Als ich meine erste Liebe kennenlernte, war ich sechs Jahre alt. Wir waren beide in der ersten Klasse und ich weiß noch, wie wir uns bei einem Klassenausflug die ganze Zeit an den Händen hielten. Für mich war sofort klar, dass ich verliebt war, auch wenn die Phase damals nicht lange andauerte. Aber das Gefühl war urvertraut, so sehr, dass es mir vorkam, als sei es schon da gewesen, bevor ich auf die Welt kam. Und ich wurde ein Teil davon.
Erstmals bewusst aufgefallen ist mir das durch einen Film; ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein. Er hieß Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, ein alter deutscher Film von 1955, und er lief in zwei Teilen auf dem Schwarz-Weiß-Röhrengerät meiner Großeltern. Der Müllerssohn, einst von einem dunklen Schurken seinen Eltern geraubt, aber von einer Fee stets beschützt, kommt, ganz wie es das Schicksal vorgesehen hat, an das königliche Schloss, wo er auf Prinzessin Adelheid trifft. Adelheid! Für mich war dieser Name seitdem die Verkörperung von allem Wundervollen auf dieser Welt. Im Film hatte sie dunkle, lange Haare, fast schwarze Augen und ein wundervolles Lachen – hach! Sie war unwiderstehlich. Ihre Schönheit schien makellos, ihr Wesen ohne jeden Fehler und in ihrer Gegenwart musste alles andere in Bedeutungslosigkeit versinken.
Adelheid war schwer krank und nur die drei goldenen Haare des Teufels konnten sie heilen. Sie im Krankenbett zu sehen, brach mir fast das Herz. Der Held, dem geweissagt worden war, dass er sie sowieso einst heiraten würde, machte sich daraufhin auf den Weg in die Hölle. Ich selbst hätte es nicht anders gemacht. Er traf dort auf den Teufel persönlich, raubte unter Einsatz seines Lebens die Haare und kehrte ins Schloss zurück. Adelheid wurde gesund. Ein nur unter Tränen zu genießendes Glück.
Zu meinem Kummer ist es mir nie gelungen, den Film wieder ausfindig zu machen; er scheint verschollen zu sein.
Bei meiner »realen« Liebe war es insofern anders, als dass mir eine Zeitlang, so etwa bis zu meinem 14. Lebensjahr, alle zwei bis drei Jahre eine Prinzessin Adelheid zu begegnen pflegte. Es blieb allerdings immer beim Schmachten und Träumen, daher wusste ich nie, wie sie in Wirklichkeit war. Aber jede meiner Adelheids war immer die Schönste und die Einzige, der Gipfel des Denkbaren.
Leider beruhte das nicht immer auf Gegenseitigkeit. Das kann die Liebe verdammt schmerzhaft machen. Umgekehrt hat es mich auch immer geschmerzt, wenn ich eine Liebe nicht erwidern konnte. Es gibt leider Menschen, in die kann man sich einfach nicht verlieben, so nett sie auch sind und so sehr sie sich auch bemühen. Tja ja.
Gefühle sind deshalb etwas so Merkwürdiges, weil sie mit dem Verstand nicht zu begreifen sind, geschweige denn zu lenken. Als Wissenschaftler können wir sie beobachten und ihre Auswirkungen beschreiben, Biochemiker mögen sogar ihre chemische Entsprechung im Gehirn nachweisen können. Aber sobald wir sie analysieren, berauben wir sie ihrer eigentlichen Qualität. Die Einzigen, die sich am ehesten den Gefühlen nähern können, ohne sie zu zerstören, sind die Dichter. Deshalb gehört das Interpretieren von Gedichten bis heute zu den grauenhaftesten Aufgaben, die Schüler ertragen müssen – etwas mit dem Verstand auseinanderklamüsern, was sich ebendiesem völlig entzieht.
Auch Tiere haben Gefühle, je höher entwickelt, desto differenzierter. Elefanten können intensiv trauern, Hunde können beleidigt sein, Bären kugeln sich vor Vergnügen, bis hin zu der berühmten Affenliebe. Wir Menschen sind biologisch gesehen ja nichts anderes als Tiere und evolutionär höherstehend nur insofern, als wir einen weiterentwickelten Cortex besitzen, eben jene »grauen Zellen«, mit denen wir Gedankenleistungen vollbringen können, die selbst unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, zeitlebens rätselhaft bleiben dürften. Gleichwohl werden diese Hirnbereiche maßlos überschätzt, denn wenn wir von überwältigenden Gefühlen gebeutelt werden, nützt uns unser Verstand gar nichts. Ich wundere mich regelmäßig, wie viele Menschen – auch sehr kluge – immer noch denken, sie hätten mit ihrem Verstand alles im Griff.
Gefühle sichern jedoch unser Überleben. Sie wirken, bevor wir zu denken beginnen. Das Gefühl der Angst hat sich nicht entwickelt, um uns zu quälen, sondern um zu signalisieren, dass wir uns in Sicherheit bringen sollten, weil Gefahr droht. Das Gefühl der Wut ist nicht dazu da, um uns gegenseitig zu vernichten, wohl aber, um uns zu wehren. Das Gefühl des Ekels schützt uns vor Vergiftungen. Das Gefühl der Trauer brauchen wir, um Abschied zu nehmen. Das Gefühl der Freude zeigt uns, was uns guttut. Und auch das Gefühl der Liebe ist nicht zu unserer Unterhaltung da. Liebe befähigt uns, dauerhafte Bindungen einzugehen. Ohne dauerhafte Bindungen gibt es keine Geborgenheit, keine Familien, keine Kinder, keine Zukunft.
Manche meinen, bei der ersten großen Liebe dächte man an solch weitreichende Dinge doch gar nicht. Dem ist auch so – aber nicht, weil es keine Rolle spielt, sondern weil das Denken dabei, wie gesagt, weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Das Programm, das untergründig und unausweichlich abläuft, ist aber das gleiche und je unbeschriebener wir sind, desto unverbrauchter und ungebremster ist es. Die geballte Kraft unserer Liebesbereitschaft steht in den Startlöchern und sobald es einen Auslöser gibt, bricht der Damm.
Liebe ist ein Zustand, der unzurechnungsfähig macht und uns völlig abdrehen lässt. Er erzeugt zuweilen regelrechte Krankheitssymptome wie Schlaflosigkeit, fehlenden Appetit, Konzentrationsstörungen, Herzklopfen, Atembeschwerden, Zittern, Schwitzen, von einer gewissen Blutleere im Hirn ganz zu schweigen. Im Zustand der Liebe sind Menschen buchstäblich bereit, bis in die Hölle abzusteigen, denn in der Liebe scheint es immer möglich, die drei goldenen Haare zu erlangen, die alles gut, alles möglich machen.
Gerade die erste Liebe hat daher etwas ebenso Bedingungsloses wie Naives. Denn in vielen Fällen wird sie enttäuscht. Dies ist keine Absicht; kein Mensch will sich gern unglücklich machen. Aber das Bild, in das wir uns verlieben, entspricht oft nicht dem Menschen, der sich dahinter verbirgt. Es fehlen die leidvollen Erfahrungen, die wir alle machen, und die uns mit der Zeit lehren, dass nicht jede Liebe funktioniert, so stark sie auch sein mag. Daher ist auch der Glaube, dass die Liebe alles in Ordnung bringen kann, noch weitgehend ungetrübt.
Liebe allein genügt aber nicht. Wenn es gut läuft, lernen wir irgendwann, die Signale zu erkennen, die drohen, uns unglücklich zu machen. Das klappt aber meistens erst bei der zweiten, dritten, vierten Liebe. Wenn wir Glück haben, ist es auch schon mal die erste.
Es ist eine gut dokumentierte Erkenntnis der Psychologie, dass Liebe und Geborgenheit mindestens in den ersten zwei Lebensjahren essenziell wichtig sind. Erlebt ein Kind diese Nähe zu den Eltern als irgendwie unterbrochen, infrage gestellt, ambivalent, fängt irgendwann das Gefühl der Angst an, sich mit dem der Liebe zu verbinden. Unbestimmte Zweifel, ob es so was wie zuverlässige Liebe und Geborgenheit überhaupt geben kann, beginnen, das Unbewusste (das für menschliches Agieren weitaus wichtiger ist als jeder bewusste Gedanke) zu kontaminieren. Und so entwickelt das Kind schließlich eine Angst vor Nähe, einerseits vor künftigen Enttäuschungen, andererseits ausgerechnet vor der Liebe, die zu funktionieren droht – denn nur die macht verletzbar. Die Liebe, die mit ziemlicher Sicherheit scheitern wird, ist dagegen gefahrlos – man muss sich ja gar nicht darauf einlassen. Aber viel öfter erscheint gerade das Aussichtlose faszinierend und verführerisch, weil es an das erinnert, was in der verunsicherten kindlichen Seele gespeichert ist. Diese Liebe suggeriert zudem, die Enttäuschung von früher könnte nun endlich ungeschehen gemacht werden und das Märchen zum ersehnten, erfüllten guten Ende kommen.
Junge Frauen verlieben sich deshalb immer wieder nicht in gute Männer, sondern in bad boys, und haben ein aufregendes Leben vor sich, wenn sich das nicht ändert. Und ein einsames. Mit bad boys kann man keine ernsthafte Beziehung führen, ebensowenig wie mit lost girls. Jene bösen Buben sind in Wirklichkeit nämlich verletzte Jungs, auch wenn sie ungemein cool, männlich, selbstbewusst und charmant daherkommen. Das hat mit dem biologischen Alter noch nicht einmal etwas zu tun; es gibt kleine Jungs, die fünfzig Jahre alt sind. Ebenso sind die unnahbaren, kalten Frauen, die man nicht erobern kann, verletzte Mädchen, lost girls, deren Seele im unzugänglichsten Turm der dornenbewachsenen Burg wohnt. Da kann der tapferste Ritter machen, was er will, er wird sich daran ordentlich die Zähne ausbeißen, endlos Liebeslieder unter dem Balkon der Geliebten zur Laute trällern um am Ende doch gescheitert, verbeult und zerstochen den Rückzug anzutreten. Für Liebende wirken solch belastete Menschen aber oft ungemein interessant, erregend und faszinierend, wogegen die unbelasteten Menschen vergleichsweise für langweilig gehalten werden.
Wenn man Songs von heute hört und sich ein wenig mit Musikgeschichte befasst, entdeckt man schnell, dass sich inhaltlich seit jeher praktisch nichts geändert hat. Bereits im Mittelalter handelten die Lieder fast nur von Liebe, Lust, Enttäuschung und wieder neuer Liebe. Es scheint sich schon immer alles darum gedreht zu haben; andere Themen sind vergleichsweise peripher. Besonders nah und seelenverwandt erscheint natürlich der Sänger, der den gleichen Frust besingt, der uns selbst gerade so piesackt. Dann fühlen wir uns mit unserem Kummer nicht ganz so allein.
Am spannendsten ist deshalb die Liebe, die unerfüllt ist. Würden wir uns für Romeo und Julia noch immer so sehr interessieren, wenn sie sich gekriegt hätten, einen Stall voll Kinder gehabt hätten und in einem hübschen Häuschen am Stadtrand uralt geworden wären? Womöglich eher nicht. Außerdem ist das ja spießig. Und wenn die auch in jeder guten Beziehung unvermeidlichen Auseinandersetzungen und Streitereien stattgefunden hätten, wäre das viel zu unromantisch.
Daher ist es oftmals das Unerledigte, das eine so lange Dauer hat. Es wirkt wie die ersehnte Fortsetzung einer berührenden Geschichte, die auf dem Höhepunkt der Emotionen unterbrochen wurde – nur dass diese Fortsetzung nicht kommt und stattdessen immer wieder in der eigenen Seele stattfindet.
Erste Lieben halten oft ein ganzes Leben, gerade wenn sie nie wirklich stattgefunden haben. Wir können uns wehmütig ausmalen, was alles gewesen wäre, wenn nur dieses und jenes ein bisschen anders gelaufen wäre. Daher schneiden reale Frauen und Männer im Vergleich zu den Lichtgestalten der eigenen Fantasie so schlecht ab.
Erste Lieben halten aber auch deshalb ein ganzes Leben, weil sie schlicht und einfach eine wunderschöne Episode unseres Lebens sind. Sie sind unverdorben durch die seit der Kindheit enttäuschten, resignierten »Realisten«, die allzu oft aus ihrer Not eine Tugend machen, indem sie ihre Bindungsangst zum Lebensstil erklären. Der ganze »Iih-wie-spießig«-Kram und all die »modernen« Überzeugungen, die in der Zunahme von Alleinerziehenden und Patchwork-Familien einen Fortschritt sehen, erwarten in Wahrheit hinter jeder Beziehung die Enttäuschung und haben jeglicher Romantik abgeschworen, weil sie das Gelingen einer echten Liebe letztlich nicht für möglich halten. Doch warum sollte der Frust von einigen zur Doktrin für alle werden?
Liebe ist keine Illusion. Gerade die erste Liebe hält die dauerhafte Liebe für möglich. Sie sieht die geliebte Frau als Königin und den geliebten Mann als König; jeder möchte dem anderen als Zeichen der Verehrung dienen. Das ist gut so. Liebende sollten sich verehren, ungeachtet aller Fehler, die jeder Mensch hat. Und sehen die Liebenden die Liebe nicht als eine selbstverständliche Bringschuld, sondern als ein aus freiem Herzen gegebenes Geschenk, so ist sie wohl der wunderbarste Reichtum, den wir kennen. Daher verdient die erste Liebe, auch wenn sie vielleicht nicht funktioniert hat, noch zu früh war, um Dauer zu haben, oder sich als Illusion erwiesen hat, einen großen Platz in unserem Herzen. Und auch eine zweite Liebe kann am besten gelingen, wenn wir uns so viel wie möglich von der Unschuld und Reinheit unserer ersten Liebe bewahren.
Heike Abidi und Anja Koeseling (Hrsg.)
Unvergesslich!
28 wahre und wildromantische Geschichten von der ersten Liebe
eISBN: 978-3-95910-146-2
Eden Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
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1. Auflage 2018
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Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.
Projektkoordination: Svenja Monert und Kathrin Riechers
Lektorat: Tina Spiegel
Covergestaltung: Rosanna Motz
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Die Formulierung »erste Liebe« suggeriert, dass es auf jeden Fall eine zweite, dritte oder vierte Liebe geben wird. Aber für Gefühle gibt es nun mal keine algebraische Gleichung – und wenn, dann enthielte sie zu viele Unbekannte, um sie lösen zu können.
Liebe lässt sich also nicht kalkulieren, höchstens mithilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Und die besagt, dass es Paare, deren erste Liebe ein Leben lang hält, tatsächlich gibt. Zwar sind sie eine Minderheit, aber ihre Zahl ist größer als Null.
Und die Statistik bestätigt sogar, dass solche Beziehungen besonders stabil sind. Wissenschaftler nennen das »hohe Paarzufriedenheit«. Wir sagen lieber: Volltreffer!
»Hier ist euer Tequila, Mark«, sagte die spärlich bekleidete Servierkraft und beugte sich beim Abstellen der Flasche extra weit nach vorn, sodass wir einen Blick auf ihre Brüste erhaschen konnten.
Wir glotzten. Eigentlich fiel es uns nach den Unmengen Alkohol schon reichlich schwer, irgendetwas zu fixieren. Aber wir strengten uns an.
»Wieso denkt sie, du heißt Mark, Flori?«, fragte Sascha, als sie uns wieder allein gelassen hatte, und begann, unsere Gläser mit dem Schnaps-Nachschub zu füllen.
»Weil ich ihr das vorhin gesagt habe«, erklärte Flori und sah der Bardame siegessicher nach.
»Aber er heißt doch Flori«, richtete sich Sascha lallend an Alex und mich. »Warum nennt er sich Mark?«
»Mein Name taugt nicht fürs Weiber-Aufreißen!«, klärte Flori uns auf. »Er klingt nach einer kleinen Blume. Weich und zart. ›Florian‹ ist nur in einem Fall gut: Wenn man von Frauen bemuttert werden möchte.« Auch er hatte schon einige Schwierigkeiten mit dem deutlichen Sprechen.
»Ich hatte noch nie Probleme mit meinem Namen«, steuerte Alex bei.
»Du hast ja auch ein X drin.«
»Und ein X ist gut?«, fragte Sascha.
»Alle Zischlaute sind gut, weil die Frauen dann sofort merken, dass sie es nicht mit einem Weichling zu tun haben!«, erläuterte Flori abgeklärt. Seine glasigen Augen wanderten von einem zum anderen. »Glaubt mir, dem liegen jahrelange Forschungen zugrunde.«
»Sasssccchhha«, probierte Sascha und nickte zufrieden. »Klingt wie der Moment kurz vor dem Abspritzen!«
»Siehst du!« Flori klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Er hob seinen Tequila. »Auf alle Namen, die das Weibsvolk feucht werden lassen!«
Sascha und Alex stießen begeistert mit Flori an. Zögerlich tat ich es ihnen gleich. Danach stürzte ich den Schnaps mechanisch hinunter.
»Aber wieso dann ›Mark‹? K ist doch kein Zischlaut!«, wollte Alex nach einer kleinen Weile wissen.
»›Mark‹ impli… impli-dings-bums, dass du einen Megaschwanz hast!« Zufrieden lehnte sich Flori zurück und schaute lüstern zur Kellnerin hinüber.
Alex und Sascha nickten.
»Was ist mit ›Tim‹?«, fragte ich besorgt. Heilige Scheiße, überlegte ich. In einer Woche heirate ich! Was, wenn jetzt rauskommt, dass mein Name totaler Schrott ist?
Flori goss in Seelenruhe eine neue Runde Tequila ein. Wir drei hingen förmlich an seinen Lippen und gierten nach der Antwort. Aber er ließ sich Zeit und fuhr sich auch noch bedächtig mit der Hand durch die Haare. Dass sie danach wirr vom Kopf standen, schien er nicht zu bemerken.
»Einsilbige Namen gehen sowieso. Außerdem ist M ein Lustlaut«, antwortete er schließlich.
»Stimmt, die Schnepfe aus dem Büro, die ich ab und zu im Aktenschrank vögele, macht ›mmmhhh‹, wenn sie mag, was ich tue«, bestätigte Alex.
»Meine Frau sagt immer ›ach!‹«, murmelte Sascha.
»Einsilbige Namen gehen?«, fragte ich misstrauisch.
»Klar. Ruft sie beim Sex deinen Namen, klingt es wie Hammerschläge. Probier das mal mit ›Flori‹! ›Flori, Flori, Flori‹ … Nein, das kommt gar nicht gut!«
Ich konnte nicht fassen, dass ich dreißig Jahre alt geworden war, ohne das alles jemals bedacht zu haben. Mann, was für ein Schwein ich hatte!
»Denkt ihr, dass die Kleine mir einen blasen wird?«, überlegte Flori und deutete zur Kellnerin hinüber.
»Wieso bist du dir so sicher, dass sie sich überhaupt mit dir abgeben wird?«, wollte Sascha wissen.
Flori zog die Stirn kraus. »Hallo? Das ist Tims Polterabend und ich bin der Trauzeuge. Weiß doch jeder, dass es für den dann immer Sex gibt.«
»Ich dachte, das betrifft die Brautjungfern bei der Hochzeit«, wandte Alex ein.
Flori winkte ab. »Das war früher vielleicht so. Heute ist es der Trauzeuge beim Junggesellenabschied. Und danach vernascht er die Brautjungfern. Eine nach der anderen.« Er grinste genüsslich.
Mein Geist trieb orientierungslos auf dem Tequila-See umher und brauchte daher etwas länger, um am Ufer der Tatsachen anzulanden.
»Laura hat als ihre Brautjungfern ein schwules Pärchen …«, informierte ich Flori und dachte an die beiden lila Anzüge, die bei uns im Schlafzimmer hingen.
Seine Mundwinkel sackten nach unten.
Sascha und Alex prusteten los. Sie mussten so kichern, dass sie sich beinahe nicht mehr einkriegten.
»Aber vergiss auf keinen Fall, dich denen als ›Mark‹ vorzustellen!«, kommentierte Sascha und schnappte röchelnd nach Luft.
Ich merkte, dass ich ebenfalls lachte. Durch meinen hohen Alkoholpegel nahm ich alles ein wenig zeitverzögert wahr. Heilige Scheiße, so betrunken war ich seit der Uni nicht gewesen!
»Umso wichtiger ist es, dass ich heute Abend eine heiße Nummer schiebe!«
»Mann, Flori, jetzt hör endlich auf, über dich zu reden! Das ist Tims Polterabend und er und Laura haben sich für diesen Abend gegenseitig einen Freibrief ausgestellt!«, erinnerte uns Alex. »Er darf auswärts essen und hey, wir sorgen dafür, dass es richtig lecker wird!«
Stimmt!, dachte ich. Was bin ich doch für ein Glückspilz! Ich werde eine Frau heiraten, die sich hat breitschlagen lassen, über diese Nacht für immer den Mantel des Schweigens zu breiten. Ich wüsste keine andere, die so etwas akzeptieren würde.
Klar, zuerst war sie dagegen gewesen und hatte gefragt, ob sie mir nicht genüge.
»Natürlich genügst du mir, mein Schatz, du bist meine erste und einzige Liebe«, hatte ich ihr im Brustton der Überzeugung geantwortet. »Aber es werden Ströme von Alkohol fließen und wie ich Flori kenne, wird er eine Stripperin organisieren, die mir dann ihren Busen ins Gesicht drückt. Weißt du, mir bedeutet das gar nichts und ich könnte locker darauf verzichten. Doch das gehört eben dazu und ich will kein Spielverderber sein!«
Laura wollte daraufhin ein wenig Bedenkzeit. Nach zwei Tagen sagte sie: »Okay, Tim. Eine Nacht. Wir werden danach nie wieder darüber sprechen, was bei dir oder mir am Junggesellenabschied passiert ist. Und du versprichst mir, dass du Gummis benutzt!«
Ich war ziemlich schockiert, weil ich eigentlich an nichts, was Kondome erforderte, gedacht hatte.
Damit war klar, dass es für diesen Abend keine Tabus gab. Laura und ich waren seit unserem 15. Lebensjahr ein Paar und dass ich jetzt doch noch einmal die Chance bekam, mit einer anderen Sex zu haben, hielt ich für das größte Geschenk von allen. Dass unser Arrangement natürlich ebenso beinhaltete, dass Laura mir untreu werden durfte, fiel mir erst auf, als sie gegen sechs Uhr von einer Horde quietschender, in glitzernde Kleidchen gehüllter Freundinnen abgeholt wurde.
Aus der Phase der quälenden Eifersucht während des Essens halfen mir drei Gläser Rotwein. Danach folgte ein angenehmer Mangel an Ernsthaftigkeit kombiniert mit Dauererregung, als Flori uns in eine Studentenkneipe schleppte. Unfassbar, wie sexy die Mädchen dort waren! Wie schafften sie es nur, dass ihre Haare so schwangen und ihre Körper in Shirts und Jeans total nackt aussahen?
Gegen 23 Uhr kam ich mit einer Brünetten mit riesigen Lippen ins Gespräch. Während wir zusammen einen Mojito tranken und sie mir von ihrem Anthropologiestudium erzählte, stellte ich mir die ganze Zeit vor, was sie mit diesem rattenscharfen Mund alles anstellen konnte.
Irgendwann zerrte Flori mich zur Seite und sagte: »Nicht sie, Tim! Wir wollen kein ›Bleibst du bis zum Frühstück?‹ oder ›Ruf mich an!‹ und schon gar kein Geflenne, weil du eine andere heiratest. Gehen wir in eine Bar mit erwachsenen Frauen! Das hier war nur zum Appetitholen.«
Als Sascha, Alex, Flori und ich kurz darauf die Studentenkneipe verließen, fragte mich die Kleine mit den dicken Lippen tatsächlich, ob sie meine Handynummer haben dürfte.
»Er besitzt kein Telefon, Schätzchen!«, antwortete Alex an meiner Stelle.
Und nun saß ich hier, etliche Runden Tequila später, und dachte weder an die Studentin noch an Laura.
»Wir sollten Tim langsam eine heiße Schnecke suchen!«, sagte Flori neben mir. »Bevor der Alkohol Weichholz aus seiner Latte macht!« Er lachte dreckig. Dann sah er sich in der schummrigen, verrauchten Bar um. »Die Kellnerin gehört mir, aber sonst kannst du frei wählen.«
Es war total typisch für ihn, wie selbstverständlich anzunehmen, dass alle Frauen willig wären. Klar, wer zu so später Stunde allein eine solche Spelunke aufsuchte, war eindeutig auf der Suche. Doch auf die Idee, dass die Mädels zumindest ein bisschen wählerisch sein konnten, kam er gar nicht.
»Wie sollen ihre Möpse sein?«, fragte Alex. Er war so betrunken, dass ich ihn kaum verstand.
»Ja, sag uns, was du magst!« Flori nickte begeistert.
Ich schielte zu Sascha, dem Einzigen von uns, der schon seit einigen Jahren verheiratet war. Er hatte drei Kinder und führte ein ruhiges Leben als Familienvater. Jetzt zuckte er ratlos mit den Schultern.
»Stehst du auf pralle, dicke Dinger?«, ließ Flori nicht locker.
Ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, wanderten meine Gedanken zu Lauras Busen. Sie hatte zwei kleine Handvoll und wenn ich ganz ehrlich war, wünschte ich mir manchmal etwas mehr. Natürlich hätte ich ihr das niemals gesagt, denn eigentlich war es ja unwichtig. Aber wenn ich wählen durfte …
Ich nickte.
»Hell oder dunkel?«, fragte Flori weiter.
Laura war blond.
»Dunkel.«
Die Jungs sahen sich suchend um. Auch Sascha riskierte einen Blick auf das Angebot.
»Dort drüben an der Bar. Siehst du die drei Weiber? Die Mittlere? Wie wäre es mit der?«, schlug Alex vor.
Angestrengt starrte ich durch den Zigarettenrauch in die angegebene Richtung. Die Frau sah ziemlich gut aus. Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr in wilden Locken ins Gesicht fielen, trug ein hautenges rotes Kleid, das so kurz war, dass es ihr nur knapp über den prallen Hintern reichte, und Schuhe mit hohen, dünnen Absätzen. Doch das Aufregendste an ihr war sicher der üppige Busen.
Wie ferngesteuert nickte ich.
»Ich bin gleich zurück«, verkündete Flori und erhob sich.
»Sag ihr, dass ich Max heiße!«, rief ich ihm hinterher.
Alex lachte.
Mein Herz begann, schneller zu schlagen, während ich beobachtete, wie Flori bei den Frauen ankam, etwas zu der Schwarzhaarigen sagte und dann auf mich zeigte.
Ich hielt den Atem an.
»Na, jetzt bin ich gespannt«, kommentierte Alex.
Tatsächlich nahm sie ihr Proseccoglas von der Theke und folgte Flori zu uns herüber. Ihre beiden Freundinnen steckten die Köpfe zusammen und deuteten tuschelnd in unsere Richtung.
Staunend überlegte ich, was mein Kumpel wohl gesagt hatte.
Der Hüftschwung »meiner« Eroberung war sensationell. Bei jedem Schritt in ihren hohen Schuhen wackelte ihr gesamtes Gestell und der Busen wippte so sehr, dass ich erwartete, er spränge ihr gleich aus dem Kleid.
In meiner Hose wurde es schlagartig zu eng.
»Fang nicht an zu sabbern!«, ermahnte mich Alex und lachte.
»Darf ich vorstellen, das ist mein Freund Max. Max, das ist die bezaubernde Eva!«, stellte Flori uns vor.
Sie lächelte mich an.
»Willst du nicht Platz nehmen?«, schlug ich vor.
Sie setzte sich neben mich auf die Bank, wo bisher Flori gesessen hatte. Obwohl der Tisch groß genug für uns alle war, rückte sie so nah, dass sich unsere Arme und Beine berührten. Ein intensiver, schwerer Duft nach Rosen stieg mir in die Nase. Es war ein aufregendes, sexy Parfüm.
Laura benutzte nie irgendwelche Duftwässerchen. Ich mochte ihren natürlichen Geruch sehr, aber eine Einladung zur Sünde war er nicht gerade.
»Wir würden ja unglaublich gern noch länger bei euch bleiben, doch wir müssen jetzt dringend unseren eigenen Verpflichtungen nachgehen. Entschuldigt uns, Eva und Max«, sagte Flori.
Alex stand sofort auf.
Sascha war ein wenig begriffsstutziger und fragte: »Welcher Max?« Er starrte gedankenverloren auf Evas Körper. Dann erhob er sich schließlich und die drei entfernten sich Richtung Theke.
»Ich finde das richtig süß, dass du dir nach fünf Jahren Sexfasten im tibetischen Kloster ausgerechnet mich ausgesucht hast!«, raunte Eva mir mit verführerischer, rauchiger Stimme zu.
Aha, das hat Flori ihr also erzählt, dachte ich. Ich lächelte verlegen. »Du bist sehr hübsch!«
»Danke, Max!« Sie zupfte ihr Kleid ein wenig zurecht. Eigentlich hatte es vorher perfekt gepasst, wohingegen nun der Rand eines knallroten Spitzen-BHs hervorlugte. Alles saß so eng, dass sich ihr üppiger Busen nach oben wölbte.
Normalerweise versuchte ich, dezent zu sein und Frauen während eines Gesprächs mehr in die Augen als in den Ausschnitt zu glotzen, doch nun konnte ich nicht anders, ich musste meinen Blick daran heften.
Ich hatte Laura einmal zum Valentinstag scharfe Spitzenunterwäsche geschenkt. Aber sie trug sie nicht, um sie zu schonen. »Die sieht so wahnsinnig teuer aus, Tim!«, sagte sie, wann immer sie ihr beim Aufräumen in die Hände fiel.
»Sei nicht schüchtern, Max. Du darfst zugreifen.«
Ich berührte Evas Brüste anfangs nur vorsichtig, weil ich das bei Laura jahrelang so eingeübt hatte. Zuerst behutsam testen, ob sie in Stimmung war. Wenn nicht, dann rascher Rückzug und so tun, als wäre man selbst im Augenblick gar nicht an Sex interessiert und würde lieber den Rosamunde-Pilcher-Film im Fernsehen sehen.
»Vergiss Tibet!«, flüsterte Eva mit ihren Lippen an meinem Ohr. »Ich zeige dir den Himmel auf Erden!«
Während sich meine Finger daraufhin in ihren Wahnsinnsbusen gruben, legte sie ihre Hand auf meinen Schritt. Ein Glück, dass dort trotz Alkohol alles noch einigermaßen funktionierte.
»O Mmmax!«, stöhnte Eva.
»Ich heirate morgen! Eine Runde Prosecco!«, kreischte da irgendwer direkt hinter uns.
Ein wenig erschrocken drehte ich mich um.
Eine offensichtlich reichlich alkoholisierte junge Frau mit verschmiertem Make-up und total zerknitterter, halb aufgeknöpfter Bluse kletterte auf ihren Stuhl, hob ihr Glas und schrie: »Trinkt auf mein Wohl!«
Links und rechts von ihr saßen zwei Männer, die ihr wieder auf den Boden halfen. »Was würde ich nur ohne euch machen!«, lachte sie und gab einem nach dem anderen einen Zungenkuss.
»Süß!«, kommentierte Eva und zog meine Hand zurück auf ihren Busen.
Nun riss die Braut das Fenster zur Straße auf und rief »Ich heirate morgen!« hinaus. Einer der beiden Zungenküsser betatschte ihren Hintern.
Ein Schwall kühler, frischer Luft strömte herein und ließ mich schlagartig nüchtern werden. Irritiert nahm ich meine Finger wieder von Eva und rutschte ein Stück von ihr ab.
Ich dachte an Laura und wusste, ich wollte auf keinen Fall, dass sie auf diese Weise ihren Junggesellinnenabschied feierte. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie ein anderer sie so berührte. Ihre Handvoll Busen gehörte mir allein und niemand außer mir sollte ihre ausgeleierte Unterwäsche sehen. Und ich hatte auch keine Lust mehr, diesen penetranten Rosenduft einzuatmen, sondern vermisste den zarten Geruch nach meiner großen Liebe. Ich wünschte mir, bei ihr zu sein. Sofort. Ich gierte nach Sex mit ihr. Oder Rosamunde Pilcher. Das war mir komplett egal. Hauptsache, ich wäre jetzt bei ihr und musste nicht länger in diesem stickigen Loch von einer Bar sitzen, billigen Schnaps saufen und mich mit einer völlig Fremden abgeben. Ich wollte Tim sein und nicht Max.
»Eva, du bist eine tolle, hocherotische Frau, aber ich sollte jetzt zurück nach Tibet!«, sagte ich, nahm ihre Hand und drückte einen kleinen Kuss darauf.
Dann rannte ich los.
Es begann vor über zwanzig Jahren mit einem unvergesslichen Kuss im Regen. Eigentlich war es kein wirklicher Regen, sondern nur das Regenwasser, das sich auf einer Festzeltplane gesammelt hatte und nun nach unten tropfte.
Plötzlich kam er, dieser eine Moment. Als sie vor mir stand und die Welt nur aus ihr zu bestehen schien. Genau wie in diesem Lied von Klaus Lage, Tausendmal berührt. Eigentlich wollten wir uns verabschieden, es war mitten in der Nacht und die Party zu Ende. Deshalb sagte ich zu ihr: »Mal drücken wird noch erlaubt sein.« Dann fanden sich unsere Lippen und nichts war mehr wie zuvor.
So viel zu diesem endlosen Augenblick. Hört sich ganz nach »Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende« an, oder? Das wäre schön gewesen, doch so einfach war das nicht. Denn zum einen kannte ich Kerstin schon ewig. Sie war für mich wie die Schwester, die ich nie hatte. Und eine Schwester zu küssen, stellt so ziemlich alles auf den Kopf, was man sich vorstellen kann. Zum andern kam erschwerend hinzu, dass einer meiner zahllosen Kumpels mal mit ihr zusammen gewesen war und ihr noch immer hinterhertrauerte.
Wir verabschiedeten uns in jener Nacht glücklich und gingen unserer Wege und wie so oft folgte ein kalter Morgen, der sich schnell zu einem absoluten Ausnahmedesaster entwickelte. Mit mir im Epizentrum.
Denn erst jetzt realisierte ich, was geschehen war, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Meine Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht hielt sich bis dato ziemlich in Grenzen. Die bisherigen Freundinnen hatten es kaum länger als zwei Wochen mit mir ausgehalten. Vielleicht lag es daran, dass ich schon immer die feste Überzeugung besessen hatte, niemals heiraten zu wollen.
Mit einem leichten Brummschädel trottete ich nach unten, um zu frühstücken. Ich hielt nicht viel von muffigen Studentenbuden, deshalb residierte ich bei meinen Eltern. Was den unangenehmen Nebeneffekt besaß, dass man am Sonntagmorgen das Geklapper der Töpfe und Pfannen ertragen musste. Weil Mutter kochte.
»Sag mal, Volker, wo warst du eigentlich gestern?« Diese Frage mütterlicher Dauersorge kam nicht wirklich überraschend.
»Auf einem Weinfest«, entgegnete ich ausweichend. Denn in der Unterhaltung mit Müttern ist es wichtig, weder zu viel noch zu wenig preiszugeben.
»Und mit wem?«, hakte meine Mutter geduldig nach, während sie die Pommes auf einem Backblech verteilte.
»Mit Kumpels«, entgegnete ich kauend. Dabei spulte sich in meinem Kopf ein ganz anderes Bild ab. Von einem Kuss im Regen. Nebenan in der Küche setzte sich die Routine fort, unaufhaltsam wie die Zeiger eines Uhrwerks. Doch mein Verstand drehte sich um sich selbst. Oder doch eher um Kerstin? Wenn man sich so lange kannte wie wir uns, dann hatte man ohne all das Drumherum von Liebe und Eifersucht jemanden an seiner Seite, mit dem man richtig reden konnte. Nach der letzten Nacht erschien es mir nicht mehr so sicher, ob das noch so sein durfte. Deshalb brauchte ich dringend jemanden zum Reden. Jemanden wie Kerstin. Für einen Moment durchzuckte mich ein irrwitziger Gedanke. Warum nicht mit ihr darüber sprechen? Aber das klang mir doch zu abwegig. Das Telefonklingeln riss mich aus meinen Gedanken. Schuldbewusst sah ich zu dem Apparat hinüber.
Wenn sie das jetzt ist, was sag ich ihr dann?, fragte ich mich still, während sich ein schwerer Kloß in der Magengegend bildete. Erst als meine Mutter abhob und wie so oft eine ihrer Schwestern begrüßte, lockerte sich meine lähmende Starre. Schnell beendete ich mein Frühstück, machte mich fertig und fuhr los. Denn für unsere sonntägliche Lerngruppe war ich ohnehin spät dran.
Wie immer traf ich mich mit meinen Kommilitonen in einem der zahllosen Studentencafés. Ich bestellte mir erst einmal einen Cappuccino. Ohne den machte so etwas wie Volkswirtschaftslehre nun wirklich keinen Sinn. Ganz egal, ob der zugehörige Professor nun ein Wirtschaftsweiser war oder nicht. Ich legte also meine Bücher auf dem Tisch ab, während ich dem Gespräch meiner Kumpels Basse und Holzi lauschte. Dass es dabei um Frauen ging, überraschte mich nicht. »Hatte eigentlich schon mal einer von euch was mit der Exfreundin eines Kumpels?«, fragte ich mein Experten-Team.
Und bereute es sofort. Denn Basse schien spontan am Milchschaum seines Kaffees zu ersticken. Während Holzi mich anstarrte, als hätte ich Lepra.
»Jede Frau deiner Kumpels ist tabu. Ganz egal, ob aktuell oder Ex. Da gibt es keine Ausnahmen«, zeterte er streng.
»Is’ klar«, entgegnete ich kleinlaut, »ist ja nur so rein hypothetisch.«
»Nix hypothetisch«, schnitt er mir das Wort ab. »Wenn man dir die Ex eines Kumpels nackt auf den Bauch bindet, darf da nichts passieren. Die muss wie eine Schwester sein.«
»Gecheckt«, sagte ich schnell und schlug zur Ablenkung mein Makroökonomie-Buch auf.
»Also, wo war ich stehen geblieben?«, griff Holzi seinen Gesprächsfaden wieder auf. »Na klar, gestern Abend war es doch etwas später …«
»Und wenn ich sie viel länger kenne als er? Und wenn es definitiv vorbei ist mit den beiden?«, setzte ich noch mal an.
Zumindest kollabierte Basse diesmal nicht gleich. »Never ever. Geht gar nicht«, schnappte er und stellte seinen Kaffee wieder zurück, von dem er gerade nippen wollte. »Schlag sie dir aus dem Kopf. Sieh mal, Frauen machen doch eh nur Stress. Schau mich an.« Er scheiterte daran, sein künstlich gebräuntes Äußeres bemitleidenswert aussehen zu lassen. »Ich habe kaum noch Zeit zum Lernen. Das ist echt hart.«
»Du hast aber auch nicht nur eine Freundin«, erwiderte ich etwas genervt, »sondern zwei.«