Hans-Werner Wienand
Verlierer
Wahre Lügen aus der Seglerwelt
Aequator
Impressum
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Aequator GmbH, München
© 2016 Aequator GmbH
Grafik: Helden & Mayglöckchen GmbH & Co. KG, Karlsruhe
Titelbild: Fotolia
© Sergey Nivens
Edition 1
ISBN 978-3-95737-012-9
Sie war der Typ von Frau, die einen Mönch bewegen könnte, den ganzen Tag die Glocken zu läuten, oder den Papst dazu, die Putten von der Säule zu treten. Es gibt solche Frauen in der Fantasie und auf Bildern in Magazinen, wenn die zuständigen Redakteure FotoSoftware wirklich beherrschen. Und mit „wirklich“ meine ich, wenn sie in ihrem Job göttliche Meister sind und nebenher auch noch wissen, worauf es ankommt.
In der Wirklichkeit findet man diese Frauen nicht. Dazu ist die Evolution zu wenig kreativ gewesen. Und zu langweilig.
So war ich bei der Rückkehr auf mein Schiff schon ein wenig erstaunt, als ich die Frau in meiner Kajüte sitzen sah. Sie trug ein T-Shirt, das eigentlich mir gehörte, und eine Jeans, ebenfalls aus meinem Schrank. Sie saß da, vor sich meinen Lieblingskaffeebecher, den mit dem aufgedruckten Schweinemotiv. Der Becher war gefüllt und dampfte.
Und dann diese Stimme:
„Es ist noch Kaffee da“, sagte sie. „Ganz frisch aufgebrüht.“ Ich rede nicht mit Hologrammen. Nicht mehr, seit ich nach Beendigung meiner Drogenexperimente in frühen Jugendzeiten beschlossen habe, mich in meinem Leben mehr auf Handfestes zu verlegen.
Realität kann auch ganz schön aufregend sein, das habe ich als Segler gelernt. Also begann ich wortlos damit, die frisch eingekauften Sachen im Kühlschrank zu verstauen, ignorierte den personifizierten Flashback in meiner Sitzecke hinter mir und nahm mir vor, gelegentlich über persistierende Wahrnehmungsstörungen zu recherchieren.
„Nimmst du Milch oder Zucker oder beides?“
Ich knallte die Kühlschranktür zu. Zu heftig.
„Schwarz!“, sagte ich.
Der Arzt meines Vertrauens war 18.000 Seemeilen entfernt. Luftlinie! Es wurde klar, dass ich diese Situation allein bewältigen musste. Ein Kaffee konnte dabei nicht schaden. Ich setzte mich auf die andere Seite des Kajüttisches, nahm den angebotenen Becher, trank einen Schluck. Der Kaffee war gut, war offensichtlich mit genau der richtigen Zeremonie gefiltert, so, wie ich es selber mache.
„In Ordnung“, sagte ich. „Kaffeekochen kannst du also!“
*
Nora wurde wach und wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie sah auf die Kajütuhr. Sie hatte eine halbe Stunde zu lang geschlafen. Eric hatte sie nicht geweckt. Wachwechsel alle drei Stunden, das war ihre Vereinbarung. Sie hörte das Rauschen der außen am Rumpf entlangstreifenden Wellen und die hellen, zwitschernden Signale der begleitenden Delfine. Sie konnte die hochfrequenten Rufe der Tiere in ihrer Koje deutlich hören. Eric nicht. Er machte sich immer über sie lustig, wenn sie davon sprach. Aber sie wusste genau, wann wieder eine Schule die Schwärme kleinerer Fische jagte, die Schutz unter ihrem Schiffskörper gesucht hatten. Sie hörte sie deutlich durch die sechs Millimeter starke Stahlhaut der Framtid. Sechs Millimeter, die sie vom Tod trennten. Sechs Millimeter Schutz vor fünftausend Metern Wasser bis zum Grund. Sechs Millimeter, hinter denen sie sich sicher fühlte. Aber jetzt war sie beunruhigt.
Sie strampelte das dünne Laken zur Seite und ging gebückt nach vorn zum Navitisch. Eric war nicht zu sehen. Wahrscheinlich saß er draußen im Cockpit. Sie fand es nicht fair, dass er sie nicht geweckt hatte. Sie hatten eine klare Abmachung. Sie empfand es als diskriminierend, wenn er so tat, als ob sie geschont werden müsste.
Die Kurslinie auf dem Plotter malte eine saubere, gerade Linie über die elektronische Karte. An dem einen Ende stand Cartagena, Columbia, der Zielpunkt war irgendwo in der Comarga Kuna Yala vor Panama. Der Autopilot arbeitete zuverlässig. Die Geschwindigkeit war gut, die Richtung perfekt. Das Radar war eingeschaltet. Auf dem Bildschirm gab es keine bedenklichen Punkte, keine verwischten Flecken von drohenden Squalls, keine unbekannten Hindernisse, keine anderen Segler, mit denen man kollidieren könnte. Alles war in Ordnung. Eine angenehme, südkaribische Tropennacht.
Sie zog ihre Fleecejacke über und stieg den Niedergang hoch. Sie wusste genau, was sie Eric sagen würde; und sie wusste auch wie. Sie würde nicht mehr freundlich sein. In der letzten Zeit hatte sich eine Menge in ihr angestaut. Einen Teil davon würde sie jetzt abarbeiten.
Das Cockpit war leer.
Sie stolperte die letzte Stufe des Niedergangs hoch, war dann draußen. Die Frontscheiben des Deckshauses waren von nebliger Gischt beschlagen. Aber sie konnte das Vorschiff überblicken. Ein Dreiviertelmond am klaren Nachthimmel schickte ausreichend Licht. Hinter der Backbordsaling stand dicht über dem Horizont das Kreuz des Südens. Von dessen Fuß aus explodierte der Diamantstaubschweif der Milchstraße über den Himmelszenit nach Norden. Zum Heulen schön.
Eric war nicht an Deck.
„Eric …?“ Sie sagte es leise, fragend, vorsichtig; so, als ob sie niemanden stören wollte. Aber dann wollte sie stören. Sie schrie.
„Eric!“
Sie sprang den Niedergang wieder nach unten und schrie.
„Eric!“
Sie stürzte ins Vorschiff, stieß mit dem Schienbein gegen eine Sitzkante, spürte nicht den Schmerz, riss die Toilettentür auf.
„Eric!“
Auch der Toilettenraum war leer.
Sie schloss die Augen. So konnte sie besser sehen. Sie sah alles gleichzeitig. Sie sah das leere Cockpit, das verlassene Deck, die leere Vorschiffskabine. Sie sah das Boot allein in der Weite des Ozeans, allein mit ihr. Jetzt spürte sie den Eisenring, der sich um ihre Brust legte. Sie spannte die Brust, dehnte das Zwerchfell, saugte die Luft ein, kämpfte gegen den Ring an, der sie zu ersticken drohte.
„Eric.“ Sie sagte es noch einmal. Ganz leise diesmal. Ohne Sinn. Sie wusste, niemand würde sie hören.
Sie stolperte zurück zum Navitisch und drückte die MOB-Taste am Plotter. Man Over Bord. Auf dem Bildschirm flammte ein rotes Kreuz auf, markierte elektronisch die aktuelle Position. Aber die momentane Position war nicht der Ort, wo es passiert war. Man Over Board! Wo es passiert war! Wie das klang! Was? Was war passiert? Aber viel wichtiger noch: Wo? Wo in dieser unendlichen Wasserwüste?
Wieder kroch sie den Niedergang nach oben, tastete im Cockpit nach dem Startschlüssel des Motors. Der Schlüssel lag immer einsatzbereit. Darauf hatte Eric bestanden. Für Notfälle! Sie drehte den Schlüssel, heizte den alten Diesel ein paar Sekunden vor, startete. Die Maschine sprang sofort an, lief gleichmäßig und ruhig im Leerlauf. Sie registrierte, dass der Auspuff das Kühlwasser in gleichmäßigen Schüben ausspie. Routine. Alles in Ordnung.
Nichts war in Ordnung!
Sie rutschte den Niedergang wieder herunter, fiel, stieß hart gegen den Navitisch. Die Framtid lief mit sechs Knoten Fahrt. Vor 215 Minuten hatte sie sich von Eric verabschiedet und war in ihre Koje gekrochen. Also hatte sie Eric seit 3,58 Stunden nicht mehr gesehen. Seitdem hatte das Schiff 21,5 Seemeilen zurücklegen können. 21,5 Seemeilen, auf denen sie suchen würde. 21,5 Seemeilen, auf denen sie im Sternenlicht einen kleinen Menschenkopf zwischen den schwarzen Einmeterfünfzigwellen finden musste.
Sie würde die Segel bergen und unter Motor langsam auf Gegenkurs gehen. Sie würde jeden Zentimeter jeder einzelnen Welle, jedes einzelnen Wellentals absuchen. Ihr Blick war klar wie niemals zuvor. Es gab keine Tränenschleier. Die Tränen würde sie später fließen lassen. Nicht jetzt. Es würden Freudentränen sein. Sie würde Eric finden. Dazu war sie entschlossen. Es durfte nicht anders sein.
Zum dritten Mal in den letzten Minuten stieg sie den Niedergang hoch ins Cockpit und deaktivierte den Autopiloten. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Zuerst mussten die Segel geborgen werden. Sie kuppelte den Motor ein und steuerte die Framtid von Hand in den Wind. Ihr Blick ging hoch zum Masttop. Der Pfeil des Windrichtungsanzeigers pendelt langsam in Richtung Bug. Je mehr das Boot gegen den Wind drehte, umso mehr begann es in den Wellen zu stampfen und zu bocken. Sie gab etwas mehr Gas um das Boot zu stabilisieren. 1.300 Umdrehungen. Sie stand breitbeinig. Sie hielt das große Ruder umklammert und versuchte die tanzenden Bewegungen auszugleichen. Die Segel verloren den Winddruck, die Achterlieks begannen zu killen, die Schoten zu schlagen.
Dann sah sie Eric.
Eric saß auf der ersten Saling, fünf Meter über Deck, saß da, hatte mit den Armen den Mast umklammert, hielt sich fest, schaukelte mit dem tanzenden Schiff wie ein Kobold auf einem Baum. Die Beine baumelten lässig nach unten. Er lachte. Er sah, dass sie ihn entdeckt hatte und winkte ihr zu.
„Du hast ein schönes Stimmchen, wenn du schreist“, rief er gegen den Wind, übertönte das Knallen der Segel. „Angst steht dir gut, wirklich gut …“
Sie stand da am Ruder, glich in den Hüften die Schiffsbewegungen aus, starrte diesen Mann auf der Saling an, starrte in dieses vor Lachen verzerrte Gesicht. Dann ließ sie das Ruder los, ganz langsam, stieg langsam den Niedergang nach unten, ging nach hinten, legte sich in ihre Koje. Sie starrte an die Decke. Sie dachte an nichts, sie weinte nicht. Sie war nicht erleichtert, sie war nicht traurig. Sie war leer. Sie hört nicht einmal mehr das Zwitschern der Delfine durch die Bordwand.
Sie blieb siebzehn Stunden liegen, auf dem Rücken, bewegungslos, bis sie Naguarchidup erreicht hatten, bis sie hörte, dass Eric die Ankerkette ausrauschen ließ, bis sie spürte, dass der Anker saß. Dann stieg sie den Niedergang hoch, durchquerte das Cockpit, sprang über die Reling, schwamm zum Nachbarboot, kletterte dort an Deck, zog ihre nasse, alte Kleidung aus, warf sie zurück ins Wasser, sah zu, wie Hemd und Hose davontrieben, ging nackt nach unten und begann, Kaffee mit fremdem Geschirr zu kochen.
*
„Warum hast du ihn nicht aus dem Mast geschossen?“, fragte ich. „Eine Signalpistole kann überzeugende Löcher in bösartige Körper brennen.“ „Weil er dann Opfer gewesen wäre“, sagte sie.
Ich nickte. Ich verstand. Das muss man wissen. Das sind die Feinheiten einer Beziehung.
„Er ist ein Idiot“, sagte ich.
„Du musst nicht höflich sein“, sagte sie. „Ich habe mir ein trockenes T-Shirt und eine Jeans von dir geliehen. Wenn du nichts dagegen hast, reicht das erst einmal als Gefälligkeit.“
Das Geschrei außenbords hörten wir gleichzeitig.
„Wir bekommen Besuch“, sagte ich.
„Warum lebst du auf dem Wasser“, fragte sie. „Warum segelst du?“ „Weil ich noch nicht tot bin“, sagte ich.
„Das ist gut“, sagte sie. „Aber damit es dabei bleibt, müssen wir jetzt etwas tun.“
Wir gingen nach oben.
Eric umkreiste mein Schiff in seinem Beiboot. Er stand aufrecht, hatte ein Bein auf die Steuerpinne seines Außenborders gestemmt, lenkte nur mit dem Fuß. In der rechten Hand hielt er eine Machete.
„Wird er die benutzen?“, fragte ich.
„Sonst hätte er sie nicht mitgebracht“, sagte sie.
Eric schimpfte und fluchte und drohte. In einem kleinen Radius zirkelte er um mein Schiff. Sein Außenborder quirlte das Meerwasser schaumig.
Wir sahen ihm zu, wir hörten ihm zu. Dann ging Nora einfach nach unten. Eric stutzte, als sein Ziel plötzlich verschwand. Er kuppelte den Außenborder aus. Mit abflachender Bugwelle trieb das Dinghi gegen mein Schlauchboot, das am Heck angebunden war. Eric holte aus und schlug mit der Machete auf den seitlichen Schwimmwulst. Mein Boot war prall aufgepumpt, die Machete federte auf der Gummihaut zurück, ohne Schaden angerichtet zu haben. Eric schlug wieder zu und wieder, schlug mit einem Kreuzschlag von rechts nach links, von links nach rechts, hieb auf das aufgeblasene Gummi ein, kämpfte wie ein wahnsinniger Tempelritter gegen eine angreifende Räuberhorde und immer wieder prallte das Haumesser ab, schnellte hoch wie der gefederte Schlegel einer Orchesterpauke.
Dann stach er zu. Mein Schlauchboot trieb zur Seite, aber die angespitzte Klinge drang durch die äußere Gewebehaut. Ich hörte, dass die Luft entwich und Eric hörte es auch. Jetzt schlug er nicht mehr, jetzt stach er auf das Boot ein, auf die andere Auftriebskammer, auf den Bugwulst. Das Dinghi verlor seine Bootsform, wurde schlaff, die vierzig Kilo des Außenborders am Heckspiegel zogen das Material nach unten.
Eric atmete schwer, aber er hatte jetzt den triumphierenden Blick eines siegreichen Gladiators. Er hob die Machete über den Kopf, eine Hand am Griff, eine Hand an der Spitze. Er hielt sie mit beiden Händen, formte damit über sich ein Dach.
„Das ist der Beginn einer langen Feindschaft“, sagte er. „Vergiss deine Zukunft!“
Er kuppelte seinen Außenborder mit einem Fußtritt ein und rauschte auf einer sich aufstellenden Heckwelle zurück, an der ankernden Framtid vorbei in Richtung Ufer. Am Steg lockten eine bunte Lichterkette und die Bar Elefantes. Elefant-Island. Der Seglertreff in Kuna Yala! Eric würde an der Bar Trinker finden, die ihm zuhörten. Was soll ein Sieg nach einer Schlacht, wenn er nicht gefeiert werden kann?
„Bereit für ein bisschen Leben vor dem Tod?“, fragte Nora.
An der Festmacherleine zog ich die schlaffe Gewebehaut an Deck, die einmal mein Schlauchboot gewesen war. Sie war UV-stabil und tropentauglich. Ich hatte vorgesorgt. Und dann schlug das Schicksal mit einer Keule zu, auf die ich nicht vorbereitet war. Gut so!
„Jetzt sofort“, sagte ich. „Nicht später. Jetzt bin ich bereit.“
„Gut“, sagte Nora. „Dann rauf mit dem Anker.“
Sie drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, so nebensächlich wie lang vertraut. Mit einem gestreckten Sprung flog sie über die Reling, tauchte ins Wasser und war verschwunden.
Ich startete den Motor, ging nach vorn und ließ die Ankerwinsch arbeiten. Fünfundzwanzig Meter Kette rasselten in den Kasten, dann war die Amygdala frei, trieb ohne Wind auf der Stelle. Ich stellte mich an das Ruder und wartete. Ich hörte, dass der Motor der Framtid ansprang, hörte dort die Ankerkette einlaufen. Die Framtid ging langsam auf Nord-Ost-Kurs, würde nach wenigen Kabellängen auf Nord, dann auf Nord-Nord-West gehen, sich vorsichtig durch die schmale Riffdurchfahrt tasten, raus aufs offene Wasser. Ich kuppelte ein und folgte ihr.
Der Schrei war wie der Schrei eines gequälten Tieres. Ich sah, dass Eric über den Steg vor der Bar Elefantes hastete, in sein Schlauchboot sprang, dass er den Außenborder anriss und Vollgas gab. Und ich hörte ihn schreien. Er hörte nicht auf. Er stand in seinem Dinghi, schrie, lenkte mit einem Fuß, starrte auf die Framtid,die in langsamer Fahrt davontuckerte.
Eric stand viel zu weit hinten, gab viel zu viel Gas. Der Bug seines kleinen Bootes bäumte sich um mehr als 45 Grad auf, der schwere Außenborder saugte sich gurgelnd fest. Aber er war immer noch schneller als die Framtid, viel schneller. Er erreichte sie, rammte sein Schlauchboot gegen den Rumpf, prallte ab, lenkte wieder gegen. Und er hielt etwas in der Hand, etwas Dunkles, Klobiges, eine Waffe. Eric richtete eine Signalpistole auf die Framtid. Sein kleines Boot tanzte in der Heckwelle, sprang und bockte. Eric hatte Mühe zu zielen. Er zielte auf Nora.
Ich erhöhte die Drehzahl der Amygdala, versuchte die Framtid einzuholen, versuchte Eric abzudrängen. In der schmalen Riffpassage blieb nicht viel Manövrierraum.
Eric schoss.
Eine rote Leuchtkugel mit 1.500 Grad Celsius verließ in einer Flammenlanze den Lauf, zischte tief über das Cockpit der Framtid, verfehlte Noras Kopf nur um Zentimeter, streifte die Wanten auf der Steuerbordseite. Funkenfetzen explodierten, sprühten über das Deck, als die Feuerkugel an den Stahlseilen zerriss.
Die Amygdala war jetzt nur noch eine halbe Bootslänge hinter der Framtid und hinter Eric. Ich sah, dass Eric den Lauf der Pistole abknickte, die abgeschossene Hülse herausgleiten ließ und nachlud. Und ich sah, dass sich Nora zur Seite beugte, etwas hochhob, etwas Längliches und nur noch mit der rechten Hand lenkte. Nora trat auf die Süllkante, stütze sich mit den Knien gegen die Reling. Eric hob die Signalpistole, Nora hob die Harpune. Nora schoss zuerst. Der Pfeil bohrte sich in die rechte Seite des Schlauchbootes. Der Wulst platzte auf und der hochtourig laufende Außenborder riss das plötzlich instabile Schlauchboot zur Seite. Eric verlor den Halt, verlor die Pistole. Der Motor kippte, saugte Wasser an. Es gab einen harten, hässlichen, metallischen Schlag als der Kolben zerriss. Für Sekunden war nur noch das ruhige, zuverlässige Wummern der beiden Dieselmotoren zu hören. Dann begann Eric wieder zu brüllen, unmenschlich, tierisch, blieb zurück auf dem zerstörten Schlauchboot, während die beiden Segler den Kurs über Backbord änderten und das Riffgewirr der Lemmon Cays verließen.
Die Framtid lief mit niedrigen Drehzahlen selbstständig unter Autopilot. Sie würde so weiterlaufen, bis die Dieseltanks trocken waren oder ein Riff ihren Rumpf aufschlitzte. Ich manövrierte längsseits und ließ Nora zu mir übersteigen.
„Ist er jetzt Opfer?“, fragte ich.
„Nein, das war ein ehrlicher Kampf“, sagte sie. „Jetzt ist er Verlierer.“ Sie ging nach unten schaltete das Funkgerät ein. Ich hörte ihre Durchsage.
„SECURITE – SECURITE – SECURITE …“
Sie meldete eine führungslose Yacht und warnte die umliegende Schifffahrt. Sie gab die Position der Framtid durch, deren Kurs und Geschwindigkeit.
„Ich fühle mich gut“, sagte sie, als sie wieder neben mir im Cockpit saß.
„Dafür sind Segelboote da“, sagte ich.
Nora lächelte.
„Und die Menschen darauf!“
Sie blickte auf den Kompass.
„Cholon?“, fragte sie
Ich nickte. Achtzig Seemeilen! Morgen konnten wir den Zugang zum Panamakanal erreicht haben und dessen Schleusen wären für uns Tore in eine andere Zukunft. Framtid* war Vergangenheit.
„Südsee!“, sagte Nora. „Ein guter Gedanke.“
„Der stille Ozean!“, sagte ich. „Lass ihn uns ausprobieren …“
Kein Ende in Sicht.
Die Nevertheless war das ideale Schiff, das war auf den ersten Blick klar. Olli S. wusste sofort, sie war ein Glücksfall, sie war die Lösung, sie war sein neuer Anfang.
Nevertheless – schon in dem Wort schwang genau der Trotz mit, den er so dringend leben wollte: Aufbegehren, schöpferische Energie nach Niederlagen, Kraft nach Schwäche, Zuversicht trotz Handicap, Auflehnung dann, wenn sie notwendig war, wenn das Schicksal seine Keulen schwang. Das gefiel ihm. Er konnte im Wartebereich des Jobcenters die weiße Fahne hissen und recherchieren, wo der Schnaps am billigsten war, oder aber den Riten der Maoris folgen, die Hände auf die Schenkel schlagen, die Brust aufpumpen, die Knie und Hüften beugen, mit den Füßen stampfen, der Vorsehung die Zunge zeigen und seinen ganz privaten Haka tanzen.
Er war entschlossen zu tanzen.
Die Nevertheless war vollkommen. Jedes einzelne Detail hatte ihn überzeugt. Genial, wie sämtliche Fallen ins Cockpit umgeleitet wurden. Er konnte Segel setzen und bergen, das Groß reffen, eine Baumbremse bedienen, selbst den Anker fieren und aufholen und in der Halterung fixieren und das alles, ohne auch nur einmal den Platz am Steuer verlassen zu müssen. Alle notwendigen Winschen, alle Klampen waren in einem engen Kreis angeordnet, dessen Mittelpunkt der Körper war und dessen Radius durch die Reichweite der Arme begrenzt wurde. Zusätzlich konnten die Winschen elektrisch angetrieben werden. Perfekt. Komplizierte Bedienungsvorgänge waren radikal vereinfacht worden, alle überflüssigen Spielereien waren eliminiert. Es war leicht, die 39 Fuß Länge über alles im Sitzen zu manövrieren, in jeder Situation, bei jedem Wetter.
Der Eigner musste ein besessener Tüftler und Bastler sein. Vielleicht ein Ingenieur, ein Bootsbauer, ganz sicher aber ein Fachmann. Die Anordnung der Umlenkrollen, der Belegklampen, die Führung von Fallen, Schoten und Hilfsleinen, die Bauausführung, das alles war kein Standard. Jedes Detail strahlte Überlegung aus, Intelligenz, technisches Wissen und seglerisches Können gleichzeitig. Es war die bestmögliche Kombination.
Die Nevertheless war das ideale Fahrtenschiff. Sie war ideal für einen Einhandsegler. Sie war ideal für den zukünftigen Einhandsegler Olli S.
Olli S. hatte den Eigner der Nevertheless noch nie gesehen. So lange er das Schiff beobachtete, war niemand an Bord gewesen. Seit zwei Wochen war Olli S. auf Schiffssuche, seit zwei Wochen besuchte er jeden Tag die Nevertheless, setzte sich oberhalb der Steganlage auf die Bank am Deich, saß da, wurde aus der Entfernung mit dem Deckslayout des Schiffes vertraut. Es war längst sein Schiff, obwohl er es bisher noch nicht einmal berührt hatte. Trotzdem war es ein gutes Gefühl. Es war ein gutes Gefühl, ein Schiff zu haben. Es war das erste gute Gefühl, seit ihn der Redaktionsleiter in sein Büro bestellt hatte und ihn mit diesem speziellen Blick angesehen hatte. Olli S. hatte verstanden, noch ehe der Redaktionsleiter auch nur ein Wort gesagt hatte. In 37 Berufsjahren hatte Olli S. gelernt, in Gesichtern zu lesen, so zuverlässig wie er zwischen den Zeilen von geschönten Presseverlautbarungen lesen konnte. Ausflüchte und Verschleierungen funktionierten nicht. Nicht bei ihm. Für ihn zählten nur Tatsachen und Wahrheiten. Er spürte die versteckten Fakten auf und wenn es notwendig war, wurden sie in seinen Artikeln und Kommentaren hingerotzt, so schnörkellos, so gnadenlos, dass kein Tarnnebel auch nur den Hauch einer Chance hatte.
„Warum ich?“, fragte Olli S. Er fragte es, bevor der Redaktionsleiter die üblichen Textbausteine von Verschlankung und schrumpfenden
Abonnentenzahlen, Rückgang auf der Inserentenseite, Einbrechen der Werbeeinnahmen und Senkung der Fixkosten abspulen konnte. „Nun, also“, sagte der Redaktionsleiter und ordnete den längst geordneten Papierstapel vor sich, „das ist so.“
„Warum ich?“, fragte Olli S.
„Du willst es wirklich wissen?“, fragte der Redaktionsleiter.
„Wenn ich etwas frage, will ich etwas wissen“, sagte Olli S.
„In Ordnung“, sagte der Redaktionsleiter. „Einer musste es sein – und du bist nicht mehr effektiv.“
Nicht mehr effektiv! Während er für Recherchen noch die Redaktion verließ und auf der Straße nach Antworten suchte, fragten die jüngeren Kollegen die digitalen Suchmaschinen. Sie saßen an ihren Schreibtischen und rechneten weniger Spesen ab, aber sie waren nicht besser als er. Sie ließen sich von den Algorithmen der asozialen Netzwerke durch die Manege führen. Ihre Arbeiten waren schnell, schrill und anspruchslos. Es bedeutete nichts, ein guter Journalist zu sein. Wichtig war nur Effektivität.
Olli S. stand auf. Er wusste, hier gab es nichts mehr zu diskutieren. Seine Zeit war abgelaufen. Einer musste es sein!
Sein Leben lang war er stolz darauf gewesen, aufrecht, ohne Deckung in den Schussbahnen zu stehen. Er hatte lange überlebt. Jetzt hatte es ihn erwischt.
„Über die Abfindung können wir dann noch sprechen“, sagte der Redaktionsleiter. Er sagte es kumpelhaft. Er erinnerte sich daran, dass er auch Freund war und nicht nur dazu da, Exekutionsentscheidungen von oben weiterzureichen. „Immerhin 37 aktive Jahre – da ist finanziell jede Menge Luft nach oben.“
Olli S. schloss die Bürotür von außen und war Frührentner.
Seine Frau sagte Olli S. am Abend, dass sie mit ihrem Kegelbruder in Urlaub fahren würde, kurz bevor er ihr sagen konnte, dass er ab heute Frührentner war. Ihr Kegelbruder war auch sein Kegelbruder. Sie kannten sich seit Jahren. Pärchenkegeln jeden Donnerstag! Der große Autor des Lebens fand immer die treffenden Formulierungen. Er hatte dabei einen ausgeprägten Humor und wieder einmal mit der satirischen Schicksalskugel in die Vollen getroffen. Pärchenkegeln! Seine Frau würde nach ihrem Urlaub nicht wieder in die gemeinsame
Wohnung zurückkehren.
„Es tut mir leid“, sagte sie.
Olli S. sagte seiner Frau nicht, dass er Frührentner war.
„Es ist gut so“, sagte Olli S. „Es ist Zeit für einen Neuanfang.“
Er dachte an Freiheit und Wärme und an das Kreuz des Südens. Das war trotz allem mehr als genug, um ihn zum Lächeln zu bringen.
„Enkeltrick?“, fragte der Sachbearbeiter der Bank. Er fand das witzig. „Ein entfernter Neffe mit russischem Akzent, der dringend Bargeld für eine Operation braucht?“
„Eine private Investition“, sagte Olli S. Mehr Erklärungen würde er nicht liefern. Die Wahrheit würde ohnehin niemand verstehen. Um die gesamten Barbestände aller Sparverträge eines langen Berufslebens, aller Depots und aller Konten inklusive des großzügigen Disporahmens abzuheben, ist die Begründung „Neuanfang“ nicht für alle schlüssig und nachvollziehbar. Ganz sicher aber nicht für diesen geölten Schlipsträger mit fetter Sicherheit in Anlehnung an die Bedingungen des öffentlichen Dienstes.
„Ungewöhnlich ist ihre Handlungsweise aber schon“, sagte der Sachbearbeiter. „Das müssen sie zugeben.“
„Das ganze Leben ist ungewöhnlich“, sagte Olli S.
Der Sachbearbeiter dachte darüber nach. Philosophie hatte nicht zu seinem Ausbildungsspektrum gehört.
„Wenn Handlungsweisen nicht dem gewohnten Muster entsprechen“, sagte der Sachbearbeiter, „bin ich angehalten, bei hohen Barverfügungen zur Sicherheit des Kunden zu recherchieren.“
„Von Recherche verstehe ich mehr als sie“, sagte Olli S. „Und auch von meiner Sicherheit.“
Der Sachbearbeiter zuckte mit den Schultern und setzte die Miene auf, die er auch immer dann aufsetzte, wenn er sich nach häuslichen Diskussionen mit seiner Frau geschlagen geben musste. Das konnte er, das hatte er lange Jahre geübt, das zahlte sich jetzt aus.
Olli S. zeichnete die Auszahlungsbelege und Kontokündigungen ab. Der Sachbearbeiter ließ Scheine durch die automatische Zählmaschine laufen.
„Das ist eine Menge Bargeld“, sagte er.
„Bekomme ich einen DIN-A4-Umschlag als Verpackung dazu geschenkt?“, fragte Olli S.
„Den Handlungsspielraum habe ich“, sagte der Sachbearbeiter. Er sagte es ohne zu lächeln. Er meinte das ernst. Vielleicht war er auch stolz darauf, soviel Eigeninitiative in seinem Job entwickeln zu dürfen.
Olli S. verließ die Bank mit einem Umschlag voller Geld unter dem Arm und fühlte sich wohl. Sein eigener Handlungsspielraum war jetzt weit wie die Welt.
Olli S. verließ sein Haus nur mit dem großen Rucksack und einem Schraubenzieher. Er hörte die Tür ins Schloss fallen, drehte sich aber nicht um. Er hatte sich nicht verabschiedet. Sentimentalitäten waren nicht angebracht. Vorbei! Vergangenheit war Vergangenheit. Die zurückliegenden Jahre hatten ihn erhalten, aber nicht befreit. Gesund dem Tode entgegenleben, das war Norm und das war Kette gleichzeitig. Die Kette gewährte Spielraum, aber die Möglichkeit zur Entfaltung war begrenzt. Kontrolliertes Ableben von Geburt an. Jede Menge Luft nach oben, das war bisher alles an Verheißung. Doch ab jetzt gab es zusätzlich auch jede Menge Luft nach vorn.
Das Schloss am Niedergang war kein Problem, wenn man wusste, wie der Schraubendreher anzusetzen war. Im ungünstigsten Fall würde ein Plexiglassplitter des Steckschotts abspringen oder ein Stück Gelcoat am Schiebeluk. Nachhaltigen Widerstand konnte der Riegel jedenfalls nicht bieten, war mehr Kosmetik als echte Sicherheit.
Vielleicht aber hatte Olli S. auch Glück und der Eigner der Nevertheless versteckte den Schlüssel da, wo zwei Drittel aller Segler in Deutschland ihre Schlüssel verstecken: Achterlich im Kasten für die Gasflaschen! Olli S. öffnete den Hebelverschluss, tastete blind hinter die Fünf-Kilo-Gasflasche und fand einen Schlüsselbund. Steckschottschlüssel, Starterschlüssel, Schlüssel für die Vorhängeschlösser der Backskisten, alles da. Gut so. Ab sofort hatte Olli S. Schlüsselgewalt. Erst jetzt fühlte er sich wirklich als Eigner.
Die Treppe des Niedergangs war flacher gestaltet, als bei einem Serienschiff, mit breiteren Stufen, die fast kleinen Tischen glichen und wurden von zwei stabilen Handläufen an beiden Seiten begrenzt. Auch das war ein privater Umbau, eine Sonderanfertigung.
Der Eigner hatte nicht nur die äußere Technik nach eigenen Vorstellungen verbessert, auch der Innenausbau war sehr speziell gestaltet und von erstaunlicher Kreativität. Olli S. stützte sich auf die Handläufe und glitt sicher auf ihnen in das Schiffsinnere ohne die Treppenstufen mit den Füßen zu berühren. Ideal in schwerem Wetter, ideal bei Lage, wenn schnell etwas unter Deck erledigt werden musste. Stolpern auf dem bockenden Schiff war ausgeschlossen.
Die Küchenzeile an Steuerbord mit vierflammigem Gasherd, Kühlschrank und Anrichte war ungewöhnlich niedrig gehalten. Obwohl es in der Kajüte volle Stehhöhe gab, konnte der Herd nur auf den Knien rutschend bedient werden. Niedriger Schwerpunkt, hohe Sicherheit bei unruhigem Wetter, das war eine alte Regel der Fahrensmänner. Zusammen mit dem robusten Handlauf aus Edelstahlrohr konnte in dieser Kombüse auch bei noch so üblen äußeren Bedingungen gearbeitet werden.
Olli S. verstaute die Lebensmittel, die er im Rucksack mitgebracht hatte. Es war nur eine Notration, würde aber die ersten Tage reichen, die ersten Tage seines neuen Lebens. Irgendwo im Kanal, im Süden Englands, würde er in einem kleinen Fischerort das erste Mal an Land gehen und organisieren, was für den langen Schlag über die Biskaya notwendig wäre; Diesel, Wasser, Lebensmittel. Das war der Plan. Dort würde er auch mit den Streifen aus Klebefolie den Schiffsnamen verstecken. Die Versicherung würde ein paar Tage brauchen, um die Fahndung nach dem Schiff in Gang zu bringen und das auch erst dann, wenn der Verlust der Nevertheless entdeckt sein würde. Die Chancen standen gut.
Nevertheless