1984 beim Deutsch-Amerikanischen Freundschaftstag auf der Trabrennbahn: Ein namentlich leider nicht mehr zu ermittelnder Traber präsentiert den frisch gewählten Tempelhofer Bezirksstadtrat für Volksbildung und Kultur.
Mit dreißig wurde ich in dieses Amt (und damit zu Berlins jüngstem Stadtrat) gewählt. Eine meiner Aufgaben in dieser Funktion war es, bei einem Promirennen teilzunehmen. Die Einladung war mit der Bedingung verbunden, ein paar Trainingseinheiten zu absolvieren – im Interesse der Pferde!
Morgens um sechs gings in den Sulky … Ein ausgemachter Fan des Reitsports wurde ich dadurch nicht.

Die fünf Spitzenkandidaten für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober zu Gast bei Maybrit Illner (3. v. l.) in der Livesendung Berlin Mitte: Sibyll Klotz (Bündnis 90 / Die Grünen), Frank Steffel (CDU), meine Wenigkeit, Gregor Gysi (PDS) und Günter Rexrodt (FDP). Nach dem Ende der Großen Koalition stand ich als Regierender Bürgermeister einem rot-grünen Übergangssenat unter Duldung der PDS vor. Die Auflösung des Abgeordnetenhauses und mithin Neuwahlen hatten wir direkt nach meiner Wahl beschlossen.

Gerhard Schröder war damals zunächst nicht sehr begeistert von unserem Zusammengehen mit der PDS, das die SPD für eine Senatsbildung nach den Neuwahlen für »nicht wünschenswert, aber auch nicht auszuschließen« erklärte. Die einzig mögliche, noch weniger wünschenswerte Alternative wäre eine Neuauflage der gerade geplatzten Großen Koalition gewesen. Auf seiner Rede auf dem Landesparteitag am 8. Juli warb Schröder öffentlich um Verständnis für eine Zusammenarbeit mit der PDS. Es gehe um die Zukunft der Stadt, »da muss man auch eigene Bedenken zurückstellen«. Er selbst hätte eine »Ampel« bevorzugt. Christine Bergmann, seine damalige Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (»Gedöns«), konnte ihn aber schließlich überzeugen, dass das mit FDP und Grünen in Berlin nicht zu machen war.

Kein Monarchist der ersten Stunde, aber von Kindesbeinen an ein Fan von Königin Elisabeth II. von England. Am 27. Mai 1965 besuchte die Queen erstmals Berlin, für die seit knapp vier Jahren geteilte Stadt war das ein herausragendes Ereignis. Und ich (12) war mit selbst gestaltetem Begrüßungsposter dabei. Bei ihrem Besuch 2004 konnte ich das Foto leider nicht finden und der Queen nur davon erzählen. Gleichwohl hatte sie großen Spaß an der Geschichte  wie sie im persönlichen Umgang abseits der Kameras überhaupt einen sehr ausgeprägten Humor besitzt und das Protokoll manchmal Protokoll sein lässt: 2015, ich war schon gar nicht mehr im Amt, war ich zum Sommerfest des Britischen Botschafters geladen. Alle zum Shakehands vorgesehenen Gäste standen bereit, als die Queen und der Bundespräsident auf mich zukamen, um spontan Smalltalk zu machen. Sogar an die Story mit obigem Foto erinnerte sie sich das ich leider schon wieder nicht dabei hatte …

3. November 2004: Zusammen mit dem britischen Architekten David Chipperfield (r.) durfte ich Königin Elisabeth II. durch das frisch sanierte Neue Museum führen. Anschließend sind wir noch mit einem Panoramazug nach Potsdam gefahren. Abends, beim Festkonzert in der Philharmonie, war es dann erstaunlich zu sehen, wie selbst Spitzenpolitiker, Stars und andere alte Hasen des Protokolls der Queen mit einem Respekt begegnen, als seien sie Teilnehmer eines Debütantenballs.

22. September 2011: Papst Benedikt XVI. trägt sich vor dem Olympiastadion ins Goldene Buch der Stadt ein. Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche stattete der Bundesrepublik Deutschland vom 22. bis 25. September einen Staatsbesuch ab. An der Heiligen Messe, die er am Abend im Olympiastadion zelebrierte, nahmen 61.000 Menschen teil.

12. Juli 2001: Keine vier Wochen im Amt, durfte ich den damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan (M.), in Berlin empfangen. Hier stehen wir auf dem Leipziger Platz vor einem Segment der Berliner Mauer. Die drei von dem iranischen Künstler Kani Alavi gestalteten Teile mit dem Titel Ost-West-Dialog hatte der Senat dem Bundestag vermacht, dessen Präsident Wolfgang Thierse (SPD, r.) sie wiederum der UNO symbolisch zum Geschenk machte. Leider gab es dann noch einen etwas hässlichen Urheberrechtsstreit mit dem Künstler, aber heute stehen die Mauersegmente vor dem UNO-Hauptquartier in New York.

22. Mai 2002: Mit US-Präsident George W. Bush (l.) und Bundeskanzler Gerhard Schröder in der »Leselounge« des Restaurants Tucher am Brandenburger Tor. Das Protokoll hatte signalisiert, der Präsident habe bereits
in der Air Force One gegessen. Kombiniert mit dem Wunsch des Kanzlers nach einer Currywurst war somit das tagelang ausgetüftelte Menu des Hauses buchstäblich vom Tisch. Bush stand dann allerdings spontan der Sinn nach Apfelstrudel, den die zuvor vom Secret Service peinlichst gecheckte Küche des Tucher nicht auf der Karte hatte. Also musste der »Apple Pie« mit großem Getöse aus dem schräg gegenüber liegenden Hotel Adlon herbeigeschafft werden, wo Bush auch logierte. Natürlich redet man auch bei so einem informellen Treffen über Weltpolitik. Wobei ich, ohne ins Detail zu gehen, eine gängige Annahme bestätigen kann: So manche Auffassung, die Bush da vertreten hat, war schon … nun ja … interessant. Zwei anderen Vorurteilen muss ich dagegen widersprechen: Er ist im persönlichen Umgang ungemein freundlich, charmant und warmherzig. Und er war über Berlin sehr gut gebrieft.

»Lieber Klaus, es war mir ein Vergnügen, Sie zu treffen. Vielen Dank für Ihre warmherzige Gastfreundschaft am heutigen Tag und am gestrigen Abend. Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute für die Führung Ihres bedeutenden Amtes, herzlich George Bush.«

9. Juli 2006 beim WM-Finale Italien Frankreich in Berlin: Mit Bill Clinton hatte ich, obwohl er zu Beginn meiner Amtszeit schon nicht mehr Präsident war, über all die Jahre am meisten Kontakt. Er war und ist ja immer noch in vielen Zusammenhängen international aktiv. Ich schätze Barack Obama sehr, aber Clinton war und ist in seiner ganzen Art mein persönlicher Favorit.

November 2006: Mit dem Modedesigner Karl Lagerfeld bei der Eröffnung seiner Fotoausstellung »One Man Show« in der c/o Galerie in Berlin-Mitte.

15. Dezember 2001: Berlin, glamourös und pompöös. Mit Gina Lollobrigida und Harald Glööckler bei der »Pompöös«-Modenschau im Hotel Adlon.

9. Mai 2003: Nein, das ist nicht Kent Nagano! Mit dem Schauspieler Jackie Chan auf dem Berliner Gendarmenmarkt bei einer Drehpause seiner Jules-Verne-Verfilmung In 80 Tagen um die Welt.

10. Juli 2008: Wowereit trifft Wowereit. Eine Woche zuvor hatte das Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds Unter den Linden seine weltweit achte Niederlassung eröffnet. Ich finde, dass mein Doppelgänger ein klein wenig sauertöpfisch guckt.

2001 beim Wahlkampf in Mitte. Ob Sie es glauben oder nicht, auch privat benutze ich im Kiez häufig mein Rad.

August 2001: Beim Kiezspaziergang in Kreuzberg, hier mit Schülern bei der Hausaufgabenhilfe des Türkischen Elternvereins in der Oranienstraße. In Deutschland ist der Schulerfolg so stark von der sozialen Herkunft abhängig wie in kaum einem anderen westlichen Land. Defizite – nicht zuletzt bei der Lese-
und  Sprechkompetenz im Deutschen – durch gezielte Förderung auszugleichen, ist darum eine zentrale Herausforderung für Pädagogik und Bildungspolitik.
Was allerdings nur funktioniert, wenn Elternhäuser und Eigeninitiativen wie der Türkische Elternverein kräftig mit an diesem Strang ziehen.

Am 19. Mai 2004 im Moabiter Beussel-Kiez, einem der weniger glamourösen Viertel der Stadt. Hier unterhalte ich mich mit Friseurmeisterin Elfriede Hilderich in ihrem Salon. Uns Politikern wird ja oft vorgeworfen, wir hätten keine Ahnung vom Leben, von den Sorgen und Nöten des normalen Bürgers. Richtig ist daran höchstens: Als »Regierender« kann ich bei »Außenterminen« nicht mit jedem eine halbe Stunde reden. Da geht es mir aber nicht anders als Ihnen, wenn Sie nach einem Fest merken, dass Sie einen Großteil ihrer Gäste nur begrüßt und verabschiedet haben. Tatsächlich hört ein Politiker unterm Strich Geschichten, Meinungen und auch Sorgen von sehr viel mehr Menschen als der Durchschnittsbürger. Schon weil die meisten Bürger ein starkes Bedürfnis haben, uns Politikern ihre Geschichten, Meinungen und Sorgen mitzuteilen. Wollten wir ihnen und ihren Alltagsproblemen aus dem Weg gehen, wären wir Landschaftsmaler geworden.

5. September 2008: Mit Angela Merkel besuche ich während ihrer »Bildungsreise«, auf der sie für mehr Investitionen in diesem Bereich warb, das Bildungswerk in Kreuzberg (BWK). Neckische Idee der Fotografen dazu: »Lassen Sie doch mal die zwei Vögelchen schnäbeln!« Die Objekte hatten uns die Auszubildenden zuvor geschenkt. Da muss man als Politiker durch, selbst wenn man weiß, dass die Leser am Ende mehr zu lachen haben als wir. Immer noch besser als Pumps plus Schampus …

Am 19. Juni 2013, einem der heißesten Tage jenes Sommers, mit US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor. Wenn ein US-Präsident öffentlich auftritt, dann werden ja nicht nur die Kanaldeckel zugeschweißt, auch das handverlesene Publikum muss sich peniblen Sicherheitskontrollen unterziehen. Da haben Bund, Stadt und hiesige Polizei absolut nichts zu melden. Und es dauert – weshalb die Leute eh schon zwei Stunden in der Sonne schmorten. Zu allem Überfluss war dann auch noch Obamas Teleprompter defekt, weshalb seine Rede erst noch ausgedruckt werden musste. Der Präsident, die Kanzlerin und ich warteten im Empfangsraum der Commerzbank neben dem Brandenburger Tor. Eine knappe halbe Stunde ungeplante Auszeit, in der wir uns wirklich zu dritt, ohne Übersetzer oder Stäbe, unterhalten konnten. Nicht, dass man da die schwierigsten Themen der Weltpolitik bespricht, aber purer Smalltalk war es auch nicht. Mein Eindruck: Dieser Präsident hatte eine klare Agenda, von der er zutiefst überzeugt war. Doch nach seiner Wiederwahl ein halbes Jahr zuvor war ihm klar, dass er all die in ihn gesetzten, innen- wie außenpolitischen Erwartungen unmöglich erfüllen konnte.

Sommer 2008: 100 Jahre »Pfalztreffen« der SPD. Neben mir der damalige So-grade-noch-SPD-Vorsitzende Kurt Beck und seine ebenfalls aus der Pfalz stammende designierte Nach-Nach-Nach-Nachfolgerin (zwei »Kommissarische« unterschlagen) Andrea Nahles. Den Bodyguards im Hintergrund schwant wohl, dass derlei Parteifolklore nur bedingt lustig ist.

2002 hat mein damaliger Pariser Amtskollege Bertrand Delanoë (vorn in der Mitte) alle Hauptstadt-Bürgermeister der europäischen Staaten eingeladen, die am 1. Januar des Jahres der Eurozone beigetreten waren. Bei diesem Kollegentreffen war ich (hinter Delanoë in zweiter Reihe) gerade ein Jahr im Amt.

27. April 2010: Anlässlich des 90. Geburtstages von Richard von Weizsäcker (19202015) hatte ich die ehemaligen Regierenden Bürgermeister Berlins zum Mittagessen ins Rote Rathaus geladen. Von links nach rechts: Walter Momper, Klaus Schütz (19262012), Richard von Weizsäcker (19202015), Klaus Wowereit, Dietrich Stobbe (19382011) und Eberhard Diepgen.

Nach dreizehneinhalb Jahren Amtszeit als Regierender Bürgermeister von Berlin und nach dreißig Jahren als Vollzeit- und Vollblutpolitiker musste ich mich ein bisschen an den Ruhestand gewöhnen. Wie in jeder herausgehobenen Stellung, ganz gleich ob in der Wirtschaft, in der Politik, im Kulturbereich, im Showbiz oder im Sport, lassen einen die weiterhin Aktiven schon spüren, dass man jetzt nicht mehr so wichtig ist. Aber das sind am Ende alles nur temporäre Phantomschmerzen. Man steht jetzt halt auf vielen Gästelisten nicht mehr drauf, die zu Amtszeiten »Pflichttermine« waren. Und auf denen, wo einem an der Sache wirklich was liegt, steht man nicht mehr in der ersten Reihe. Kurz und gut: Mit meinem Partner Jörn Kubicki kann ich mir endlich mehr Zeit fürs »wahre Leben« nehmen. Derzeit bewegt uns unter anderem die Frage, ob uns Hüte wirklich stehen.

Edel Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH


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Redaktion: Enrik Lauer, Regine Müller

Lektorat: Dorit Aurich, Berlin

Projektkoordination: Dr. Marten Brandt
Layout, Satz und ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin
Coverfoto: Steven Haberland, www.stevenhaberland.com
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH | www.groothuis.de
Lithografie: Frische Grafik

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-8419-0625-0

INHALT

VORWORT

KAPITEL 1

Eine Bilanz nach dreizehneinhalb Jahren als Regierender

Politik und politische Kommunikation

Postengeschacher und politische Arbeit

Berliner Entscheidungs(um)wege

Wie „rot“ ist Berlin?

Rückblende: Eine erschöpfte GroKo implodiert

„Ich bin schwul, und das ist auch gut so“

Rot-Rot: Der politische Tabubruch

„Berlin ist arm, aber sexy“

Der „Partymeister“

KAPITEL 2

Berliner Wirtschaft: Start-ups statt Industrie

Das „Manchester der Mark“

Das Ende des Industriestandorts Berlin

Vernünftiges Wachstum

Was Berlins Wirtschaft antreibt

Die „Hidden Champions“

Forschungsmetropole

Licht und Schatten der digitalen Ökonomie

Der Standortfaktor Hauptstadt

KAPITEL 3

Die soziale Seite: Zwischen Metropolen-Hype und Problem-Kiezen

Von der Weltstadt zur Insel und noch nicht ganz wieder zurück

Innenstadt-Kieze und Trabantenstädte

Quartiersmanagement als Instrument der Bürgerbeteiligung

Das Gespenst der Gentrifizierung

Problemkieze und „Clan-Viertel“

Wem gehört der Görlitzer Park?

Die dritte Generation der Migranten

KAPITEL 4

Von allem reichlich: Kultur in der Hauptstadt

Kulturmetropole von Weltrang

Berlin-Tourismus ist Kulturtourismus

Die Opernkrise als Härtetest

Pro und Contra Hauptstadtbonus

KAPITEL 5

Von der autogerechten zur mobilitätsgerechten Stadt

Die Berliner von heute – flexibel mobil

Über die Zukunft des Autos entscheidet der Markt

Stichwort Autobahn

Die Straße als Warenlager

Deutscher Meister des ÖPNV

Baustellen

KAPITEL 6

Berlin, Brandenburg, der Bund und ihr Flughafen

Der BER ist kein Berliner Problem

Schönefeld schlägt Sperenberg – leider

Warum Tegel eigentlich gar kein Flughafen ist

Sieben Jahre Privatisierungsgerangel

Selbst ist der Bauherr

Verschiebung auf Verschiebung

Und wer ist nun „schuld“?

KAPITEL 7

Der lange Weg zur „Smart City“

Der „smarte“ und der „gläserne“ Bürger in uns allen

Die Fallen der „Smart Governance“

Berlin im „War of Talents“

„Be tallin“

Von hergebrachten Grundsätzen

NACHWORT

VORWORT

Großstädte, Metropolen, Weltstädte: Für viele sind das die einzigen Orte, an denen es sich leben lässt. Orte, an denen sich Menschen aus allen sozialen Schichten, aus allen Regionen eines Landes und aus aller Herren Länder auf engstem Raum begegnen – und wo sie sich zugleich prima aus dem Weg gehen können, wenn sie das möchten.

„Stadtluft macht frei“, sagt man, seit es Städte gibt. Sicher, heute muss niemand mehr in die Stadt ziehen, um der Leibeigenschaft zu entkommen. Zumindest in Westeuropa ist der Unterschied von Stadt und Land – obwohl es da durchaus viele Regionen mit spürbarem Wohlstandsgefälle gibt – auch nicht mehr automatisch mit dem Unterschied von arm und reich gleichzusetzen. Wenngleich man nicht leugnen kann, dass sich manche ländlichen Regionen als „Verlierer“ von Urbanisierung, Globalisierung, Digitalisierung oder einer anderen „-ierung“ fühlen. Es gibt leider Regionen, die mit Arbeitsplatzmangel, Abwanderung und „Überalterung“ ihrer Bevölkerung, infolgedessen mit Ausdünnung ihrer sozialen Infrastruktur zu kämpfen haben. Ich sage nur „Landärzte“.

Dass Stadtluft frei macht, dass Städte den Menschen mehr Chancen bieten, mehr Freiräume eröffnen und vor allem über größere Attraktionen verfügen, wird niemand ernstlich bestreiten. Sonst wäre ja auch schwer zu erklären, warum die Städter bei uns seit 1950 eine Zweidrittel-Mehrheit bilden. Weltweit leben heute 54 Prozent der Menschen in Städten, in Deutschland liegt der „Urbanisierungsgrad“ bei 75 Prozent.

Der Wachstumstrend gerade der Großstädte ab 100.000 Einwohnern ist stabil. Seit der Jahrtausendwende sind allein die 26 deutschen Städte mit mehr als 250.000 Einwohnern im Schnitt um über 8 Prozent gewachsen. In Berlin leben derzeit 307.000 Menschen mehr als im Jahr 2000. Prozentual gesehen liegt die Hauptstadt auf Platz zehn der Zuzugs-Bundesliga. Warum ich die so nenne? Weil, wenn Städte wachsen, dann wachsen sie fast immer durch Zuzug.

Daneben boomt der Tourismus, eine „Erfindung“ des 18. Jahrhunderts, in den traditionsreichen Metropolen. Großstädte sind Besuchermagnete – auch für die Chancen und Risiken dieses Langfristtrends liefert Berlin jede Menge Blaupausen.

Dass Menschen in die Stadt kommen, aber nicht immer in der Stadt leben wollen, dass viele Menschen „nur“ in Städten arbeiten, und dass noch sehr viel mehr Menschen da „nur“ einkaufen, flanieren, ausgehen oder etwas besichtigen wollen, weist auf einen weiteren Punkt: auf das gerade in Deutschland nicht immer einfache Zusammenspiel von Städten und ihrem Umland. Und auf die auch nicht bloß folkloristischen Rivalitäten zwischen amtlichen und heimlichen Hauptstädten.

Schließlich die Gruppe derjenigen, für die die Großstadt vor allem ein in Stahl und Beton gegossener Alptraum ist. Gedränge, Schmutz, Lärm und Verkehrschaos rund um die Uhr. Dunkle Ecken, in denen sich unkontrolliert allerlei dubiose Subkulturen breitmachen. Multikulti-Chaos, No-go-Areas, Drogen, Prostitution, Gewalt und Verbrechen. Und über allem natürlich korrupte Regenten und völlig unfähige Verwaltungen. All diese Mythen verstellen den nüchternen und realistischen Blick. Ja, Stadtleben macht Arbeit, bietet dafür aber auch sehr viel.

Berlin ist heute zweifellos eine der attraktivsten Metropolen der Welt. In Berlin zeigen sich die Reize, die Herausforderungen und die Chancen der Großstadt wie in einem Brennglas. Hier haben die großen Entwicklungen moderner Städte häufig später eingesetzt, sich dafür aber umso rasanter vollzogen. Eine dreizehneinhalbjährige Amtszeit als Regierender Bürgermeister kommt beim Tempo Berlins fast einer Epoche gleich. Wer über die Zukunft europäischer Städte reden will, der kann über Berlin nicht schweigen. Was immer Sie von meiner Stadt, was immer Sie von mir und meiner nun auch schon wieder dreieinhalb Jahre zurückliegenden Amtsführung halten: Bisken wat kann ich schon sagen über Berlin. Weshalb in diesem Buch meine Stadt die Hauptrolle spielt, nicht das ehemalige Stadtoberhaupt.

KAPITEL 1

EINE BILANZ NACH DREIZEHNEINHALB JAHREN ALS REGIERENDER

Regierender Bürgermeister von Berlin zu sein, das ist ein wunderbarer Beruf. Man trifft auf Kollegen aus aller Welt, die ein reiches Repertoire an Eindrücken, Einsichten und Perspektiven mitbringen. Großstädte rund um den Globus haben ja oft sehr ähnliche Probleme, sind mit ähnlichen sozialen oder planerischen Herausforderungen konfrontiert, und ihre Verwaltungen arbeiten nicht selten mit denselben Stadtplanern, Architektenbüros, international agierenden Baufirmen oder IT-Dienstleistern zusammen. Dieser produktive Erfahrungsaustausch erzielt Effekte, die mich auch nach vielen Amtsjahren stets erstaunt haben.

Als Repräsentant einer Stadt lernt man Menschen, die in ihren Heimatländern führende Politiker sind, oft ein wenig persönlicher kennen, als das etwa einer Bundeskanzlerin oder einem Bundesminister möglich wäre. Die haben nicht nur noch engere Terminpläne. Diplomatische Gepflogenheiten und die politische Agenda von Regierungskonsultationen lassen auch wenig Platz für lockere Plaudereien. Anders gesagt: In Fragen der „großen“ Politik bestimmen sehr häufig große Stäbe Inhalt und Tonalität von Gesprächen. Beim „Regierenden“ darf man sich auch mal ganz privat für die Stadt, für ihre Menschen oder für ihre Sehenswürdigkeiten interessieren.

Viel wichtiger ist Folgendes: Ich treffe in der eigenen Stadt auf eine ungeheure Vielfalt von Menschen und werde mit einer Bandbreite an Lebenslagen konfrontiert, wie sie mir im Alltag sonst kaum begegnen würden. Uns Politikern wird ja oft vorgeworfen, wir hätten keine Ahnung vom Leben, von den Sorgen und Nöten der normalen Bürger. Wir würden uns wenig für ihre Meinungen interessieren – außer in Form von Meinungsumfragen. Richtig ist daran: Bei Betriebsbesichtigungen, bei der Einweihung einer Seniorenbegegnungsstätte oder beim Jubiläum einer Schule kann ich nicht mit jedem eine halbe Stunde reden. Da geht es mir aber nicht anders als Ihnen. Bei wie vielen Einladungen mussten Sie nicht am Ende des Abends erschrocken feststellen, dass Sie einen Großteil Ihrer Gäste nur begrüßt und verabschiedet haben? Fünf bis zehn Minuten der streng getakteten Zeit des Stadtoberhaupts dürfen darüber hinaus noch das Management oder die Schulleitung beanspruchen.

Tatsächlich hört ein Politiker unterm Strich Geschichten, Meinungen und auch Sorgen von sehr viel mehr Menschen als der Durchschnitt. Schon weil viele Menschen ein sehr starkes Bedürfnis haben, uns Politikern ihre Geschichten, Meinungen und Sorgen mitzuteilen. Vor allem aber, weil Politiker die Geschichten, Meinungen und Sorgen der Bürger tatsächlich interessieren und umtreiben. Würden wir nämlich der Welt, den Menschen und ihren Alltagsproblemen am liebsten aus dem Weg gehen, dann wären wir Landschaftsmaler geworden. Oder würden unsere Talente in Amtsstuben ohne Publikumsverkehr entfalten.

POLITIK UND POLITISCHE KOMMUNIKATION

Die Bürger erwarten ja auch zu Recht, dass wir Politiker ihnen zuhören. Wobei man sich manchmal wünscht, andere wären nicht ganz so felsenfest davon überzeugt, dass man ihre Meinungen oder Sorgen gerade zum allerersten Mal im Leben hört. Ebenso wie ich die Meinungsstärke vieler Bürger noch mehr schätzen würde, wenn sie auch mir zugestünden, dass meine Position zu einem Thema nicht gleich beim ersten flockigen Einwand ins Wanken gerät. Gleichwohl ist es wichtig, dass man als Politiker Volkes Stimme öfter live und nicht nur durch den Filter von Meinungsumfragen hört. Solche Stimmen müssen auch nicht besonders differenziert ausfallen. Zumindest entstehen dadurch neue Fragen, anhand derer man seine eigene Meinung überprüfen oder mit denen man seinen Fachleuten auf die Nerven gehen kann.

Im Laufe eines Jahres kommen allein bei den öffentlichen Terminen, die man bei Verbänden oder Firmen, in sozialen Einrichtungen oder Schulen, auf Baustellen oder Volksfesten absolviert, schnell ein paar hundert Leute zusammen, mit denen man ins Gespräch kommt. Anders als die Kanzlerin oder einen Bundesminister konnten und können Sie mich in Berlin durchaus auch auf der Straße anquatschen. Und genau wie Sie ging und gehe ich selbst zum Bäcker oder zum Fleischer – wo die Gespräche sich auch nicht bloß um Brötchen, Wurst und Wetter drehen. Außerdem bekommt ein Bürgermeister im Rathaus einen Haufen Post. Jeder wird verstehen, dass ich nicht jeden Brief selber lesen konnte. Aber jeder Brief wird (und wurde) gelesen – und in aller Regel auch von einem Mitarbeiter der Senatskanzlei beantwortet. Als Chef findet man ein „best of“ in seiner Korrespondenzmappe. Und es wird einem auch nicht verschwiegen, wenn der Postbote zu einem bestimmten Thema plötzlich säckeweise Zuschriften anschleppt.

Trotzdem, Politiker ordnen auch die Berichte und Meinungen von „ganz normalen Menschen“ in den Zusammenhang ein. Warum sollten wir – was wir selbstverständlich tun – einem Lobbyisten der Pharmaindustrie ausschließlich eigennützige Interessen unterstellen, Herrn Müller oder Frau Meier aber stets nur für edle Fürsprecher des Gemeinwohls halten? Die Meinung eines Bürgers ist die Meinung eines Bürgers. Und wenn er gegenüber einem Politiker eigene Sorgen, Probleme, Wünsche oder Ideen formuliert, dann spricht er, wie jeder Mensch, halt auch erst mal nur für sich selbst.

Es gibt übrigens einen TV-Klassiker, der seit 1971 Volkes Stimme ein Forum gibt: „Jetzt red i“ im Bayerischen Fernsehen. Die Sendung ist beliebt, wenngleich mit Einschaltquoten meist unter 10 Prozent. Diese televisionäre Bürgersprechstunde beugt sich einer Grundregel des Diskutierens, die lautet: Man kann über alles reden, aber nicht länger als 90 Minuten. „Jetzt red i“ dauert nur 45 Minuten, so lang wie eine Schulstunde, die nach Meinung vieler Pädagogen die Aufmerksamkeitsspanne von Schülern schon strapaziert. Für mich belegt dieser „Jetzt-rede-ich-Quotient“: Länger als eine Dreiviertelstunde mögen Bürger nicht nur ihren Politikern, sondern auch sich selbst nicht wirklich zuhören.

Was Wunder also, dass wir Politiker versuchen, möglichst alles in zwei, drei knackigen Sätzen zu formulieren. Dass wir griffige „kleine“, aktuelle und eher schnell lösbare Themen nach außen gegenüber schwierigen, komplexen und „großen“ Zukunftsthemen bevorzugen. Dass auch die Medien lieber auf verdauliche Storys, auf einen „Skandal“ hier und eine „Enthüllung“ dort setzen – und dann schnell das Thema wechseln.

Tatsächlich liegt im Politmarketing oft in der Kürze die Würze. Weshalb wir vor Mikrofonen und in Pressekonferenzen versuchen, möglichst eingängige „Botschaften“ zu formulieren, bei denen man schlecht was wegschneiden kann. So entsteht vermutlich der Eindruck, wir würden die meiste Zeit nur ausgestanzte Formeln und polierte Worthülsen zum Besten geben. Ich rate in diesem Punkt zu entspannter Gelassenheit. Ja, Werbung nervt. Aber ohne Werbeslogans funktioniert auch die Wirtschaft schon seit fast hundert Jahren nicht mehr. Nur: Wer bei den „Tagesthemen“ oder beim „heute journal“, erst recht bei Phoenix angeödet wegzappt, der darf sich hinterher nicht beschweren, wenn er, etwa bei Wahlen, zum für ihn falschen Produkt greift.

Alles Weitere muss man, wie überall, auch in der Politik schriftlich haben. Beim Hören gehen 80 Prozent zum einen Ohr rein und zum anderen gleich wieder raus. Beim Lesen besteht eine Chance, dass auch von einem längeren Gedanken mehr als die Hälfte haften bleibt. Aber wer liest politische Artikel, Traktate oder gar ganze Bücher? Äußert man sich als Politiker in einer der großen überregionalen Tageszeitungen, im SPIEGEL, im Focus oder in der ZEIT, dann sind immerhin auch Nebensätze erlaubt. Je nachdem, ob man auf die relativ exakt messbaren Auflagen oder auf die etwas wackeliger ermittelten „Reichweiten“ schaut, darf man auf ein sechs- bis knapp siebenstelliges Publikum hoffen. In Berlin erreicht man mit Tagesspiegel, Berliner Zeitung oder Berliner Morgenpost jeweils so um die 200.000 bis 350.000 Leser – immerhin. Das ist – über den Daumen gepeilt – jeder Vierte der knapp 2,5 Millionen Berliner Wahlberechtigten. Ein weiteres Viertel informiert sich – diplomatisch formuliert: knapp und plakativ – via B.Z. oder Berliner Kurier über die politische Entwicklung in der Hauptstadt. Es ist also gar nicht so einfach, in die demokratische Öffentlichkeit vorzudringen.

Ein (in dem Fall konservatives) Periodikum wie Cicero bringt es nur noch auf eine Auflage von knapp 80.000 Exemplaren. Spätestens bei Artikeln im Parlament oder im Vorwärts, bei Aufsätzen im Merkur oder in der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte sind dann die Connaisseure und Profis unter sich. Deren Auflagen sind bestenfalls fünf-, meist nur vierstellig. Und man möchte lieber nicht wissen, wie groß der Anteil jener Hefte ist, die nie ein Mensch von innen sieht. Ebenso wie bei Parteiprogrammen das Delta zwischen Druckauflage und tatsächlicher Leserzahl beachtlich sein dürfte.

Ja, und dann informieren sich heute auch immer mehr Bürger im Internet. Erst mal ist das eine wunderbare Sache: dass heute praktisch jeder alles lesen und auch seine Ansichten zu jedem beliebigen Thema verbreiten kann, ohne dass es da – wie bei den „alten Medien“ – noch nennenswerte Hürden gäbe. Dennoch scheint mir, dass dabei leider auch ein paar ganz nützliche Eigenheiten öffentlich-rechtlicher wie privatwirtschaftlicher Medienangebote unter die Räder kommen, etwa die traditionelle Trennung von Nachricht, Reportage, Analyse und Kommentar. Gerade in den Online-Medien droht diese zu kollabieren.

Gute Journalisten haben vor allem zwei Sachen sehr gründlich gelernt: recherchieren und formulieren. Und sie investieren, wie jeder gute Handwerker, in beides viel Zeit und Arbeit. Sie fragen also nicht nur irgendjemanden, ob er auch gehört hat, dass da und dort dieses oder jenes passiert sein soll. Sondern sie zapfen für jede Information mindestens zwei, besser drei voneinander unabhängige Quellen an. Sie pinnen nicht einfach ab, was irgendwer angeblich irgendwo geschrieben, kommentiert oder gesagt hat. Sondern befragen denjenigen selbst und studieren die fraglichen Dokumente.

Die meiste Zeit verbringen wir Politiker aber gar nicht damit, uns zu äußern, auch wenn das der Teil unserer Arbeit ist, den die Menschen mit Abstand am stärksten wahrnehmen. In Wahrheit hören wir viel mehr zu. Wahr ist allerdings auch: Am meisten müssen wir uns in Sitzungen gegenseitig zuhören. Wobei Parlamentsreden wiederum gern „zum Fenster raus“ gehalten werden, vor allem von Spitzenpolitikern. Heißt: Die Redner wenden sich eher an die Bürger als an die Kollegen, und sie schielen dabei wieder auf Kernaussagen, die als Zwanzig-Sekunden-Schnipsel für die Nachrichten taugen. Das eigentliche „Produkt“ Politik entsteht größtenteils in internen Sitzungen.

Dass alle wichtigen Entscheidungen „hinter verschlossenen Türen“ fallen, ist dabei nur noch eine Legende aus alter Zeit. Nein, ich rede jetzt nicht von den „geheimen“ Beratungen auf Bilderberg-Konferenzen oder in anderen Zirkeln der New World Order. Da war ich leider nie eingeladen. Weshalb ich schlicht nicht weiß, was die wahrhaft Mächtigen des Planeten alles planen. Ich kenne mich mit demokratisch legitimierten Beratungs- und Entscheidungsstrukturen aus. Und da ist es doch eher so, dass heute alles transparent ist und alles berichtet wird.

Die Entscheidungsprozesse sind in demokratischen Systemen wie dem unseren zwar so komplex wie die vielen tausend Fragen, die es Tag für Tag zu beantworten gilt. Weshalb viele Menschen daran beteiligt sind. Wirklich viele Menschen! Und weshalb die Prozesse oft auch ziemlich langsam ablaufen. Aber eines sind sie so sicher wie das Amen in der Kirche: transparent. Man muss halt in die Dokumentationen schauen, was nicht jeder kann oder will. Muss aber auch nicht sein. Denn irgendwer schaut überall rein – und macht sofort Lärm, wenn er was Verdächtiges findet.

Sie kennen das aus dem privaten Bereich: Bevor Sie schwierige Entscheidungen treffen, reden Sie (hoffentlich) mit Ihrer Familie oder mit Freunden. Und fertigen gewiss weniger Protokolle an als Politiker und Staatsbeamte. Weil es halt immer gut ist, Meinungen, Kritik, Ermunterung oder wenigstens Trost von anderen zu bekommen. Ich finde, das muss auch in der Politik möglich sein. Vertrauliche Gespräche, Sitzungen, aus denen nichts herausdringt, Beratungen oder Brainstormings, bei denen auch mal eine weniger gute Idee in den Raum geworfen oder eine etwas zackigere Polemik vom Stapel gelassen werden kann, das gibt’s jedoch im politischen Geschäft heute kaum noch. „Hinter verschlossenen Türen“ kannst du im Grunde gar nichts mehr besprechen. Weil auch hinter den dicksten Türen einer mit WhatsApp, Facebook oder Instagram auf dem Handy sitzt. So kannst du oft schon vor Ende einer Sitzung im Netz lesen, was du da angeblich eben gesagt haben sollst oder wer eine „interne Niederlage“ kassiert hat.

Ob Politik dadurch „transparenter“ wird, dass alle zwei Minuten einer was postet, kann man bezweifeln. Vor allem aber ist es ein Irrglaube, Politik würde durch dieses Dauerrauschen besser. Das Gegenteil ist richtig. Es braucht schlicht Räume, in denen man auch geschützt miteinander diskutieren kann. Wo nicht jedes spontane Wort und jede unreine Idee sofort kolportiert werden. Wo Ideenskizzen nicht nur an die Öffentlichkeit gebracht werden, um ihre Urheber zum Abschuss freizugeben. Wo man über das eine oder andere Argument auch mal eine Viertelstunde nachdenken darf. Und wo es erlaubt ist, eine Meinung aufgrund einleuchtender Gegenargumente wieder zu verwerfen – ohne dass gleich die Schlagzeile aufblinkt, XY sei mal wieder „umgefallen“.

Ich habe so etwas bis rauf ins Präsidium der SPD erlebt. Da sitzen keine zwanzig Leute zusammen. Der Inner Circle, würde jeder meinen. Doch selbst da konntest du nicht offen reden. Denn kaum hattest du was gesagt, was andere jetzt vielleicht gerade nicht so toll fanden, stand das auch schon bei Spiegel online oder sonst irgendwo. Sodass Kommentatoren und Kritiker schon die Messer gewetzt hatten, wenn du aus dem Raum kamst. Wenn nicht sofort geplaudert wird, dann halt ein, zwei Tage später. Seltsamerweise glauben viele Kolleginnen und Kollegen, sie könnten persönliche Vorteile daraus ziehen, die Medien mit Vertraulichkeiten anzufüttern. Dabei sollte doch eigentlich jedem klar sein, dass er nur der oder die Nächste für die Rolle des Hanswurst ist. Und was ist das Ergebnis der ganzen Übung? Dass man sich zur Lösung schwieriger Probleme, bei denen eigentlich der Rat von mehr Menschen wichtig wäre, erst recht ins stille Kämmerlein zurückzieht.

Das ist nicht nur ein Problem unter Politikern. Es betrifft längst auch Fachleute, wissenschaftliche Experten, Interessenvertreter aller Couleur oder Künstler und Intellektuelle, deren oft originelle Einschätzungen man sich auch ab und an mal anhören möchte. Alle haben inzwischen ihr eigenes Schaulaufen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Selbst auf der Beamtenebene musst du heute mit Klatschbasen rechnen. Früher, um nur ein Beispiel zu nehmen, wussten die meisten nicht, was der Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung überhaupt ist. Geschweige denn, wer da drin sitzt. Heute ist deren Jahresgutachten noch nicht ausgedruckt, da hat das wirtschaftspolitische Kommentariat alles schon abgefeiert, bevor du auch nur die Einleitung gelesen hast.

Ich weiß, dass das wohl eher ein kühner Traum ist: Aber etwas Verlangsamung und etwas weniger Mitteilungsdrang würde dem politischen Tagesgeschäft vermutlich guttun. Weil da inzwischen selbst die Profis kaum noch mithalten können, geschweige denn die Bürgerinnen und Bürger.

POSTENGESCHACHER UND POLITISCHE ARBEIT

Vorurteil Nummer eins, mit dem ich aufräumen möchte, ist also, dass Politiker ständig reden. Vorurteil Nummer zwei: Angeblich wollen wir, während wir vor der Kamera immer vom „Vorrang der Sachfragen“ sprechen, in Wahrheit nur einen Posten ergattern. Auch wenn ich seit Jahren keinen „Posten“ mehr anstrebe – ich finde es immer noch reichlich wohlfeil, wenn sich über so etwas erregt wird. Warum wird in einer Demokratie gewählt? Damit die Bürgerinnen und Bürger entlang politischer Grundhaltungen (von denen es zum Glück verschiedene gibt) und mehr oder minder konkreter Programme oder Projektvorschläge (bei denen es zumindest nicht schadet, wenn man sie vorher gelesen hat) eine Tendenzentscheidung für die nächsten Jahre treffen können. Da soll’s langgehen!

Und dafür muss dann auch jemand sorgen. Nämlich Parlamente, die Gesetze machen, und Verwaltungen, die diese Gesetze in die Praxis umsetzen. Warum aber sollten sich Parlamente, Regierungen und Verwaltungen von anderen sozialen Organisationen unterscheiden? Auch da gibt es Menschen, die sich um die Details kümmern, und solche, die mehr das Ganze im Blick haben. Das Tolle in der Politik: Hier werden die Vorturner von allen Bürgern gewählt – zumindest indirekt. Und lediglich auf Zeit. Kehrseite der Medaille: Für jeden „Posten“ muss es jemanden geben, der ihn haben will. Und der die anderen das rechtzeitig wissen lässt. Wer sich über die Karriereambitionen von Politikern (und vermutlich ähnlich oft über die von Arbeitskollegen) erregt, der ist in der Demokratie herzlich eingeladen, selbst einmal den Hut in den Ring zu werfen.

Damit es funktioniert, ist es im Vorfeld von Wahlen sehr wohl erforderlich, dass alle über „Inhalte“ reden. Und nachdem die Wähler entschieden haben? Keine Sorge, auch da gibt es jeden Tag viele inhaltliche Fragen, über die geredet werden muss. Bisweilen grundsätzliche, meist recht detaillierte, häufig auch äußerst verzwickte Inhalte. Weswegen es zwar artig ist, dass auch nach den ersten Hochrechnungen alle nur „Inhalte umsetzen“, „die Probleme der Menschen lösen“ und um Himmels willen keinen „Posten“ haben wollen. Was aber nichts daran ändert, dass die Arbeit verteilt werden muss, wenn die Wähler prinzipiell geklärt haben, wohin die Reise geht.

Wer diesen in Unternehmen oder Kaninchenzüchtervereinen normalen Vorgang „Postengeschacher“ nennt, mag sich damit besser fühlen. Aber der glaubt nach meinem Eindruck nicht wirklich an den Sinn von Wahlen. Regierungen lassen sich nun mal nur aus Menschen bilden, nicht aus Strategiepapieren.

Ist dann ein besagter politischer Posten mit jemandem besetzt, besteht dieser Job hauptsächlich aus vier Tätigkeiten: zuhören, reden, lesen, schreiben. Letzteres bedeutet umso mehr „unterschreiben“, je höher das Amt ist, welches man oder frau bekleidet. Zur Strafe für die Entlastung bei der Produktion von Texten muss man dafür an der Spitze umso mehr Texte lesen. Und zwar ganz überwiegend Texte, die leider weder durch Hochspannung noch durch ihre literarischen Qualitäten bestechen.

Warum lesen Sie zum Beispiel keine molekularbiologischen Fachaufsätze? Klar, weil Sie – wie ich – keine Ahnung von Molekularbiologie haben. Und weil Sie das Fachgebiet wohl auch nicht interessiert. Dennoch ist ebenso klar: Für einen Molekularbiologen – ein höchst sinnvoller Beruf – ist das echte Arbeit, kein Feierabendvergnügen. Und warum lesen Sie keine Verwaltungsverordnungen? Keine Haushaltsentwürfe? Oder wenigstens sozialpolitische Thesenpapiere? Eben.

Jetzt mögen Sie Politik im Gegensatz zu Molekularbiologie für keinen sinnvollen Beruf halten. Aber einen Haushalt zu lesen ist schon Arbeit. Das aktuelle Budget des Landes Berlin für die Jahre 2018/2019 füllt elf Bände. Jeder Band hat so zwischen 200 und 500 Seiten. Neben enorm vielen Zahlen enthält ein Haushaltsplan packende Passagen wie: „Die Ausgaben des Titels 66356 sind mit den Ausgaben aller anderen Titel des Kapitels 1295 gegenseitig deckungsfähig. Sie sind auch gegenseitig deckungsfähig mit den Ausgaben bei Kapitel 1240, Titel 54010, 54021, (…); gegenüber Ausgaben anderer Kapitel des Einzelplans 12 sind sie nur deckungsberechtigt.“ Es geht da um „Zinszuschüsse für die Modernisierung und Instandsetzung von Wohngebäuden“. Immerhin fast 12 Millionen Euro. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen in Berlin gibt, die zwecks Entscheidung über diese Summe eine Volksabstimmung abhalten möchten.

Das Volumen des gesamten Berliner Haushalts liegt bei 28,6 Milliarden Euro für 2018 und bei 29,3 Milliarden für 2019. Diese Summe setzt sich aus abertausenden Positionen wie der soeben zitierten zusammen. Sie zusammenzustellen erfordert die Arbeit Hunderter qualifizierter Mitarbeiter in der Finanzverwaltung. Sie im Einzelnen zu überblicken, erfordert die Arbeit vieler qualifizierter Fachpolitiker. Sie alle in ihrem Zusammenhang und ihren Folgen für die Entwicklung einer Stadt zu verstehen, erfordert – unter anderem – die Arbeit von Fraktionsspitzen, Staatssekretären, Senatoren, Bezirksbürgermeistern – und von einem Regierenden Bürgermeister. Als solcher habe ich zwar nie alle elf Bände komplett studiert. Aber ich wusste stets, wie die Politik bei welchen Ausgaben an welchen Rädchen drehen kann und drehen sollte. Und das halte ich, mit Verlaub, für echte und sinnvolle Arbeit.

Außerdem: Die Idee einer Volksabstimmung über Zinszuschüsse für die Modernisierung von Wohngebäuden mag zwar lächerlich klingen. Immerhin wäre sie – vertieftes Interesse der Bürger an dieser Detailfrage vorausgesetzt – mit etwas Aufwand wohl durchführbar. Aber eine Volksabstimmung über den gesamten Landeshaushalt? Diesen im Abgeordnetenhaus mit seinen derzeit 160 Mitgliedern zu beraten, dauert schon drei volle Monate! Obwohl sich nicht alle Abgeordneten in den Ausschuss- und Plenarsitzungen zu Wort melden. Was im Umkehrschluss nur bedeuten kann: Bei den Haushaltsberatungen aller 2,5 Millionen wahlberechtigten Berliner könnte sich außer den hartnäckigsten Vertretern von Einzelinteressen tatsächlich niemand vernünftig Gehör verschaffen. Fast niemand wüsste, worum es geht, weder im Einzelnen noch im Ganzen. Und wenn es solche sachkundigen Bürger doch gäbe? Tja, dann wären die wohl – tut mir leid – Politiker.

Nun gilt das Budgetrecht in allen Demokratien nicht umsonst als das „Königsrecht“ der Parlamente. Weshalb es für mich zugleich der beste Beweis ist, dass in bestimmten Einzelfragen Volksabstimmungen sinnvoll sein mögen, dass es aber im Ganzen keine Alternative zur repräsentativen parlamentarischen Demokratie gibt. Ich stelle schließlich selbst auch keinen Joghurt her und repariere mein Auto nicht selbst, sondern delegiere das an qualifizierte Experten.

BERLINER ENTSCHEIDUNGS(UM)WEGE

Oft entscheidet sich erst im Schlussspurt, was man in der Politik konkret bewegen kann. Hier sind, nach allem Zuhören und Abwägen, dann tatsächlich die klaren Ansagen gefragt. Ja, Politik sollte immer das Ziel haben, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Aber es ist unmöglich, jeden konkret Betroffenen ständig an allem zu beteiligen. Ja, man kann – und muss – über alles diskutieren. Aber nach spätestens 90 Minuten hört auch in Sitzungen oder Versammlungen niemand mehr zu. Dann muss man halt abstimmen. Oder irgendjemand muss entscheiden.

In der Demokratie brauchen Entscheidungen Zeit, sie erfordern bei allen Beteiligten Geduld, Rücksicht und vor allem die Fähigkeit zum Kompromiss. Und so gut wie nie machen sie am Ende alle glücklich. Trotzdem muss regelmäßig alles Mögliche entschieden werden. Große Richtungsentscheidungen nennt man in der Demokratie „Wahlen“. Man kann darüber diskutieren, ob auch Entscheidungen in großen und wichtigen Sachfragen direkt vom Souverän getroffen werden sollten. Wer für Volksabstimmungen plädiert, muss sich freilich gefallen lassen, dass die Wähler zuvor auch darüber entscheiden, wann über was in welcher Form abgestimmt wird. Es macht nämlich bereits einen sehr erheblichen Unterschied, ob eine mehr oder weniger große Gruppe von Bürgern bloß „Wir sind das Volk!“ ruft. Oder ob eine solche Gruppe tatsächlich einen relevanten Teil der Bürgerschaft repräsentiert. Noch mehr macht es einen Unterschied, ob Bürgergruppen bereit sind zu akzeptieren, dass in einer Demokratie letztlich niemand für „das Volk“ sprechen kann, sondern jede noch so große Gruppe partikulare Interessen vertritt, die mit den Interessen anderer in vernünftiger Weise abgewogen werden müssen.

In der Verfassung des Landes Berlin gibt es da zunächst die Volksinitiative: Wenn mindestens 20.000 in Berlin gemeldete, mindestens 16 Jahre alte Bürger – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft