Hansjörg Schneider

Flattermann

Hunkelers zweiter Fall

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien

1995 im Ammann Verlag, Zürich

Eine erste Ausgabe im Diogenes Verlag

ist 2011 im Taschenbuch erschienen

Umschlagfoto von W. Otto (Ausschnitt)

Copyright © W. Otto/Robertstock/

Aurora Photo

 

 

Der Autor dankt

dem Basler Literaturkredit.

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24232 4 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60291 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Die Wassertemperatur betrug 19 Grad, die Lufttemperatur 26 Grad, die Wasserqualität war schlecht.

Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, gewesener Familienvater, jetzt geschieden, stand im Rheinbad St. Johann und las die Tageswerte vom Aushang ab. Wasserqualität schlecht, dachte er, was sollte das heißen? War vielleicht die Luftqualität gut? War es gesünder, zu atmen als zu schwimmen? Hatte er sich nicht vor einer halben Stunde in der Garderobe nebenan umgezogen, war er nicht auf dem Treidelweg flussaufwärts spaziert, hatte er sich nicht beim Wasserstandsmesser oben in den Fluss gleiten lassen, und hatte er nicht den Fischreiher wegfliegen sehen? Was tat denn dieser wunderschöne Vogel dort, jeden Morgen, wenn Hunkeler auftauchte? Wusch er sich etwa im von der Chemie vergifteten Wasser den Schnabel? Nein, er fing Fische. Waren diese Fische etwa halbvergiftete Chemieleichen, auf dem Rücken treibend, mit langsamen Kiemen nach den letzten Sauerstoffresten schnappend? Nein, das waren quicklebendige Silberpfeile, und der Reiher musste seine ganze angeborene Schlauheit einsetzen, um sie zu fangen.

Gewiss, Trinkwasser war es nicht, was dort oben unter der Mittleren Brücke hindurchfloss. Aber das war auch nicht zu erwarten in dieser Stadt. Basel lag eben nicht im kanadischen Busch, seine Bevölkerung ernährte sich nicht von Lachs und Elch, sondern von Pillen, Dünger und [6] Lacken. Für Hunkeler galt: Wo ein Fisch schwimmt, kann auch ich baden. Er schüttelte sich die Tropfen von den Armen, strich sich das nasse Haar glatt. Er spürte die Sonne auf dem Rücken, das stimmte ihn wieder friedlich. Natürlich wusste auch er, dass der Rhein nicht ganz sauber war. Aber schließlich hatte er ja nicht vor, ihn auszutrinken.

Hunkeler trat an den Rand der Plattform, die vor dem Kiosk über das eingehegte Schwimmbecken hinausragte. Dort draußen floss der Rhein, träge und grün zu dieser Jahreszeit. Ein schwerer Lastkahn kämpfte sich flussaufwärts, vollbeladen mit Kies. Über die Johanniterbrücke gleich rechts oben fuhr ein Blaulicht. Ein Wagen der Feuerwehr, kein schwerer Fall offenbar, es war nur ein einzelnes Auto, das drüben in Kleinbasel verschwand.

Unten im Schwimmbecken schwamm eine Entenmutter mit fünf Küken. Vor wenigen Tagen noch waren es acht gewesen, drei hatte offenbar der Milan geholt. Die kleinen Viecher paddelten, was das Zeug hielt, um der Strömung standzuhalten. Trieb ein Blatt heran, huschten sie darauf zu, flink wie Mäuse, fast sah es aus, als ob sie über das Wasser liefen. Sie waren hier, um auf Frau Lang zu warten, die in wenigen Minuten den Kiosk aufmachen und das restliche Brot von gestern hinunterwerfen würde.

Ein Bild des Friedens, dachte Hunkeler, eine Oase mitten in der Stadt, ein herrlicher Junimorgen.

Da hörte er einen Schrei. Er kam von rechts oben, von der Johanniterbrücke her also, von der manchmal Burschen heruntersprangen, obschon sie fast zwanzig Meter hoch war. Diese Burschen pflegten jeweils zu schreien, aber anders, aus Übermut, aus Stolz, um die Aufmerksamkeit [7] der Leute auf sich zu ziehen. Dies jetzt war ein anderes Schreien, ein gefährliches. Und als Hunkeler hinaufblickte, hing dort zwischen Brückengeländer und Wasserspiegel tatsächlich ein großer Vogel. Sein Schrei war verstummt, er flatterte voller Entsetzen, das war deutlich zu sehen, er ruderte mit den Armen. Er trug einen dunklen Anzug. Es war ein alter Mann, der offenbar nicht ins Wasser hineinwollte, aber er musste hinein, die Schwerkraft befahl es. Er schlug auf und verschwand.

Hunkeler stand reglos. Er hielt sich mit beiden Händen am Geländer fest, er atmete nicht. An eine Bewegung war gar nicht zu denken. Er wartete, drei Sekunden lang, sechs Sekunden lang, die Zeit stand still. Der Wirbel, den der fallende Männerleib ins Wasser gerissen hatte, verlor sich, verschwand. Darüber stand schräg die Sonne, und von der Kleinbasler Seite war das ferne Horn des Feuerwehrautos zu hören.

Dann endlich tauchte etwas auf, gut hundert Meter weiter unten. Ein Männerkopf war es, am Hals war eine Krawatte zu erkennen. Eine Hand erschien, ein Arm, ein dunkler Ärmel, der winkte, dann wieder verschwand. Der Männerkopf blieb auf dem grünen Wasser, tauchte dann wieder weg, erschien aufs Neue. Ein Schrei war nicht mehr zu hören.

Hunkeler wunderte sich, dass er immer noch dastand am Geländer, nichts unternahm, nur schaute, nur schaute. Was da eben geschehen war, war unerhört. So unerhört, dass jedes Eingreifen verboten schien. Er hätte eigentlich schon beim Flattern des Mannes, bei seinem Aufklatschen und Verschwinden reagieren müssen. Er hätte die Treppe [8] hinunterrennen, beim unteren Einstieg ins Wasser springen und mit aller Kraft hinausschwimmen müssen, um den Mann zu retten. Er hätte ihn am Rockkragen packen, ihn, hätte er sich verzweifelt gewehrt, in den Doppelnelson nehmen und ihn so ruhigstellen müssen, bis er ihn wie einen schlaffen Sack ans Ufer hätte bringen können, darauf achtend, die fremde Nase über dem Wasserspiegel zu halten. Hunkeler hatte das in seiner Jugend gelernt, er war Rettungsschwimmer. Und immer noch war er so fit, dass er einen Mann ohne weiteres vor dem Ertrinken retten konnte.

Aber was er gesehen hatte, hatte ihm jede Entschlusskraft geraubt. Das war ein Einbruch gewesen in diesen alltäglichen, sonnigen Sommermorgen, das Eindringen von etwas anderem, Ungeahntem, fast Heiligem. Da hatte der Tod zugegriffen, mitten in Basel, im Rhein. Denn offensichtlich war der alte Mann nicht zufällig, aus Unvorsichtigkeit oder Übermut, in den Fluss gefallen. Dafür war das Geländer dort oben zu hoch. Er war hinübergeklettert und hatte sich hinabgestürzt, weil er sterben wollte. Dieser Wunsch zu sterben war es, der Hunkeler lähmte, der ihn erschrecken ließ, ihm Ehrfurcht abverlangte, auch wenn klar zu erkennen gewesen war, dass den Mann schon im Stürzen die Angst gepackt hatte, die Angst vor dem unbekannten Tod. Und jetzt kämpfte er dort draußen um sein Leben. Er hielt sich wacker, er war noch immer nicht endgültig untergegangen, sein Kopf trieb Richtung Dreirosenbrücke der französischen Grenze entgegen. Es war zu spät, um einzugreifen, er war schon zu weit hinabgetrieben. Er lag mitten im Fluss, wo die Strömung am stärksten war.

André kam heran, der Abwart des Rheinbades, wie [9] immer in der zu schmalen Badehose mit den Leopardentupfern drauf. »Hast du das gesehen?«, fragte er. Hunkeler nickte.

»Der ist freiwillig hinab«, sagte André, »da bin ich ganz sicher. Ich habe den Schrei gehört. Ich war wie gelähmt.«

»Ich auch.«

»Holen wir ihn?«

»Nein. Es ist zu spät. Lauf hinauf zur Telefonkabine und ruf die Polizei an. Nummer 117. Und die Sanität. Es sei ein Mann ins Wasser gefallen.«

»Wieso rufst nicht du an?«, fragte André. »Du bist ja Polizist.«

»Dort unten«, Hunkeler zeigte flussabwärts, wo die großen Passagierschiffe lagen, »dort unten holt ihn einer heraus. Ich will dabei sein, wenn er ihn bringt.«

André schaute hinunter. Ein kleines Ruderboot, das offenbar zu einem der weißen Kähne gehörte, wurde mit kräftigen Schlägen hinausgerudert, direkt auf den schwimmenden Körper zu. Ein junger Mann mit schwarzer Wollmütze saß darin.

»Geh jetzt endlich«, sagte Hunkeler, »ich bin schließlich nicht im Dienst, ich habe Urlaub. Sie sollen die Rheinpolizei vorbeischicken, mit dem Beatmungsgerät.«

Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, André war weg.

Hunkeler stand immer noch am Geländer und schaute flussabwärts. Es war ein Hafenschiffchen, das auf den kaum mehr wahrnehmbaren Kopf zutrieb, keine drei Meter lang und flach aufliegend, wie sie hinten an den Rheinkähnen hingen und bei Bedarf hinuntergekurbelt werden konnten. Es schaukelte heftig in den Wellen des Kieslasters, der [10] Richtung Mittlere Brücke stampfte. Der Mann mit der schwarzen Mütze ruderte regelmäßig, mit viel Zug. Dann hatte er den Kopf erreicht. Hunkeler sah, wie sich zwei Arme zum Wasser hinunterstreckten, wie sie etwas packten und einen schweren Leib an Bord zerrten. Dann setzte sich der Mann mit der Mütze wieder hin, packte die Ruder und trieb das Boot dem Ufer zu.

Hunkeler trat zum Tisch, an dem er morgens kurz nach neun, wenn Frau Lang den Kiosk geöffnet hatte, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen pflegte. Er setzte sich hin, den Rücken an die Holzwand der Frauenkabinen gelehnt, die Füße auf der Bank. Hockstellung, dachte er, so hat man früher die Menschen beerdigt. Er spürte die Sonne auf dem Bauch und im Gesicht, wohlig warm, seine Haut war inzwischen trocken geworden. Über die Johanniterbrücke rollte der Verkehr, träge wie der Fluss. Es stimmt, dachte er, ich habe Urlaub. Drei Wochen, und das in der schönen Sommerzeit, in der halb Basel ans Meer verreist ist. Die Stadt gehört mir und der Rhein auch. Und überall freundliche Gesichter. In den Beizen wirst du zuvorkommend bedient, weil sie halb leer sind, und in der Kunsthalle sitzen die alten Kämpen, die auch nicht ans Meer fahren. Hier an diesem Flussufer, dachte er, ist es besser als an jedem verpissten Mittelmeerstrand, auch wenn die Wasserqualität scheints schlecht ist. Aber das alles ist nicht der Grund, weshalb ich nicht eingegriffen habe. Der Grund war dieser Schrei.

[11] Die Sanität war in knapp sechs Minuten da, die Polizei in zehn. Die Rheinpolizei ließ auf sich warten.

Der Mann mit der schwarzen Mütze hatte sein Boot dicht am Ufer, wo die Strömung schwach war, heraufgerudert zum Anlegeplatz gleich unterhalb des Rheinbades. Es war ein junger Mann mit langem, blondem Haar, das er zu einem Zopf gebunden hatte.

»Guten Tag«, sagte er, als Hunkeler zu ihm trat. »Da ist ein Mann ins Wasser gefallen, ich habe ihn herausgefischt.«

Er war ziemlich verlegen, der nasse Mann im Boot hatte auch ihm zugesetzt, aber er versuchte zu lächeln.

»Ja«, sagte Hunkeler, »ich habe ihn flattern und aufklatschen sehen. Sind Sie vom Schiff dort unten?«

»Ja, von der Lorelei. Ich bin Holländer. Ich war gerade auf Deck und habe ihn mitten im Fluss winken sehen.«

»Hat er etwas gesagt«, fragte Hunkeler, »als Sie ihn herausgezogen haben?«

»Nein, kein Wort. Er wird sterben, denke ich. Ich habe ihn auf den Bauch gelegt, damit das Wasser auslaufen kann. Aber er hat zu viel geschluckt. Bitte helfen Sie mir, ihn ans Ufer zu tragen, er ist sehr schwer. Ich muss zurück aufs Schiff.«

»Nein«, sagte Hunkeler, »die Polizei braucht Ihre Personalien. Das muss alles seine Ordnung haben.«

»Ordnung«, sagte der junge Mann, »was ist das? Wie kommt ein alter Mann dazu, von einer so hohen Brücke zu fallen?«

Sie schauten beide hinauf zur Johanniterbrücke, wo drei Laster im Stau standen.

»Ich bin einmal mit einem Lastkahn den Rhein [12] hinuntergefahren«, erzählte Hunkeler, und er wunderte sich, dass er das tat, »das war in jungen Jahren. Ich schlief vorne im Bug bei den Matrosen, auf dem Boden im Schlafsack. Die Besatzung bestand aus Holländern. Ich habe seither nie mehr so vernünftige, höfliche Menschen angetroffen.«

Der junge Mann nahm die Mütze vom Kopf und strich sich verlegen übers Haar. »Können Sie helfen?«, fragte er und zeigte auf den Mann, der immer noch im Boot lag.

»Nein.«

Zusammen schauten sie ihn an, schweigend, die Stille hatte plötzlich überhandgenommen. Der nasse Anzug bestand aus dunkelblauer Gabardine, Hose und Rock vom selben Stoff, die Bügelfalten waren genau gezogen. Ein Sonntagsgewand offensichtlich, gedacht für besondere Tage, für Taufe, Hochzeit, Beerdigung. Die Socken aus grauem Nylon, die Schuhe schwarz, die Absätze schräg abgetreten. Die grauen Haare im Nacken einigermaßen lang, strähnig. Stirnglatze mit Leberflecken drauf, es konnten auch Altersflecken sein. Über dem linken Ohr lag der Bügel einer Hornbrille, leicht verrutscht. Die Wange bartlos, offensichtlich frisch rasiert, auffallend bleich, leicht bläulich angelaufen. Der Hals dürr, der Hemdkragen abgeschabt. Eine violette Krawatte, aus Seide. Der Mann mochte gegen einen Meter achtzig groß sein. Eine stattliche Figur vormals, jetzt schlaff und in unnatürlicher Stellung daliegend.

Hunkeler trat mit einem Bein ins Boot, das heftig zu schaukeln anfing. Dann stieg er ganz hinein, kniete sorgfältig nieder und legte die Hand auf den nassen Männerrücken.

»Er atmet noch«, sagte er, »wenn auch schwach.«

[13] Die beiden Sanitäter trugen weiße Berufskombis, die irgendwie endgültig wirkten. Die Bahre hatten sie auf den Treidelweg gestellt. Sie standen da, schauten auf das Boot, auf den alten Mann, der drauf lag. Offensichtlich wussten sie nicht recht weiter.

»Einer muss ins Wasser«, sagte der Ältere, »sonst kriegen wir ihn nicht an Land. Vielleicht Sie?« Er schaute zu Hunkeler, der in Badehosen danebenstand.

Hunkeler ließ sich hinabgleiten, bis seine Füße den kühlen Sand berührten. Es war die Stelle, an der sich an warmen Nachmittagen manchmal die Aale ringelten, vermutlich liebten sie die Sonne. Jetzt war der Sand leer, er spürte ihn zwischen den Zehen durchdrücken. Als er zum Boot watete, dorthin, wo der fremde Kopf lag, reichte ihm das Wasser bis zur Brust. Er packte einen Oberarm, dann den andern, er riss mit aller Kraft daran, zog den Oberkörper vom Boot, so dass der Kopf an seine Brust zu liegen kam. Er betrachtete kurz die Glatze, es waren Leberflecken.

Auch der Holländer war ins Wasser gestiegen. Er hatte einen Arm um die fremden Knie geschoben und sich die Beine auf die rechte Schulter gelegt. So stießen sie den Mann die Böschung hinauf, keuchend und nach Halt suchend im Wasser, das hier nur langsam floss. Der Körper war unglaublich schwer. Jetzt lag er da, seltsam verrenkt im Sonntagsanzug, ein Wassertier, das nicht recht aus dem Wasser wollte und auch nicht an Land.

Der ältere Sanitäter beugte sich nieder, legte eine Hand auf den nassen Rücken. »Der lebt ja noch«, sagte er, plötzlich erschrocken. »Los jetzt, komm.«

Gemeinsam mit dem Kollegen packte er den Mann. Sie [14] hoben ihn hoch – wie ein Stück Wäsche, dachte Hunkeler –, sie drückten ihm die flachen Hände auf den Rücken, pressten aus Leibeskräften, bis Wasser aus dem Mund floss, schubweise. Dann versiegte es. »Vielleicht hat er künstliche Zähne«, sagte der Holländer, »und er erstickt.«

»Blödsinn«, sagte der Sanitäter, »der erstickt nicht. Das Wasser muss ausfließen können. Das ist das Wichtigste, verstehen Sie?«

Sie legten ihn auf die Bahre, Bauch nach unten.

»Da oben haben wir Sauerstoff.« Der Sanitäter zeigte auf den wartenden Notfallwagen, dessen Blaulicht immer noch drehte. »Der bringt ihn ins Leben zurück. Was meinen Sie, was wir schon alles zurückgeholt haben aus dem Reich des Todes!« Er lächelte kurz, fast schmierig. »Herzbaracken schwersten Kalibers, Unfallopfer, die schon fast alles Blut verloren hatten, Selbstmörder mit zertrümmertem Skelett. Wir sind die Schutzengel.« Jetzt grinste er richtig. »Wir bringen die Sterbenden ins Leben zurück.«

»Moment«, sagte Hunkeler und kniete sich nieder.

»Halt«, sagte der Sanitäter, »stopp! Rühren Sie diesen Mann nicht an.«

Hunkeler schaute schräg nach oben. Er blinzelte, die Sonne blendete ihn. »Sie tun Ihre Pflicht«, sagte er, »und ich tue meine. Einverstanden? Ich bin Polizist.«

Der Sanitäter zögerte. Dann: »Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?«

Hunkeler zeigte auf seine Badehose. »Wo soll ich ihn haben? Vielleicht hier drin? Ich heiße Hunkeler. Das hier ist übrigens seine Brille.«

Der Sanitäter nahm sie, klappte sie zusammen und [15] steckte sie ein. Unschlüssig schaute er zu, wie Hunkeler dem Mann in die innere Rocktasche griff und eine Brieftasche herausholte. Dann hoben die beiden Sanitäter die Bahre an, trugen sie auf die Fahrstraße hinauf und schoben sie in den Sanitätswagen. Die Tür schloss sich, das Auto fuhr weg.

Hunkeler schaute ins Wasser. Im Sand war deutlich seine Spur zu sehen, hingezeichnet auf den gewellten Boden, die Zehen, die Fußballen, die Fersen. Er drehte den Kopf zum Badehaus hinüber. Dort stand André, reglos, ein kräftiger, braungebrannter Mann in Leopardenhose.

»Sie sind nass geworden«, sagte er zum Holländer, der versuchte, eine Zigarette aus der Schachtel zu klopfen. »Das tut mir leid.«

»Warum? Das soll Ihnen nicht leidtun.« Er warf die Zigaretten ins Wasser. »Die sind kaputt.«

»Ich habe meine drüben in der Garderobe. Wenn Sie wollen, hole ich sie.«

»Nicht der Rede wert, danke.«

Gemeinsam schauten sie über das Wasser, auf die dunkelgrünen Linden gegenüber, die Giebel, die Häuser dahinter.

»Ein schöner Fluss hier oben«, sagte der Holländer. »So müsste er sein bis unten, wo er ins Meer fließt.«

»Er tut mir sehr leid. Ich meine den alten Mann. Ich frage mich, warum ich nicht sogleich hinausgeschwommen bin, um ihn zu holen.«

»Bitte keine Eigenbeschuldigung. So sagt man doch, oder?«

»Sie meinen Selbstvorwürfe«, meinte Hunkeler.

[16] »Das ist immer so, dass man sich Selbstvorwürfe macht«, sagte der Holländer, »wenn sich jemand umbringt. Aber es ist sinnlos. Selbstmord ist ein Menschenrecht. Oder meinen Sie nicht? Allerdings, zuschauen kann man auch nicht, wie jemand ertrinkt.«

»Ich habe zugeschaut«, sagte Hunkeler, »und jetzt fühle ich mich mies.«

Er öffnete die Brieftasche. Sie war aus feinem, schwarzem Leder. Ziegenleder, dachte er, wie das früher Brauch war, geschenkt zu Weihnachten, eingepackt in rotes Seidenpapier mit grünen Tannenzweigen und Kerzen drauf, verschnürt mit gelber Papierschnur.

Sein Blick fiel auf das Foto eines jungen Mannes. Breite Schultern, kräftiger Hals, das Gesicht einigermaßen grob, die Augen hell. Beidseits der Nase waren knapp einige Leberflecken zu sehen. Das Haar gekraust, ziemlich kurz, im linken Ohr ein kleiner Ring.

Er schob das feuchte Foto zur Seite, suchte und fand einen Ausweis. Er zeigte das Gesicht des Mannes, der soeben fortgefahren worden war. Weißes Hemd mit Krawatte, der Hals auffallend dürr, das Gesicht kräftig und trotz des hohen Alters lebendig und frisch, die Augen hinter der Hornbrille schienen zu lachen. Glatze, die Haare seitlich lang und strähnig. Schwache Leberflecken auf der Stirn.

Der Mann hieß Freddy Lerch, gebürtig aus Barzwil im Kanton Solothurn, Augen und Haare braun, Größe 1,82, geboren am 1. Februar 1916.

Oben auf der Fahrstraße hielt das Polizeiauto an. Der Fahrer – es war Korporal Lüdi – schaltete das Horn aus, das Blaulicht ließ er weiterdrehen. Es stiegen aus Haller mit [17] der geschwungenen Luzerner Pfeife und Detektiv-Wachtmeister Michael Madörin. Sie schauten flussabwärts, wo die weißen Hotelschiffe lagen. Dann kamen sie herunter auf den Treidelweg.

»Was machst denn du hier?«, fragte Madörin.

»Urlaub«, sagte Hunkeler und versuchte zu lachen, obschon es ihm überhaupt nicht zum Spaßen war. Aber so war das eben bei der Polizei: nur keine Menschlichkeit vortäuschen!

»Es ist zum Kotzen«, sagte Madörin, »wo man hinkommt, hockt schon der Hunkeler und räumt auf.« Er kratzte sich am Hals, lockerte den Kragen. »Die einen schuften sich bei der größten Hitze kaputt, die andern genießen das Strandleben. Was hast du da in der Hand?«

»Diese Brieftasche«, sagte Hunkeler, »habe ich aus der Rocktasche des Mannes genommen, den sie soeben weggefahren haben. Zuhanden des Piketts, wie es sich gehört.«

Madörins Blick wurde giftig. »Hast du hineingeschaut?«

»Flüchtig. Ein flüchtiger Blick.«

»Das gehört in meine Kompetenz«, sagte Madörin und steckte die Brieftasche ein. »Von mir aus kannst du dich krebsrot braten lassen und Abend für Abend unter kühlen Laubbäumen literweise Bier in dich hineinschütten. Aber lass die Hände weg von diesem Fall.«

Hunkeler schaute flussabwärts, wo das Basler Dybli – ein grün bemaltes nostalgisches Ausflugsschiff – unter der Dreirosenbrücke auftauchte. »Ihr habt euch ja ziemlich Zeit gelassen.«

»Hör auf, ja?« Das kam jetzt richtig böse. »Wir fahren von Notfall zu Notfall, weil bei dieser Hitze die Leute [18] durchdrehen. Und am Nachmittag soll es noch heißer werden. Du weißt, was das bedeutet. Also sei bitte ein bisschen kollegial.«

»Es tut mir leid«, sagte Hunkeler. »Was ich gesehen habe, hat mich ziemlich geschafft.«

»Du und geschafft«, sagte Haller, »was ist denn passiert?«

»Der Mann ist hinuntergesprungen, dort oben von der Brücke. Mit einem Schrei. Dann ist er beinahe ertrunken.« Er zeigte auf den Holländer, der freundlich lächelte. »Er hat ihn herausgefischt. Dann hat ihn die Sanität geholt.«

Haller nahm die Pfeife aus dem Mund, betrachtete nachdenklich den erloschenen Tabak darin, presste sanft den Daumen darauf. »Und warum hast nicht du ihn herausgefischt?«

Hunkeler schwieg.

»Nimm’s nicht zu schwer«, sagte Madörin und hielt ihm seine Zigaretten hin. »Da, rauch eine.«

Hunkeler nahm sich eine, ließ sich Feuer geben, zog tief den Rauch hinunter. Von was hätte er reden sollen? Vom freien Willen? Von der Sehnsucht zu sterben?

Madörin wandte sich zum Holländer. »Wie heißen Sie?«

»Veit Flammers. Aus Leiden. Ich arbeite auf dem Schiff dort unten.«

»Er ist übrigens freiwillig gesprungen«, sagte Hunkeler. »Er hat mitten im Sprung geschrien. Aus Angst.«

»Gopferdammich«, sagte Haller. »An einem so schönen Sommermorgen.«

[19] Die Big-Ben-Uhr schlug zehn, als Hunkeler ins Badehaus zurückkam. Üble, widerliche Schläge, wie er fand, die Heimeligkeit, betuliche Wohlhabenheit vorspiegelten.

Frau Lang hatte das Schiebefenster des Kiosks hochgezogen. Nussgipfel lagen da, Mohnbrötchen mit Wurstscheiben dazwischen. Es duftete nach frischem Kaffee. Er nahm eine Tasse, stellte sie unter den Hahn der Thermosflasche, drückte auf den Deckel. Er machte das wie jeden Morgen, und wie jeden Morgen rann der Kaffee heraus.

»Was war das für ein Mann?«, fragte Frau Lang.

»Ein gewöhnlicher alter Mann.«

»Haben Sie ihn springen sehen?«

»Ja.« Er goss Milch in die Tasse, fingerhoch.

»Wo ist er jetzt?«

»Er liegt im Spital.«

»Und? Ist er tot?«

»Ich glaube nicht.«

AHV