewusstsein verfügt haben. Darauf deutet zumindest ein Eintrag in einer Handschrift des 9. Jahrhunderts hin, die heute in der Universitäts- und Landesbibliothek Kassel liegt. Sie enthält vor allem lateinische kirchenrechtliche Texte. Aber nicht nur das, denn es wurden zwischen den Zeilen auch einige althochdeutsche Texte und Einzelwörter, die lateinische Stichwörter übersetzen, eingetragen. Erklärt wird beispielsweise, dass lat. sapiens homo ‹kluger Mann› in der Volkssprache spaher man heißt und dass stultus ‹dummer› mit toler zu übersetzen ist. Und dann kommt das praktische Anwendungsbeispiel: Kurze lateinische Satzstückchen werden nacheinander übersetzt. Wenn man die lateinischen Wörter wegdenkt, ergibt sich folgender Kurztext in der bairischen Variante des Althochdeutschen: tole sint uualchi. spahe sint peigira. luzic ist spahe in uualhum. mera hapent tolaheiti denne spahi. Auf Neuhochdeutsch: ‹Dumm sind die Welschen, klug sind die Baiern. Gering ist die Klugheit bei den Welschen. Mehr Dummheit haben sie als Klugheit.›

Unklar ist, welche «Welschen» gemeint sind, vielleicht Vorfahren der heutigen Italiener oder Franzosen, vielleicht Alpenladiner oder romanische Bevölkerungsreste in der Gegend alter Römerstädte wie Regensburg, Straubing oder Passau. Auch weiß man nicht genau, woher die Handschrift stammt und wie sie nach Kassel gelangt ist. Sicher ist nur eines: Sie wurde im bairischen Sprach- und Stammesgebiet geschrieben. Wo auch sonst?

Das erfuhr ich bei den Menschen als das größte Wunder.
Wessobrunner Gedicht und Gebet

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