Martin Suter

Unter Freunden

und andere
Geschichten aus der
Business Class

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2007

im Diogenes Verlag

Sämtliche Kolumnen

wurden im Zeitraum Januar 2003

bis Oktober 2005 zuerst

veröffentlicht in der Weltwoche, Zürich,

und danach ab März 2004 im Magazin

des Tages-Anzeiger, Zürich (bzw. Tamedia).

Umschlagfoto: Copyright © Corbis/Dukas

 

 

Für Jürg Ramspeck

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23724 5 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60627 0

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Unter Freunden  [7]

Ergometer (I)  [9]

Ergometer (II)  [11]

Lunch-Einsichten  [13]

Akademiker  [15]

Gedankenaustausch  [17]

Ein Überläufer  [19]

Jack and Joe  [21]

Die Kapazität  [23]

Bei Tisch  [25]

Das Team Biler  [27]

Der Protegé  [29]

Im Dialog  [31]

Gartmeier woanders  [33]

Chefsache  [35]

Shareholder Feuti  [37]

Die Sprachbarriere  [39]

Wartners Veto  [41]

Number Two  [43]

Ehrbach erklärt  [45]

Wissen ist Macht  [47]

Personality Styling  [49]

Reassessment  [51]

Kein Thema  [53]

Ganser weiß zuviel (I)  [55]

Ganser weiß zuviel (II)  [57]

Die Variante B  [59]

Der neue Mann  [61]

›Chez Manolo‹  [63]

At the Top  [65]

Human Resources  [67]

Neidlos  [69]

Glättlis neuer Boss  [71]

Die Strukturierung der Personalprozesse  [73]

Meet the Press  [75]

Das Symptom  [77]

Good old Temperli  [79]

Zollingers Kampf  [81]

Menzis Intimsphäre  [83]

Bannwart junior  [85]

Der wahre Skandal  [87]

Die Jägerprüfung  [89]

Die Chemie  [91]

Nichtraucher Schätti  [93]

Back to Modesty  [95]

The Invisible Man  [97]

Gislers Letzter  [99]

Steigers rechte Hirnhälfte  [101]

Ein Herz für Derendinger  [104]

Eine kleine Karrieremaßnahme  [107]

Der wahre Luxus  [110]

Eine kleine Panne  [113]

Baby Breitenmoser  [116]

[6] Alemann hält sich fit  [119]

Der Mann im Spiegel  [122]

Managementtraining (I)  [125]

Managementtraining (II)  [128]

Managementtraining (III)  [131]

Managementtraining (IV)  [134]

Managementtraining (V)  [137]

Managementtraining (Bilanz)  [140]

Etwas Karrieretaktik  [143]

Ein krönender Abschluß  [146]

Tief im Philosophischen  [149]

Ein Tag im Leben  [152]

Fässler and the Kid  [155]

Und noch ein Aspekt  [158]

Etwas Büroklatsch  [161]

Werders Burn-out-Syndrom  [164]

Anonymer Anruf  [167]

Das Optische an Benz  [170]

Schuppli versus Pfamatter  [173]

Decision Making  [176]

Wicki beim Training  [179]

Henzis Employability  [182]

Nicht Haller sein  [185]

Das Delegieren des Stylings  [188]

Ein Naturerlebnis  [191]

Kostenfaktor Mitarbeiter  [194]

Human Relations  [197]

[7] Unter Freunden

Die ›Blue Horse Bar‹ ist spärlich besucht. Nur ein paar Tischchen sind besetzt, an der Bar sitzen zwei Frauen mit Einkaufstaschen. In der Nische mit dem Vierertisch starren Gelbert und Bender in ihre Drinks.

»Das rechne ich dir hoch an«, beginnt Gelbert, »daß du dich extra meinetwegen vom Abendessen abgemeldet hast. Ich hoffe, Monika nimmt es mir nicht übel, Bruno.«

Bender zerstreut seine Bedenken. »Monika weiß auch, daß du mehr als mein Chef bist. Sie findet es selbstverständlich, daß ich da bin, wenn du mich brauchst.«

»Eine wunderbare Frau.«

»Ich weiß.«

Gelbert läßt den Eiswürfel im Jack Daniel’s kreisen. »Ich wüßte wirklich nicht, mit wem ich so etwas besprechen könnte außer mit dir.«

Bender lächelt ihm aufmunternd zu. »Sprich dich aus, Fred.«

»Sie haben mir das Budget gekürzt.«

»Stand zu befürchten. Viel?«

»Sechs Prozent.«

Bender stößt einen Pfiff aus, der den Barman kurz aufblicken läßt. »Statt um fünf erhöht – macht zusammen elf. Wie setzt du das um?«

[8] »Eben. Lohnkürzungen liegen nicht drin, demotiviert die Leute.«

»Bin froh, daß du das auch so siehst.«

»Offen gestanden: Für mich läge nicht einmal ein Lohnstopp drin. Jetzt mit der Wohnung in Wengen.«

»Kann ich mir denken.«

»Und mir als einzigem keinen Lohnstopp verordnen geht irgendwie auch nicht, finde ich.«

»Das ist eben deine Fairness. Ein anderer hätte kein Problem damit.«

»Du meinst, ein anderer würde die Löhne einfrieren und mit seinem eigenen rauf?«

»Ohne mit der Wimper zu zucken.«

Gelbert nimmt einen Schluck und behält das Glas nachdenklich in der Hand. »Und womit würde er das finanzieren?«

»Indem er an den Produktions- und Verwaltungskosten schraubt.«

»Und wenn das nicht reicht?«

»Dann kommt er um den Einschnitt nicht herum. Er trennt sich von einer Kostenstelle. Mit den freigewordenen Mitteln gleicht er die Budgetkürzung aus und finanziert die eigene Gehaltsanpassung.«

»Ziemlich unfair dem betroffenen Mitarbeiter gegenüber.«

»Nicht wenn er ihn ohne Folgen ersatzlos streichen kann. Dann war es vom Betroffenen unfair, daß er all die Jahre Lohn bezogen hat.«

Gelbert legt Bender die Hand auf den Unterarm. »Danke, Bruno. Ich wußte, daß du das auch so sehen würdest.«

[9] Ergometer (I)

Bender haßt es, etwas erklärt zu bekommen. Über die meisten Dinge weiß er besser Bescheid als der Rest der Menschheit, und über die andern will er nichts erfahren.

Deshalb hat er auf eine Einführung durch eine Fachperson verzichtet. Jetzt steht er auf einem Crosstrainer und studiert ratlos die Lämpchen der Bedienungskonsole.

Am Samstag morgen um sieben ist er der einzige im Fitness-Studio. Er trägt einen Trainingsanzug, von dem er hofft, daß man ihm nicht schon von weitem ansieht, wie neu er ist. Er war der Anlaß für einen Disput mit Kathrin gewesen, die behauptete, der aus uni Baumwolle sei vom Trainingsanzugsmarkt verschwunden und durch Modelle aus hautfreundlichen, atmungsaktiven Synthetikmaterialien ersetzt worden. Das karibikblaue Modell mit dem neongrünen Diagonalstreifen und der Aufschrift Iron Man sei das unauffälligste gewesen. Wenigstens besitzt er zum optischen Ausgleich noch seine alten Turnschuhe aus der Zeit seiner letzten Fitnessphase vor elf Jahren. Die Füße nehmen ja praktisch nicht zu.

Während er planlos auf den piepsenden Programmiertasten herumdrückt, kommt einer herein. Aus den Augenwinkeln schätzt Bender ihn irritiert als jung, schlank und langhaarig ein, alles Eigenschaften, die ihm selber fehlen. [10] Dafür hat er eine hohe Stimme, denkt er schadenfroh, als er ihn sich räuspern hört. Dann sagt der Kerl: »Hallo, ich bin Monika, kann ich helfen?«

Bender erschrickt. Er hat nicht gewußt, daß er sich in einem gemischten Fitnessclub befindet. Noch bevor er sagen kann, er käme ganz gut zurecht, ist Monika bei ihm und macht sich an den Tasten zu schaffen. Auch sie trägt sehr hautfreundliche Textilien, nur nicht so lose wie Bender. Wie er sie auch nur eine Sekunde für einen Mann halten konnte, ist ihm jetzt ein Rätsel.

»Gewicht?« fragt sie.

»Ähm, so um die achtzig.«

Monika stellt fünfundachtzig ein. »Alter?«

»Ähm, fünfundvierzig.«

»Fünfzehn Minuten, okay?«

»Machen Sie dreißig daraus.«

Monika stellt den Timer auf zwanzig. »Ihr Maximalpuls ist hundertvierzig. Sobald Sie den erreicht haben, reduziert die Maschine den Widerstand. Wenn Ihr Puls trotzdem weiter steigt oder wenn Sie spüren, daß Sie nicht mehr können, hören Sie sofort auf.«

Bender beginnt zu treten. Und fragt sich besorgt, ob die Maschine einen niedrigeren Maximalpuls errechnet hätte, wenn er das richtige Gewicht und Alter angegeben hätte.

[11] Ergometer (II)

Benders Befürchtungen, er könnte durch seine geschönten Angaben seine Gesundheit gefährden, stellen sich als unbegründet heraus. Die Pedale des Crosstrainers bieten wenig Widerstand, und wenn er mit den Hebeln für die Armarbeit ein wenig nachhilft, geht er wie durch warme Butter.

Vielleicht ist es sogar ein Vorteil, daß er mehr wiegt, als er angegeben hat. Was andere mit der Muskelkraft machen müssen, macht er mit dem Gewicht.

Bender tritt unangestrengt weiter. Schade, daß er sich nicht in dem großen Spiegel sehen kann, er hat nämlich das Gefühl, daß sein runder, harmonischer Bewegungsablauf ziemlich ästhetisch aussieht. Das schließt er auch daraus, daß er den Blick von Monika, der blonden Trainerin, auf sich ruhen spürt.

Er schaut an sich herunter und findet, daß sich sein Bauch gar nicht so schlecht in die Gesamtproportion einschmiegt, vor allem in diesem Trainingsanzug, der übrigens gar nicht so neu wirkt, wie er befürchtet hatte.

Ein Piepsen schreckt ihn aus seinen Gedanken auf. Bender nimmt mit Genugtuung zur Kenntnis, daß er sich jetzt in seinem Puls-Zielbereich befindet. Nach einer Minute zehn! Manch ein Jüngerer und Schlankerer hätte länger gebraucht, um in diesen Bereich vorzustoßen.

[12] »Alles okay?« fragt Monika, schaut auf die Bedienungskonsole und geht weiter.

»Alles cool«, antwortet Bender lächelnd und blickt ihr nach. Interessant, denkt er noch, sie trägt den Tanga über der Hose. Aber dann verlangt die Maschine seine ganze Aufmerksamkeit. Seine Oberschenkel beginnen zu schmerzen wie früher auf den Fahrradtouren mit den Pfadfindern, und er hat Mühe, seinen Atem kontrolliert und leicht erscheinen zu lassen. Die rote Leuchtschrift warnt ihn, daß er seinen Maximalpuls erreicht habe. Die Maschine reduziert den Tretwiderstand.

»Alles okay?« ruft Monika.

Bender kann nur nicken, zu sehr ist er damit beschäftigt, nicht japsend und mit heraushängender Zunge in den Pedalen zu hängen.

Zwanzig Minuten später lehnt er ausgepumpt an der Wand der Herrenkabine und wundert sich, wie er es geschafft hat, das ganze Programm durchzustehen und dabei stets den Eindruck der Unangestrengtheit aufrechtzuerhalten.

Da hört er vor der Tür Monikas Stimme sagen: »Sonja, hab bitte ein Auge auf den Dicken mit dem roten Kopf und dem neuen Trainingsanzug. Der ist mir vorhin auf dem Crosstrainer fast gestorben.«

[13] Lunch-Einsichten

Bisang sitzt auf einer Bank in der Neustein-Anlage und ißt ein Käsesandwich. Er tut das ab und zu, wenn er das Bedürfnis hat, sich abzusetzen und unbehelligt vom Daily Business ein paar Gedanken über den Tag hinaus zu fassen.

Es ist ein fast frühlingshafter Tag, wie es schon ein paar gab in diesem launischen Winter. Auf anderen Bänken essen ein paar Angestellte der umliegenden Firmen ihr Fast food und genießen die seltenen Sonnenstrahlen. Mittlere und untere Kader, vermutet Bisang. Der Unfähigkeit ihres Managements ausgelieferte Mitarbeiter, die am Morgen nie wissen, ob sie nicht schon am Nachmittag eine Fehleinschätzung, einen Größenwahnsinn oder eine Stümperei ihres CEOs ausbaden müssen.

Und wie Bisang so dasitzt und sein trockenes Sandwich nach und nach mit etwas Mineralwasser runterspült, durchzuckt ihn, wie so oft auf dieser Bank in der Neustein-Anlage, eine Erkenntnis. Weshalb beherrschen so viele CEOs ihren Job nicht? Die Antwort ist so einfach! Daß er darauf nicht schon lange gekommen ist:

CEOs beherrschen ihren Job nicht, weil sie nicht dafür qualifiziert sind. CEOs wissen nur, wie man CEO wird. Davon, wie man CEO ist, haben sie keine Ahnung. Woher auch?

[14] Der Kampf um die Position verlangt ganz andere Qualitäten als die Position selbst. Da hat man jahrelang Mitbewerber ausgetrickst, sich auf Kosten anderer profiliert, Verantwortung abgewälzt und Erfolge für sich beansprucht, opportune Entscheidungen getroffen und richtige gemieden; da hat man einen untrügerischen Instinkt dafür entwickelt, wo man kuscht und wo man kämpft, wem man die Treue hält und wen man verrät. Und plötzlich ist man am Ziel und weiß nicht, was man dort zu tun hat.

Bisang wischt sich den Mund mit der Papierserviette, stopft sie in die leere Tüte und zerknüllt diese bedächtig. Klar, das ist das Problem: CEO geworden zu sein reicht nicht als Qualifikation dafür, CEO zu sein. Voilà.

Einsichten wie diese erringt man eben nicht bei Business Lunches in lauten Spitzenlokalen oder beim Small talk mit dem Golf-Caddie. Da muß man sich schon einmal losreißen und es wagen, über den eigenen Bauchnabel hinauszudenken.

Und dann gibt es da noch die andern, denkt Bisang. Die, die genau wüßten, was man als CEO zu tun hätte, aber zu anständig sind, einer zu werden.

Aber jetzt muß er sich beeilen, er hat schon gestern sechs Minuten zu spät gestempelt.

[15] Akademiker

Dudler hätte auch studieren können. Wenn er es denn gewollt hätte. Er kam aus einem Haus, wo man sich das hätte leisten können. Sein Bruder hat auch studiert. War mehr der Typ dafür. Eher introvertiert. Konnte stundenlang in seinem Zimmer hocken und lesen. Während er, Dudler, draußen Fußball spielte. Oder sonst etwas. Hauptsache, er war an der frischen Luft und unter Gleichaltrigen. Er war mehr der soziale Typ. Der kommunikative. Der aktive. Der Anführer.

Das prägte dann seine ganze Entwicklung. Dudler stände heute nicht da, wo er steht, wenn er seine Jugend als Stubenhocker verbracht hätte.

Aber wenn er hätte studieren wollen, hätte er studiert. Intelligenzmäßig kein Problem. Im Gegenteil. Wahrscheinlich hätte er sich gelangweilt. Wahrscheinlich hätte er im Hörsaal mit Kreuzworträtseln gegen den Schlaf kämpfen müssen, bei seiner raschen Auffassung.

Während seine Altersgenossen Theorien wälzten, genoß Dudler eine Ausbildung. Lernte machen. Stand mit beiden Beinen in der Praxis. Lernte den Führungsalltag kennen. Zuerst als Geführter, dann mehr und mehr als Führender.

Während die andern den Eltern oder dem Staat auf der Tasche hockten, besaß Dudler längst ein Einkommen. [16] Schöpfte Wert. Lud ehemalige Schulkollegen, die ums Verrecken diesen Titel haben mußten, zum Essen ein. Schmiß Runden in Studentenkneipen. Die sollten ja auch etwas haben vom Leben, die armen Teufel. Er war ja sonst einer von ihnen. Gleicher Background, gleiche Generation, gleiche Substanz. Mit dem kleinen Unterschied, daß er nicht auf den Titel angewiesen war.

Deshalb macht er auch heute kein großes Aufhebens darum. Auch bei denen nicht, die ihn haben. Warum auch? Die spielen das ja auch herunter. Die nennen sich untereinander ja auch nicht »Herr Doktor«. Einfach »Herr Soundso«. Alles andere wäre ja auch lächerlich. In welchem Jahrhundert leben wir denn?

Gut, bei jemandem, dem es ganz offensichtlich nie und nimmer zum Titel gereicht hätte, ist das etwas anderes. So jemand sollte einem mit Titel schon etwas Respekt zollen und ihn mit Titel anreden. Aber so unter Gleichgestellten, die zufällig andere Ausbildungsprioritäten gesetzt haben? Forget it.

Und falls es noch einen Beweis dafür bräuchte, daß es nicht auf den Titel ankommt: Seit zwei Monaten hat er unter sich bereits den ersten Mitarbeiter mit Titel.

Welchen er selbstverständlich nur mit »Herr Doktor Bächi« anredet.

[17] Gedankenaustausch

Biber und Diem stehen an der Bar des ›Ochsen‹ vor ihren Camparis. Es ist kurz nach fünf, früh für die ›Ochsen Bar‹. Das Treffen dient dem Zweck, ihre Beziehung über das rein Berufliche hinaus auf das Private zu erweitern. Da arbeitet man zusammen und hat keine Ahnung, was für ein Mensch der andere ist, was ihn beschäftigt, was er denkt, was ihn bewegt.

Denn nur wer neugierig ist auf den andern, wer den persönlichen Dialog sucht, lernt seine Mitmenschen kennen.

»Ich war kürzlich beim Elternabend unserer Jüngsten«, beginnt Diem. »Was glauben Sie, was mir da passiert ist…«

»Ich bin früher auch oft zu Elternabenden gegangen, bis mir Lea, das ist unsere Mittlere, gesagt hat: ›Papi,…‹«

»Ich versuche zu jedem Elternabend zu gehen, sofern es der Job zuläßt. Ich finde, daß man dabei…«

»Ich mache in letzter Zeit wieder Sechzigstundenwochen. Im letzten Quartal…«

»Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Wochenende frei hatte. Meine Frau…«

»Ich habe gerade kürzlich, wann war das? Letzte Woche? Oder die Woche davor? Nein, eher letzte. Ist ja egal. Jedenfalls habe ich zu meiner Frau gesagt,…«

»Ich bin heute mit dem Wagen von meiner Frau [18] unterwegs. Meiner ist in der Werkstatt. Auf dem Weg ins Büro ist mir an der Kreuzung Müllerstraße – wissen Sie, wo die ist?«

»Ich habe meiner Frau jetzt einen mit automatischer Schaltung gekauft. Ich finde, für eine Frau…«

»Ich hatte in den letzten Ferien einen mit automatischer Schaltung gemietet. Was mich am meisten gestört hat…«

»Ich habe letztes Jahr zum ersten Mal Clubferien gemacht. Klingt schrecklich, aber ich muß sagen, mit den Kindern…«

»Ich habe dieses Jahr am Roten Meer gebucht. Jetzt hoffe ich nur, Bush…«

»Ich hatte einen sehr guten Tauchlehrer im Club. Überhaupt, die Animationen, die sie so boten. Zum Beispiel war immer um vierzehn Uhr…«

»Ich darf nicht tauchen, ich habe ja im linken Ohr diese…«

»Ich habe ein Knie, das sich manchmal ausrenkt, wenn ich eine falsche Bewegung mache. Hier, an dieser Stelle…«

»Ich habe hier manchmal so ein Stechen…«

»Ich kenne einen Rheumatologen…«

»Ich…«

»Ich…«

»Pardon. Sie wollten etwas sagen.«

»Ich glaube, ich nehme noch…«

»Ich auch.«

[19] Ein Überläufer

»Ist dir das auch aufgefallen: Das Momomeeting heißt jetzt Momositzung?«

»Nein, ist mir nicht aufgefallen.«

»So steht es auf dem Protokoll. Montagmorgen-Sitzung. Nicht mehr Monday-Morning-Meeting.«

»Glaubst du, das kommt von Bleiker?«

»Von wem sonst?«

»Dem konnte es doch sonst nie amerikanisch genug sein.«

»Seine Assistentin sagt jetzt Mittagessen. ›Tut mir leid, Herr Bleiker ist beim Mittagessen.‹ Nicht ›Sorry, er ist beim Lunch‹.«

»Jetzt, wo du es erwähnst, fällt mir auf, daß er auf dem letzten Momomeet…«

»Auf der letzten Montag-Morgen-Sitzung.«

»…auf der letzten Montag-Morgen-Sitzung ein anderes Vorgehen vorgeschlagen hat.«

»Nämlich welches?«

»Statt einem anderen Approach.«

»Ach so. Siehst du: Paßt alles.«

»Du meinst…«

»Ich meine, er setzt sich ab von drüben.«

»Ach komm, das glaub ich nicht. Doch nicht Bleiker, der [20] jedes Jahr mindestens zehn Tage nach New York geht, weil er das ›physisch braucht‹.«

»Hat deine Frau von seiner dieses Jahr eine Valentine’s Card bekommen?«

»Nein. Sie hat sich noch gewundert.«

»Meine auch nicht. Und Engels Frau auch nicht. Ich sage dir: Die hat überhaupt keine verschickt.«

»Und Leni dachte schon, es sei etwas Persönliches.«

»Da kannst du sie beruhigen. Bleikers distanzieren sich lediglich vom American way of life.«

»Und weshalb?«

»Aus politischen Gründen.«

»Aus politischen? Einer, der am Tag von Bushs Amtsantritt im Management Spare Ribs und Bud auffahren läßt?«

»Das ist eine Weile her. Inzwischen hat er sogar die US-Flagge entfernt, die seit dem 11. 9. zwischen den Familienfotos stand.«

»Stimmt. Die steht nicht mehr dort.«

»Tja, mein Lieber. Ich sage dir: Bleiker ist dabei, sich still und heimlich zu ent-amerikanisieren.«

»Wer hätte das gedacht, Major Bleiker ein Kriegsgegner.«

»Der setzt sich doch nicht ab, weil Bush den Krieg will.«

»Weshalb denn sonst?«

»Weil Bush den Dollar schwächt.«

[21] Jack and Joe

Jakob und Heidi Binggeli sitzen beim Sonntagsfrühstück. Sie sind allein. Joel ist bei einem Snowboard Weekend, und Jasmin hat bei ihrer Freundin Michelle übernachtet. Sie blättern in der Sonntagspresse. Heidi beobachtet aus den Augenwinkeln seine Tasse. Er hat Kaffee in den Unterteller verschüttet. Jedesmal, wenn er einen Schluck nimmt, tropft es auf die Zeitung. Wenn er mir nur nicht wieder den Reisebund vertropft, denkt Heidi.

»Wie findest du eigentlich Joe Ackermann?« fragt Binggeli unvermittelt.

Sie braucht einen Moment, bis sie kapiert, von wem er spricht. »Den Banker?«

»Mhm.« Binggeli hat den Mund voll Gipfeli mit Kirschenkonfitüre. Auch etwas, was leicht tropft.

»Davon verstehe ich zuwenig. Brauchst du den Reisebund noch?«

»Ich meine, als Frau.« Binggeli hält ein Foto in die Höhe. »Findest du, der sieht so gut aus, wie alle sagen?«

»Sieht nicht schlecht aus«, entscheidet sie.

»Aber nicht dein Typ.«

Heidi überlegt. »Das würde ich nicht sagen.«

»Ach ja?« Es klingt erfreut. »Du findest, er sieht mir ähnlich?«

[22] Überrascht schaut Heidi ihren Mann an. »Du hast da etwas Eigelb am Mundwinkel. Nein, am andern.«

Binggeli wischt sich den Mund mit der Serviette ab und wiederholt die Frage.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich bin doch auch dein Typ. Oder nicht?«

»Eine Frau kann verschiedene Typen haben«, erklärt Heidi behutsam. »Brauchst du den Reisebund noch?«

»Du meinst, innerhalb meines Typs sehe ich genauso gut aus wie Joe Ackermann innerhalb seines Typs?«

Heidi versucht, sich den hellgrünen Trainingsanzug und die schmuddeligen Frotteesocken wegzudenken. »Ja«, sagt sie. Sie will sich den kinderfreien Sonntag nicht verderben.

»Dann muß es doch der Name sein. Joe Ackermann. Joe, das klingt wie der Vorname eines Rockstars. Und Ackermann, das klingt nach Muskeln und Pflugschar und erledigten Aufgaben. Plus: Die Amerikaner können es aussprechen. Nicht wie Köbi Binggeli.«

Köbi nimmt die Tasse und tropft auf den Reisebund. »Meinst du, ich sollte mich Jack nennen? Jack Binggeli, wie klingt das?«

»Jack Binggeli? Doch. Das paßt zu dir.«

[23] Die Kapazität

Kapazitäten gibt es viele. Aber meistens sind sie es auf einem bestimmten Gebiet. Nicht so Urseler. Er ist praktisch auf jedem Gebiet eine. Es gibt nicht viele, die das bestreiten würden. Jedenfalls nicht in seiner Gegenwart.