Über Daniel Holbe

Daniel Holbe, Jahrgang 1976, lebt mit seiner Familie in der Wetterau unweit von Frankfurt. Einem großen Publikum wurde er bekannt, als er in den Romanen »Todesmelodie« und »Teufelsbande« die Figuren des verstorbenen Krimiautors Andreas Franz weiterleben ließ. Zuletzt veröffentlichte er die Bestseller »Schwarzer Mann« und »Der Fänger«.

Im Aufbau Taschenbuch ist sein Thriller »Die Petrusmünze« lieferbar.

Informationen zum Buch

Wer ist der wahre Papst?

Eine geheimnisvolle Bruderschaft und die Macht im Vatikan.

Die deutsche Historikerin Marlene Schönberg erhält einen geheimnisvollen Anruf. Ein Mann erklärt, er besitze Informationen über eine Reliquie, die den Vatikan ins Wanken bringen könnten. Als Marlene den Mann besuchen will, findet sie sich vor einem Gefängnis in Marseille wieder. Robert Garnier steht in Verdacht, seinen Vater vor dem Papstpalast in Avignon getötet zu haben. Zusammen mit seinem Anwalt beginnt Marlene zu ermitteln: Es geht um eine Münze – die Petrusmünze, an der man den wahren Papst erkennt. Ein erster fehlgeschlagener Anschlag auf sie verrät Marlene, dass sie auf der richtigen Spur ist.

Ein Thriller von einem der erfolgreichsten Autoren der letzten Jahre.

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Daniel Holbe

Die Petrusmünze

Thriller

Inhaltsübersicht

Über Daniel Holbe

Informationen zum Buch

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Proömium

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Zweiter Teil

Kaptitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Dritter Teil

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Nachwort

Impressum

»Man verhaftete zuerst Leute, die bekannten, dann auf ihre Anzeige hin eine riesige Menge. Sie wurden nicht gerade der Brandstiftung, wohl aber des allgemeinen Menschenhasses überführt. Die Todgeweihten benutzte man zum Schauspiel. Man steckte sie in Tierfelle und ließ sie von Hunden zerfleischen, man schlug sie ans Kreuz oder zündete sie an und ließ sie nach Einbruch der Dunkelheit als Fackeln brennen.«

Tacitus, römischer Senator und Historiker,

in seinen Annalen des römischen Reiches

Proömium

Im Jahre 31 unserer Zeitrechnung schlug der aufgebrachte Mob vor den Toren Jerusalems nach stundenlanger Peinigung Jesus den Nazarener ans Kreuz. Kurze Zeit später wählte sein Jünger Judas Iskariot den Freitod, zermürbt von Schuld und Selbstverachtung.

Auch den anderen Aposteln erging es im Laufe der Jahre wenig besser.

Jakobus (der Ältere): enthauptet in Jerusalem im Jahre 43

Matthäus: enthauptet in Syrien um das Jahr 46

Bartholomäus: gehäutet in Armenien im Jahre 51

Jakobus (der Jüngere): gesteinigt in Jerusalem im Jahre 62

Matthias (Nachfolger des Judas Iskariot): gesteinigt in Jerusalem im Jahre 63

Simon Petrus und sein Gefährte Paulus von Tharsus: kopfüber gekreuzigt und enthauptet in Rom im Jahre 64

Andreas: gekreuzigt in Patras/Griechenland um das Jahr 65

Judas Thaddäus und sein Gefährte Simon: zersägt in Babylon um das Jahr 68

Thomas: in Madras/Indien von Lanzen durchbohrt im Jahre 72

Der Überlieferung zufolge hat man auch Johannes, den letzten der Apostel, zweimal zu ermorden versucht. Einmal geschah es durch Gift in Ephesus, wo er im Tempel der Artemis nicht opfern wollte, und ein weiteres Mal versuchte man, ihn in Rom in einem Kessel mit heißem Öl das Martyrium erleiden zu lassen.

Tatsächlich verstarb der Evangelist jedoch im hohen Greisenalter in Ephesus eines natürlichen Todes. Er ist der einzige Apostel und Zeitzeuge, der das erste Jahrhundert überlebte.

Prolog

Rom, 64 n.Chr.

Von den vierzehn Stadtteilen Roms waren gerade einmal vier von den vernichtenden Flammen verschont geblieben. Das einst so beeindruckende Stadtbild bestand lediglich noch aus ausgebrannten Ruinen und Trümmern. Überall irrten hungernde, kranke Menschen umher; von den riesigen Armensiedlungen aus leichtem Holz war nichts weiter übrig als bitter riechende Asche. Die Senatoren erkannten rasch, dass so schnell wie möglich ein Schuldiger gefunden werden musste. Bald sprach Kaiser Nero aus, was viele von ihnen bereits ahnten: »Die Chrestianer haben dieses Unheil über uns gebracht.«

Es dauerte nicht lange, bis die Prätorianer eine große Zahl verängstigter Menschen zusammengetrieben hatten. In den Gärten des Kaisers fanden Hunderte von Christen den Tod. Eingenäht in Schaffelle, warf man sie wilden Tieren zum Fraße vor oder verbrannte sie, als wären sie lebendige Fackeln.

»Wo ist der, den ihr euren Herren nennt?«

»Wer von euch hat befohlen, Rom in Brand zu stecken?«

»Nennt den Namen eures Anführers!«

So lauteten die Fragen und Forderungen der Peiniger, und es dauerte trotz unsäglicher Qualen sehr lange, bis ein Sterbender, dessen Körper man kopfüber an einen Pfahl gebunden hatte, den Namen des Mannes rief, den Jesus einst Petrus genannt hatte. Der Kopf des Mannes war blutrot, seine Augen waren bereits hervorgetreten, als man ihm mit dem Schwert den Gnadenstoß gab.

Als man Paulus von Tharsus und seinen Gefährten Simon Petrus kurze Zeit später verhaftete, leisteten sie keinen Widerstand. Ein letztes Mal tauschten die beiden Männer stumme Blicke aus, und bevor man ihnen die Kleider vom Leibe riss, zog Petrus seinen wertvollsten Schatz hervor, den er besaß.

Sie werden es nicht bekommen, dachte er, als er das Metall in seinen Mund schob, und es kurz darauf schmerzhaft seinen Hals hinabglitt.

Die Soldaten zerrten die beiden Männer mit sich, und auf dem Weg in die kaiserlichen Gärten griffen sie rund zwei Dutzend weitere Leidensgenossen auf. Keiner würde diese Nacht überleben, doch niemand beklagte das grausame Schicksal. Während sie Simon an ein Kreuz schlugen, das sie anschließend mit dem Kopf nach unten aufstellten, fand Paulus nur wenige Schritte entfernt den Tod durch Enthauptung.

Die Männer starben schweigend, der eine schnell, der andere langsam. Aber sie fanden den Tod in der tiefen Überzeugung, dass ihre Sache nicht verloren war.

Erster Teil

Kapitel 1

Avignon, Gegenwart

In wenigen Stunden würde ein weiterer heißer Junitag zu Ende gehen. Die tiefstehende Abendsonne tauchte die Dächer der alten Stadt in ein warmes Licht, und die hellen Kalksteinmauern der mächtigen Papstresidenz strahlten in goldgelbem Glanz. Zwischen den Häusern lag der Duft von Kräutern und Lavendel.

Pierre Garnier kniff geblendet seine Augen zusammen. Hinter den kühlen, erhabenen Mauern und in den verwinkelten Gängen des Palais des Papes war es um einiges dunkler gewesen, er hatte sich für einen Besuch kurz vor der Schließung entschieden. Als Einheimischer war Pierre mit dem Bauwerk schon seit seiner frühesten Schulzeit vertraut, doch nach intensiven Studien und eigenen Forschungen konnte er zu Recht von sich behaupten, die Residenz nahezu in- und auswendig zu kennen.

Pierre Garnier fühlte sich schon beinahe selbst so mächtig, wie es einst die herrschenden Kirchenfürsten empfunden haben mussten. Gleichzeitig spürte er jedoch auch eine gewisse Anspannung. Er wusste ganz genau, wie sensibel die Informationen waren, die er mit sich trug. Mit schnellen Schritten bog er links in die abwärts führende Seitengasse ein. Die Mauern des Gebäudekomplexes schienen mit jedem Schritt höher zu werden. Ihn begann zu frösteln.

Aus einem dunklen Winkel löste sich unbemerkt eine Gestalt. Während die zahlreichen freien Plätze der Altstadt mit Straßencafés gesäumt waren und sich hier das ganze Jahr über unzählige Touristen aufhielten, waren Pierre und sein Verfolger in der engen Straße aus grob geschlagenem Kopfsteinpflaster beinahe die einzigen Menschen. An einem der oberen Fenster eines Nachbargebäudes schlummerte eine Katze, irgendwo bellte auch ein Hund. Eine alte Frau mit schwerer Einkaufstasche huschte gebückt vorbei. Ihre Schritte verloren sich hinter der nächsten Straßenecke, danach wurde es wieder still.

Der Angriff sollte von hinten erfolgen, mit einem simplen Nylonstrumpf. Es würde wie ein Raubüberfall aussehen, und die Polizei würde den Vorfall entsprechend behandeln. Doch als der Verfolger die Hände mit dem tödlichen Gewebe über seinen Kopf werfen wollte, bemerkte Pierre Garnier die Gefahr und drehte sich um. Zwei kräftige Hände umklammerten seinen Hals und drückten zu. Er rang wehrlos nach Luft. Das Letzte, was seine Augen wahrnahmen, war der kalte, entschlossene Blick seines Angreifers – ein Gesicht, das ihm nicht fremd war.

Entsetzt formten seine Lippen die stummen Worte: »Du? Warum ausgerechnet du?«

Dann verlor Pierre Garnier das Bewusstsein, und sein Körper schlug dumpf auf die harten Pflastersteine auf.

Freiburg im Breisgau, wenige Tage später

Marlene Schönberg schloss die Haustür ihrer Wohnung in der Vorstadtsiedlung auf. Die schönen letzten Tage des Mai hatten viel versprochen, doch seit zwei Wochen fröstelte es sie permanent, wenn sie morgens das Haus verließ. Sie hängte ihre Jeansjacke auf die Garderobe und hörte bereits die vier Samtpfoten ihres Mitbewohners herbeitrappeln. Müde und abgespannt, sehnte sie sich nun nach einem ruhigen Wochenende und freute sich besonders auf die Lektüre ihres neuen Romans. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich ihren beruflichen als auch privaten Alltag etwas anders ausgemalt. Alles hatte so vielversprechend angefangen.

Nach zwei Jahren der Studienfindungsphase, so umschrieb sie beschönigend ihr abgebrochenes Studium der Betriebswirtschaftslehre, hatte ihr der Sinn nach Kultur und Geschichte gestanden. Damals hatte sie noch in Regensburg gelebt, und obwohl ihre Eltern auf eine Rückkehr nach Berlin gehofft hatten, war sie im Süden des Landes geblieben.

Das Geschichtsstudium in Freiburg hatte ihr schließlich völlig neue Perspektiven eröffnet. Für die Archäologie jedoch begeisterte sie sich eher theoretisch, da sie beschwerliche Reisen in die unwirtlichen Ecken der Welt gerne anderen überließ. Deutsche Historiker mit ausgeprägten philosophischen und theologischen Stärken dagegen faszinierten Marlene, und je weiter sie im Studium vorantrieb, desto mehr führte ihr Interesse sie in eben diese Richtung. Sie verbrachte ein Semester in England, später sogar eines in Rom. Ihr Vater war sehr stolz gewesen, als sie schließlich ihren Magister erlangt hatte, und ihre Mutter wäre vor Stolz beinahe geplatzt, als vor rund einem Jahr ihre Dissertation veröffentlicht worden war. Dennoch fristete die frisch gebackene Dr. Marlene Schönberg momentan ein ziemlich unbefriedigendes Dasein im Archiv eines mittelgroßen Museums. Vor einigen Jahren hatte man mehrere Transporte mittelalterlicher Schriften eingelagert, größtenteils theologische und medizinische Werke. So interessant es in den ersten Wochen gewesen war, diese alten Bücher zu sichten und zu katalogisieren, so langweilig wurde es, als Marlene merkte, dass es sich primär um eher unbedeutende Schriften unbekannter Autoren handelte. Bald kam es ihr vor, alles schon einmal gesehen zu haben, keine Hoffnung auf Neues, keine Sensationen.

Als sich in der Vorweihnachtszeit dann auch noch Martin, mit dem sie mehrere Jahre zusammen gewesen war, von ihr getrennt hatte, war das Drama perfekt gewesen.

Brian, der stattliche, weiß-rotgescheckte Kater, musterte die Einkaufstüte. Es war ein Ritual, dass er nach dem abendlichen Eintreffen seiner Hausherrin zuerst frisches Futter bekam. Umso enttäuschter war er, als Marlene schnell die Tüte auf die Arbeitsplatte der Küchenzeile stellte und dann sofort zum Telefon eilte. Bereits beim Betreten des Flurs war ihr der Zähler des Anrufbeantworters aufgefallen, dessen rote Digitalanzeige gleich vier Nachrichten ankündigte. Seit Martin auch sein letztes Buch und das letzte Paar Socken abgeholt hatte, war es still geworden, und ihre Eltern sprachen aus Prinzip nicht mit einem Anrufbeantworter.

Während der Kater raschelnd versuchte, ein Stück Käse aus der Folie zu befreien, hörte sich Marlene mit wachsender Enttäuschung an, dass sie lediglich sofort eine bestimmte Nummer wählen müsse und mit etwas Glück gehöre ihr ein neuer Porsche Cabrio. Als sie ihrem Anrufbeantworter bereits den Rücken zukehren wollte, knackte es in der Leitung.

Ein R-Gespräch?

»Madame Schönberg …«, ein lang gezogenes, nasales E wies auf die Herkunft der Dame hin, »möchten Sie ein Gespräch aus Frankreich annehmen?« – Klick.

Anscheinend hatte die Anruferin ihren Ansagetext falsch interpretiert. Die nächste Nachricht bestand nur aus einem Klicken in der Leitung, vermutlich der zweite Versuch der freundlichen Unbekannten. Gespannt drückte Marlene auf die Next-Taste des Apparats.

»Madame Schönberg, bitte entschuldigen Sie die Störung.«

Es war die Stimme eines Mannes.

»Sie kennen mich nicht, doch ich habe Ihre Dissertation gelesen. Ich hoffe daher, Sie können mir in einer persönlichen Angelegenheit weiterhelfen. Bitte rufen Sie mich zurück.« Er nannte seine Nummer. »Man spricht hier auch Englisch. Fragen Sie einfach nach Robert Garnier

Nach dem abendlichen Imbiss räkelte sich Brian zufrieden auf der breiten Couch an Marlenes Füßen. Da die Mitarbeiter des Museums in der Kantine der gegenüberliegenden Versicherung verköstigt wurden, fielen Marlenes Abendmahlzeiten in der Regel karg aus. Heute gab es zwei Sandwiches mit Thunfisch, sehr zur Freude des Katers. Das Warten hatte sich für ihn gelohnt.

Bevor Marlene die Nummer wählte, überlegte sie, wer sie wohl am anderen Ende der Leitung erwarten würde. Doch das konnte sie nur herausfinden, indem sie sich überwand, den Anruf endlich zu tätigen. Sie strich sich eine lange, kastanienbraune Haarsträhne aus der Stirn. Immer wenn sie nachdachte, kräuselte sie mit ihrem Zeigefinger so lange ein Bündel Haare, bis sie es komplett umwickelt hatten. Nicht selten fasste Brian dies als eine Einladung zum Spielen auf und versuchte, die Strähne zu fangen. Nun jedoch konnte ihn kein Reiz der Welt dazu bewegen, den Platz an Marlenes Füßen zu verlassen.

Es klingelte fünf Mal, bevor ein Rauschen und ein Knacken andeuteten, dass jemand am anderen Ende der Verbindung das Gespräch entgegennehmen wollte.

»Bonsoir, Prison Les Baumettes, Marseille. Vous parlez avec Commissaire Mitron.«

Marlene war mit der berüchtigtsten Haftanstalt Frankreichs verbunden.

Remoulins, 20 Kilometer westlich von Avignon,
27. Oktober 1923

Der Herbst war in diesem Jahr ungewöhnlich warm. Den ganzen Monat über hatte es erst einen kühlen Regentag gegeben, und die zurückliegende Weinlese war bisher die beste des Jahrhunderts. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis Victor Garnier den ersten Wein des Jahres kosten dürfte. Er wusste bereits, dass es ein hervorragender Jahrgang werden würde. Trotz seines Alters und seines beachtlichen Vermögens ließ sich der Großgrundbesitzer weder die alljährliche Weinlese noch die Fahrten in die Genossenschaft nehmen. Er suchte den Kontakt zu seinen Angestellten und erfreute sich allseitiger Beliebtheit. Maître Vigneron nannte man ihn, den Winzerkönig von Remoulins. Dabei gehörte der meiste Besitz zur Nachbargemeinde, wo er auch kelterte. Doch sein Herz und sein Heim waren seit eh und je mit der kleinen Ortschaft am Fluss Gardon verbunden.

Zur frühen Stunde des neuen Tages – der erste Hahn hatte noch nicht gekräht – waren die Wiesen saftig und feucht vom Morgentau. Am Horizont versprachen die ersten violetten Streifen einen malerischen Sonnenaufgang. Doch die Idylle trog, und es schauderte Paul, den jungen Knecht von Victor Garnier, bei dem Gedanken daran, warum er im Auftrag seines Herrn zu dieser Tageszeit und in seinem besten Anzug die drei Kilometer zum benachbarten Anwesen laufen musste. Am vergangenen Sonnabend hatte der alte Vigneron auf dem Markt seinen Nachbarn und Erzfeind Albert Duchont vor etlichen Zeugen derart brüskiert, dass dieser ihm mit einem gekonnten rechten Haken das Auge blau geschlagen hatte. Sieben gestandene Männer waren notwendig gewesen, um die Streithähne auseinanderzubringen. Am Sonntag in der Kirche konnte Victor Garnier den Pfarrer nur mit einem Auge sehen, dafür sahen alle Anwesenden seine üble Blessur. In dieser Gegend verbreiteten sich solcherart Neuigkeiten wie ein Lauffeuer. Der Winzer wollte diese Schmach nicht ungesühnt auf sich sitzen lassen.

Die Familienfehde zwischen den Garniers und den Duchonts reichte bereits einige Generationen zurück, wie die Ältesten von Remoulins gerne zu erzählen pflegten. Über die genauen Gründe gab es jedoch zahlreiche Spekulationen. Paul allerdings wusste mehr als die Dorfbewohner, doch er würde sich eher die Zunge abbeißen, als sein Wissen auszuplaudern. Nach einem Schäferstündchen hatte ihm Hélène, die Küchenmagd, vor einigen Wochen berichtet, sie habe ein Gespräch belauscht, in dem es um diese alten Geschichten gegangen sei. Vor einigen Jahrzehnten habe demnach ein Urgroßvater der Duchonts zwei Weingebiete der Familie Garnier unter fragwürdigen Umständen in seinen Besitz gebracht. Anstatt jedoch selbst ins Weingeschäft einzusteigen, was ihm niemand – auch nicht die Familie Garnier – verübelt hätte, machte der Ahnherr der Duchonts die teuren Rebstöcke kurzerhand dem Erdboden gleich und legte Spalierobst an. Pêche statt Grenache – Pfirsichlikör statt Roséwein. Eine unverzeihbare Sünde. Angeblich sollte es auch irgendwo Dokumente darüber geben, doch mehr wusste Hélène leider auch nicht, denn das Gespräch war damals abrupt durch eine schallende Ohrfeige der Köchin beendet worden.

Der Gardon, kurz Gard genannte Fluss, trug das ganze Jahr über Wasser aus den Cevennen durch Remoulins und mündete schließlich in die Rhône. Während das Anwesen der Familie Garnier weiter im Hinterland in Richtung Uzés lag, grenzten die Ländereien der Duchonts beinahe direkt an Remoulins. Der kürzeste Weg führte Paul ein Stück entlang des Flusslaufes, er wusste, dass es nach der nächsten Biegung nicht mehr weit war. Er hatte Hélène gut zureden und einen großen Strauß Blumen überreichen müssen, damit sie ihm seinen Sonntagsanzug schon für den heutigen Samstag – eigentlich sogar bereits für den Vorabend – aufbereiten ließ. Mademoiselle Daphne, die alte Hauswirtschafterin, war bekannt für ihre Gnadenlosigkeit, und Hélène hatte sie mit Engelszungen bearbeiten müssen. Daphne ging nie von ihrem Arbeitsplan ab und verachtete Störungen jedweder Art. Für sie gab es keine Notfälle oder sonstige gute Gründe, von ihrem Trott abzuweichen. Doch schließlich hatte sie Pauls Sonntagsanzug herausgeputzt, das weiße Hemd frisch gestärkt und die Sachen Hélène kommentarlos in die Hand gedrückt. Wenn sie in einigen Tagen den Grund dafür herausfinden würde, wollten beide lieber nicht in der Nähe der alten Jungfer sein.

Warum ausgerechnet Paul, ein einfacher Knecht, von seinem Herrn als Sekundant eingesetzt worden war, konnte er sich selbst nicht erklären. Besonders schwer fiel es ihm, nicht darüber zu sprechen. Es sollte kein öffentlicher Akt sein, und selbst die Familie würde erst hinterher davon erfahren. Lediglich Antoine, dem einzigen Sohn der Garniers, hatte man per Eilboten eine versiegelte Depesche zukommen lassen. Er studierte in Avignon. Natürlich konnte Paul das ihm auferlegte Geheimnis nicht vor Hélène verheimlichen, das wollte er auch gar nicht, denn er wusste, dass sie ihn dann noch mehr bewunderte. Eines Tages würde er selbst ein Stück Land besitzen und seinen eigenen Wein keltern, und er würde Hélène zu einer ehrbaren Frau machen. Doch zunächst ging es erst einmal um die Ehre des alten Maître.

Obwohl es verschiedene Regelwerke gab, die den Ablauf eines Duells penibel festhielten, scherten sich die alten Rivalen nicht darum. Überall in der Welt kamen Konfrontationen dieser Art langsam aus der Mode, doch der Wunsch nach Satisfaktion war für die beiden das Mittel zum Zweck, ihre alte Familienfehde auszufechten. Angeblich hatte vor langer Zeit bereits einmal ein Duell stattgefunden und sogar tatsächlich mit dem Degen, doch hierzu konnte niemand mehr etwas Genaueres berichten. Wenn es überhaupt noch zwei Männer wussten, dann allein die Duellanten selbst.

Über den wahren Grund der Feindschaft würde nie ein Außenstehender informiert werden, und nur widerwillig hatte Victor Garnier seinen Leibarzt mit folgenden Worten ins Vertrauen gezogen: »Sollte es sich abzeichnen, dass ich diesen Tag nicht überlebe, so halte mich nur lange genug bei Bewusstsein, damit ich Antoine mein Vermächtnis übermitteln kann. Ich brauche dazu nichts weiter als einen klaren Verstand und einige Minuten Zeit.«

Albert Duchont hatte seinen jüngsten Sohn, den sechzehnjährigen Martin, als Sekundanten bestimmt. Da der einzige Arzt des Dorfes von den Garniers hinzugezogen war, hatte er es sich nicht nehmen lassen, den Geistlichen des Ortes herbeizuzitieren. Natürlich lehnte der Prêtre es inbrünstig ab, dass sich zwei Männer duellierten und so der göttlichen Vorsehung zuvorkamen, doch insgeheim wäre er zutiefst enttäuscht gewesen, hätte man ihm dieses Schauspiel vorenthalten. Wo der Tod in greifbare Nähe rückte, durfte ein Priester nicht fehlen.

Nach einem Händedruck, der eisiger nicht sein konnte, wandten sich die beiden alten Herren den Rücken zu. Als demjenigen, den man zum Duell gefordert hatte, war es Duchonts Vorrecht gewesen, die Waffen zu bestimmen; er hatte sich für die Pistole entschieden. Der eine Grund war seine Kavalleriepistole, die auf eine ruhmreiche Vergangenheit im letzten Napoleonischen Krieg zurückblickte, sein liebstes Kleinod. Die Waffe hatte Russland gesehen und auch Leipzig. Nur durch ein Wunder hatte ihr Träger es wieder zurück in die Heimat geschafft. Der andere Grund für diese Waffenwahl war schlicht und ergreifend, dass er sich nicht mehr in der Verfassung fühlte, mit einer Klinge zu parieren.

Die Lichtung, ein langer, schmaler Streifen Gras, lag zwischen dem Besitz der verfeindeten Familien, und das brachliegende Land war ebenfalls eines ihrer Streitobjekte. Irgendwo unter der Grasnarbe lag das Fundament eines alten Gemäuers, das ein Ahnherr der Familie Garnier errichtet hatte. Albert Duchont war es vor einigen Jahren allerdings gelungen, die letzte noch offene Klage der Familie Garnier abschmettern zu lassen – im Gegenzug lieferte er Holz für die neue Dachkonstruktion des Rathauses. In Winkelzügen um neuen Grunderwerb war seine Familie den Garniers schon immer voraus gewesen, eine durchaus schmerzhafte Erfahrung für die Gegenseite, doch alles Land Frankreichs würde den Duchonts nicht das geben können, was den Garniers seit jeher gehörte. Vielleicht aber würde der Verlauf dieses Morgens die Verhältnisse ins Wanken bringen.

Freiburg, Gegenwart

»Aber Lena, wem musst du denn etwas beweisen? Doch höchstens dir selbst?«

Die Telefonate mit ihrer Mutter konnten sehr anstrengend sein. Marlene war früh aus ihrem Elternhaus fortgegangen, und anscheinend gab es noch reichlich mütterlichen Nachholbedarf.

»Mama, Marseille ist doch keine Weltreise!«

»Ja, aber du suchst dort einen gefährlichen Verbrecher auf.«

Während ihre Mutter Luft für einen entrüsteten Monolog holte, nutzte Marlene die kurze Pause, um ihr zuvorzukommen.

»Robert Garnier sitzt lediglich in Untersuchungshaft. Ich habe mich im Internet informiert. Außer ein paar vagen Indizien liegt überhaupt nichts vor.«

Ihre Mutter ließ sich nicht so einfach überzeugen.

»Und warum solltest ausgerechnet du ihm da helfen können? Gibt es in Marseille keine Anwälte?«

»Darum geht es doch gar nicht. Monsieur Garnier hat den Verdacht, dass der Mord an seinem Vater mit seiner Familiengeschichte zusammenhängt. Und diese wiederum berührt Bereiche der Kirchengeschichte Avignons.«

»Verstehe. Und es brauchte also nur einen x-beliebigen Anruf und eine vage Theorie, und du lässt hier alles stehen und liegen?«

»Mein Vertrag im Museum endet im Herbst, und Urlaub hatte ich dieses Jahr noch keinen. In Berlin erwartet man meine Entscheidung, ob ich eine Gastprofessur annehmen möchte. Warum also sollte ich nicht einmal etwas Abstand nehmen?«

Es war pure Taktik, das Thema wie beiläufig auf Berlin zu bringen. Marlenes Großvater hatte in der Hauptstadt bis zum Zweiten Weltkrieg einen bedeutenden Lehrstuhl innegehabt. Er hatte dann jedoch seine Zelte abgebrochen und war mit seiner Frau nach England gegangen. Marlenes Vater war dort geboren worden. Erst in den frühen sechziger Jahren war die Familie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Angeblich auf Drängen von Großmutter Elisabeth, die dann sogar ihre Enkelin noch kennengelernt hatte. Großvater Anton war dieses Glück nicht mehr vergönnt gewesen, er erlag kaum ein Jahr nach ihrer Heimkehr einer Lungenentzündung und hinterließ eine schmerzhafte Lücke. Insgeheim dachte Marlene, dass sie lieber auf den anderen verzichtet hätte, ihren Großvater mütterlicherseits. Er war verbittert und grob gewesen, in unverhohlener Trauer um das verlorene Paradies, seinem Tausendjährigen Reich, dem er treu gedient haben musste. Man sprach nicht über dieses Thema, er musste aber schlimme Dinge getan haben.

Marlene wischte ihre Erinnerungen beiseite. Natürlich waren die Berliner Jahre für sie eine gute Zeit gewesen, doch in einer Familie von Doktoren und Professoren war es einfach wichtig, einen eigenen Weg zu gehen. Deshalb auch ihre eilige Promotion – Marlene brauchte diesen Titel, weil sie dachte, nur auf diesem Wege aus dem Schatten ihrer Familie hervortreten zu können. Und es hatte schließlich funktioniert.

»Hör zu, Mama. Mein Flug geht erst am Montag, und ich habe ihn von Berlin gebucht. Ich würde euch gerne vorher besuchen, auch um noch ein wenig zu recherchieren.«

»Wir freuen uns auf dich, und wenn du hier bist, können wir auch noch einmal ausführlich über alles reden.«

Der Vorschlag klang insofern akzeptabel, als dass Marlene ihr gebuchtes Ticket bereits mit nach Berlin nehmen würde. Sobald sich ihre Mutter damit abfinden würde, dass es an Marlenes Reiseplänen nichts mehr zu diskutieren gäbe, könnte es in der Tat ein tolles Wochenende werden.

Kapitel 2

Remoulins, 27. Oktober 1923

Victor Garnier blickte gen Norden, ging bedächtig zehn Schritte in Richtung seines stolzen Besitzes. Sollte er in diesem Zweikampf fallen, so würde es für das sein, was seine Familie in all den Generationen hier geschaffen hatte. Ähnliche Gedanken gingen auch Albert Duchont durch den Kopf, während er Position einnahm. Er blickte auf sein Anwesen und konnte die Rauchfahne sehen, die hinter dem nächsten Hügel vom Haupthaus aufstieg. Ob man die Schüsse dort hören würde?

Acht, neun, zehn.

Gleichzeitig schwangen die Oberkörper der Männer herum. Ihre rechten Arme, in deren Händen sie die schussbereiten Pistolen umklammerten, schnitten schwungvoll durch die Luft. Während der Maître sich jedoch links herum wandte, um den Kontrahenten möglichst präzise anzupeilen, bevor er abdrückte, schwang sein Gegenüber in einer rechten Hüftbewegung zuerst seinen ausgestreckten Arm nach hinten und drückte bereits ab, als er Garnier gerade im Augenwinkel erkannte. Dem donnernden Knall des ersten Schusses folgte unmittelbar der zweite, und kurz bevor Albert Duchonts Hals von der Kugel des Winzers zerfetzt wurde, sah er seinen Erzfeind mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzucken. Sein schnelles, wenn auch risikoreiches Manöver hatte Erfolg gehabt, und selbst wenn es sein eigenes Leben kostete, so würde auch der andere kaum überleben. Die Sekundanten sprangen zu den regungslos im Gras liegenden Körpern und nahmen die Schusswaffen an sich. Ebenso eilten der Arzt und der Geistliche hinzu.

Blutige Auseinandersetzungen standen in Remoulins nicht auf der Tagesordnung, Duelle mit doppelter Todesfolge schon gar nicht. In den vergangenen Jahren hatte sich die Tätigkeit Docteur Renards mehr auf schwierige Geburten oder langwierige Infekte beschränkt, und zwar sowohl bei Menschen als auch bei Tieren. Doch obwohl er es lange nicht mehr gemacht hatte, traute Renard sich durchaus noch zu, eine Kugel aus den Rippen zu schneiden. Wenn sie tatsächlich zwischen den Rippen steckte. Der Arzt kniete neben seinem alten Freund Garnier nieder.

»Docteur«, stammelte Victor Garnier, und der kalte Schweiß rann ihm dabei von der Stirn. »Du wirst mich doch nicht hier im feuchten Gras verrecken lassen? Auf einer Duchont-Wiese …«

»Ich kann dir nichts versprechen, mon ami, zuerst muss ich sehen, wo die Kugel eingedrungen ist.«

Mit diesen Worten klappte Renard sein Rasiermesser auf und schnitt das Hemd des Alten entzwei. Als er den blutgetränkten Stoff von der Wunde zog, verkrampfte sich Victor und stöhnte auf. Sein Atem ging flach, er hustete, kein gutes Zeichen. Tatsächlich sah die Wunde danach aus, dass die Kugel zwar zwischen zwei Rippen ins Fleisch eingedrungen war, jedoch hatte sie hier keinen Halt gemacht, sondern war bis zur Lunge vorgedrungen. Docteur Renard ergriff die Hand des alten Mannes und sah ihm tief in die Augen. Noch bevor er etwas sagen konnte, hatte Garnier bereits verstanden.

»Jetzt liegt es an dir, Docteur«, hauchte er mit letzter Kraft. »Du musst es ihm sagen.«

Renard nickte, er wusste Bescheid.

Von Vater zu Sohn. Seit 500 Jahren.

Als der Alte seinen letzten Atemzug ausgehaucht hatte, erhob der Doktor sich. Er sah lange auf den Maître Vigneron Victor Garnier III. hinab, den großen Grundbesitzer und Winzerkönig, der zusammengekrümmt am Boden liegend, von einer Kugel Albert Duchonts niedergestreckt, plötzlich gar nicht mehr so großartig wirkte.

Als sich der Arzt schließlich von ihm abwandte, murmelte er: »Es tut mir leid, mein Freund.«

Der gräulich weiße Camargue-Hengst dampfte in der kalten Morgenluft vor Schweiß. So schnell es das unwegsame Gelände zugelassen hatte, war Antoine querfeldein geritten. Doch er kam zu spät. Er wusste es, seit er vor Minuten die kurz aufeinander folgenden Schüsse vernommen hatte. Er war im Sattel zusammengezuckt, und auch das Pferd hatte kurz gezittert. Das Tier war wenige Wochen nach seinem zwölften Geburtstag geboren worden, und er liebte es über alles. Dennoch spürte er, dass es langsam müde wurde, viele gemeinsame Jahre waren schon ins Land gegangen.

Antoine stapfte die letzten Meter durch das kniehohe Gras. Hätten ihn seine Reitstiefel nicht geschützt, wäre seine Hose bereits nach wenigen Schritten vom Tau durchnässt gewesen. Hinter den alten Platanen erkannte er Paul. Er war es, der ihn herbeigerufen hatte. »Antoine!« Die sonst so kräftige Stimme zitterte.

»Salut, Paul.« Er zog sich den rechten Handschuh aus und streckte dem Knecht die Hand zum Gruß entgegen. »Was ist geschehen?«

»Er hat Duchont sauber erwischt, soviel ist sicher. Doch es hat ihm nichts genutzt. Euer Vater wurde ebenfalls tödlich verwundet. Der Arzt ist bei ihm. Es tut mir leid.«

Antoine hatte Docteur Renard bereits gesehen, wusste jedoch nicht genau, bei wem er dort kniete. Außer dem Arzt und Duchonts Sohn, den er keines Blickes würdigte, war nur noch der Pfarrer anwesend. Prêtre Foulland stand etwa zwanzig Schritte weiter entfernt bei dem anderen Leichnam.

Solange der Bastard wenigstens ebenfalls tot ist, dachte Antoine und trat neben den Arzt.

»Monsieur Garnier.«

Docteur Renard reichte dem jungen Mann seine rechte Hand. »Es tut mir leid. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.«

Berlin, Gegenwart

Das Wochenende verlief angenehmer als erwartet und doch schwieriger als erhofft. So langweilig Lena ihren Job im Museum auch finden mochte, ihren sorgenvollen Eltern kam er gerade recht. Weder Vater noch Mutter Schönberg waren überzeugt von der Reise nach Südfrankreich und hatten große Bedenken.

Karl Schönberg, der Sohn des bekannten Altertumsforschers Anton Schönberg, hatte es stets vorgezogen, zu Hause zu arbeiten. Dort verfasste er einige Veröffentlichungen zu den Karolingern, die seine europäischen Kollegen sehr beeindruckten. Marlenes Gebiet wiederum waren die Verknüpfungen zwischen den weltlichen Herrschern und dem Papsttum. Schon sehr früh hatte sie das Dilemma zwischen Gottkaisern als Nachfolger der Cäsaren und den Päpsten genauer erforscht sowie die Frage, welche Strategien die Kirche seit jeher zur Sicherung der eigenen Macht verfolgt hatte. Ihr Traum war es, eine Art Enzyklopädie der Päpste im direkten Bezug zu ihren weltlichen Gegenspielern zu erstellen. Doch noch mehr lockte sie nun die Möglichkeit, in den Tiefen des avignonesischen Papsttums zu forschen.

»Wie kam dieser Garnier denn ausgerechnet auf dich?«, fragte ihr Vater.

Marlene lächelte stolz. »Es mag daran liegen, dass meine Dissertation so aktuell ist – jedenfalls findet man mich mit den entsprechenden Suchbegriffen ganz oben in den Suchmaschinen.«

»Und du stöberst also für ihn in den Archiven, während er im Gefängnis sitzt?«

»Im Prinzip schon. Monsieur Garnier möchte kein Aufsehen erregen. Sein Anwalt meinte, er könne vorläufig niemandem trauen. Deshalb fiel die Wahl auf jemanden, der nicht aus Frankreich stammt.«

»Auf dich.«

Marlene spürte, dass sie bald die Geduld verlieren würde. Seit jeher fühlten sich die Gespräche mit ihrem Vater an, als stünde sie vor der Inquisition.

»Macht es mir doch nicht so schwer, verdammt! Ich habe zugesagt, im Auftrag eines Inhaftierten geschichtliche Nachforschungen anzustellen, von denen er sich erhofft, dass sie das Mordmotiv an seinem Vater enthüllen. Um die Täter kann sich dann die Polizei kümmern. Ich werde für meine Arbeit gut bezahlt, und mir steht es frei, nach dem ersten Treffen den Auftrag abzulehnen.«

Vatikanstadt

Es war ein trüber Vormittag. Seufzend blickte Kardinal Montanelli aus seinem Fenster auf die erwachende Ewige Stadt hinab. Es würde ein schwüler Sommer werden.

Die Stimme seines Sekretärs krächzte verschüchtert »Monsignore, Telefon« durch die Gegensprechanlage, so, als ob sich dieser selbst durch die schwere Eichentür nicht in ausreichender Sicherheit wähnte, die das Vorzimmer vom Amtszimmer seines jähzornigen Chefs trennte.

Der Kardinal nahm den Hörer ab, doch anstatt wie gewöhnlich wütend hineinzubellen, war seine Stimme außergewöhnlich ruhig.

»Ja, bitte.«

»Monsignore, entschuldigen Sie die Störung, aber ich muss Ihnen dringend etwas berichten!«

»Leopold?«, entfuhr es Montanelli erstaunt. »Ich wähnte Sie auf einer Pilgerreise in der Provence. Was gibt es denn?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung sprach in wenigen, präzisen Sätzen.

Als er das Gespräch beendet hatte, ließ Montanelli sich, noch immer erstaunlich ruhig, mit einem hausinternen Apparat verbinden. Sobald die Gegenseite abgenommen hatte, sagte er nur: »Wir bekommen in Südfrankreich möglicherweise ein Problem. Genauer gesagt in Avignon.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung seufzte. Aus dieser Stadt konnte man im Vatikan offensichtlich nichts anderes erwarten.

Marseille

Als der Airbus mit leichtem Rucken auf der Landebahn des Aéroport de Marseille Provence aufsetzte, spürte Marlene, wie die Anspannung langsam nachließ. Sie liebte das Fliegen, insbesondere das unbeschreibliche Gefühl des Beschleunigens von dem Start, jedoch waren ihr die Landungen nicht ganz geheuer.

Nach dem endlos erscheinenden Procedere der Gepäckausgabe zog Marlene ihren Wagen durch den Ausgang des Terminals, um sich ein Taxi zu rufen. Sie hatte ein Hotel in der Innenstadt gebucht und würde sich dort einen Mietwagen organisieren. Zuerst wollte jedoch geklärt sein, ob und für wie lange sie mit einem Aufenthalt rechnen musste.

Für einen frühsommerlichen Junitag waren die Temperaturen im Außenbereich des Terminals recht angenehm – nicht zu heiß, aber bedeutend wärmer als in der Heimat. Noch bevor Marlene sich für eines der zahlreichen Taxis entscheiden konnte, trat aus dem Schatten einer Eingangssäule ein Fremder auf sie zu. Sein Teint war südländisch, er war von stattlicher Statur und sprach sie mit einer beinahe beängstigend tiefen Stimme an.

»Docteur Schönberg?«

Es ließ sich am Klang nicht erkennen, ob die Anrede in Französisch, Englisch oder Deutsch gehalten war, und etwas verunsichert antwortete Marlene: »Ja, ich bin Marlene Schönberg.«

Ein Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht des Fremden ab.

»Ich komme im Auftrag von Robert Garnier«, sagte er in akzeptablem Deutsch. »Geben Sie mir ihr Gepäck! Ich fahre Sie in die Stadt. Und morgen früh hole ich Sie ab und bringe Sie ins Gefängnis.«

Bevor Marlene etwas erwidern konnte, hatte der Mann bereits ihren Koffer vom Wagen gehoben. Er eilte zwischen der Reihe parkender Taxis durch zu einem dunkelgrauen Renault. Mit gekonnten Handgriffen lud er ihre Habseligkeiten in den Kofferraum und öffnete die Beifahrertür.

»In welches Hotel darf ich Sie bringen?«

»Hôtel Mistral, in der Nähe des Hafens.«

Wenige Minuten später raste der Wagen auf der Zubringerstraße in Richtung Innenstadt.

Remoulins, 31. Oktober 1923

Das Haus war in düsteres Schweigen gehüllt, der Patriarch war tot und sein Kontrahent ebenfalls. Der Familie blieb nur die Trauer. Victor Garnier hatte es so gewollt, und niemand hätte es ihm ausreden können. Gleich nach seinem Eintreffen an dem Ort des Duells hatte Antoine Paul zum Anwesen zurückgeschickt. Es war dem jungen Knecht zugefallen, die traurige Kunde zu überbringen, denn immerhin war er es gewesen, den der Vater zum Sekundanten gewählt hatte. Als Antoine schließlich zusammen mit dem Arzt auf dem Hof eingetroffen war, den Toten eingehüllt über dem Pferd hängend, wurden sie von jammernden Bediensteten und einer still trauernden Hausherrin empfangen.

Nach drei Tagen hatte man Victor Garnier beerdigt, einen Tag nach seinem Erzfeind, dessen Tod nur wenige Augenblicke vor seinem eigenen eingetreten war. Also war Duchont zuerst an der Reihe, es gab zwei separate Andachten und auch zwei Feiern. Man hielt die Termine gezielt auseinander, die Gäste waren allerdings größtenteils dieselben.

Das Arbeitszimmer im oberen Geschoss des Hauses lag dunkel da. Durch die zur Hälfte geöffnete Tür drang schwaches Licht herein, draußen vor den Fenstern wich bereits das Zwielicht des Abends der tiefen Dunkelheit der Nacht. Antoine entzündete eine Kerze nach der anderen, und schließlich erhellten fünf Flammen flackernd den Raum. Sein Vater hatte oft im Widerschein des fünfarmigen Silberleuchters an seinem Schreibtisch gesessen, eine Pfeife rauchend.

»An deinem 25. Geburtstag werde ich dir unser Familienvermächtnis offenbaren.«

Wie oft hatte Antoine als Kind diese Worte gehört, wenn ihn der Vater mit ins Arbeitszimmer genommen und ihm, auf seinem wippenden Knie thronend, von früher erzählt hatte. Sobald der Blick des Winzers diesen besonderen Glanz bekam und in unendlich weite Ferne zu gleiten schien, hatte Antoine gewusst, wie viel ihm dieses Vermächtnis bedeuten musste. Vor kurzem hatte er seinen 24. Geburtstag gefeiert und stand nun plötzlich als unwissender Halbwaise da. Sein Vater musste ihm vor dem Duell irgendwo in diesem Raum einen Hinweis hinterlassen haben.

Antoine erhob sich, ging langsam die Bücherregale entlang und dachte nach. In seinen Kindertagen war es ihm streng verboten gewesen, das Arbeitszimmer allein zu betreten. Er durfte seinen Vater zwar ab und an hierher begleiten, den Raum jedoch nie ohne Aufsicht aufsuchen. Einmal – es musste sein siebter oder achter Geburtstag gewesen sein – hatte er sich hinter einem der schweren Vorhänge verstecken wollen. Die entsprechende Tracht Prügel war ihm bis heute deutlicher in Erinnerung als der leckere Schokoladenkuchen, den Mademoiselle Daphne ihm stets an seinen Geburtstagen gebacken hatte.

Nachdenklich kehrte Antoine an den Schreibtisch zurück und öffnete die obersten beiden Schubfächer. Es handelte sich um einen eigens angefertigten Sekretär mit jeweils vier Schubladen auf jeder Seite und einer beweglichen Deckplatte. Man konnte auf diese Weise die Arbeitsfläche schräg anwinkeln, eine faszinierende Technik. Unterhalb der Schubfächer befanden sich außerdem je ein Ablagefach links und rechts. Die Schubladen lagen voller Papiere, und es brauchte einen Augenblick der Überwindung, bevor Antoine bereit war, den Inhalt auf die Arbeitsfläche zu entleeren.

Nach zehn Minuten war ihm klar, dass er außer Belegen, Rechnungen und Aufträgen nichts finden würde.

Kapitel 3

Hôtel Mistral, Marseille, Gegenwart

Drei Sterne in Frankreich entsprechen nicht immer dem Standard, den man in Deutschland voraussetzt.

Wie recht Karl Schönberg mit dieser Aussage gehabt hatte. Die weisen Vorahnungen ihres Vaters bewahrheiteten sich leider viel zu oft, das hatte Marlene schon in ihrer Jugend widerwillig einsehen müssen. An ihrer Unterbringung gab es zwar im Grunde nichts auszusetzen, doch der bauliche Zustand des Gebäudes sowie die ungünstige Lage zwischen zwei Hauptverkehrsstraßen der Stadt trübten den positiven ersten Eindruck, den man von den ausgesprochen vorteilhaften Aufnahmen auf der Buchungsseite des Internetportals vermittelt bekam. Marlenes Zimmer lag in der zweiten Etage auf der Rückseite des Hauses und war über einen Aufzug bequem zu erreichen. Es gab keine Minibar, doch eine Klimaanlage ratterte in dem ernsthaften Bemühen, möglichst viel von der stickigen Stadtluft draußen zu halten.

Ihr Fahrer hatte sich ihr als Charles vorgestellt, einen Nachnamen zu nennen hatte er nicht für nötig gehalten. Er sei ein Vertrauter der Familie Garnier und kümmere sich während Roberts Unabkömmlichkeit um seine Angelegenheiten. Robert dürfe eigentlich überhaupt nicht unter diesen Bedingungen einsitzen, er sei das Opfer einer üblen Verleumdung, und die Justiz werde das schon bald erkennen.

So viel wusste Marlene bereits selbst, und sie brannte darauf, mehr zu erfahren. Doch Charles hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie erst am kommenden Tag mit weiteren Informationen rechnen dürfe. Dann endlich werde sie Robert Garnier persönlich sprechen und sich selbst von seiner Geschichte überzeugen können.

Marlene liebte Südfrankreich seit ihrer Kindheit, und wenn Robert seine Sache gut machte und es hier tatsächlich etwas Interessantes zu erforschen gab, so würde sie den Auftrag dankbar annehmen und bleiben.

Remoulins, Januar 1924

Der Winter hatte wenige Tage nach Neujahr etwas Schnee gebracht. In dieser Region war das beinahe eine Sensation, und das ausgelassene Lachen von Kindern klang aus allen Höfen und Gärten. Doch es konnte die trübe Stimmung der beiden alten Familien nicht aufhellen. Sowohl die Duchonts als auch die Garniers hatten die Weihnachtsnacht ohne ihren Patriarchen gefeiert. Man war in Schwarz zum Gottesdienst erschienen und hatte die Familie des Erzfeindes mit keinem Blick bedacht.

Zehn Tage nach der Beerdigung hatte Antoine Garnier den Erstgeborenen der Duchont-Söhne aufgesucht und ihm eine Art Friedensangebot überbracht. Darin hieß es unter anderem, dass es keine offene Fehde und keine Intrigen mehr geben würde. Gleichermaßen würden sämtliche gemeinsamen Aktivitäten stillschweigend so organisiert, dass die Familien keine Berührungspunkte mehr hätten. Angefangen bei Kirchgängen und Ortsfesten, der Mitarbeit in Gemeindegremien, aber auch die Einhaltung der Grenzen des Besitzes sollte neuen, strengen Regeln unterliegen. In Abstimmungen würden, sofern die Stimme eines Duchont gegen die eines Garnier stünde, beide als Enthaltung gezählt. Alles war genau festgelegt, und zur Erleichterung aller ließ sich der Duchont-Clan darauf ein, und beide Familien hielten sich daran.

»Wie oft sollen wir das denn noch durchgehen?«

Docteur Renard seufzte und ließ seinen Kopf zurück in das Polster des Ohrensessels fallen. Es war eine lange, düstere Januarnacht. Der Kamin erhellte das Arbeitszimmer nur notdürftig. Seit dem Tod seines Vaters hatte Antoine Garnier zahlreiche Treffen mit dem Arzt und anderen Vertrauten der Familie gehabt.

»Ich bedaure, aber mir bleibt keine andere Wahl«, erklärte Antoine Garnier.

Er bemühte sich, höflich und gefasst zu bleiben. Doch in Wirklichkeit war es ihm zutiefst zuwider, dem Arzt als verzweifelter Bittsteller gegenüberzutreten.

»Schauen Sie sich um! Gehen Sie die Regale entlang, und versuchen Sie sich an irgendetwas zu erinnern! Ich würde Sie nicht so bedrängen, wenn Sie nicht meine einzige Hoffnung wären.«

Der Doktor schüttelte den Kopf. Natürlich verstand er die Verzweiflung des jungen Mannes. Der Sohn des alten Garnier fühlte sich um sein Erbe betrogen, weniger um das Materielle als um das andere. Der alte Winzer hatte keine Brüder und nur einen Sohn, er hatte also gewusst, dass das Vermächtnis einem vorgezeichneten Weg folgen würde. So wie seinerzeit er selbst hatte er sich daher dazu entschlossen, seinen Sohn an dessen fünfundzwanzigsten Geburtstag ins Vertrauen zu ziehen. Die Kugel Duchonts war diesem Termin zuvorgekommen, und nun suchte Antoine verzweifelt nach Antworten.

Niemand konnte das besser verstehen als der Arzt, denn er kannte das Geheimnis. Doch zu dem Zirkel Auserwählter, die es mit ihm teilen durften, würde Antoine niemals gehören.

Marseille, Gegenwart

Dampfend trat Marlene Schönberg aus der Duschkabine. Seit sie eine kurze Frisur trug, blieb ihr morgens deutlich mehr Zeit in der Dusche. Doch nun musste sie sich beeilen; das Frühstück wartete, und anschließend würde sie ihren geheimnisvollen Auftraggeber endlich in Augenschein nehmen können.

Die Klimaanlage hielt das Fahrzeuginnere auf angenehmen Temperaturen, während die Junisonne viel stärker als am Vortag auf die Stadt brannte. Genau so hatte Marlene den französischen Sommer in Erinnerung.

Charles erwartete sie bereits vor dem Hotel, es war beinahe so, als stünde er der Deutschen exklusiv rund um die Uhr zur Verfügung. Marlene wählte den Platz neben ihm, obwohl er ihr zunächst die Tür im Fond angeboten hatte. Nachdem Charles sich in den dichten Verkehr eingefädelt hatte, hielt sie es für angemessen, einige Fragen zu stellen.

»Sie sind also der Anwalt und Mittelsmann meines Auftraggebers. Haben Sie mich Monsieur Garnier empfohlen?«

Charles löste seinen Blick nicht von der Straße. »Robert gab mir den Hinweis auf Sie, und ich habe lediglich das Internet bemüht.«

»Wo beginnen wir mit der Arbeit, wenn wir Ihren Klienten besucht haben?«

Charles räusperte sich. »Madame, ich möchte nicht unhöflich sein, doch ich bitte Sie, sich noch bis zu Ihrem Treffen mit Robert zu gedulden. Er wird Ihnen alle Fragen beantworten, und ich möchte ihm nicht vorgreifen, d’accord?«

Marlene nickte. »Aber nach dem Treffen gilt diese Ausrede nicht mehr!«

»Bien.«

Charles lächelte unverbindlich, dann konzentrierte er sich wieder auf den Verkehr, und beide schwiegen. Zehn Minuten später bogen sie in die Zufahrtsstraße zu dem riesigen Gefängniskomplex ein. Charles begleitete Marlene durch die Prozedur der Leibesvisitation, Passkontrolle und Rechtsbelehrung und nahm nach einer schier endlosen Tour durch Sicherheitstüren und kameraüberwachte Gänge in einem kleinen Warteraum Platz. Er deutete auf die Stahltür am hinteren Ende des rechteckigen Raumes.